The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1920 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1920 edition.
Aet unerklärliche Weise begann im Laufe des letzten Jahres der Prokurist Wilhelm
Krätke, der sich bisher der besten Gesundheit erfreut hatte, zu kränkeln. Ein
Riese war er auch vorher nicht gewesen. Zum Beispiel hatte ihn sein Lebensdrang
nicht dazu bewogen, mit fünfundzwanzig oder dreißig Jahren eine Frau zu nehmen.
Als er die zwanzigjährige Ilse Gutnik, die Tochter des Regierungsbaumeisters,
heimführte, ging er sogar schon stark gegen die Vierzig, und war er eigentlich
ein wohlbestallter und gesetzter Mann, dem niemand mehr solche Sprünge zutraute.
Wer nachher seine junge Frau kennen lernen durfte, begriff ihn freilich. Sie war
sehr hübsch, aus guter Familie,wohl erzogen, hatte eine mehr als nur angenehme
Figur, und die Lebenslust blickte ihr aus den Augen.Ob sie eigentlich klug war
oder nicht, hatte man nie richtig ergründen können. In Gegenwart ihres bedeutend
älteren Mannes schwieg sie meistens, und da er diese Gewohnheit an ihr lobte, so
behielt sie sie auch bei; vielleicht hatte sie sie schon vorher gehabt. Sie
kleidete sich gern hübsch; darin leistete er ihr nach Möglichkeit Vorschub, da
er ihre Jugend nicht unterdrücken wollte. Manche meinten trotzdem, er habe sein
Verhält
Soweit ging alles ordentlich. Um den fünften Geburtstag des Altesten, eines Jungen, begann Krätke aber, wie gesagt, zu kränkeln. Zuerst hielt man sein Leiden für einen etwas hartnäckigen Bronchialkatarrh, dann für Lungenentzündung, darauf für Schwindsucht, und ziemlich spät kam man dahinter,daß es sich um ein Sarkom handelte, eine jener gutartigen Geschwülste, die rettungslos zum Tod führen.Als man ihn endlich durchleuchtete, hatte es schon die Größe eines kleinen Kinderkopfes. Dann wuchs es noch drei Wochen, von den Arzten aufmerksam beobachtet, um endlich seinen Wirt in einer Mondnacht voll großartiger Schönheit zur Strecke zu bringen, und drei Tage später samt ihm zur Grube zu fahren.
An seinem Grab stand weinend unter einigen andern Leute seine hinterlassene Witwe, deren braunhaarige Lieblichkeit aus allem Schwarz unverwüstlich herausschimmerte. Ihre Wangen erinnerten an verregnete Pfirsiche, und bei ihrer schluchzenden Gestalt dachte man an einen vom Sturm bewegten jungen Baum. Übrigens fanden einige Leute, darunter der Pastor, daß sie ihr Trauerkleid etwas zu schick gewählt habe, aber über die Empfindung eines Menschen, was ihm ansteht und was nicht, läßt sich bekanntlich nicht
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Auf vielen Gräbern standen Chrysanthemen. Die Sonne schien herbstlich vom
zartblauen Himmel herab,als forderte sie auf, nur noch die letzten schönen Tage
recht zu genießen; es war tatsächlich so warm wie im Oktober, obwohl man Anfang
Dezember hatte. Die Leute verließen Ilse nun unter sehr achtungsvollen Grüßen.
Der Pastor versprach, schon in den nächsten Tagen nach ihr zu sehen, obwohl sie
nicht zu seiner Gemeinde gehörte. Krätke war auf dem Kirchhof des Krankenhauses
begraben worden, welcher eine kleine Stunde, mit der Elektrischen zu fahren, von
Ilses Wohnung entfernt lag. Es hatte sich niemand gefunden,der ihr geraten
hätte, ihn auf ihrem Gemeindefriedhof beisetzen zu lassen, und sie glaubte, es
müsse so sein,obwohl man sonst seine geliebten Toten gern in der Nähe hat. Diese
Ergebenheit hing wohl mit dem noch Ungeweckten zusammen, das manchmal an ihr zu
beobachten war. Ihre häusliche Tüchtigkeit stand ganz außer Frage, und mit ihren
Kindern wurde sie aus
Wenn sie die Hinterlassenschaft ihres Mannes betrachtete, so bestand sie nach
menschlichem Ermessen in einer eingerichteten hübschen Dreizimmerwohnung,einem
Gnadengehalt von einem Vierteljahr aus dem Geschäft des Verewigten, etwas
Erspartem, aber nicht
Für das laufende Vierteljahr hatte sie zu leben.Am nächsten Ersten fiel das Monatssalär Krätke hatte immer Wert auf diesen Ausdruck „Salär“ gelegt und das Gnadengehalt. Bis die beiden Summen verbraucht waren, mußte sie unter Dach sein.Es stellte sich immer mehr heraus, daß die Beileidsbezeugungen das letzte waren, was die Bekannten des Verewigten von sich hören ließen, dagegen erfüllte der Pastor seine Zusage, und er war es auch, der ihr riet,in einer Handelsschule praktische Klassen zu belegen, und einen Teil ihres Geldes zur Erlernung der Stenographie, der Buchführung, der Korrespondenz und der Maschinenschrift zu verwenden. Als er hörte, daß sie etwas Französisch und sogar Englisch verstand, ermunterte er sie sehr, auch diese Kenntnisse zu erweitern. Viel war es indessen nicht; das Schicksal hatte ihren vielleicht verheißungsvollen Bildungsgang früh abgebrochen. Da sich kein anderer Ratschlag fand und endlich etwas begonnen werden mußte, machte sie sich mit der ihr eigenen Schweigsamkeit daran, die angedeuteten Fertigkeiten zu erlernen. Sie wurden ihr nicht besonders sauer, aber sie konnte ihnen nicht den mindesten Geschmack abgewinnen; alles dies schien ihr nicht zu ihr zu gehören. Andererseits entsprach das Ziel ihrer Bemühungen, wie es ihr schien, den Lebensprinzipien
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Mehr Anregung gab ihr das wieder aufgenommene Studium der Sprachen. Sie hatte von beiden das zweite Berlitzbuch absolviert, sogar die Fabeln des Lafontaine konnte sie lesen, und im Englischen war sie zu Kiplings Dschungelbuch vorgedrungen. Diese klugen Werke nahm sie von neuem vor, aber bald ersetzte sie die Fabeln durch einen Band Maupassant, von dem ihr der Pastor abgeraten hatte. Auch darüber schwieg sie, aber sie fand, daß er besser ins wirkliche Leben einführte, und oft war sie überrascht von seiner Richtigkeit; beinahe könnte man sagen, sie hätte nicht gedacht, daß sie so sei. Sie kam dahinter, daß man leicht für dumm gehalten wird, weil man wenig spricht.Selbst ihr Verewigter schien sie in diesem Punkt unterschätzt zu haben. Aber sie hatte sehr wohl die Fähigkeit,von ungefähr zu verstehen, was das Leben will, und über diesen Willen des Lebens machte sie sich in der nächsten Zeit viele Gedanken.
Inzwischen kam die Frage heran, auf welche Weise sie ihre erworbenen Kenntnisse verwerten solle. Es zeigte sich nun, daß sie ganz entschieden gegen den Plan
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Der seelsorgerliche Umgang mit Frau Krätke wurde nun bei ihrer zunehmenden Widersetzlichkeit schwierig.Beim Hinweis auf das Fröbelhaus und den Kindergarten schwieg sie verstimmt. Eines Tages hatte sie dagegen eine Schreibmaschine angeschafft, um zu Hause Arbeiten auszuführen. Das Instrument kostete beinahe
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Krätkes stellte sie so auf dem Vertiko auf, daß sie es bei der Arbeit im Auge hatte, und er ihr dabei sozusagen zusah.
Die Wartezeit füllte sie zweckmäßig damit aus, sich in der Maschinenschrift noch größere UÜbung zu verschaffen. Zunächst schrieb sie alle Gedichte, die sie wußte, aus dem Gedächtnis hin, den „Gang nach dem Eisenhammer“, den „Erlkönig“, „Lillis Menagerie“, die „Glocke“, die „Kraniche des Ibikus“,den „Zauberlehrling“ und noch eine ganze Reihe anderer Balladen und Lieder. Bei einzelnen Gedichten sah sie auf die Uhr, um den Zeitverbrauch festzustellen,und wiederholte sie, um das nächste Mal einige Minuten weniger zu brauchen. Dabei unterhielt sie sich nicht einmal schlecht. Die Gedichte versetzten ihr empfängliches und etwas schwärmerisches Gemüt in einen leicht gehobenen Zustand. Durch die Ballade vom „Gott und der Baijadere“ wurde sie jedoch wieder zum wirklichen Leben abgelenkt. Lange dachte sie über die Rolle der Bajadere nach, und bisher schlafende Saiten ihres Wesens kamen ganz leise und geheimnisvoll zum Schwingen. Nachher kam sie auf den Gedanken, Abschriften aus den „Wahlverwandtschaften“ zu machen, da sie sich doch auch im Abschreiben üben mußte. Das fand sie schon mühsamer, aber voll Pflichtbewußtsein schrieb sie wenigvoller Verwunderung, manchmal erregt, noch öfter befremdet, und im ganzen fand sie, daß es sich hier doch um eine von der ihren sehr entfernte Lebenslage handle.Nachher las sie den „Werther“; der kostete sie eine Nacht
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Doch schien sie mit ihren neuesten Inseraten Erfolg zu haben. Etwa zehn Tage
später bekam sie mit der Morgenpost einen Brief, in welchem sie aufgefordert
wurde, „zwecks Besprechung Ihre Anzeige betreffend“,sich vielleicht Mitte
nächster Woche jetzt war Dienstag in der Leibnizstraße 48 vorzustellen. Sie
hätte lügen müssen, wenn ihr die Wendungen „zwecks Besprechung“ und „Ihre
Anzeige betreffend“ nicht einen streng geschäftsmäßigen, ja, sogar
zurechtweisenden Eindruck gemacht hätten; dieser wurde noch erhöht durch die
Hinausstellung auf die Mitte der nächsten Woche.Sie ging mit dem dringenden
Gefühl herum, sich irgendeiner Leichtfertigkeit schuldig gemacht zu haben.
Beinahe reuevoll setzte sie sich an die Maschine und begann wieder Abschriften
zu machen; diesmal nahm sie Leitartikel aus Zeitungen und Aufsätze aus dem
Handelsteil als Ubungsmaterial. Am nächsten Mittwoch bestellte sie ihr Hauswesen
für zwei Stunden, zog sich für einen Gang bei schönem Frühlingswetter so
vorteilhaft an,als sie konnte, ohne auf den Gedanken zu kommen, daß sie schon
wieder dem Reiz einer ganz unsachgemäßen
Schaffner, Kinder des Schichsals.
8 Haus oder vielmehr die numerierte Abteilung des langen steinernen Kastens der einen Straßenseite, worin Ilses zukünftige Kundschaft wohnte, zeichnete sich durch nichts vor den anderen aus. Das Gebäude hatte kleine, kistenartig übereigander gehängte Balkone wie alle, war grau und verrußt wie sie, und ohne die Nummer wäre es unmöglich gewesen, es sich zu merken. Es hatte einen besondern Eingang für Herrschaften und einen für Lieferanten und die tiefer stehenden Bewohner des Hinterhauses. Ilses Kunde wohnte im Hinterhaus. Übrigens unterschrieb er sich Peter Schormann; einen Beruf hatte er nicht beigefügt. Der Hof enthielt auf seinem Grund eine Parkanlage von drei mageren Büschen, einem efeubewachsenen Steinhaufen vom Charakter einer Eremitage, einer ummauerten Pfütze davor, in welcher vier Goldfische schwammen einer augenblicklich verendet mit dem Bauch nach oben und einem tönernen Zwerg unter einem der Büsche, der eine Karre vor sich herschob. Dann war noch da ein Gerüst zum Teppichklopfen, das nach einer beigefügten Tafel bloß am Freitag und Sonnabend benutzt werden durfte. Vom Portier erfuhr Ilse,daß Schormann vier Treppen hoch wohne, und das
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Verhältnismäßig bald näherten sich lange, leise Schritte der Tür. Diese ging auf und in ihrem Rahmen erschien ein ziemlich großer, noch jüngerer Mensch von sehr ernsthaftem Aussehen, der ihr durch eine große horngefaßte Brille halb zerstreut, oder jedenfalls auf ganz andere Gegenstände, als sie einer war, gesammelt,entgegenblickte. Etwas Einsames war um ihn, das Ilse sofort mit Achtung erfüllte; sie hatte immer von einsam lebenden Menschen hoch gedacht. Doch schien er sich auch als durch sie gestört zu betrachten, und das machte sie befangen. Mit beinahe schüchterner Stimme sagte sie, daß sie auf seine Aufforderung wegen des Inserates käme. Er überflog mit einem Blick voller
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Sie kam in einen schmalen Gang, dessen eine gekrümmte Wand mit Bücherregalen verbaut war. Durch die gegenüberliegende führten zwei Türen, die eine:zur Küche, die andere: zum Bad. Vom Ende des Ganges kam man durch eine dritte Tür in die vordere Stube;dahinter blag das Schlafzimmer. In der Küche sah es sehr bunt aus, wie Ilse mit einem geübten Hausfrauenblick im Vorbeigehen feststellte. Desto behaglicher schien ihr die Wohnstube. Hier lag zwar auch alles durcheinander, aber da diese Unordnung offensichtlich auf Geistesarbeit und Gelehrsamkeit zurückzuführen war, so sprach sie ihr eine gewisse Berechtigung zu. Zuerst bemerkte sie einen großen runden Tisch mit einem kupfernen Teekessel darauf; auf dem Sofaplatz stand eine leergetrunkene Tasse. Das Sofa, geräumig und altmodisch, öffnete seine großväterlichen Arme weit, um jedermann auf sein niedergerittenes und durchgesessenes Polster herabzuziehen. Beide, Tisch und Sofa, hatten jedoch trotz des Alters nichts von ihrer friedlichen Vornehmheit eingebüßt, die sich so gut mit wahrer Gemütlichkeit vereint. Nachher sah sie noch mehr alte, gemütliche, niedergerittene Polstermöbel, weitere Regale mit Büchern, deren Farben in der Sonne mit mattgoldenen oder zartgetönten farbigen Lichtern zu leben schienen, einen geflammten Birkenschrank mit Zylinderaufbau, einen runden weißen Kachelofen, einen alten Schreibschrank mit herausgezogener
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„Also Sie wollen Abschriften machen?“ fragte Schormann, nachdem er seinem frühen Gast es war wenig nach neun Uhr einen der Sessel zugewiesen hatte. Sozusagen geradezu mißtrauisch musterte er Ilses Erscheinung durch seine große Brille.Er hatte übrigens auffallend schöne Augen, dunkelbraun mit einem weichen, traurig versonnenen Glanz voll verhaltener Männlichkeit, die er aber aus irgendeinem Grunde den Menschen verbergen zu wollen schien; seine
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Ilse fühlte deutlich, daß es ihre Pflicht gewesen wäre, ein Bureau zu haben, denn wie durfte sie sonst auf das Vertrauen der Menschen Anspruch machen.Allein da sie nun einmal keines hatte, so sagte sie ehrlich und in aller Bescheidenheit: „Nein, ein Bureau habe ich nicht. Ich schreibe zu Hause.“ Eine solche Art zu erwidern, findet nicht überall Anklang; Ilses knappe Antwort machte sogar einen nahezu unmvorteilhaften Eindruck. Um daher ihre und ihrer Kinder Sache nicht gleich wieder durch unzeitige Einsilbigkeit zu verderben,fügte sie mehr in unternehmendem Ton hinzu: „Ich beabsichtige aber, meinen Betrieb zu erweitern.“
Kratke hatte ihr ja langes und breites davon erzählt,was die kaufmännische Redeweise für eine Kunst sei; mit dem Nachsatz berüucksichtigte sie jetzt seine diesbezüglichen Bemerkungen als einen strengen Ratschlag, den er ihr aus der Ewigkeit erteilte. Wahr ist, daß sie sich dabei doch auch sehr für den Mund dieses lebendigen Dichters interessierte, um den jetzt ein flüchtiges Lächeln huschte. Er hatte gewisse Schönheiten. Von Natur war er groß und edel geschwungen, aber er schien frühzeitig einzusinken. Tiefe Furchen zogen sich neben ihm herunter, und die Gewohnheit, eine dicke Zigarre zwischen den Lippen zu halten, mochte ihn auch etwas entstellt haben. Wenn er ihn öffnete, so erschien ein sehr schlechtes Gebiß, das den Zahnarzt nötig hatte.
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„Haben Sie denn so viel zu tun?“ forschte er inzwischen. Er schien sich zu wundern, während er noch einmal ihre Volants und Jabots mit den Blicken streifte.Unter dem schwarzen Oberrock kam ein Streifen weißer Spitzen zum Vorschein. Die ganze frische Person sah so wenig abgeschrieben und in Hinsicht auf das Leben so erwartungsvoll aus, daß er ein Mißverhältnis zu fühlen begann. „Vielleicht besitzen Sie Referenzen?“setzte er unruhig werdend hinzu; die letzte Frage tönte schon beinahe wie eine versteckte Unfreundlichkeit.
„Referenzen?“ wiederholte sie etwas betreten, da der väterlich strenge Gesichtsausdruck ihres Verewigten vor ihr erschien. „An Referenzen habe ich leider nicht gedacht. Aber vielleicht genügt Ihnen Herr Pastor Delius?“ Sie fühlte, daß Schormann, dem Herrn Pastor Delius nicht viel nachfragen konnte. „Wie ist das alles so schwierig!“ dachte sie voller Bedauern.„Augenblicklich habe ich weniger zu tun,“ nahm sie noch einmal einen Anlauf, um seine erste Frage zu beantworten. „Letzte Woche mußte ich halbe Nächte arbeiten. Dann lehnt man Aufträge ab, weil man zu lange warten lassen müßte!“
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„So und auf mich hin wollen Sie nun diese Erweiterung vornehmen?“ hielt er ihr unzufrieden und auch etwas spöttisch vor. „Wissen Sie was? Das ist alles nicht wahr, was Sie mir da erzählen. Nichts haben Sie zu tun. Frauen, die viel auf der Maschine geschrieben haben, zeigen einen ganz anderen Ausdruck.“ Er jedenfalls zeigte nun einen auffallend unzufriedenen, ja, trauernden. „Darauf kann ich mich leider nicht einlassen,“ bedauerte er. „Sie überschätzen bei weitem meine Bedeutung für Ihre Zukunft.“ Er führte eine abwehrende Bewegung mit seiner langen weißen Hand aus und drehte sich wie erbittert dem Fenster zu. „Könnte sie nicht wenigstens geschmacklos angezogen sein?“ dachte er aufgebracht. „Aber es kommt immer alles zusammen.“
Sie erhob sich ganz verwirrt. Ihr war, als hörte sie den Dahingegangenen sagen: „Da siehst du nun,mein Kind!“ Indessen konnte sie nicht darüber im unklaren sein, daß Peter ihre Leistungsfähigkeit anzweifelte. Ohne sich noch viel davon zu versprechen,sagte sie mit stockender Stimme: „Ich kann Ihnen die Referenz einschicken, wenn Sie noch wünschen. Auch eine Schriftprobe. Die habe ich sogar mit.“ Sie öffnete ihre Tasche und entnahm ihr einige zusammengelegte Blätter, die sie entfaltete und ihm schüchtern hinhielt.
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„Mit oder ohne Durchschlag?“ fragte Ilse mit einem kleinen Hoffnungsschimmer.
„Mit natürlich. Sogar mit zweien.“
Sie nannte einen Preis, sah aber sogleich, daß sie ihn wieder nicht befriedigte.
„Na, gut,“ sagte er wie verstimmt. „Warum nicht ganz umsonst? Mit Ihnen soll sich übrigens einer auskennen. Wie wollen Sie dabei bestehen?Sogar Angestellte wollen Sie damit besolden? Also davon begreife ich aber nichts “···
Er blickte sie, wie sie glaubte, anklagend und strafend durch seine großen Brillengläser an, und sie fühlte sich ganz schuldbewußt. Errötend stotterte sie: „Ich wollte Ihnen bloß entgegenkommen ! Sie sind doch kein Geschäftsmann !“
„Werde schon keiner sein,“ achselzuckte er. „Aber wer heißt Sie, mir entgegenzukommen? Habe ich Sie vielleicht gebeten, sich mir unter dem ortsüblichen
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Er reichte ihr die Blätter zurück. Seine Lippe hing vor Verdrießlichkeit. Seine
schönen sanften Augen blickten voll ehrlicher Bedrängnis durch die großen Gläser
an ihr vorbei. Immer besser gefiel ihm dies liebe, unerfahrene Geschöpf. „Wenn
nun so was ins Räderwerk gerät!“ dachte er gereizt. „Na, leid tun kann sie
einem!“ Er war wieder ganz aufgewühlt von ihrem Duft, von dem erdfrommen Schein
ihrer Wohlgestalt ja, man kann sagen, daß dies alles, der unbewußt sinnliche
Mund mit den weich geschwellten Lippen, die zart geröteten Wangen, die feine
Schmalheit ihres offenen guten Gesichtes, ihre Einsamkeit, das Unschuldige und
das Abenteuernde an ihr ihm zu Herzen ging wie der Dampf von frischem Brot einem
Hungrigen. Solange er als Junggeselle hauste und dichtete, war noch kein so
anziehendes, so naturechtes weibliches Wesen bei ihm aufgetreten, und vor allem
keines, das ihm so auf den ersten Blick gefallen hätte.Er war arm und
anspruchsvoll und dazu noch nicht anerkannt. Die bürgerliche Ordnung verwies ihn
an billig zu habende Kreaturen oder auf die Entsagung,aber die letztere hatte er
nachgerade satt, das durfte er ohne jede Uberhebung sagen; mochte man ihn
deshalb für einen Don Juan halten oder für einen Ritter Blaubart, das war ihm
vollkommen gleichgültig. Übrigens 27
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Unrecht wäre es zu verschweigen, daß dieser Mensch,dieser „Geist“ einen starken Eindruck auf Ilse machte;er hatte für sie etwas geradezu Anziehendes, Ansichreißendes, aber sie war bereits davon überzeugt, daß sie ihn nie mehr im Leben zu sehen bekommen werde.Mit einem Gefühl stiller Angefochtenheit darüber verließ sie seine Wohnung, von ihm sehr höflich hinausgeleitet. Wirklich mühevoll war es für ihn, dabei zu bemerken, was für eine natürliche, leichte Haltung sie hatte. Und wie ihr die Haare im Nacken angewachsen waren, das hätte ihn geradezu beunruhigen können;da war Kraft und Lieblichkeit. „Nun, Gott mit dir,du junges, suchendes Leben! Mache einen andern glücklich!“ Mit einem stummen Neigen des hübschen Kopfes verabschiedete sie sich draußen von ihm; Worte waren schon viel zu viel verbraucht. „Mannsmuff ist das eigentlich nicht,“ dachte sie, während ihr der Duft seiner Wohnung noch einmal nachschlug. Und während sie die Treppen hinunterstieg, schwebte ihr mit großer Achtung das Wort „vGeistig hochstehender Mann!“ auf den Lippen. Ein weiteres Urteil über ihn erlaubte sie sich nicht.
So achtungsvoll beeindruckt und voller Nachdenk
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BR
Neten Peter Schormann hinter der abziehenden Huldgestalt umsichtig die Tür
geschlossen hatte,begab er sich in sein Zimmer zurück. Seinem Gewissen hatte er
vollkommen Genüge getan; es war der an ihn herangetretenen Verführung nicht
gelungen, ihn zu einem voreiligen Versprechen zu verleiten, ja, genau genommen
konnte man ihm nicht einmal vorwerfen,daß er Hoffnungen erweckt habe, im
Gegenteil, seit langer Zeit hatte ihm nichts so leid getan wie die Enttäuschung,
mit welcher das liebenswerte Menschenkind von ihm weggegangen war. Er war also
richtig verstanden worden, und auf Ilses Enttäuschung röstete er sein Gewissen
wie einen Zwieback von beiden Seiten.Seine geringe Begeisterung über den
moralischen Erfolg buchte er unter die Rubrik „Notwendigkeiten“ beim Kaufmann
heißt sie „Verlustkonto“ und darin geübt, seinen armen Adam zu vergewaltigen,
wandte er sich der Beschäftigung zu, in welcher ihn der Besuch unterbrochen
hatte. Sie bestand nicht etwa darin, seine Schuhe anzuziehen oder sein Zimmer
aufzuräumen;das erstere geschah beinahe immer traumhaft ohne vorgefaßte Absicht,
mit ganz andern Gedanken beschäftigt,das letztere beinahe niemals. Beschäftigung
war in 31
Diese Ablenkung kam von innen. Ein ziehendes Gefühl von Unbefriedigtsein wie die Voranzeige einer Erkrankung oder wie die telepathische Mitteilung von einem empfindlichen Verlust, den er gerade erlitt,verdarb ihm die Stimmung. Die neue Strophe entschwebte. Das Verständnis dafür verduftete. Der Geist fuhr ärgerlich grunzend hinterher, so bitter es ist, dergleichen mitzuteilen. Und mit unzufriedener Verwunderung fand sich Peter allein auf dem Plan. Plötzlich war ihm zumute wie dem Kind, dem der Schnuller fehlt.Da dachte er, er solle damit wahrscheinlich erinnert werden, daß seine Zigarren zu Ende seien und er neuen Vorrat einkaufen müsse. Von ungefähr ergriff er einen Schuh und begann ihn anzuziehen, während er in Gedanken immer noch der entschwundenen Strophe durch die Luftleere nachbohrte. Der Schwung war hin, aber er wußte ja, was er gewollt hatte, und, wiederum von
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Peter hatte ziemlich viel Freunde. Es gab kaum einen Künstler oder sonst einen geistigen Menschen von irgendwelcher Bedeutung, den er nicht wenigstens von Ansehen kannte, und zu den meisten stand er in persönlicher Beziehung, sei es auch nur in schriftlicher. Dabei fehlte ihm aber die geschäftliche Betriebsamkeit und das gesellschaftliche Strebergenie, um daraus den richtigen Vorteil zu ziehen. Bürgerlich gesprochen besaß er nicht einmal das Interesse für sein leihliches Wohl, um denen treu zu sein, die sich vielleicht ebensosehr für sein hinfälliges Irdisches bemühten, als sie seinen Geist und dessen Erzeugnisse schätzten. Dagegen ließ er sich grenzenlos ausnutzen, und am wärmsten saß er da, wo aus Gehirnen wie aus entkorkten Flaschen der Intellekt brodelte und der Geschmack, dies hungrige Parfüm der
Schafkner, Kinder des Schichsals.
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„Also Ableugnen ausgeschlossen!“ rief er mit der besagten hübschen Parlamentärflagge in der Hand dem Freund - entgegen. „Hier ist der Indizienbeweis. Vor wessen Tür so was am frühen Morgen gefunden wird,der ist mindestens ein Glückspilz, wenn er kein Verbrecher ist. Gratuliere herzlich, Mensch. Aber also ohne allen Spaß !“
„J, nu komm schon herein und schrei mir nicht das ganze Haus voll!“ sagte Schormann verdrießlich. „Ein Provinzler bleibt immer ein Provinzler, ob er aus Dessau oder aus Ohio stammt.“
„Also erlaube mal!“ rief Sam lachend. „Eine Laune hat sie dir hinterlassen ! Habt euch wohl
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„Nun hör aber endlich auf mit deinem Galimathias!“ rief Peter halb erbost, halb lachend. „Das ist ja, um Krämpfe zu kriegen. Verströme dich auf der Bühne. Hast dich wohl sehr niedlich gemacht vor ihr im Hof drunten oder wo du ihr sonst begegnet bist? Wie kannst du dich überhaupt unterstehen, einen
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„Also deine aufgewühlten Gefühle in Ehren,“ gab Sam ruhig zu, indem er langsam die gelben Handschuhe abstreiftꝛ. „Aber, mein Sohn, bei mir liegen doch solche Leitungen, daß ich es höre, wenn ein Frosch in Australien etwas krampfhaft hustet. UÜberhaupt neigst du dazu, mich schlecht zu behandeln. Du schätzest mich gering, weil du mir geistig überlegen bist. Ich fange an zu zweifeln, ob du Verehrung auf die Dauer verträgst. Bist zwar ein hochstehender Mensch, aber auch der Sterblichkeit unterworfen. Habe ich meine Überlegenheiten schon gegen dich ausgespielt? Sieh mal,das wollte ich dir schon länger einmal sagen.“
„Na, das ist schon so,“ wehrte Peter ein bißchen besänftigt ab. „Aber manchmal bewegst du dich da in unserm Porzellanladen unter amerikanischen Voraussetzungen. Die Frau war lediglich hier, um wegen Abschriften zu verhandeln. Nimmst du eine Zigarette?“
Sam wählte sich eine aus der dargereichten Dose.
„Gut! Und?“ fragte er, Feuer nehmend.
„Sie ist mir zu kostspielig,“ bemerkte Peter,während er sich gedankenvoll ebenfalls bediente.
„Sieh mal an,“ wunderte sich Sam. „So sieht sie eigentlich gar nicht aus. Ich würde darauf wetten,daß ihr an der ganzen Schreiberei überhaupt nicht viel liegt. Na, also, Menschenskind, und wenn sie nun schon ein paar Pfennige für die Seite mehr fordert,läßt man deshalb so ein blühendes, junges Wesen, dem der Lebenshunger aus den Augen blickt, unverrichteter
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Schormann tat ein paar Züge aus seiner Zigarette,aber da er die Dimensionen von Exportzigarren gewöhnt war, zeigte sein Gesicht dabei einen ausgeprägt unbefriedigten Zug, und ein wenig nervös, wie ein Mensch, dem etwas fehlt, begann er in seinem Zimmer auf und ab zu gehen immer noch mit einem Schuh und einem Pantoffel.
„Die Sache ist die,“ erklärte er dann, um nicht mißverstanden zu werden: „Ich brauche jemand, den ich um das Honorar begaunern kann. Dazu ist sie zu arm; sie schreibt nämlich ab, um Geld zu bekommen,wie ohne übermäßigen Scharfblick zu bemerken ist. Sage mal, wenn du jemand weißt, der ihr da weiter helfen kann : du würdest ein gutes Werk tun.“
Sam saß da mit übergeschlagenen Beinen in einem hellen Frühlingsanzug aus
weichem, lockerem Stoff,gelben Halbschuhen und braunen seidenen Strümpfen und
folgte mit den Augen erwägend der hin und her pendelnden Gestalt seines
Freundes; dabei zeigte er den Gesichtsausdruck eines Menschen, der sich über das
Gesehene ganz bestimmte Gedanken macht. „Also das geht so nicht mehr weiter!“
besagten diese. Wie innerlich, so war Peter auch äußerlich in allem das
Gegenteil von Sam. „Etwas weniger wäre ihm gesünder!“fand Sam immer mehr. Peter
lief in der Welt herum in einem versessenen braunen Anzug, dessen ursprüngliche
Farbe und Musterung nur bei sehr großer konfektioneller Erfahrung annähernd
anzugeben waren;37
„Werde sehen, was sich tun läßt,“ nickte er phlegmatisch, aber mit aufmerksamem Blick. „Also ich weiß sogar schon was. Die Frau ist bereits auf dem Wege zu einer eminenten Steuerveranlagung. Wo wohnt sie?“ Peter nannte ihre Adresse. Sam zog sein Taschenbuch aus rotem Saffianleder heraus und schrieb alles auf. „Also die Dame ist ein gemachter Mann,“ beruhigte er nochmals. „Weniger verstehe ich dich, mein Sohn. Warum pumpt man angesichts einer solchen na, also Konjunktur nicht frischfröhlich,sagen wir, den Sam Cumberland an? Wozu hat man
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Schormann gehorchte mit einem verwunderten:„Nanu!“ und Sam reichte ihm die Zigarettenschachtel herüber, weil er mit seiner Manoli schon zu Ende war.„Gut, also leg los!“ forderte er darauf den Amerikaner auf, nachdem er sich selber mit Feuer versehen hatte.
„Also meine Lebensumstände kennst du ija,“ setzte Sam voraus. „Ich muß nämlich mit mir beginnen.Habe da auch meine Probleme. Mein Vater hat es sich geleistet, seinen Sohn in Germany zum Sänger ausbilden zu lassen. Etwas Besseres kann man gegenwärtig bei uns für eine gute Stimme nicht tun. Jetzt bin ich fertig, und er will, daß ich rüber komme.Die Deutschen sind verhaßt. Deutschland wird kaput gehen. Er kann die Verantwortung aus privaten und
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„Kommt also Punkt zwei,“ fuhr er darauf fort.„Dafür muß ich mich näher mit deiner Person beschäftigen. Na, also, will dir nicht zu nahe treten,Schormann, aber ein Schieber bist du einmal nicht.Dichtest, hungerst, kelterst deinen Geist, liebst dein Volk, hassest seine Feinde könntest damit ruhig ein bißchen über die Grenzen greifen; die Deutschen haben noch andere Feinde als ihre Militaristen und Monarchisten rackerst dich dem bißchen Tagesbedarf zuliebe für einen ausbeuterischen Brotherrn Peter hatte eine Hungerstelle in einem Theaterverlag, dem er das „geistige Niveau“ gab na, um hundertundzwanzig Mark monatlich, kommst nicht zum eigentlichen Leben,gehst langsam ein zwischen deinen Büchern, Bildern und Statuetten, und mit vierzig Jahren ist dein Film abgeschnurrt, wenn du's so weiter treibst. Also, Mensch,überlege dir das mal und erschrick. Das Leben ist doch,Himmeldonnerwetter, der Güter höchstes, um einmal in aller Ehrfurcht eure moderne Literatur zu zitieren. Was für Geistessaft willst du auf die Dauer produzieren, wenn du vorzeitig zur Mumie geworden bist? Heute zehrst du noch von deinen mütterlichen
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Er machte eine Pause, zum Teil, weil er merkte,daß er in Rage kam, zum Teil, um Peter Zeit zum Nachkommen zu geben. Einige Augenblicke betrachtete er eines von Schormanns Bildern an der Wand, als hätte man sich just ganz sachlich über Kunst unterhalten, und dann nahm er noch eine neue Zigarette.Peter seufzte unmutig auf.
„Ich habe dir schon mehrmals verboten, in diesem Ton von meinen Freunden zu sprechen,“ sagte er, ohne erst abzuwarten, daß Sam aufs Geschäftliche kam.„Wo du deine Informationen beziehst, weiß ich. Du selber besitzest vollends nicht das Kaliber, um ihre Bedeutung abschätzen zu können. Das andere, wovon du sprichst, das gehört nicht zu mir. Meines Wissens bat ich dich überhaupt nicht, dich mit meinen Privatangelegenheiten zu befassen. Ich soll mir wohl an dir ein Beispiel nehmen und ebenfalls zur Schieberei übergehen?“
Sam setzte sich wieder; er tat es diesmal mit einer
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„Ich bin nicht so dumm, von der Lerche Froschleistungen zu verlangen,“ erwiderte er in sachlichem Ton. „Hab dir ja schon gesagt, daß ich dich für keinen Schieber halte.“ Mit der Miene eines erfahrenen Weltmanns betrachtete er seine Zigarette, um dann den Blick Peter zuzuwenden. „Aber ein wenig schieben bassen könntest du dich vielleicht. Also kurz und gut, Peter: verkaufe, was du hast, und gib es den Weibern. Oder gib es einer! Man darf dir ja nicht ankommen. Gut, ich sage nicht, was dir aus den Augen blickt. Deine Hände na, nobel und rein sind sie; wer da drein gerät, der ist gut aufgehoben. Es liegt ein tiefer Sinn in dem Wort, daß die Natur ihr Recht verlangt. Und nun das Geschäftliche. Ich erbiete mich, dir deinen Kunstzauber zu verschärfen, damit er dir leben hilft, und zwar nicht unter na, also sagen wir;: dreißigtausend Mark.Das ist doch ein Wort. Ich weiß alles. Der Kopf dort stammt von deinem Vater, das Seestück sogar von deinem Großvater und ist ein echter Turner. Hab nichts vergessen. Den Mädchenkopf hast du von Ingres eigenhändig bekommen. Alles persönliche Andenken.Damit werde ich mich nicht einlassen. Ich zeige dir Möglichkeiten, weil ich dich liebe, Schormann, wie dich keiner von deinem Klüngel liebt. Ich nehme die Sachen übrigens auch einzeln. Der kleine Turner kann dir ein ganzes Jahr leben helfen samt einer hübschen Freundin.“ Er erhob sich wieder, diesmal, wie es schien,
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„Vielleicht würde ich sie nicht gleich verderben.Na, man kann es natürlich nie vorher wissen. Also schön, du nimmst sie selber, da wird sie nicht verdorben.“„Ich glaube nicht, daß ich größere Freiheit habe als du.“„Mit andern Worten, du kannst im Augenblick momentan nicht hurtig einen so plötzlichen Bescheid geben. Stellen wir auch diese Frage auf Piquet, obwohl es mir schwer fällt. Wie rasch kommt da eine dritte Hand dazwischen. Ich werde also vorläufignichts tun. Auch die geschäftliche Fürsorge lehne ich ab.Habe ebenfalls meinen Charakter. Wie ich euch eventuell finanzieren will, habe ich dir gesagt. Apropos,was wird sein, wenn ich einfach die Rücksichten beiseite setze und hingehe? Ich habe ja ihre Adresse.“
Nun drehte ihm Peter das Gesicht zu. Er hatte einen „verteufelt ernsthaften Kopf““, wie Sam immer wieder feststellte.
„Nach der Vorsicht, mit der du diese Sache selber behandelst, würdest du wohl nicht darüber im Zweifel sein, daß dann ein Vertrauensbruch vorläge. Wenn sogar du bedenklich wirst, so weiß ich sicher, daß eine Niedertracht in der Luft liegt.“
„Um das starke Wort etwas zu mildern,“ meinte Cumberland langsam, „denn immerhin betrifft es ein Freundesverhältnis, an dessen Erhaltung wenigstens
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„Na wollen uns nicht erzürnen, Schormann.Zieh den andern Schuh an und komm mit mir. Ich lade dich zu einem Frühstück bei Dressel ein. Es ist so ein schönes Frühlingswetter. Und mir ist so splendid zumute, seit ich die hübsche Witwe gesehen habe. Wird noch ein hartes Stück Arbeit werden zwischen uns,wenn ich sie nicht plötzlich über einer andern vergesse.“
Er lachte sehr jung und vergnügt und fing plötzlich mit dröhnender Stimme aus dem Fliegenden Holländer zu singen an: „Wie aus der Ferne längstvergangner Zeiten spricht dieses Mädchens Bild zu mir!“ Er erhob den Arm und machte die entsprechenden Gebärden dazu, wie er es auf der Bühne in Kassel und Meiningen getan hatte. Schormann fühlte sich erst wie auf den Kopf geschlagen, und ganz über
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„Aber so sei doch um Gottes willen nur still.Willst du mir die Bude sprengen? Und was für einen Sinn hat das, halbe Stunden lang mit ausgestrecktem Arm dazustehen!“ Er lachte, daß ihm die Tränen kamen. Nun sah auch er jung und beinahe übermütig aus. „Man muß sso eitel sein, wie es Opernsänger sind, um sich damit wichtig zu nehmen. Halt! Bist du denn toll? Singe, schiebe, streck alle Viere pathetisch von dir, aber nicht hier, bitte! Schone mich; ich habe zu tun! Und zu Dressel lade ein, wen du willst. Da sind deine Handschuhe. Da ist dein Hut. Und so Gott mit dir. Kommt der Mensch morgens um zehn und stellt mir das Haus auf den Kopf!“
Sam schwieg, aber er sah nun ernst darein.
„Es ist nicht gut, daß du mich 'jetzt humoristisch nimmst,“ sagte er ein bißchen empfindlich. „Ich sang nicht zum Spaß; mich macht diese Ilse ganz traurig.Wer soll sich nun mit dir auskennen? Wirfst einen mit Späßen aus dem Haus.“ Mit melancholischer Miene betrachtete er seinen Hut. „Du, das mußt du nicht wieder tun,“ warnte er sorgenvoll. „Mußt mich nie mehr in ernsten Momenten lächerlich nehmen. Ich kann das nämlich sehr schlecht verknusen. Meistens räche ich mich dafür. Na, werde noch näher darüber
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S chormann war also mit sich überein gekommen,daß in Sachen Ilse Krätke überhaupt nichts zu geschehen habe. Da auch jenes Gedicht nicht weiter gerückt war, so kann man sagen, daß sein Leben stand.Durch die nächsten Tagen zänkelte er sich in wohlgebildeten Ausdrücken mit seinem Prinzipal herum, der schlechte Laune hatte, befaßte sich mit Autoren und deren Manuskripten, redigierte die neue Monatsnummer der Zeitschrift, die der Verlag herausgab, ein wahres Hausiererblatt, aber es brachte Geld ein, schrieb motivierte Waschzettel, in welchen er die Dramen seines Verlages nur warm empfehlen konnte, wohnte Konferenzen bei, verhandelte mit Setzern und Druckern, die nachgerade zu Großmächten aufgerückt waren, diktierte trockene Geschäftsbriefe, trabte mit einem Stoß neuer Manuskripte unter dem Arm nach Hause, um bis in die Nacht hinein zu „prüfen“, da er über Tag nicht dazu kam, bereitete seinen Bericht für die nächste Konferenz vor, und nebenher verfaßte er noch persönlich beschwichtigende Briefe an Autoren, die ihm wegen einer Ablehnung auf den Pelz rückten. Er gehörte, wie schon angedeutet, zu jener Garnitur von talentierten jungen Leuten, die sich manche Verleger gegen kleine Schreiber
Schaffner, Kinder des Schicksals.
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Zweifellos war Schormann bereits zu alt, um sich noch lange in ein solches Verhältnis ohne ernsten Schaden fügen zu dürfen, auch war sein Talent dafür zu groß; darin trafen alle Meinungen über ihn zusammen. Aber er gehörte zu den Spätreifern, brauchte Zeit, viel Zeit, besaß auch nicht den kleinsten Charakterzug, um sich in der Zwischenzeit als Schieber oder Streber erfolgreich zu machen, und so hieß es für ihn:„Vogel, friß schlecht oder stirb gut!“ Um das letztere so lange als möglich zu vermeiden, tat er das erstere ohne besondere Leidenschaft. Vorläufig weigerte er sich noch, sich die UÜberzeugung beibringen zu lassen, als
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Nach dem vorher Gesagten wird er also nun nicht plötzlich begonnen haben, sich wegen Sams leise knurrendem Abgang zu beunruhigen; wenn ein Sam drohte,so bewies das nur, daß er UÜbermacht spürte und die Zähne bleckte. Mochte er die Zähne blecken; nichts sieht man bei einem schönen Tier lieber. Eine gewisse Genugtuung erfüllte Peter sogar darüber, trotzdem war es nicht von der Hand zu weisen, daß seit jenem Gespräch sein Leben stand. Den andern Schuh hatte
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Er leitete die Unternehmung damit ein, daß er sich von oben bis unten mit kaltem Wasser abwusch; ein solches Verfahren befördert den Blutkreislauf und zieht die Lebensgeister aus ihren Verstecken nach außen. Darauf machte er sich einen extra starken Tee, der genug Stimulanzen enthielt, um eine ganze lutherische LandesDD 0 vertrug unglaubliche Portionen von allen Kulturgiften,Teein, Nikotin, Koffein und Alkohol. Also rauchte er auch eine extraschwarze Importzigarre dazu. Ferner hatte er die Bemerkung gemacht, daß das Lesen von Zeitungsinseraten seine Phantasie anregte; also studierte er sämtliche Inserate der vier Beilagen des Berliner Tageblattes. Als sich noch nichts zu regen begann,erinnerte er sich, daß er manchmal mit dem Bestarren der gegenüberliegenden Hauswand gute Erfahrungen machte. Er starrte sie etwa eine Viertelstunde be
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Es ist gesagt, daß sein Zimmer eine solche Bemühung sehr wohl gebrauchen konnte. Er rückte also die übervollen Aschbecher an andere Plätze, türmte einen Papierstoß auf den nächsthöhern hinauf, und als das ganze Gebäude umfiel, verteilte er die Dokumente weise im Zimmer, wofür er noch einen dritten Sessel in Anspruch nahm. Nachher machte er tatsächlich sein Bett,was schon seit einer Woche nicht mehr geschehen war.Und plötzlich war er fertig, ohne um einen Vers weiter gekommen zu sein, aber er hatte ja auch fortwährend daran gedacht. Also da war die Borke wieder; mochte sie doch der Teufel endlich holen. Mochte er auch die andere Hälfte des unreinen Reimes für alle Zeiten holen; nichts Gemeineres auf der Welt als die Sorge.
„Wirst jetzt die Schuhe anziehen, den Hut aufsetzen und deinen Krempel hinter dir lassen! Im Grunewald blauen die Seen! Anemonen blühen an
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In ihm war neue Bewegung. Gewiß, sein Leben stand an, aber auf und nieder stiegen
auch in ihm die geheimnisvollen. Geister des neuen Werdens. „Sorge“und „Borke“,
das wird zwar nie einen zufriedenstellenden Reim ergeben, aber Frühling und
dreißig Jahre reimt sich allemal. Zwar auch er dachte manchmal an seine dreißig
Jahre, aber er tat es wie ein Vierziger, heute jedoch war er, wie gesagt, darauf
gefaßt, daß ihm der Gott des Lebens ein seiner wahren Alterslage angepaftes
Abenteuer in den Weg führen werde. Allein als er im angenehmen Vorgefühl, heute
sein Geschäft zu schwänzen, in den Vorplatz oder Verbindungsschacht trat, der
ihn mit der Außenwelt verband, sah er einen Brief auf dem Boden liegen.In Berlin
werden die Briefe durch einen Türschlitz hereingeworfen, und nur wer
überflüssiges Geld hat,fängt sie in einem Briefkasten auf, den er von innen
davor anbringt. Peter hob ihn auf, betrachtete seiner Gewohnheit gemäß ihn
zuerst von beiden Seiten und öffnete im Schein der Küchentür. Zuerst fiel ihm
ein Schreiben in die Hand, worin Pastor Delius die moralische Unbescholtenheit
der Frau Ilse Krätke bezeugte und sich für ihre Zuverlässigkeit verbürgte.
Darauf fand er einen Brief von Ilse selber; er war mit der Feder geschrieben und
lautete folgendermaßen:54
Es wäre nun eine glatte Vermessenheit zu behaupten, daß dies ein Brief gewesen sei wie alle übrigen. Oder stammte er vielleicht doch nicht von Ilse Krätke? Schon dier! Zudem war er mit der Hand geschrieben und nicht mit der Maschine. Er hatte also Seele. Diese klugen, geraden Buchstaben blickten ihn an, als ob sie reden könnten. Das Papier er führte es zur Nase hatte Duft. Es war zartbläulich, von bescheidenem und doch nicht zu kleinem Format. Die Referenz des Pastors legte er auf die Herdplatte in der Küche. „Als ob ich den brauchte, um ihre moralische Unbescholtenheit zu erfahren!“ dachte er spöttisch.„Hat sie nicht bei mir auf dem Stuhl gesessen?“Ihren Brief steckte er zu sich. „Da sie nun doch einmal geschrieben hat!“ Mit froheren und jüngeren Bewegungen, als er vorgesehen hatte, schloß er die Wohnung ab, stieg die Hinterhaustreppe hinunter, durchschritt den Hof und die Durchfahrt „Uberall ist sie gewesen!“ und trat auf die Straße hinaus.„Vo kam sie her?“ fragte er sich. „Aus dieser Richtung natürlich.“ Wie beschenkt verfolgte er sie, da es auch die seinige war. Prophetisch sah er Ilse vor sich herwandeln, hörte den Aufschlag ihrer Absätze auf dem Asphalt, fühlte ihr nach, wie ihr der Wind um die
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*4
Daß man sich für seinen Beruf entscheidet, daß man auf die erste große Reise geht, daß man sich einer Frau zueignet, das sind alles Prozesse, auf die man wenig Einfluß hat. Eines Tages hat sich eben das Faktum eingestellt, und dem Betreffenden liegt ob,die Folgerungen zu ziehen. Naturen vollends, wie Schormann eine war, die wenig mit dem Willen leben,die ganz auf Schicksal und Einmaligkeit eingestellt sind,die dem Leben statt eines klaren Egoismus eine edle Freiwilligkeit entgegenbringen, fühlen sich im Dasein geführt. Bei ihnen ist Reife alles, der Betrieb nichts. Sie haben so eine morgenländisch chinesische Größe. Einen Weltkrieg würden sie nie entzünden,und keineswegs würden sie ihn gewinnen. Schormann durchwanderte den Grunewald wie ein junger Mandarin, der die erste Belehrung durch Laotse erhalten hat.Er ist beglückt, ohne sich seiner vorigen Unwissenheit zu schämen und ohne der zweiten Belehrung entgegen zu gieren, denn jetzt ist er satt und nur satt. Das Nachher ist dann wieder eine Sache für sich. Peter hatte zwar bloß fünf handgeschriebene Zeilen von der Hand einer jungen Witwe bekommen, aber als er mit diesem Brief in der Tasche das erste Rudel Hirsche sah, hätte er mit keinem Schüler Laotses getauscht.
Als er selber wie ein Rehbock bei den Pichelsbergen, einen vom Meer
nachgelassenen Dünenkranz,57
Am andern Morgen ging er mit seinen Mitteln zu Rate. Eigentlich war es ja ausgeschlossen, daß er von seinem ursprünglichen Beschluß absprang, denn was hatte er zu bieten? Aber er konnte seine Teilnahme am Geschick des schönen Wesens jetzt war sie schon schön! doch dadurch beweisen, daß er Ilse etwas verdienen ließ, und es auch wirklich zu bezahlen suchte.Das war sogar eine Anstandspflicht. Jeder nobel denkende Mensch hätte so gehandelt. Es war zwar der Dreizehnte des Monats; und nach der Abführung von beinahe der Hälfte seines magern Gehaltes an seine
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Es stand also immer noch die Beantwortung der nebensächlichen Frage aus, durch welche Mittel er der jungen Witwe ihre ehrliche Arbeit entlohnen werde.Nun, vielleicht konnte er seinen Sonntagsanzug versetzen. Er mußte dann freilich darauf verzichten, die nächsten Wochen in Gesellschaft zu gehen. Beim rapiden Ablauf der Geschicke eines Dichters war es auch keineswegs ganz sicher, daß er in absehbarer Zeit überhaupt imstande sein werde, den Anzug wieder einzulösen. Jedenfalls mußten die Schuhe vorher daran kommen, und konnte er somit rechnen, daß er seinen Anzug erst nach dem übernächsten Ersten wieder zu sehen bekommen werde. Um sich bei dieser Sachlage keiner Unbesonnenheit hinzugeben, wartete er noch einige Tage zu, ob nicht vielleicht etwas passierte, was ihm die ganze Disposition umwarf, auf Unglücke immer gefaßt, wie er nun einmal war, aber es geschah nichts.
Da packte er seine Blätter ein und machte sich auf den Weg zu Ilse Krätke. „Gott will es!“ dachte er ergeben. Und dann gab es da gewisse „Impondera
5.
O lse Krätke wohnte in einem ebensolchen Steinkasten J wie er; man konnte sich einbilden, daß ihr Eingang zum gleichen Höhlenlabyrinth gehörte, in das man auch durch seine Durchfahrt gelangte. Das brachte sie ihm geschwisterlich näher. Auch an ihrer Wohnungstür war solch eine schmutzig braune Kapsel mit einem Beinknopf dari, auf den man drücken mußte, damit es drinnen klingelte. Er tat es, brauchte auch nicht lange zu warten, denn schon kam sie mit ziemlich raschen, sozusagen begierigen Schritten, um zu öffnen. Als sie seiner ansichtig wurde, betrachtete sie ihn schweigend; darauf übergoß sie sich langsam mit Rot bis auf die Halsgrube hinunter.
Eine Frau im Haus ist noch einmal etwas anderes als dieselbe Frau im
Straßenaufzug. Es war noch ziemlich früh am Vormittag, aber sie kam ihm fertig
angezogen und wohlfrisiert entgegen. Ihr Haar trug sie nach der Mode, die eine
Art von Helmbau verlangte. Das hatte er nicht erwartet, aber es kleidete sie
vorzüglich. Der Mann, wenn er ehrlich und unverbildet ist, hält wenig vom
„unabhängigen“ Geschmack der Frau; sie muß in Beziehung bleiben mit den andern
Frauen. Wie aber nun das Licht von der Vorplatz31
„Ich komme wegen der Abschrift,“ hatte er indessen in etwas zögerndem Ton erklärt. „Wir haben ja neulich verabredet !“ Zwar sympathisierten seine schönen Augen mit ihr, allein seine Stimme war voll gütiger Bedenklichkeit. „Es dauerte noch, bis ich fertig war,“ entschuldigte er. „Vielleicht haben Sie jetzt gar keine Zeit für mich ?“
Er sah aus, als hätte er dies für eine sehr günstige Lösung betrachtet, aber sie
hatte im Gegenteil viel Zeit.52
„Nein, ich habe gerade nichts zu tun,“ erklärte sie mit natürlichem Lächeln, in welchem ein Schatten ihrer Einsamkeit mit lächelte. Plötzlich wurde hier so vieles heiter und hoffnungsvoll. „Bitte, gehen Sie nur voran. Es ist zwar bei mir noch nicht aufgeräumt „Wird schon aufgeräumt sein,“ vermutete er, ein paar Schritte machend. Sie fand ihn besonders liebenswürdig mit dem leisen Lachen, womit er diese Worte begleitete. „Wie Sie selber aussehen. Außerdem riecht es nach frischer Luft. Finden Sie es auch so köstlich,daß man jetzt wieder die Fenster aufmachen kann?“
An der Tür zur Wohnstube blieb er stehen, um ihr seine großen strahlenden Augen zuzuwenden. Sie fand,da könne man geradezu hineinstürzen, und ein bißchen befangen erwiderte sie:
„Gewiß, diese Jahreszeit ist überhaupt ein Geschenk! Aber wollen Sie nicht hineintreten?“ fügte sie hinzu. Sie fühlte, daß er Lust hatte, auf der Schwelle ein richtiges Gespräch über den Frühling mit ihr zu beginnen, und mit solchen Augen; davor über
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„Ach, da sind ja auch Kinder!“ rief er darauf überrascht aus. Von der innern Wohnung her schallte das herzhafte Gelächter eines kleinen Jungen. „Ich wußte ja gar nicht, daß Sie Mutter sind!“ sagte er,schon wieder ihr zugewandt. Es schien ihm wichtig und rührend zu sein, daß sie Mutter war. „Wieviele haben Sie denn, Frau Krätke?“
„Zwei,“ sagte sie mit lachendem Gesicht; es hatte irgend etwas Schönes, Ermutigendes, ihm zu sagen,daß da zwei Kinder waren.
„In jedes Auge eines,“ bemerkte er, auf ihren Ton eingehend. „Aber Ihr Mann?“ fragte er darauf ernster. „Ist er gefallen?“ Seine guten Augen musterten sie voller Teilnahme.
„Nein, er ist in der Heimat gestorben,“ gab sie Auskunft. Geradezu wohl tat das, mit ihm über diese Sachen zu reden. „An einer Krankheit.“
„Ja, ja, beinahe alle sind wir krank geworden,“bemerkte er mit trauernder Stimme. „Und die nicht krank werden, die werden einsam.“ Doch hielt er es für seine Pflicht, dabei nicht zu verweilen. „Nun,einige sind noch gesund und gesellig. Ihren Kindern geht es doch gut?“
„Gewiß, soweit es die Umstände zulassen. Was wir alles hatten, das ist ja für sie nicht da. Aber ,wer nicht weiß, der vermißt nicht, sagte meine Mutter immer.“
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„Kommt mal vor und sagt dem Herrn Guten Tag,“forderte die Mutter sie auf. „Sie sind ein bißchen scheu,“ erklärte sie Schormann. „Es kommt ja selten ein Fremder hier herein. Na, macht vorwärts.Also paßt auf, was der Herr da in der Mappe hat;da werdet ihr aber Augen machen. Mäxchen, wenn ich eins von euch wäre, da würde ich mich mal als klugen Kopf zeigen. An wen denke ich wohl?“
„An mich,“ sagte Mäxchen von sich überzeugt, aber er machte noch keine rechte Miene, hervor zu kommen.Er wartete ab.
„Das ist ja nun klar,“ sprach jetzt Peter die Kinder an, „die sogenannte Mappe hier ist ein Hund. Wer nicht in Zeit von Null Komma eine Kleinigkeit angeturnt kommt, mir die Hand gibt und seinen Namen nennt, der wird etwas gebissen. Ins Bein oder in den Bauch, das weiß ich nicht so genau vorher. Na, und was sagt ihr nun dazu?“
Märxchen war schon unterwegs.
„Ich komme so, nicht wegen dem Beißen,“ er
3Schaffner, Kinder des Schicksals.
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„Na, und ich heiße Schormann und bin einunddreißig,“ antwortete ihm Peter. Mäxchen war dunkelblond wie seine Mutter und hatte denselben lebenstreuen feuchten Glanz auf der Hornhaut, leicht gewölbte Lippen wie sie und ihre hauchzarte Pfirsichhaut. „Max heißt auch ein großer Freund von mir,“teilte Peter ferner mit. „Das heißt, der Name gefiel ihm nicht mehr, und nun nennt er sich Sam. Findest du das dumm?“
„Wie heißt denn du zum Vornamen?“ erkundigte sich Mäxchen, bevor er sich näher auf die Frage einließ.„Ich heiße nur so Peter. Man hätte keine rechte Zeit, mich zu taufen.“
„Ja, Max ist besser,“ stellte Märxchen fest.
„Aber ich heiße Emma!“ schrie nun das Mädchen,das sich inzwischen ebenfalls herbeigemacht hatte. Es war blond, wie sein Vater gewesen sein mochte, und dessen Pedanterie wiederholte sich im Kind in Form einer urgesunden und liebenswürdigen Sauberkeit ber ganzen Erscheinung.
„Auch Emma ist gut,“ gab er zu. „So hat nämlich meine Mutter geheißen. Wenn du eine so schöne,freundliche Frau wirst, wie sie gewesen ist, so wirst du auch sehr glücklich werden. Einen guten Anfang hat sie schon dazu gemacht,“ bemerkte er herzlich gegen Ilse.„Nutti, ist das der Onkel mit die vielen Bilder,“
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Ilse errötete jäh, und Peter blickte rücksichtsvoll weg; er sah ein bißchen betreten und auch ein wenig traurig aus.
„Nein, das war jemand anderes,“ erwiderte sie in aller Verwirrung. „Und überhaupt sollst du nicht so vorlaut sein.“
„Aber es war doch noch niemand sonst hier!“ beharrte Emma weinerlich. „Wenn doch sonst noch niemand hier war!“
„Na, also das wissen wir ja ohnedem,“ suchte Peter das Mädchen unter einem Anflug von Laune zu beruhigen. „Aller Anfang ist schwer, bloß das Lumpensammeln nicht!“ bemerkte er mit freimütigem Lächeln gegen Ilse. „Wißt ihr, warum?“ fragte er die Kinder. „Weil da der Sack noch leer ist.“
„Das ist aber nicht der Onkel mit die Bilders,“stellte Märchen ein für allemal seiner Schwester gegenüber fest. „Bücher mag der viele haben, auch ein Klavier. Du, kannst du predigen?“ wandte er sich an Schormann. „Wir wollen nämlich begraben spielen,und niemand kann predigen.“
„Na, predigen werde ich wohl für den Hausgebrauch ein bißchen können,“ gab der zu. „Aber wollt ihr nicht lieber Hochzeit spielen ?“
„Nee, begraben ist richtiger. Emmas Puppe ist doch gestorben, da kann sie nu nich noch Hochzeit machen.Willst du die Predigt halten, dett wir mit den Klimbim zu Ende kommen?“
F
„Du mußt aber auf den Stuhl steigen,“ machte Mäxchen aufmerksam. „Der Pastor steht immer höher als die Gemeinde.“
„Na, ich stehe doch höher als ihr, will ich meinen!Ihr müßt ja schon die Hälse verdrehen, um mir auf den Mund zu sehen.“ Das leuchtete ein; mehr wäre wahrscheinlich nicht einmal gut gewesen. „Also verehrte Anwesende! Diese alte, neunzigjährige Frau, die wir heute begraben, die ist nun glücklich auch gestorben.Na, was soll man denn dazu sagen? Bevor sie den letzten Seufzer tat, vermachte sie noch den Armen ihre Nähmaschine. Darauf können sich nun alle armen Leute Hemden nähen. Möchten noch mehr solche wohlmeinende alte Frauen sterben. Möchte ich auch ein Hemd von ihrer Maschine bekommen! Möchtet ihr alle Hemden von ihrer Maschine bekommen. Amen. Ihre Seele ist nun im Himmel und spinnt Seide. Führt ein christliches Leben, wenn's euch möglich ist. Und somit begrabt die guten alten Gebeine. Der Friede sei mit ihnen. Amen.“„Du, jetzt nochmal die Orgel!“ sagte Mäxchen leise zu Emma. Fromm begann er zu summen, und Emma summte mit. Ilse kamen unwillkürlich die Tränen.Still ging sie beiseite, um sich nicht dabei betreffen zu lassen. Zu deutlich standen ihr wieder alle letzten Zeichen vor den Augen, und gerade die milde, freund
„Mutti weint aber!“ bemerkte sie darauf. Auch Mäxchen verstummte. Er hatte es noch vor Emma gesehen, aber aus Verlegenheit so weiter gesummt.Jetzt blickte er wie um Rat fragend nach Schormann auf.
Der hatte aber seine Augen bereits bei Ilse. Wie von einem Geist geführt, näherte er sich ihr, und sehr brüderlich und einfach nahm er ihre Hand. „Jetzt habe ich Sie wohl schon zum zweitenmal weinen gemacht!“ hörten ihn die Kinder leise sagen. Mäxchen schloß daraus, daß es mit die Bilders also doch wohl stimmen werde. Doch nun sah er seine Mutter lieblich abwehrend und sogar um Entschuldigung bittend lächeln, ohne daß sie schon wieder sprechen konnte.Und Schormann sagte noch etwas ernster, doch auch sehr freundlich: „Nein, nein, das hat schon seine Richtigkeit! Aber ich habe wirklich nicht die Absicht, so fortzufahren!“ In seinem bedenklichen Gesicht ging ebenfalls ein Lächeln auf, und Mäxchen fand es sehr gut, daß er nicht die Absicht hatte. Mit weisem und befriedigtem Gesichtsausdruck wohnte er der Szene bei.
„Und nun wollen wir von unsern Geschäften reden,“schlug darauf Schormann vor. „Ich muß nämlich ins
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„Bis wann wollen Sie die Arbeit haben?“ erkundigte sich Isse mit roten Wangen, denn immerhin war es ihre erste Bestellung.
„Na, bis sagen wir, bis Mitte nächster Woche.Das können Sie doch leisten? Die
Sachen sollen zu Weihnachten als Buch erscheinen. Ende des Monats muß ich sie
spätestens einreichen. Ach, das wollte ich noch sagen: den Titel gesperrt und
hübsch symmetrisch etwas über der Mitte des Blattes.“ Er sagte es bloß,weil er
nicht recht loszukommen wußte; im Grunde fand er sich spießig und lächerlich.
„Na, und euch werde ich bestimmt etwas mitbringen,“ kündigte er den Kindern an.
„Ich weiß sogar schon etwas. Wollt ihr auch hübsch artig sein?“ Unwillkürlich
blickte er sich um. Wie hell und lebendig hier alles war! Es wurde ihm
ordentlich schwer, sich in seine dunkle, nach Norden gelegene Studier und
Rumpelkammer zurückzudenken,und es schien ihm nicht mehr würdig, so einsam nur
für sich zu hausen. Der Mensch war doch kein Maulwurf! Märchen nickte
ernsthaft.y.*,4
„Na, bei den Ohren nehmen will ich ihn sicher,“versprach Peter. „Wie heißt er denn sonst noch?“Er erfuhr es und nahm darauf seinen Abzug. Ilse reichte er an der Tür die Hand; sie hatte einen festen,auffallend klaren Druck. Die Haut war warm und trocken; sie fühlte sich seidig an und war mit so einer freundlich knisternden Elektrizität geladen, von der man wackere und unternehmende Empfindungen wie kleine herzliche Schläge oder Stöße empfing. Ilse sagte noch etwas vom Wetter, und er fügte seine eigene Erfahrung darüber hinzu. Er machte ihr wieder einen sehr bedeutenden und weltmännischen Eindruck. Als er ging,bemerkte sie, daß er ein bißchen vornüberhing; geradezu geschmackvoll, ja, eine Zierde erschien ihr das an ihm, da es auf Wissen und Geistesarbeit deutete. Obwohl er nicht übermäßig viel älter war als sie, sah sie ihn doch mit einer Regung von Scheu und Ehrfurcht die ersten Stufen hinabsteigen. Gelehrsamkeit und Dichtung waren ihr die höchsten Dinge, mit denen sich ein Mensch befassen konnte. Daß es von Peter Schormann in so natürtlicher und einfacher Weise geschah, das nahm sie geradezu für ihn ein.
Wieder allein „wie zurückgelassen“ in ihre Wohnung tretend, war es ihr, als wäre soeben ein guter,mächtiger Geist gegangen. Seufzend und leise ent
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Schormann fand jedoch heute sein Bureau nicht so kahl und hoffnungslos wie sonst. Eine milde Verklärtheit umgab ihn diesen ganzen Tag, und ihm war,als ob ein ernster Engel alle seine Schritte begleitete.Selbst als er mit seinem Prinzipal, einem kleinen, brutalen, tyrannischen Kerl von zeternder Gemütsart, zu verhandeln hatte, befiel ihn nicht die stille, ratlose Verzweiflung, mit der er sonst dessen geistige Mißhandlungen erduldete. Seinen Geiz, seinen Größen
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Als er am Abend sehr müde und ausgebeutet nach Hause kam, fand er einen Zettel vor, auf dem der Steuereinzieher ihm mitteilte, daß, da er bei einem Besuch nicht angetroffen worden sei, er aufgefordert werde, innerhalb von drei Tagen den angegebenen Steuerbetrag zu entrichten, widrigenfalls zur Vornahme der Pfändung seine Wohnung gewaltsam geöffnet werden müßte. Die Steuerrate betrug etwa so viel, als er durch seinen Anzug im Leihhaus zu lösen hoffte. Es war die gleiche Summe und genau das Geld, wofür er seine Gedichte bei Ilse Krätke auslösen wollte. Zweimal hatte er es nicht in Aussicht, da er nicht zwei Anzüge zum Versetzen besaß. Wenn der Beamte aber pfändete, so griff er nicht nach einer alten Hose und einem getragenen Rock; an den Wänden
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Ein wahrer Haß auf diesen Staat erfüllte ihn.Er pflog den Abend sehr anarchistische Betrachtungen.Die Alternative: die Steuerquittung oder seine abgeschriebenen Gedichte! erfüllte ihn mit einer gelinden Raserei. „Nun bist du doch in die Falle getappt!“dachte er einmal aufgebracht, aber gleich schämte er sich dafür. An allem waren diese gemeinen, niederträchtigen, kapitalistischen Verhältnisse schuld! Er verachtete Schiller für sein Gedicht von der Teilung der Welt mit dem versöhnlichen Schluß, der den zu kurz gekommenen Dichter in den Mitbesitz des Olymps setzt.„Alles Schwindel!“ schalt er gramvoll. „Auch im Olymp sitzt der Kapitalismus!“ Wollte er aber schon den stupiden Geldanspruch dieses Staates anerkennen,indem er hierfür seinen Anzug versetzte wie wurde er dann Ilse Krätke mit seinen Gedichten gerecht?Und mit ihren zwei Kindern? „Na, also eine Kleinigkeit ist das nicht!“ seufzte er, während er vollkommen unberaten zu Bett ging. Es fiel ihm ein, daß Sam
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At Ilse Krätke hatte nun einen Kunden. Sie arbeitete mit großem Eifer und einer stolzen Gewissenhaftigkeit, die ihren Wert in ihren eigenen Augen hob.Sie kam sich bedeutsamer, wichtiger und besser vor.Wenn sie ihre Kinder bemerkte, so sagte eine Stimme zu ihr: „Erhalterin deiner Unmündigen!“ Zugleich erinnerte sie sich daran, daß Herr Schormann ihnen etwas mitbringen wollte. Wenn sie schrieb: „Wie messe ich, ohne zu messen, den Flug der Tauben, so hoch und tief er blitzt?“ so begriff sie, daß es eine richtige Frage war, des Nachdenkens wert, und sie dachte mit Schormann nach. Es beglückte sie, daß es solche Fragen gab und daß es gerade Schormann war,der sie aufwarf; sie hielt dies für ein fragloses Verdienst, und sie zweifelte nicht daran, daß es viele,wenn nicht alle Menschen anerkennen würden. Mit wahrer Bewegung schrieb sie diese Strophe nieder:„Zuletzt steigen Nebel- und Wolkenzinnen in mir auf wie die göttliche Kaiserpfalz. Ich ahne, die Ewigkeit will beginnen mit einem Duft von Salz.“ Beim ersten Lesen hatten die Worte sie getroffen wie eine überirdische Erscheinung. Sie fühlte, daß dies sehr hochsinnig und überaus vornehm gedacht war, aber das
schien ihr nicht alles. Da rauschte und geisterte eine solche unerwartete Schönheit und Pracht der Ausdrucksweise, daß sie nur mit scheuer Verehrung an den stillen, leise gebeugten Menschen denken konnte, der solcher Gebilde wie seliger hoher Geister Herr war. Sie schrieb sich sogar die Strophe noch einmal besonders ab, um sie auch später lesen zu können, obwohl sie hierzu gesetzlich nicht berechtigt war. Und im Hintergrund trauerte bereits ein stilles Gefühl, daß sie längst nicht mehr für ihn in Betracht kommen werde,wenn diese Gebilde in der Welt ihren Weg machten.
Immerhin wollte sie sich bemühen, die hohe Kundschaft auch für spätere Bedarfsfälle zu behalten,und sie ließ sich keinen Fehler durchgehen. Hatte sie auch nur einen Buchstaben verschrieben, und war es auf der letzten Zeile, und hätte sie den Fehler leicht mit dem Radiergummi beseitigen können, so spannte sie unerbittlich ein neues Blatt ein und begann von vorn; das Radieren hätte eine leichte Spur zurückgelassen, und das beleidigte ihr Schönheitsbedürfnis,ja es verletzte ihren Stolz, der von ihr sozusagen eine kongeniale Leistung verlangte. Da sie noch von andern Strophen besondere Abschriften machte, so ist es wahr,daß sie die ganze Sammlung ungefähr zweimal abschrieb. Trotzdem war sie vor der in Aussicht genommenen Zeit fertig, und damit fing sie an, auf Schormann zu warten.menschlichen Beziehungen. Der verabredete Tag von Peters Wiederkommen verging, ohne daß er sich ge
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Die Kinder warteten nun schon ungeduldig und fragten endlos, warum er nicht komme, und wo er denn bleibe? Ilse selber wurde still und ernst. Sie fuhr so oft mit der Hand über die erste Seite seiner Handschrift, auf der mit eigenwilligen und zugleich sanft geschwungenen Buchstaben stand „Die göttliche Kaiserpfalz“, daß sie in der Abenddämmerung wie eine Wolke zu leuchten begann, aber besser wäre es gewesen, Schormann hätte sich endlich selber eingefunden.
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Am Sechzehnten hatte ihr Schormann die Arbeit gebracht. Um den Zweiundzwanzigsten herum wollte er sie abholen. Am Ersten bezahlte sie ihre Viertel
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Schaffner, Kinber des Schidfals.
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Nun, Ilse konnte sich davon Gedanken bilden,so viele sie wollte, aber etwa hinzugehen und Untersuchungen darüber anzustellen, wie es mit Schormanns Lebenshaltung beschaffen sei, stand ihr keinesfalls zu.Viel wichtiger und näher liegend war es, daß sie sich über die Fortführung ihrer eigenen Angelegenheit eine Anschauung schuf. Sie war nämlich dahinter gekommen, daß sie alles mögliche angefangen hatte, um ihr Geschäft bekannt zu machen, aber das einfachste hatte sie übersehen. Neben die Haustüre gehörte ein sichtbares Emailschild, das auf weißem Grund die Inschrift enthielt: „Maschinenschreibbureau von Ilse Krätke. Vervielfältigungen, Diktate, Abschriften!“ Sie begriff nicht, wieso sie das übersehen hatte, und machte sich Vorwürfe deshalb, da sie es ihren Kindern schuldig war, nichts zu übersehen. Nun fiel es ihr endlich ein,wo sie bloß noch vier Mark und sechzig Pfennige besaß.Doch erschien es ihr eine solche Hauptsache, eine solche unmittelbare Tür zum Erfolg, eine solche nicht zu über
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Im Verlauf einer genauen Untersuchung fand sie in den Schubladen nichts, aber im Sonntagsanzug ihres Mannes wie ein Geschenk aus dem seligen Jenseits einen Zwanzigmarkschein. Lange streichelte sie den Anzug mit feuchten Augen. „Du bist immer noch mein bester Freund!“ flüsterte sie, während ihre Lippen wieder verräterisch zuckten. Doch war sie zu gerührt,um zu weinen, und zu stolz darauf, daß sie dem Rat des Pastors, die ganze Garderobe ihres Mannes zu
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Für die laufende Woche sah Ilse noch keine unmittelbare Gefahr, da das Geld für Brot und Gemüse ausreichte. Die Milch bezahlte sie wöchentlich.Von Sonntag an eröffnete sie unauffällig eine kleine Schuldenwirtschaft. Schormann mußte ja nun jeden Tag kommen und Geld' bringen. Meistens hatte sie „ihr Portemonnaie vergessen“. Oder sie sagte: „Ach,ich habe nicht genug bei mir; ich zahle morgen!“ In der zweiten Wochenhälfte schickte sie die Kinder einkaufen mit der Verheißung: „Mutti zahlt dann zu
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Aber allmählich sah sie doch ein, daß sie einem zweiten Gang nach der Leibnizstraße nicht länger ausweichen durfte. Sie setzte nun keineswegs ihre Verehrung und Liebe beiseite, denn das vermochte sie nicht,im Gegenteil, sie beschloß, lediglich nachzusehen, wie es Schormann gehe und ob sie vielleicht etwas für ihn tun könne. Es ist leider wahrscheinlich, daß bloß des Geldes wegen sie weitaus den Gang zum Trödler vorgezogen hätte, aber aus Sorge um ihn und aus Hilfsbedürfnis unternahm sie den Weg beinahe schwungvoll.Nur das Herz klopfte ihr ängstlich, wenn sie an die Sache mit dem brennenden Mund und dem süßen Joch dachte. Um diesem Fall gegenüber eine Stellung zu haben, nahm sie die Abschrift mit.
Ser mann fühlte sich nicht gut. Ihm war zumute wie einem Menschen, der von einer unbekannten Mixtur genascht hat und nun nicht weiß, wie es ihm gehen wird. Manchmal war ihm wind und weh, aber dazwischen bekam er so schwermütig leichtsinnige Anwandlungen, als ob er ein Vogel wäre und sich auf Flügeln davon heben wollte, um sich voll Selbstmordbegier in den brennenden Abendhimmel zu stürzen.Früher, als es ihm bloß schlecht ging, hatte er ab und zu an Gott gedacht und übersinnliche Spekulationen nicht völlig von der Hand gewiesen. Seitdem es ihm ganz miserabel ging, dichtete er „Alles ist an ein Jenseits nur Glaube!“ und wandte sich mit einem gewissen kummervollen Interesse den Unvollkommenheiten des Diesseits zu. Seitdem er den Erlös für den versetzten Anzug, den er in der Phantasie schon doppelt ausgegeben hatte, dem Staat überlassen mußte, ging er mit einem neuen kommunistischen Manifest schwanger, gegen welches das Marxische ein Lerchengezwitscher war.
Da seine Schwester noch krank war und einen wiederholten Zuschuß brauchte, war
auch der Zeitpunkt herangekommen, der ihn mit seiner geliebten Erde, auf 87
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Inzwischen hatte auch er die Vierteljahrsmiete zu entrichten; er mußte zu diesem Zweck sein Konto im Geschäft mit einem Vorschuß belasten. Die bis zum letzten Tag erwartete Gehaltserhöhung war nicht zur Tatsache geworden; statt dessen hatte er den neuen Monat sogar mit einer wesentlichen Unterbilanz zu beginnen. In der gesteigerten Notlage griff er auf einige Novellen zurück, die er geschrieben hatte, um sie zum achten oder zum zehnten Mal auf die Reise zu Redaktionen zu schicken. Aber abgesehen davon, daß es ihm nicht gegeben war, sich in Prosa gemeinverständlich auszudrücken, dauerte die Prüfung dort wenigstens vierzehn Tage meistens sechs Wochen und die Zeit, wenen eine von den Arbeiten angenommen werden sollte, bis zur Drucklegung und Honorierung im günstigen Fall doppelt so lange. Peter Schormann hatte die Erfahrung gemacht, daß es für ihn keine „günstigen Fälle“ gab, was aber wollte er dann eigentlich mit diesem ebenso tollkühnen wie starrköpfigen Unternehmen? Zumal er selber sich davon überzeugt hatte,daß er keine Novellen schreiben konnte! „Argerst die Redakteure und nimmst sie gegen dich ein!“ sah er voraus. „Das wird alles sein!“ Aber mit Galgenhumor dachte er, daß man immerhin nicht wissen könne, ob nicht doch einmal ein Dummer darauf hereinfalle!
Denn dies blieb das nächste Ziel: die Arbeit bei Ilse Krätke verhältnismäßig bald auszulösen und so
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Es ist in Verbindung mit ihm das Wort „Halsstarrigkeit“ gefallen. Bürgerlich betrachtet, war er ein phantastischer und halsstarriger Charakter, dem man schwer helfen konnte. Warum zum Beispiel ging er nicht in eine Munitionsfabrik, wenn er doch in seiner standesgemäßen Fron nichts verdiente? Er hätte dort sogar Anregung zu sozialen Gedichten bekommen und hätte die Schwerarbeiter studieren können. Wie viele
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„Also, Mensch,“ sagte er zu ihm, „du bist ein Cello ohne Bauch. Da gibt's auch sphärische Töne. Sphärische Töne sind etwas Schönes. Weiß sie zu schätzen.Aber die sinnliche Resonnanz ist auch nicht zu ver
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Dies Gespräch fand statt in Schormanns Schlafzimmer. Peter hatte sich zu Bett gelegt, weil er sich so marode und abgetrieben fühlte, daß ihm geradezu der Mut zum Weiterleben fehlte. Außerdem schonte er dadurch seine Schuhe und Kleider. Das Dichten hatte er in den letzten Tagen ganz aufgegeben; er dachte jetzt nur an eine philosophischpoetische Abhandlung, in welcher der Tod als das beste Teil des Lebens erschien, und worin gewisse nihilistische Gedankengänge pessimistisch,ungläubig und dunkel wie Efeu das Grab der Welt umranken sollten. In der gleichen Zeit war er auch dem Geschäft fern geblieben. Den Arzt mied er aus wenigstens drei Gründen. Erstens scheute er die Geldausgabe. Zweitens war ihm am Leben nichts mehr gelegen. Drittens fürchtete er, daß der Arzt eine wirk
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Ferner ist ungesund die einseitige Beanspruchung eines Organs durch dieselbe Leistung wie zum Beispiel des Herzens durch dauerndes Radfahren; es müßte dazwischen auch einmal Holz gesägt werden. In der gleichen Weise schädigte Schormann das seine, indem er ständig an Ilse Krätke dachte; es wäre gut gewesen,gelegentlich an seinen Prinzipal, an den Präsidenten Wilson oder auch an andere Feinde zu denken. So war es für Sam nicht schwierig, hier auf dem Stuhl neben dem Bett zu sitzen und zu fragen: „Warum kriechst du nicht zum Arzt?“ Aber außerordentlich verwickelt war es, in Peters augenblicklichen Umständen überhaupt Fragen zu beantworten, denn es gab nichts, was für 00 die unabsehbarsten Widersprüche verstrickt hätte. Tatsächlich, bloß der Tod schien ihm ein Zustand zu sein,der noch eine einigermaßen eindeutige Vergnüglichkeit versprach.
Mancher wird sich jetzt wundern, daß diese Bekanntschaft einer mittleren Frau aus
dem Volke ohne gesellschaftliche Stellung einen so mächtigen Eindruck auf den
Geistesheros hervorbrachte, aber manchmal genügt die zarte Klaue eines
Vögelchens, sagt man, eine zum Sturz vorbereitete Lawine ins Gleiten zu
bringen.Mit andern Worten: er war nun einmal ein seelisch und körperlich
unterernährtes Kriegssubjekt, in unfreiwilliger Abstinenz und Askese blutarm
geworden, durch 33
„Laß mich schon mit diesen Scharlatanen zufrieden!“beantwortete er daher Sams Einladung zum Arzt.„Und überhaupt, so krank bin ich nicht, daß du dich schon darauf gefaßt machen könntest, meine Bilder zu verauktionieren. Ich muß vielleicht ein paar Tage ausspannen. Das Quartalsverzeichnis hat mich diesmal ganz kaput gemacht.“
„Der Quartalssuff wäre gesünder!“ beharrte Sam sehr erfahren. „Und noch gesünder wäre kaput geliebt. Weißt du, warum? Weil deine verplemperten Kräfte dann bei einem andern aufgehoben wären, wo du sie in anderer Form wieder beziehen könntest. Wie stehst du nun mit der schweigsamen Ilse ?“
„Weißt viel von ihrer Schweigsamkeit,“ spottete Peter. „Wie stehst du mit dem Küster, der bei deiner Taufe geläutet hat? Sie hat mir meine Gedichte abgeschrieben. Das ist nun alles.“
„Woso alles? Man denke sich doch was dabei.Mithin ist der Weg für mich offen? Mußt dir nicht einbilden, daß ich sie schon vergessen hätte. Na?“
„Singe Arien.“
Sam schwieg einen Moment, während er den Freund durch leicht gekniffene Augenlider betrachtete. Er hatte
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„Dich versteh ich nicht!“ versetzte endlich Sam.„Du hältst übrigens auch hinterm Berg. Na, jeder nach seiner Art! Solltest aber unser Verhältnis nicht so grob unterschätzen. Bei dir bin ich, weißt du, noch so in der Anständigkeit verankert. Vor der Haustür der Schweigerin hab ich schon patrouilliert sage es offen. Hat vor ein paar Tagen ein Schild anbringen lassen; ich hätte also ein Recht, hineinzugehen und mich zu erkundigen. Ging aber vorbei. Hab mich noch nicht mal mit ihren Kindern befreundet.Peterchen, es ist manches unanständig, was man nicht dafür ansieht. Gebet dem Leben, was des Lebens ist.Diese einsame Witwe hab Nachrichten eingezogen hängt in der Luft. Wirst du ihr die Hand zum Erfolg bieten? Was braucht der Mensch zum Leben?Darüber denke mal nach. Wer Zähne hat, der pfeift auf vieles.“
Mit beinahe traurigem und ernst grübelndem Gesichtsausdruck, den Hut im Genick,
verstummte er.Er wußte nicht einmal sicher, ob Peter ihm zugehört a5
Schormann betrachtete immer noch seine Gardine;zweifellos hatte sie elf Löcher; vielleicht waren es sogar mehr. Eine Weile spielte Sam noch mit dem Stöckchen auf dem Boden. Dann, unter einem raschen Entschluß und etwas ungeduldig geworden, erhob er sich, um zu gehen; plötzlich war es ihm, er könnte den Anschluß an das pulsende Leben draußen verlieren, und es wurde ihm Angst vor dem Geist, der hier, auch wenn alles schwieg, sein übersinnliches und leise zehrendes Wesen trieb. Eben wechselte er das Stöckchen in die linke Hand, um sich von dem Kranken zu verabschieden, als es klingelte. Beim geringsten Geräusch hätte man es überhört, so schüchtern und flüchtig schlug die Glocke an. Sam blickte auf Schormann, der aufhorchte.„Es wird die Post sein vermutete er, plötzlich unruhig. „Sieh doch mal nach. Mehr als Drucksachen kriegt man zwar auch so nicht!“ setzte er ärgerlich hinzu. „Man existiert, und kein Mensch nimmt Notiz davon.“Der Krieg hatte ihn vereinsamt; es war mit ein Grund, warum er ihn mit allen Generälen und strategischen Genies haßte. Von seinen Pariser Freunden war er abgeschnitten er hatte ein Jahr von einem Preis in Frankreich gelebt und dann noch eines von nichts und die deutschen staken im Schützengraben.
Sam ging pfeifend aus der Stube, um zu öffnen.Als er statt des Briefträgers Ilses schlanke Gestalt
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Ilse machte zunächst nur große Augen. Irgend etwas sehr Geistesgegenwärtiges ist von ihr nicht zu vermelden. Sie war gefaßt gewesen auf die Gestalt Peter Schormanns wenn es sein mußte, mit dem brennenden Mund oder auf eine Figur, die nach einem süßen Joch aussah. Das Erscheinen dieses langen eleganten Lulatsch mit dem Hut im Genick und der Zigarette zwischen den Lippen verblüffte sie so, daß sie erst noch einmal auf das Schild draußen sah, ob sie sich auch nicht geirrt habe. Da sie ein unverbrauchtes Gedächtnis besaß, erkannte sie in ihm sofort den „Ausländer“ von damals, der ihr so unverschämt unter den Hut gesehen hatte. Im weitern ging ihr ein Licht auf, daß der Schlingel wohl irgendwie zu Schormann gehören mußte.
„Ja, ja, all right! Sie sind ganz richtig!“ lachte jener zum Überfluß. „Peter Schormann, der große Dichter. Hier wohnt er. Ich glaube, er erwartete Sie.Darf ich bitten ?“
Nach einem letzten, fragenden Blick auf sein Gesicht trat sie ein. Wie konnte Schormann sie erwarten?Hatten sie ausgemacht, daß sie ihm die Arbeit bringen solle? Hatte er es ihr vielleicht geschrieben, und war
Schaffer, Kinder des Schicksals.
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„Herr Schormann ist doch nicht krank?“stotterte sie plötzlich heraus. Sie blieb stehen und wandte ihm noch einmal ihre dunklen Augen zu, die jetzt ungemein viel Tiefe hatten.
Sam erinnerte sich anständig daran, daß er hier nicht das erste Recht habe, und anstatt sie kurzerhand in den Arm zu nehmen, wie er Lust verspürte, antwortete er entsagungsvoll lachend: „Na, so schlimm wird's nicht sein. Er liegt zwar im Bett und will von nichts sehen und hören. Aber ich werde Sie melden,und ihm wird gleich anders werden.“
Sehr dankbar war sie der Dunkelheit im Vorplatz,weil sie ihm ihr Erröten vielleicht verbarg.
„Er ist wohl erkältet?“ fragte sie, um noch etwas zu sagen.
„Vielleicht ist er auch erhitzt,“ meinte Sam vrakelhaft, indem er ihr die Tür zur Stube öffnete. „Wird wohl so ein Wechselfieber sein. Na, setzen Sie sich,“hieß er sie ein bißchen mißlaunig, denn im vollen Tageslicht war sie noch viel hübscher, als er sie in der Erinnerung hatte, auch reizender, als sie ihm dort bei einem Gang über die Straße zwischen ihren Kindern erschienen war. Sogar ihre Formen schienen ihm jugendlicher und straffer, und in ihrem Wesen war so etwas Frisches und trotz ihrer Kinder mädchenhaft Unangebrauchtes, das ihm beinahe ein zwingendes Bedürfnis verursachte, darin einen Umschwung herbeizuführen. „Ich werde Herrn Schormann benachrich
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Ilse wunderte sich zuerst über den plötzlich umgeschlagenen Ton bei Sam. Indessen schlug er gleich wieder um, denn sobald er in ihrer Nähe war, fing er an zu poussieren. Er setzte sich auf die Sofalehne, ließ eines seiner langen Beine pendeln und begann das Gespräch mit ihren hübschen Kindern, für die er ihr Komplimente machte. Darüber besorgte sie sich ein bißchen.
„Wohnen Sie denn in meiner Nähe?“ fragte sie ungewiß, wobei sie aussah, als ob sie das wirklich nicht gern sehen würde. Er lachte.
„Nein, ich wohne in Schöneberg,“ beruhigte er.„Im bayrischen Viertel, genannt Schieberschweiz. Aber Sie haben mir einen so energischen Eindruck gemacht,daß ich schon zweimal zu Ihnen heraus gefahren bin.Einmal sah ich, wie das Schild an Ihrer Haustür angebracht wurde. Sie standen alle darum herum und freuten sich.“ J
Ilse senkte den Kopf und errötete langsam. „Ja,wir freuten uns,“ sagte sie leise.
„Haben Sie schon viel zu tun?“ erkundigte er sich,aber da er gar kein Verlangen danach empfand, sie stark beschäftigt zu wissen, so tönte die Frage ein bißchen scheinheilig. Sogar ihr fiel sein falscher Ton auf.Wieder wandte sie ihm fragend die Augen zu.
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Er hielt es für richtig, ein kurzes, vielwissendes Lächeln über sein Gesicht huschen zu lassen, während er wieder herausfordernd mit dem Bein schlenkerte. „Ja,von mir sind auch viel Leute in den Ferien, die ich nicht kenne,“ erwiderte er. „Zum Beispiel der Intendant der königlichen Oper, der mich nicht anstellen will, ist in Scheweningen. Ich bin nämlich Opernsänger. Habe eine ganze Masse Engagements aus der Provinz, aber mit meiner Stimme geht man nicht in die Provinz.Wenn wir uns näher kennen, werde ich Ihnen mas was vorsingen; sowas haben Sie noch nie gehört.Waren Sie schon in einer Oper?“
„Ja, im deutschen Opernhaus. Mein Mann hat da manchmal Billette bekommen.“
„Aha. Na, bleiben Sie mal in Verbindung mit Sam, dann können Sie sie von mir bekommen. Ich werde im nächsten Winter zuverlässig dort singen. Sam,das bin nämlich ich. Schormann wird Ihnen doch noch nicht von mir erzählt haben.“
„Doch, Sie heißen sogar eigentlich Mar,“ platzte sie heraus. „Mein Altester heißt auch so; dabei kam das zur Sprache,“ erklärte sie, als sie an seinem Aufhorchen seine Empfindlichkeit erkannte.
„Und Nuschke heiße ich auch noch eigentlich,“ setzte er zornig lachend hinzu. „Mein Vater ist Hausbesitzer in Amerika, verstehen Sie. Das heißt auf Deutsch Millionär. Man muß nämlich alles wissen. Schormann ist ein armer Schlucker, der von seinem Geist
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Sie dachte an die göttliche Kaiserpfalz und an die Ewigkeit, die mit einem Geruch von Salz beginnen will, und für Peter eintretend versetzte sie: „Ja, die Gedichte sind sehr schön. Und man kann sie ganz gut verstehen, wenn man will.“ Dann senkte sie den Kopf D Augen nicht wohl. Auch verdroß es sie ein wenig, denn was hatte er sie anzublitzen? Sie war hier, um Schormann zu sehen.
„Na, die Gedichte verstehe ich ja auch,“ gab Sam zu. „Natürlich. Da müßte man ein Kaffer sein.Aber ihn selber? Pah! Also es kostet mich ein paar Worte, und Sie können mit zwei Gehilfinnen arbeiten.Mir können Sie ja nichts weismachen, Frau Krätke; ich kenne mich aus in Ihrer Kiste, können Sie mir glauben.Das ist wohl freundschaftlich von ihm gehandelt? Hat er selber vielleicht die Mittel, Ihnen auf den grünen Zweig zu verhelfen?“
Sie verdüsterte sich ein wenig. Unwillkürlich gingen ihre Blicke nach der Tür zum Schlafzimmer. Aber sie war verschlossen, und indem sie die Augen wieder ihrem Bedränger zuwandte, erwiderte sie leise, doch voll natürlicher Wärme:
„Herr Schormann wird mich schon empfehlen, wenn er meine Arbeit gesehen hat. Sie sagen ja selber, daß jetzt alles auf dem Lande ist.“
Er rutschte von der Sofalehne herab und näherte sich ihr.31
„Mir kann Arbeit bringen, wer will. Darum hängt ja mein Schild an der Tür.“
„Da haben Sie wohl Abschrift?“ vermutete er mit einer Kinnbewegung nach dem Paket. Die eine Hand hatte er in der Hosentasche, und die andere spielte mit dem Stöckchen.
„Ja.“„Etwa die Gedichte?“ Er verzog spöttisch den Mund, während sie schwieg. „Sieh mal an! Ich denke, das ist längst all right! Also eine glänzende Geschäftsverbindung!“ Sie blickte voll sorgenvollen Trotzes an ihm vorbei. „Wollen Sie mir mal zeigen,was Sie gemacht haben?“
Ilse öffnete langsam das Paket. Nach der Frechheit, mit der Sam über Schormann sprach, mußte es diesem ziemlich schlecht gehen, und zum erstenmal ahnte sie, daß er vielleicht sogar wirtschaftlich übel dran war.Dunkel zog ihr durch den Sinn, was sie schon über arme Dichter gelesen und gehört hatte. Zwar unter armen Dichtern hatte sie immer solche verstanden, die
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„Na, nu sehen Sie mal,“ stellte er ihr in gut zuredendem Ton vor. „Wozu mir also Theater vorspielen? Ich habe ihm gesagt: Mensch, hier setzt es nämlich Verantwortungen!“ Wie Sie hier gewesen waren, wollte er Ihnen die Arbeit nicht geben. Er brauchte eine, die er um den Lohn behumsen konnte.Noch so 'ne Frage: Warum ist er dann doch zu Ihnen gegangen? Nun kann er Ihnen richtig Ihre Arbeit nicht bezahlen. Was denken Sie, was für ein Mann er sein könnte, wenn er seine Bilder losschlagen wollte?Fünfzigtausend Mark habe ich ihm schon geboten. Das Zeug steigt ja täglich im Wert. Verkooft nich. Dicknäsig auch noch!“
„Er soll auch nicht verkaufen, wenn sein Herz daran hängt,“ sagte Ilso so verloren vor sich hin zu Sams großem Erstaunen. Er brauchte sogar etwas Zeit, um sich davon zu erholen.
„Das ist glänzend: Soll auch nicht verkaufenl Ausgezeichnet!“ spottete er dann
leidend. „Inzwischen verhungern Sie mit ihren Kindern. Logik der alten Welt. In
Amerika, wenn es einem schlecht geht, so verkloppt er, was er nicht zum Leben
braucht, und 103
„Ja, das ist keine Kunst,“ versetzte sie wie vorhin.„Und verkauft ist immer bald.“
„An Unterernährung zugrunde gehen dauert allerdings etwas länger. Wenn die Deutschen den Krieg verlieren, ist der Plunder kein Diner bei Borchardt mehr wert.“
„Dann gibt es Revolution, und allen armen Leuten geht es besser.“
Wenn sie ihn gewinnen, wird es ihnen nicht besser gehen ?“
Darauf blieb sie ihm die Antwort schuldig.
9 „Na, so ungefähr spricht Schormann auch. Aber ich sage Ihnen: es wird allen schlecht gehen. Und wenn sie so fort machen, werden sie ihn verlieren.“
„Sie werden ihn gewinnen!“ warf Ilse ein.
„Mir auch recht. Ich bin ein Amerikaner! Wir sind Geschäftsleute; wir werden den Ausverkauf hier machen. Also ich habe ihm gesagt, daß ich mit ihm bei Ihnen konkurriere. Auch Sie find eine Geschäftsfrau. Herr Schormann kann nicht vor Ablauf eines Monats zahlen. Seine Schwester ist krank. Er mußte Steuern blechen. Und so weiter. Also ich werde an seine Stelle treten. Sie werden mir erlauben, Sie zu besuchen. Ich werde Ihnen Aufträge verschaffen. Ich könnte ja einfach bei Ihnen eindringen. Sind Sie eiwa in der Lage, viel Widerstand zu leisten? Aber ein Amerikaner hat Sinn für die Freiheit.“ Er hatte seine Brief
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Ilse erhob sich. Sie war etwas blaß, aber ganz ruhig.„Ich muß jetzt gehen,“ sagte sie, ohne einen Blick auf das Geld zu werfen. „Es tut mir leid, daß ich Herrn Schormann nicht sprechen kann. Ich dachte,vielleicht könnte ich etwas helfen ?“ Seufzend und voll trüber Gedanken wandte sie sich zum Gehen.
Sam pfiff leise durch die Zähne. „Also lieber der Hungertod ?“ knurrte er erbost.
Dann dachte er wieder an das abgekürzte Verfahren. Doch inzwischen regte es sich
hinter der Tür zum Schlafzimmer. Im nächsten Moment ging die Klinke nieder; die
Tür öffnete sich, und über die Schwelle trat vollständig angezogen das
Leidensbild, das Peter Schormann gegenwärtig vorstellte.Aber doch nur sein
Körper war hinfällig. Denn während seine Wangen tief eingefallen an den Zähnen
lagen und scharfe Falten von seiner Nase zum Mund herunterliefen, die von
ausgestandenem Leid sprachen, traf sein Blick mit einem stillen entschlossenen
Licht die freund liche Gestalt, an die er schon so viele vergrämte Gedanken und
Betrachtungen gewendet hatte. Ilse war von seinem Aussehen so ergriffen, daß sie
ihm unwillkürlich ein paar Schritte entgegen trat. Das Licht in seinen schönen
Augen nahm an Innigkeit zu, aber gleichzeitig erschien in seinem Gesicht eine
Strenge, die sich gegen ihn selber wandte, so ein Zug von hoch herziger
Gewissenhaftigkeit, der auf die Anwesenden 05
„Ich wollte Ihnen Ihre Gedichte Sind Sie denn sehr krank?“ stotterte Ilse, während sie ihm ohne ihr Wissen die Hand entgegenstreckte. Die schüchterne und zarte Bewegung, mit welcher sie es tat, war seiner Haltung ganz gleichwertig, und von seiner eigenen Freude über die ihre, ihn wieder zu sehen, erschüttert,kam er ihr schnell zuvor.
„Nein, nein!“ beruhigte er lachend und bemüht,seiner Stimme einen festen Ton zu geben. „Eine Erkältung oder so was. Es ist schon vorbei.“ Tatsächlich war es ihm augenblicklich so wohl ums Herz, wie er es seit vierzehyn Tagen nicht mehr erlebt hatte. Ganz
‚dankbar sah er sie an. „Sie wollten wohl mal selber sehen kommen, weil ich
nichts mehr von mir hören ließ?“ vermutete er darauf verlegen lächelnd und mit
einem traurigen Glanz um die Augen, wie ihn Menschen haben, die an Armut und
Mühseligkeit gewöhnt sind. „Mein Freund hat Ihnen wohl alles gesagt. Ja, so ist
das hier. Ich möchte Sie bitten, das Geld zu nehmen. Ich werde Sam dafür einen
kleinen Kunstgegenstand geben. Er hielt mir neulich vor: Was braucht der Mensch
zum Leben? und ich finde, daß er recht hat. Sie können es ruhig nehmen; ich
werde ihm nichts schuldig werden.“ Er ging selber hin und nahm die Scheine auf,
um sie ihr persönlich zu überreichen. „Ich hörte schon, daß Sie so schön
geschrieben hätten,“ sagte er freundlich. „Ich danke Ihnen dafür und freue mich
darauf. Wenn es Ihnen Vergnügen 196
Dies alles schien ihr nun wieder so richtig und in allem Zartgefühl selbstverständlich, daß sie ihn von neuem tief bewunderte. Sie konnte bloß dazu nicken,weil aus dem ersten Wort ein Tränenausbruch geworden wäre, denn schließlich: bedeutete das alles nicht einen Abschied nach kurzem Kennenlernen? Er hatte eine kranke Schwester, die er sicher sehr liebte. Zudem stand er, auch in seiner Armut, turmhoch über ihr. Es war ja schon eine große Güte, daß er sie anerkannte und liebreich zu ihr sprach. Da er es selber sagte, fand sie es übrigens nicht mehr unmöglich, daß er so ein kleines Bildchen ihretwegen weggab. Ihre Augen glänzten wieder sehr dunkel, da sie nun voll Schwermut waren. Gern hätte sie ihm eine seiner schönen Hände geküßt, doch sie wagte es nicht.
„Aber das ist zu viel,“ wandte sie mit Mühe ein;geschäftlich konnte sie sich zur Not noch äußern. „Ich habe bloß die Hälfte zu bekommen.“
„Es ist viel zu wenig!“ versetzte er schnell mit einem Ton, als ob er sagte: „Ich
liebe dich, aber sieh doch !“ Sie verstand ganz genau. „Außerdem habe ich Ihren
lieben Kinderchen etwas versprochen.Warten Sie mal!“ Er ging an sein Bücherregal
und nahm zwei Bilderbücher herunter, die ihm einmal zum Rezensieren zugeschickt
worden waren; es waren die bekannten Blumen und Insektenmärchen eines Münchner
Malers. „Das wird ihnen gefallen!“ sagte er,sich selber freuend, während er sie
ihr überreichte.107
Beschenkt und ohne ausdrückliche Worte um Verzeihung gebeten, taumelte Ilse wie in einem schönen traurigen Traum aus dem Zimmer. Den Ausländer hatte sie völlig vergessen. Dasselbe ist nicht von Peter zu sagen, doch er hob ihn sich für nachher auf. Als aber Ilse draußen am Kleiderständer Schormanns Wintermantel hängen sah, überkam sie doch noch das Weinen, denn der hatte ja längst nicht mehr hier zu sein; er sollte eingekampfert im Schrank hängen. Mit einer verwaisten Bewegung blieb sie stehen und wandte ihm das Gesicht zu. „Versorgen Sie auch Ihren Winterüberzieher, sonst kommen die Motten darein!“sagte sie in tiefer Traurigkeit zu ihm. Er sah sie hart ergriffen und seiner selber kaum mehr mächtig an.Darauf ergab es sich völlig traumhaft, daß er das liebe Wesen in den Arm nahm. Auf einen Moment lag sie an seiner Brust, und die ganze Welt mit ihren Systemen und Rätseln floß ihnen zusammen zum geisterhaften Kristall eines Kusses.
Ebenso traumhaft, als Sam sich pfeifend drin regte,wichen sie auseinander. Das heißt, Ilse wich. Schormann lehnte eine Weile überwältigt und halb ohnmächtig unter dem ungeheuren Aufstand aller seiner Gefüble an der Wand. Das war noch etwas anderes
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Derselbe Mann ungeküßt und geküßt das können zwei ganz verschiedene Leute sein. Als Peter wieder seine Stube betrat, sah er zwar still und innerlich sehr beschäftigt aus, aber dieser stille und beschäftigte Mann hatte ein anderes Maß. Sam bemerkte es sofort. Er hatte wieder auf der Sofalehne Platz genommen, schlenkerte wie vorhin mit dem Bein und schlug den Voden mit seinem Stöckchen. Peter ging einige Male in der Stube auf und ab, und Sam kam es endlich sogar vor, als hätte er ihn überhaupt vergessen.
„Na, und?“ fragte er schließlich dreist, als ihm die Vorbereitungen zu lange währten. „Welches Bild soll ich also haben ?“
Schormann blieb stehen. Er schien sich zu erinnern.Wie aus einer hellen Ferne kam
sein immer etwas dämmeriger Blick zurück. Einer seiner Pariser Freunde hatte von
ihm gesagt, seine Augen feien wie fliegende dunkle Tauben, die Sonne auf den
ausgespannten Flügeln trügen.5
Sam stellte sich auf die Füße. Er war nicht größer und nicht kleiner als vorher, allein er begriff,daß ihm der Handel fehlgeschlagen war. Er zuckte die breiten Schultern, die der Schneider durch reichliche Wattierung noch künstlich verbreitert hatte. Da sein Rock im Gegensatz dazu scharf auf Taille gearbeitet und in der Hüfte durch einen Gürtel zusammengehalten war, so machte er trotz seiner ansehnlichen Figur einen jungenhaften, naseweisen und recht schlacksigen Eindruck. Peter sah zwar verwahrlost,aber durch Schwermut reif und durch die Atmosphäre von Ernst und hoher Verständigkeit, die ihn umgab,vergrößert aus. Es gibt Menschen mit und Menschen ohne Atmosphäre. Doch dumm war auch Sam nicht.
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„Danke. Brauche keine Erklärungen. Mache mir meinen Vers alleene,“ warf er schnoddrig hin. „Einen Standpunkt nimmst du ein ! Na, du bist eben ein Intellektueller. Kannst dir was dichten. Dabei zieht der andere den kürzeren. Außerdem hast du mir ja ein Vergehen nachzuweisen. Trotzdem wie ein Triumphator siehst, du nicht aus. Mensch, ich müßte mich sehr irren, wenn du meine Sympathie nicht weiterhin brauchen könntest! Genieße dein Überlegenheitsgefühl. Und geh zu den Dadaisten, kann ich dir raten. Das sind noch ganz andere Schieber als ich.Kriegst einen Mäzen. Sei so verrückt, wie du willst wirst immer einen Interessenten finden. Aber einen Kerl zu treffen, der deine hohe Vernunft kapitalisiert mein Junge, da sehe ich allerdings nach wie vor sehr schwarz!“
Den Stockgriff im Genick, ging er langsam aus dem Zimmer. Draußen brannte er sich noch eine Zigarette an. Auf der Straße kaufte er drei rote Nelken, die er ins Knopfloch steckte. So hatte er hinlängliche Vorbereitungen getroffen, um unter neuen Unternehmungen den heutigen Ausfall zu begleichen oder wenigstens zu vergessen. Aber seine andern Freunde fanden ihn in der nächsten Zeit nicht richtig untergebracht.
Peter dagegen verfaßte am gleichen Abend einen Brief an Ilse Krätke, worin er sie noch einmal um Verzeihung bat. Darauf machte er ihr und sich alle
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Er wagte es auch gar nicht. Als er den Brief geschlossen hatte, steckte er ihn in seine Schublade.Es wäre möglicherweise interessant und aufschlußreich gewesen, darüber nachzudenken, warum er das tat, aber er unterließ auch das. „Man muß vielleicht wirklich nicht alles wissen,“ dachte er scheu.
Rse wartete drei Tage auf diesen Brief, das heißt, sie J fürchtete sich vor ihm. Für freundlicher und aussichtsreicher hielt sie es, wenn kein Brief eintraf. Ein Abschied war ohnehin ein Abschied; wozu brauchte der besiegelt zu werden? Als drei Tage herum waren,fing sie leise an zu leben. Von den Bankscheinen ging die Hälfte für die Bezahlung der Schulden drauf.Der Rest gab eine Woche zu existieren, wenn man's geschickt anfing. Fleisch war nicht nötig, und man bekam ja auch nicht mehr viel. Mit Kartoffeln, etwas Gemüse und den städtischen Rationen an Butter und Margarine nebst drei Pfund Brot auf den Kopf konnte man sich hinlänglich ernährt fühlen; die Kinder erhielten auch noch Milch. Ilse war gar nicht mutlos.Hatte ein so hochstehender Geist wie Schormann es für gut gefunden, sie in den Arm zu nehmen und zu küssen, dann brauchte sie über ihre Umstände nicht zu ängstlich zu denken. Gegen vieles Schlechte war sie nun gefeit, und für das Unvermeidliche besaß sie Kräfte,um es zu ertragen und zu überdauern, bis bessere Zeiten kamen. Sehr gern hätte sie ein Bild von Peter gehabt, um es auf dem Vertiko aufzustellen gegenüber von ihrem seligen Gatten; dann hätte sie zwei g
Schaffner, Kinder des Schicksals.
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Nach dem bisherigen Verlauf ihrer Unternehmungen ist es nicht verwunderlich, daß sie nach acht Tagen wieder auf dem alten Fleck stand. Eine Woche lang hatte sie sein Brot gegessen, hatte sie jede Mahlzeit mit ihren Kindern als eine Art von heiligem Abendmahl gefeiert, bei welchem er ungesehen mitten untet ihnen saß, um mit ihnen zu sprechen und sie zu segnen. Bei jeder Berliner Stulle hatte sie zu den Kindern gesagt:„Das ist Herrn Schormanns Brot; eßt es mit Vernunft!“ Oder beim Mittagessen, wenn es Pellkartoffeln mit Kohlrüben gab: „Das schickt euch Herr Schormann; ihr sollt heute abend für ihn beten.“Vor den Augen der Kinder stand er bereits als ein großes Zauberwesen von fabelhafter Güte und Umsicht. Mäxchen hielt es freilich für möglich, daß er auch einmal eine Wurst oder wenigstens ein paar fette Heringe schicken möchte, aber darüber äußerte er sich nicht. An einem gewissen Tag war aber die ganze kurze Herrlichkeit zu Ende. Herr Schormann hatte nichts mehr geschickt, und es bestand auch keine Aussicht, daß er es so bald wieder tun würde. Als die Sache an die Kinder kam, hatte Ilse bereits eine Reihe von Hungertagen hinter sich. Sie machte sich jetzt Vorwürfe darüber, daß sie in den ersten Tagen so drauf
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Die Kinder hatten heute die letzte Milch geholt.Sie besaß zwar noch. eine Brotkarte, aber bloß Geld für den dritten Teil des Gewichtes, das sie ihr zusprach; dies ließ sie holen. Aus der Speisekammer und den Schubladen des Küchenschrankes suchte sie zusammen, was sich noch vorfand, etwas Graupen, zwei Maggiwürfel, eine Zwiebel, drei gekochte kalte Kartoffeln; davon machte sie eine Suppe. Da sie von dem Brot hineingeschnitten hatte, wurde die Suppe sogar ziemlich dick, und die Kinder aßen sich „dudelsatt“,wie Märchen signalisierte. Für Ilse fiel wenig ab vielleicht fünf oder sechs Eßlöffel voll und das wenige schmeckte ihr gallebitter, da sie überhungert und halb krank war vor Angst und Unnachgiebigkeit. Sie hatte das Empfinden, keinen Moment ruhig auf ihrem Stuhl sitzen zu können, dabei fühlte sie sich so müde und entkräftet, daß sie gar nicht den Entschluß zum Aufstehen fassen mochte. „Na, und, Mutti,“ mahnte endlich Emma, „werden wir heute denn nich Mittag schlafen?“ Ilse sah das Kind an. Wenig fehlte,und sie hätte laut gefragt: „Wozu schlafen?“ Genau so, wie sie vorher gedacht hatte: „Wozu aufstehen?“Aber dann fiel ihr ein, daß der schlafende Mensch glück
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Ilse begab sich still und erschreckt in die Wohnstube zurück, um den Tisch abzuräumen, und dann in die Küche, um abzuwaschen. Da sie ein gesunder,saftvoller Mensch war, konnte ihre Natur den Hunger als nichts Nebensächliches behandeln. Er griff ihren
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Das waren die deutlichen und festen Vorstellungen,an denen sich die trüben, treibenden Wasser ihrer Hungerphantasien hinauftasteten. Immer öfter sah sie sich ihre Kinder aus den Betten nehmen und in die Küche tragen, hörte das Schloß in der Tür knirschen und dann alle Gashähne singen und rauschen, und manchmal überkam sie eine überwache Gier danach.Während sie das Geschirr abwusch, kämpfte sie mit der Versuchung, das Abwaschwasser zu trinken. Schließlich goß sie es schnell aus, aber dann plagte sie die Reue darüber. Wiederholt mußte sie an den Brotrest denken, der noch da war und von dem die Kinder heute abend eine letzte Suppe bekommen sollten. Immer war die Küche voll von Gestalten und Stimmen.Manchmal vernahm sie Musik und hielt ein, um zu
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Als sie wieder zu sich kam, schrien draußen im Vorplatz die Kinder. Es war
irgendeine Zeit des Nachmittags, vier oder fünf Uhr ihrem Gefühl nach.Natürlich
sollten die Kinder längst ihr Vieruhrbrot haben und auf der Straße sein, aber
warum schrien sie im Vorplatz und nicht hier in der Küche? Nun, sie waren auch
hier gewesen, aber da die Mutter am Boden lag und sich nicht erwecken ließ und
obendrein eine blutende Wunde am Kopf hatte, so waren sie von der Angst erfaßt
worden und hinausgelaufen. Sie wären in den Hemden zu den Nachbarn gerannt, wenn
sie die Tür aufgebracht hätten, aber Ilse legte die Türsicherung vor, seitdem
der Vater tot war, und nun saßen sie vor dem Briefschlitz und heulten. Sie
richtete sich auf.Der Kopf war ihr wie verwüstet. Die wunde Stelle schmerzte. Im
Hals hatte sie ein trockenes Kratzen;umsonst versuchte sie, zu schlucken. Halb
erinnerte sie sich, einmal wach geworden zu sein und eine bequemere Körperlage
gesucht zu haben; sie wunderte sich, daß es ihr nicht eingefallen war, überhaupt
aufzustehen,da dies sich doch nicht gehörte. Jetzt richtete sie sich an den
blanken Gasröhren des Herdes in die Höhe, strich sich dann unter einem Seufzer
der Enttäuschung darüber, wieder das Leben zu fühlen, das Haar aus der Stirn und
setzte sich ratlos in Gang, um zunächst ihre Schreihälse zum Schweigen zu
bringen.120
„Es hat doch aber so oft geklingelt!“ mahnte Märchen.
„Ach, ja, ja, richtig!“ sagte Ilse, die ihn während der ganzen Zeit wie geistesabwesend betrachtet hatte,mechanisch. „Geht mal hin und sagt, ich käme gleich.“
Sie rannten zur Tür zurückh und schrien mit vereinter Lungenkraft durch den Schlitz: „Mutti kommt sofort.Einen Augenblick!“ Gleichzeitig ging man dazu über,Sturm zu läuten. Es war ein furchtbarer Lärm, der Ilses Nerven unendlich marterte. Fortwährend zuckten ihr Fetzen von Gedanken durchs Hirn, und eine Unruhe
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„Sofort,“ antwortete sie hastig. „Ich komme schon.“
„Mutti kommt schon!“ schrien die Bälge durch den Briefschlitz.
„Na, denn wartet noch mit dem Schlosser!“ ordnete draußen eine Stimme an. „Sie ist ja drinne und wird selber uffmachen.“
Ilse bemerkte auf dem weißen Kragen, den sie nun zu Hause zur schwarzen Bluse trug, einen Blutstropfen; eigentlich hätte sie schnell wechseln müssen,doch dazu war nun keine Zeit mehr. Als sie endlich öffnete und im Türrahmen erschien, stand sie einer ganzen kleinen Volksversammlung gegenüber.Beide Parteien brauchten einige Zeit, bis sie sich über das klar wurden, was sie sahen und was sie nicht sahen.
„Aber Frau Krätke, wat is denn mit Ihn'n!“riefen darauf etwa sechs Stimmen gleichzeitig. „Warum machen Sie denn nich auf? Un wie sehen Sie aus? Sie bluten ja, Frau Krätke. An Krachen!Nee, links. Nee, rechts. Ihre Kinderchen brillen doch
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„Mir ist nichts,“ brachte sie mühsam hervor;es war, als hätte man ihr jedes Wort für hundert Mark abkaufen oder mit einer Zange aus dem Mund ziehen müssen. „Sie sehen ja!“ versuchte sie zu lächeln.„Und die Kinder schreien öfter. Ich hatte zu tun.“
„Aber det Blut an Krachen!“ wandte eine Nachbarin ein.
„Und warum ham Sie nich wenigstens aufjemacht auf det Klingeln?“ erstaunte sich eine andere. „Wir klingeln und pochen doch schon eene Viertelstunde!“
„So lange war das?“ Ilse sah aus, als ob sie nachdächte. „Ja, ich bin nämlich ausgeglitten,“ gab sie wie um Entschuldigung bittend an. „Und dabei bin ich wohl ein bißchen liegen geblieben. Wollte denn jemand zu mir ?
„Zu Ihn'n? Nee! Oder is sonst jemand dajewesen? Also niemand. Deswegen hätten Sie
ruhig weiter schlafen können. Eene Ohnmacht. is det 123
Mit großer Zartheit schoben sie Ilse selbsechst in die Wohnung hinein und zogen die Tür hinter sich zu.Ilse hörte sie davontrampeln und den Fall auf der Treppe noch weiter verhandeln. Na, wird eben wieder wat unterwegs sein!“ vermutete irgend jemand. „Die arme kleene Frau, wo nu der Vater untern Boden liegt.Det is keene einträgliche Erbschaft.“ Die wieder eintretende Stille schmetterte sie vollends nieder. Noch niemals im Leben, auch nicht nach dem Begräbnis ihres Mannes, hatte sie sich so einsam und verlassen gefühlt als jetzt, da der mitfühlende Weibertroß sich verzogen hatte. War dort nicht Teilnahme, Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit? Würden nicht ihre Kinder und sie selber zu essen haben, wenn sie diese Wesen als ihre Schicksalsschwestern betrachtete.? Sie brauchte ihnen ja nun nicht sofort nachzulaufen, aber nachher, wenn die Kinder besorgt waren, konnte sie bei einer von ihnen einsprechen.
„Na, und wie jeht det nu immer so, Frau Krätke?“
„Ach, das Leben ist schwer!“
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7
Während Ilse die Kinder anzog, erklärte sie ihnen,daß es heute keine
Vieruhrstulle gebe, zumal es schon halb sechs sei, aber dafür werde man früher
zu Abend essen. Irgend etwas werde ferner geschehen und das alles ändern; man
könne sogar nicht einmal wissen, ob nicht sie selber einen Gewaltstreich
ausführen werde,der sie über Nacht zu reichen Leuten mache. Dann versprach sie
den Kindern die göttliche Kaiserpfalz; von der Ewigkeit und dem Salz sagte sie
nichts, da es nach ihrer Meinung über ihr Verständnis ging, aber in der Pfalz
herrsche als Kaiser Herr Schormann und der werde sie an seine Seite erheben.
Mäxchen fragte, ob er Minister werden könne, und sie erklärte, daß sie daran gar
nicht zweifle, wenn Mäxchen in der Schule gut lerne. In der göttlichen
Kaiserpfalz herrschten Freiheit und Gerechtigkeit, und da werde immer geVX gar
nicht selber aufbrauchen könne; man müsse davon 125
„Mutti, Märxchen wackeln seine Zähne,“ teilte Emma mit. „Warum tun sie das?“„In einem gewissen Alter verlieren die Kinder ihre Zähne, weil die richtigen erst nachwachsen. Die ersten sind doch bloß die Milchzähne. Aber das dauert bei ihm noch.“„Verliert man sonst noch was?“
„Gewiß. Du hast doch auch bloß Milchfinger und Milchzehen. Wenn du in der Schule das ABC gelernt hast, dann fallen dir die Finger ab, und die eigentlichen Finger kommen gewachsen wie die Spitzbuben so leise und schnell. Da sollst du mal sehen. Dann paß nur auf, daß sie nicht wirklich Spitzbuben werden.“
„Wie macht man das Aufpassen?“
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„Wir haben überhaupt noch nich gebetet!“ schrie Emmchen; sie schrie immer alles.
„Na, dann wollen wir beten,“ befahl Ilse, plötzlich wieder sehr unruhig. „Und dann ist Schluß.Ich habe noch zu tun.“
Damit war es neun Uhr geworden. Die Kinder taten noch eine Weile, als ob sie diese Nacht kein Auge schließen würden; plötzlich versanken sie in den Schlaf wie Marmeln in die Hosentasche, und Ilse stand allein und leise fiebernd wieder den Gestalten und Stimmen gegenüber. Scharf nachdenkend wie eine Irre und heimlich delirierend wie eine Kranke ging sie leise durch die Wohnung. Ihre Blicke schweiften suchend von Gegenstand zu Gegenstand. Ihr Gesichtsausdruck bekam nun etwas Gespanntes, Erwartendes; sie war gleich bereit zur Ausführung des einfach Vernünftigsten wie des verworren Phantastischsten, wenn es nur weiter zu helfen versprach.
Mso da hingen in dem Patentschrank die Kleider des Verstorbenen, ganz richtig. Wozu brauchte ihr toter Mann noch Kleider. Gut, daß ihr das einfiel!„Man sollte einmal einen Blick hineinwerfen,“ dachte
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Irgendwo fern draußen, „dort, wo es dies Schöne gibt“, winkte geisterhaft die göttliche Kaiserpfalz herein.Sie begann sehnsuchtsvoll zu zittern. „Was braucht der Mensch zum Leben? sprachen ihre Lippen wie im
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Schaffner, Kinder des Schichals
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Nun war sie schon sehr müde, wußte auch gar nicht mehr, was sie eigentlich auf der Straße wollte,und hätte herzlich jedem gedankt, der ihr erlaubte,wieder nach Hause zu gehen. Sie sehnte sich nach ihrem weißen Bett, und gut wäre es gewesen, darin zu sterben. Mein Gott, es gab doch Gas! Mußte sie sich denn alles gefallen lassen? Manchmal zitterten ihr vor Hunger die Knie, so daß sie in Gefahr kam zusammenzubrechen; bis heute hatte sie nur in schlimmen Träumen einen derartigen Zustand erlebt, in welchem sie nicht mehr Herr über ihre Knie war.Sie träumte viel und interessant; am Morgen konnte sie oft Romane erzählen. Aber jetzt war sie geradezu furchtbar wach; sie war infolge davon unsäglich allein,und niemand sagte ihr, was sie tun sollte. Ab und zu sprach sie ein Mann oder ein Soldat an, aber die wollten etwas ganz anderes von ihr; stumm und sehnsüchtig wanderte sie weiter.
Es ging schon auf halb zwölf. Der Verkehr auf den Straßen hatte sehr abgenommen; selten zeigte sich mehr ein Mensch. Die meisten Häuser standen dunkel; sogar finster und ablehnend standen sie da und wiesen jeden weg, der etwa einen Versuch machen wollte, durch ihre Tür einzutreten, ohne daß er hier Miete bezahlte. Nur die Wirtschaften waren noch er
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Verte wäke es zu glauben, daß Schormann sich um Ilse nach dem Kuß nicht weiter gekümmert habe, und ihm deshalb die Sympathien, die er vielleicht besitzt, zu entziehen. Er hatte sie nicht nur nicht vergessen, einfach im Stich gelassen, sondern sich an einer ganzen Reihe von Stellen nachdrücklich für sie bemüht. Wenigstens sechs Leute hatten ihm fest versprochen, ihr Arbeit zu geben. Auch im Verlag hatte er verlangt, daß ihr Abschriften zugewiesen würden,aber er hatte in dieser Abteilung nichts zu sagen und als er wiederholt vorstellig wurde, bekam er eine Art von Antwort, deren hemdärmeliger Originalität er nicht gewachsen war. Viel zu erfahren, um von seinem sanftmütigen Auftrumpfen eine Wirkung zu erwarten, zog er sich zurück. Denn zugleich hatte sich im Verlag sein Schicksal auch sonst entschieden. Er fand es seit einem gewissen Zeitpunkt seiner unwürdig,hier länger als schlecht behandeltes Ausbeutungsobjekt zu dienen, und sich obendrein noch als Lohndrücker zu betrachten. So hatte er seinem Chef eines Tages das Ultimatum gestellt und ihm dann überraschend kühl die Dienste aufgesagt. Was ihn zu dieser Tollkühnheit,wenn es keine milde Raserei war, veranlaßte, band er
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Ubrigens war er jetzt bereits ein einflußreicher Mann, da er bei jeder Premiere, die es in Berlin gab,über zwei Theaterplätze zu verfügen hatte. Wenn er wollte, so konnte er immer umschichtig sein Butterfräulein und die Tochter seines Schlächters mitnehmen,und er durfte sich darauf verlassen, daß dies Opfer sich hundertfältig lohnte, denn die Plätze kosteten ihn nichts,und die einschlägigen jungen Geschöpfe waren, abgesehen davon, daß sie über Viktualien geboten, gar nicht unschönen Leibes oder unwilliger Gemütsart. Aber er gehörte ja zu den Monogamen, oder vielmehr, es gamte sich bei ihm überhaupt nichts, da er dafür viel zu hoch von der Frau dachte. Als Katholik in einem andern Jahrhundert geboren, hätte er vielleicht die schönsten Marienlieder gedichtet, die wir heute besäßen. So trug er mit seinem zweiten Freiplatz bei seinen Freunden herum Liebesschulden ab.
Aber Gott hat wirklich seltsame Geschöpfe geschaffen;es konnte auch eine Anwartschaft auf seine Aufmerksamkeit bilden, ihm etwas schuldig geworden zu sein;in diesem Fall hatte dann diese einen sorgsamen und besonders toleranten Inhalt. Sein heutiger Gast im besagten Sinn war Sam gewesen. In diesem Jungen lebte seit dem letzten größern Gespräch mit Schormann um Jlses zweiten Besuch herum eine Art von wehmütiger Frechheit. Er sah ein, daß er dem Freund gegenüber nicht eben im besten Licht er
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Das war der eine Grund, warum er die Verbindung mit Schormann weiter pflegte,
aber er hätte wenig bedeutet, wenn ihm dieser nicht gleichzeitig nach wie vor
imponiert hätte. Auch eine Schieberseele hat ja ihre Zusammengesetztheiten, und
zur Unterscheidung von seinen moralischen Vettern und Basen war es nicht einmal
ein Scharlatan und Windmacher, der ihn faszinierte. Schormann hatte den ganzen
Abend wachsam und zärtlich nach dem „neuen Geist“ ausgesehen, Sam nach hübschen
Damen; der letztere war besser auf seine Rechnung gekommen, da die Natur keine
Ermüdungen kennt. Dagegen hatte der erstere die originelleren Gedanken über
beides, den neuen Geist und die hübschen Damen und über Sam dazu. Er machte sich
wie ein älterer Bruder ein bißchen lustig über Sams einfache Lebensweise, was
den Geist anging. Er sagie, er hätte nicht gedacht, daß man mit einem so
geringen mora1*0
„Also, Mensch, ein Jahr kannst du davon leben bei deinen bescheidenen
Bedürfnissen, kannst frei arbeiten und nachher bist du ein berühmtes Gebäude.
Dir fehlt offenbar die Ahnung davon, wieviel Ankratz du eigentlich hast. Ich
komme doch ordentlich in Berlin herum, kannst du mir glauben, bin gern gesehen,
nicht wahr, gute Figur, phänomenale Stimme, die Männernot, na, und so weiter.
Peter, mein Ehrenwort, geradezu die Augen der Welt sind auf dich gerichtet.Ich
kann ja diese Anfragen gar nicht mehr alle bewältigen. Kaum lasse ich merken,
daß ich dich kenne,gleich geht's los. Ja, aber warum schweigt denn dieser
herrliche Dichter so ganz und gar? Mein Gott, natür41
Von diesen Ausführungen hatte Peter bloß den Anfang gehört. Noch bevor er eine freundlich spöttische Antwort im Kopf ganz beisammen hatte, wurde seine Aufmerksamkeit durch etwas anderes in Anspruch genommen. Die ganze übrige Zeit, während deren Sam schwatzte und prahlte, fühlte er eine ungeheure Erschütterung in ihm sich vorbereiten. Es war ihm weiter nichts widerfahren als daß er am Ende der Straße im Schein einer elektrischen Bogenlampe eine einsame Frauengestalt erblickte, die ihn in Wuchs und Bewegung an Ilse Krätke erinnerte. Er war beinahe zu Hause. Die Gestalt kam aus der Leibnizstraße her ihm entgegen. Sie trug einen hellen Sommermantel und einen blauen Hut; auch dies hatte er sofort bemerkt.Ilse war in Trauer; es konnte sie also nicht sein, aber daß schon der Schein ihrer Existenz genügte, ihn seine ganze Umgebung vergessen zu machen und seinen Herzschlag in diese tiefe Erregung zu versetzen, das war es,was ihn bestürzte. Verwundert fragte er sich zwar,ob er das denn eigentlich nicht erwartet habe, und es war daran auch nichts Überraschendes, aber wie der Tote immer toter ist, als man gedacht hat, so ist
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„Sind Sie das?“ fragte er sozusagen mit dem Zweifel der Gewißheit, als sie ganz herangekommen war. „Mein Gott, ja,“ antwortete er sich selber. „Wie gut, daß wir Sie noch getroffen haben. Warten Sie schon lange?“
Sie hatte still zu weinen begonnen, sobald sie seiner ansichtig geworden war. Der Tag ist für uns ein Maß; ihre heutigen Erlebnisse hätten den Inhalt vieler Tage bilden können und sie hätten sie noch bis zum Rand, bis zum Überlaufen gefüllt. Unfaßliches war in ihr geschehen; noch Geheimnisvolleres kündigte sich an. Eine Welt lag zwischen ihr und ihren Kindern. Und sie irrte umher als eine vom Hunger ausgebrannte Ruine der Sehnsucht.
„Ich bin so furchtbar müde!“ klagte sie.
Dies Wort machte in seinem vollreifen Erdenleid 143
„Also alle Theater beherrscht der jetzt, kann ich Ihnen sagen. So ein Direktor will ein neues Stück herausbringen, möchte seine dritte oder vierte Million vollmachen. Aber da ist nun dieser Schormann, dieser Geistesfürst. Na, also, seien Sie so liebenswürdig,kommen Sie und sehen sich's mal an!“ Fragt sich, ob's ihm paßt. Nehmen wir an, er setzt sich gnädig hin und läßt sich was vorspielen. Gefällt's ihm und er schreibt günstig darüber, so kriegt also der Mensch seine vierte Million voll. Im andern Fall kriegt er sie nicht voll. Spaß beiseite, da kann einem was aufgehen!Wenn ich bei meiner Unverschämtheit und Gerissenheit seine Bildung hätte also eine neue Kultur baute ich auf, ein großes Weiberdorf gründete ich mit mir als einzigem Mann darin. Der weiß sein Glück ja nicht zu schätzen !“
Eine gewisse männliche Erbitterung klang durch diese Lobsprüche und durch die Verehrung, welche sie ihm eingab. Ilse hatte scharfe Ohren; der Klang machte sie wieder nach dem Leben hinhorchen. Eine neue Hoffnung kam ihr aus Sams Worten. Sie fühlte sich nun sozusagen auf dem Weg nach Hause. Für den Zuspruch dankbar, hörte sie auf zu weinen; es bestand ja auch kein Grund mehr dazu. Mehr konnte sie jedoch für Sam nicht tun. Sie lächelte nicht einmal, und er wurde geradezu traurig, daß er immer noch keinen Eindruck machte.
Indessen trat man in die Weinstube. Die neuen
10 Schaffuner; Linder des Schidsals.
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„Nanu!“ machte Peter ganz überrascht. „Die Veranlassung ich meine, das ist doch an mir !“
Doch obwohl er genau sah, wohin Sam ihn drängen wollte, kam er sich mit seiner Einrede fast spießig vor,sozusagen bürgerlich ehemännlich, und Sam, der für den täglichen Gebrauch ein raffinierter Psychologe war,las es sogleich von seinem verlegenen Lachen ab.
„Na du also du wirst da plötzlich anfangen,den Genauen zu spielen!“ mahnte er, ebenfalls lachend,aber dies gegenseitige Lachen war ein geheimer Ringkampf der jungen Männer gegeneinander. Übrigens lachte Sam schon ganz sicher. Peter gehörte zu den Männern, die im Glück großmütig und zartfühlend werden. „Mensch, ich muß doch auch was dabei zu tun haben! Also eine Heidsiek, Herr Ober!“ befahl er dem Kellner. „Eine nette Kleinigkeit zum Essen. Na, sagen wir, ein paar Kaviarbrötchen; es ist doch Kaviar da? Direkt Pflicht für Sie. Und Zigaretten. Auch Zigarren!“ rief er ihm noch nach,da er sich erinnerte, daß Schormann ein starker Zigarrenraucher war.
„Wir werden schon noch miteinander abrechnen!“meinte Peter, stoßweise lachend, wie immer, wenn ihn jemand in eine ungünstige Lage gebracht hatte, aus welcher er sich aus Schonung für den andern nicht gleich befreien wollte.
Sam blickte ihm blinzelnd in die strahlend warnen
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Schormann kam der Aufforderung nach. „Dank ist das schlimmste noch nicht,“ bemerkte er lächelnd,während er der verschämt widerstrebenden Ilse das Kissen in den Rücken stopfte. „Siehst du sonst noch etwas für Frau Krätke zu tun? Du bist ja ein Mann von Erfahrung.“
„Du,“ warnte Sam, „spiele nicht mit dem Feuer.Erfahrung ist eine Macht! Hättest mit Erfahrung nicht mich ins Theater mitgeschleppt, während Frau Krätke auf der Straße herumstand.“
„Frau Krätke ist wohl nicht so auf der Straße herumgestanden,“ versetzte Peter ein wenig unwillig.„Das wird sich vielleicht freundschaftlicher ausdrücken lassen !“„Also deine Taktik finde ich nicht klar, Himmeldonnerwetter !“
„Mit der deinen kann man vielleicht rascher zu Erfolgen kommen,“ spottete Peter. Die Röte stieg ihm langsam in die Stirn. „Aber du bist in einem Irrtum, wenn du bei mir überhaupt Taktik vermutest.Es ist alles noch viel schlimmer, als du denkst. Und dabei kannst du dich vielleicht beruhigen.“
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Schormann erwiderte nichts. Ilse ließ wie entmutigt den Kopf hängen. Sie fand es ungezogen,daß Sam sich so gehen ließ; sie war für gute Formen eingenommen, wie Schormann sie hatte. Übrigens befielen sie jetzt wieder Schwächen, in denen ihr alles unwirklich und fern vorkam; wie ein schalldämpfender Schleier lag es manchmal zwischen ihr und dem Leben.„Es ist doch sehr viel zerstört!“ fühlte sie. Außerdem lauerte da noch eine besonders drohende Erkenntnis im Hintergrund, die wie eine ganz unerwartete neue Gefahr sich auf sie zubewegte. Seit ihrer Konfirmation war sie ein heimloses und einsames Geschöpf gewesen,und daß sie in diesem Zustand Gattin und sogar Mutter von kleinen Lebewesen geworden war, ohne ihn dadurch merklich beeinflußt zu haben, das war die herzbewegende Aberraschung, die sie jetzt heimsuchte. „Was braucht der Mensch zum Leben?“ Ach, für manchen mochte das eine Frage sein. Aber hier erstand ihr nun das genaue Gegenteil. Ihr schien in großer Bescheidenheit, der Sinn dieses ganzen Abends sei der,noch einmal den lieben, holden Schormann zu sehen und dann hinein zu taumeln in den schwarzen Abgrund.
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„Herr Cumberland ist wohl unzufrieden mit uns,weil etwas nicht nach seinem Kopf geht?“ sagte sie nach kurzem Nachdenken ein wenig singend. „Es ist hier aber keins dem andern etwas schuldig.“
Sam schleuderte Schormann einen Blick zu, als ob er sagen wollte: „Da hörst du's, Menschl Sogar bedingungslos!“ Peter erwiderte sehr ernst:
„Ja, wir wollen alle einfach in irgendeiner Form leben. Wie die Kinder!“ setzte er noch ergriffen hinzu.
Sein Gehör war nun ganz voll von dem sinnlichen Klang ihrer Stimme. Dazu fühlte er sie wieder so stark, daß er nicht wagte, nach ihr zu sehen. Mit liebendem Schauer sog er den keuschen,starken Duft ein, der von ihr ausströmte. Wie alle seine Sinne war auch sein Geruch sehr verfeinert.Er unterschied deutlich das Parfüm ihres Haares von dem ihrer weiblichen Reife und erschrak davor, daß es erlaubt ist, schon liebend und anbetend in das Geschlecht des andern einzutreten, noch bevor die Kleider fallen dürfen, ja, mit naturfürchtiger Beunruhigung bemerkte er, daß in seiner Vorstellung die Kleider sich zu nichts auflösten, indem sie durch den Duft der Persönlichkeit ersetzt wurden, der an Macht nun immer wuchs.
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„Wie geht es Ihren Kinderchen?“ erkundigte er sich freundlich bei ihr. „Wissen Sie, daß die mir sehr gefehlt haben? So kleine Wesen womit die einen gleich in der Welt in Verbindung bringen !“
„Sie haben viel nach Herrn Schormann gefragt!“erwiderte Ilse sehr einfach und sah ihn geradehin an.
Seine Augen leuchteten ein bißchen auf.
„So, haben sie das? Leider gehen jetzt die Masern um, und' diese andere geheimnisvolle Kinderkrankheit grassiert, aber die Ihren sind ja noch nicht schulpflichtig.“
„Mäxchen kommt im Herbst daran. Ich fürchte,er wird heulen und sich totunglücklich fühlen. Fürchten Sie nicht auch?“
„Doch, gewiß!“ pflichtete er bei. „Die Schule ist ja das erste niederschmetternde
Erlebnis. Damit beginnt die Kette der Enttäuschungen. Als mein Vater mich in der
Schule abgeliefert hatte und davon gegangen war, fühlte ich zum erstenmal meinen
Glauben 51
„Das wird auch er tun. Er hat es mir nachgetragen, daß ich ihn dem Doktor überlieferte, der ihm ein Geschwür am Finger aufmachte. Ich sah es an den Blicken, mit denen er mich noch nach Wochen betrachtete.“
„Ach, das Kind hat recht,“ versetzte Schormann lebhaft. „Dies alles sollten wir ihm selber sein können,Lehrer, Arzt, Priester. Dafür sind wir solche Spezialisten für Herrenkleidung oder Flugzeuge, für Zähne,Straßenbau, Schriftstellerei und so weiter. Die zartesten Beziehungen der Menschen zueinander werden im ersten Entstehen zerrissen und verraten. Ständig haben wir darunter zu leiden. Ich weiß gar nichts von Ihrem Vorleben, Frau Krätke. Sie sind wohl eine echte Berlinerin ?“
„Schon meine Eltern waren eingesessene Berliner!Mein Vater hat sogar einige Häuser im alten Schöneberg gebaut. Es ging ihm sehr schlecht da. Ich besuchte die höhere Mädchenschule, aber als die Mutter starb,mußte ich den Haushalt führen von meinem fünfzehnten Jahr an. Vater war damals auch schon sechzig. Die Mutter ist mit fünfunddreißig gestorben. Ich fand eigentlich immer diese Ziffern: sechzig,fünfunddreißig, fünfzehn so unrichtig kommt mir das vor.“
Sie fühlte sich plötzlich wieder sehr müde, so daß sie vor Mattigkeit seufzte.
Dazu stützte sie die Stirn 57
„Ich begreife,“ sagte Schormann. „Dies alles ist ja sehr zusammengesetzt. Wir haben die Naturgesetze entdeckt und dienstbar zu machen verstanden,aber in unseren Geschicken herrscht der blinde Zufall.Jahrelang, oft jahrzehntelang sind wir infolge der Umstände verhindert, das Natürliche, Naheliegende zu tun; endlich tun wir irgend etwas, und das hat dann nicht mehr diesen ursprünglichen Sinn !“
„Na, das wenigstens ist kein Zufall!“ rief Sam hier geradezu erlöst. Das Wort galt dem Kellner,der mit den bestellten Sachen kam. „Nu wird's wieder menschlicher, Donnerwetter. War hohe Zeit!“ Er nahm ihm die Sektflasche ab und begann sie sofort zu öffnen.„Frau Krätke puh! Also lassen Sie sich mal mit diesem Dichter in Gespräche über das Leben ein! Sie brauchen wohl von ihm Aufklärungen? Klären Sie doch ihn auf! Aber vorher lesen Sie das Buch: Wie sag' ich's meinem Kinde!“
Der Pfropfen knallte. Sehr befriedigt über seinen Witz lachte Sam auf. Angesichts
der irdischen Verläßlichkeiten, die der Kellner gebracht hatte, durchdrang ihn
eine neue Unternehmungsfreudigkeit. „Uberhaupt,Schormann, hoher Geist, du gibst
Philosophie der besitzlosen Klasse von dir. Das Leben ist aber der größte
Besitzer. Solltest mal den Versuch machen, wie es E
Aber Schormann sah ihn nur an, als ob er eine sehenswerte Tiergattung zur Kenntnis nähme, und pessimistisch schenkte Sam ein. Doch gleich tröstete er sich.Er stellte Isse ihr Glas zu, ergriff das seine und hob es ihr entegen. „Auf das diesseitige Dasein! Auf das Leben! Auf die Liebe!“ toastete er. Immerhin war er mit solchen Realitäten wieder obenauf und fühlte sich als Herrn der Lage. Seine Augen lachten. Seine starken weißen Zähne leuchteten. Seine Ringe blitzten.Doch Ilse begriff, daß er Schormanns Verhalten mißbilligte und das seine richtiger, ja, überlegen fand,und auch sonst hatte sie einiges gegen ihn, obwohl er hier den ganzen Abend wie ein Vater für sie sorgte,allein des Menschen Herz ist ein trotziges und verzagtes Ding. Da war sein glattrasiertes Gesicht Schormann trug ein gestutztes Schnurrbärtchen mit dem selbstsichern Blick, der langen Oberlippe und der schweren Unterlippe, dann die sorgfältig gepflegte blonde Mähne,und dagegen die starke Behaarung seiner Hände und Unterarme, mit welcher wieder die goldene Armbanduhr in Widerspruch stand. Sam ging nach ihrer Auffassung durch die Schormannsche Sternennacht als ein schöner, aber schlimmer Mond. Bald hatte er Hörner,bald einen trüben und wolkigen Hof, bald umgab ihn ein überklares, kaltes Licht, bald ein gewitterhaft prahlerisches und schwüles. Immer stand hinter ihm noch eine andere Gestalt als seine eigene, die drohte, während
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4
„Aber alles, was recht ist,“ beschwerte er sich. „Wie da einer den Leuten mit weisen Reden das Wasser abzugraben sucht! Na, wollen sachlich bleiben. Sage Ihnen einfach, was der im Grund ist. Ein Feind des Fortschrittes ist er mit seinem Mystizismus. Ein Leugner der Wirklichkeit! Ilse, Sie dürfen sich unter keinen Umständen zufrieden geben, bevor Ihnen ein Betreffender die Rocksäume küßt. Ihr bloßer weißer Fuß muß ihm mehr wert sein als die ganze Literatur,Kunst und Wissenschaft der Welt. Kennen Sie Boccaccio? Lassen Sie ihn sich mal von Ihrem Schormann leihen. Jede Frau kann daraus, ob ein Mann es wagt, ihr den Boccaccio in die Hand zu geben, sehen,ob er sich was zutraut. Peterchen, wirst du Frau Krätke den Boccaccio leihen ?“
„Ich sehe keinen Grund, der dagegen spricht. Wenn die Zeit dazu reif sein wird, werde ich ihn ihr sicher ohnehin zu lesen geben.“
„Also Ausflüchte!“ triumphierte Sam gegen Ilse. „Er fürchtet sich!“
„Hast du die gleiche Leidenschaft für die modernen Russen wie für den alten Italiener ?“
Na, wärst imstande und gäbst Frau Krätke den 25
„Er wird vielleicht das erste Buch sein, das Frau Krätke aus meiner Bibliothek bekommt.“
„Schön, so werde ich ihr den Boccaccio schicken.Wir werden dann sehen, wer stärker ist.“
„Weder du noch sonst jemand wird bei richtiger Aberlegung Frau Krätke den Boccaccio schicken. Von einer solchen Handlung müßte man sich doch mindestens einen Vorteil versprechen können.“
Sam richtete ihm die Flintenläufe seiner Blicke auf die Augen, aber Schormann hielt sie ganz einfach aus,und der Amerikaner wandte sich leise gereizt wieder an Ilse.„Finden Sie das in Ordnung, daß er Ihrer schon so sicher ist?“ knurrte er sie an. Er hätte ihr nichts sagen können, das ihr lieblicher in die Ohren klang.Still erfreut, wenn auch sehr einfach, erwiderte sie:
„Weshalb soll ich mir darüber den Kopf zerbrechen,Herr Cumberland? Außerdem habe ich doch den Boccaecio mit meinem Mann längst gelesen. Aber den Raskolnikoff kenne ich noch nicht.“
Tatsächlich hatte Krätke einmal in einer „tollen Laune“ und um ihr zu zeigen, was für Beziehungen er besaß, von „einem Herrn“ einen Band dieses berühmten und berüchtigten Schriftstellers nach Hause gebracht, ihn aber ziemlich rasch daraus wieder entfernt. Sie fand heute, daß Maupassant „richtiger“schreibe, das heißt, „wie es im Leben jetzt wirklich zugeht.“
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„Na dann gratuliere ich,“ maulte er. „Hätten uns beide die Aufregung sparen können. Aber er kommt zu billig zu allem, sage ich. Und ich kann überhaupt nur jeden vor der Monogamie warnen!“
„Monogamie was ist das?“ erkundigte sich Ilse efsend. Es schien beinahe, als finge sie an, ein bißchen mit ihm zu spielen. Er fixierte sie daraufhin scharf.
„Das ist,“ definierte er, wachsam wie ein Schießhund, „wenn man sich ganz dem Einen ausliefert und alle andern Pflichten darüber vernachlässigt. Konkurrenz erhält die Liebe frisch und würzt das Leben.“
„Sie möchten also immer Konkurrenz haben?“folgerte sie mit einem Anflug von Frauenlaune, der sie in seinen Augen geradezu gefährlich machte.
„Na,“ meinte er, überführt lachend, „mit Maß,versteht sichh. Bei Ihnen möchte ich, offen gesagt,keine haben.“
„Aber Sie möchten welche machen?“
Er sah sie ein bißchen dumm an. „Was machen?“
„Na, Konkurrenz! Ich dachte, davon sprachen wir doch.“„Also hören Sie mal, als ob
Sie von keinem Mann wüßten und doch alle kennten. Frau Ilse, Konkurrenz mache
ich doch schon lange, aber Sie tun, als ob Sie nichts davon merkten, weil Sie
mich herausfordern wollen.“ Einen Moment betrachtete er sie wie drohend. „Aber
vor einer halben Stunde fehlte wenig, und Sie brachen vor Hunger und Erschöpfung
auf der Straße zusammen. Ist das wahr oder nicht ?“37
„Wer weiß, was vor einer halben Stunde gewesen ist,“ sagte sie leicht errötend mit einer Natürlichkeit,über die sich bloß Sam wunderte.
„Gewiß, niemand weiß das!“ stimmte ihr Peter mit sachlicher Wärme bei. „Auch niemand weiß, was jetzt ist. Jeder Augenblick ist ein undurchdringliches Geheimnis.“ Seine Augen enthielten nun einen so ruhigen Liebesglanz, daß er sich wohl erlauben konnte,„sachlich“ zu sein. „Wer das bedenkt, braucht niemand nahe zu treten.“
Sam lachte kurz auf. „Könnte mich also wie sagt man: zurechtgewiesen fühlen,“ sagte er, während flüchtig zwei weiße Flecken auf seinen Wangen erschienen. „Aber ich bin in der Lage, darauf zu pfeifen.Mein Sohn, es geht erst los.“ Er sah Peter mit einem zornigen Blick zwischen die Brauen; die Augen vermied er nun. „Bedenken auch! Jetzt werden,wir mal eine Arie singen, damit Frau Krätke erfährt,was der Sam Cumberland los hat.“
Dem erhob er sich. Langbeinig und seines Eindrucks gewiß ging er quer durch das Lokal nach dem Klavier, das an der Mitte der andern Wand den Platz unter einem Spiegel einnahm. Ohne links und rechts zu sehen, setzte er sich davor, schlug den Deckel zurück und die ersten Akkorde an, und schon begann er zu singen: „Wie aus der Ferne längstvergangener Zeiten steht dieses Mädchens Bild vor mir.“ Aber er war noch nicht ganz beim „Mädchen“ angekommen, als der Oberkellner auf ihn zustürzte.
„Bitte, mein Herr, Sie werden uns die Polizei auf den Hals ziehen! Also bitte! Augenblicklich hören Sie auf zu singen und verlassen das Klavier!“
Er suchte ihn wegzudrängen und den Klavierdeckel zu schließen. Sam sah ihn an, als wäre er sprachlos über die Dreistigkeit eines Kaffernhäuptlings.
„Sie, Herr Ober,“ sagte er endlich, jedes Wort gefährlich betonend und vor Arger leicht erblassend,„augenblicklich lassen Sie einen respektvollen Abstand zwischen uns eintreten, oder ich schlage Sie ungespitzt in den Boden hinein, daß Ihre Beine beim Keller herausfahren. Mensch! Jam American! Wissen Sie,was das heißt?“
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„Gewiß, mein Herr,“ gab er zu. „Aber wenn Sie hier Musik machen, so ist das ein Fall für sich, der uns die Konzession kostet.“
„So, Fall für sich, der Sie die Konzession kostet !“äffte Sam dem Kellner nach. „Was geht uns aber Ihre Konzession an? Wir sind hier lauter erwachsene Menschen, soweit ich beurteilen kann, selbständige Gentlemen and Ladies. Meine Damen und Herren, ich bin ein Sänger, den Sie beurteilen können. Ich will singen,weil ich dazu verdammt Lust habe. Sagen Sie, ich soll die Schnauze halten, so muß ich schweigen. Im andern Fall wollen wir was steigen lassen. So ist meine Meinung.“
Es zeigte sich, daß man im Prinzip fürs Steigenlassen war. „Gut,“ entschied Sam,
gegen den Kellner gewendet, bringen Sie an unsern Tisch eine neue Flasche. Von
einem andern Fall weiß ich nichts! Tun Sie Ihre Pflicht!“ Und leise setzte er
hinzu: „Da haben Sie fünfzig Mark. Stören Sie nicht mehr die Freiheit.“Er begann
seine Arie von neuem. Ab und zu schoß ein stahlblauer Blitz unter seinem blonden
Schopf hervor nach Ilse Krätke hin. Zu sagen, er habe gesungen, als ob er es
bezahlt bekäme, wäre eine bittere Unzulänglichkeit, die man ihm nicht antun
soll, denn 119
Sam trat, noch lodernd, wieder an den Tisch, von Beifall umrauscht. „Na, und was sagen Sie nun?“rief er Isse an. „Hat's Ihnen gefallen?“
„Sehr!“ sagte sie mit scheuem Ton. „Das ist wieder so ganz anders als im Theater !“ fügte sie hinzu, um noch etwas zu sagen.
Er prüfte ihr Aussehen. „Ja, da kann man den Frauen mehr intim zu Leibe gehen,“ gab er zu, indem
11 Schaffner, Kinder des Schicsals
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Nachdem er ihr und sich wieder eingeschenkt hatte Peter schien er als nicht mehr vorhanden zu betrachten stieß er mit ihr an. Seinen Blick fest auf ihren Augen, leerte er langsam sein Glas. Ilse trank das ihre wirklich benommen wenigstens halb. Schormanns Glas hatte sie diesmal bloß mit einer scheuen Zärtlichkeit leicht gestreift, ohne ihn eigentlich dabei anzusehen.
„Und Sie waren schon richtig auf der Bühne?“fragte sie. Um sich seiner zu erwehren, griff sie auf die weibliche Kunst zurück, den Gegner zu beschäftigen.Er aber vermutete unter der Frage die ersten Schauer der Ehrfurcht.
„Na, und ob!“ lachte er, ins Treiben kommend.„Da sollten Sie mal meine Besprechungen lesen. Also in Meiningen einen solchen Stoß von Briefen hatte ich am andern Tag im Hotel auf dem Tisch. Alle von Frauen. So was ist ja noch nicht dagewesen! Sie wollten mich doch unbedingt behalten! Gingen mit der Gage beinahe auf das Doppelte. Aber ich gebe mich nicht unter dem Preis. Berlin oder der Tod!“
Er steckte sich eine neue Zigarette an. Ilse sah fragend nach Peter, ob man so etwas glauben solle,und ob es ratsam sei, ihn nicht ernst zu nehmen?Aber der erwiderte diesmal ihren Blick nicht.
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„Nanu!“ brummte Sam, indem er erst überrascht Ilse musterte und dann mit nicht ganz achtungsvollem Aufsehen sich umständlich auf seinem Sitz drehte. „Wat soll woll det wer'n?“ Denn in Sachen der „Wirklichkeit“ hielt er sich nun einmal für die Vorhand.Ilse klopfte das Herz. Das hatte es beim Amerikaner nicht getan. Allmählich wurde es still. Ganz einfach und natürlich begann Schormann zu sprechen. Geeich der erste Vortrag hatte ein ausgemachtes Werbelied zum Gegenstand, in welchem sogar deutlich und mit Absicht die Worte „Ich liebe dich!“ vorkamen, und zwar in jeder Strophe einmal. Er sprach sehr gut, da er schon viel Mühe auf reinen Vortrag verwendet hatte. Darüber hinaus war ihm eine schöne, weiche, ausdrucksvolle Stimme angeboren, welche die Fähigkeit hatte,kraftvoll anzuschwellen. Vor allem durchbrach er heute
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Mit leisen Schritten in seinen durchgelaufenen Schuhen ging er zu seinem Platz zurück. „Haben Sie was davon gehabt?“ fragte er Ilse mit der liebenden Sachlichkeit, die ihn heute auszeichnete. Statt der Antwort nahm sie plötzlich seine Hand und küßte sie; in wenigen Stunden war ja doch alles vorbei. Sam tat,als ob er nichts gesehen hätte und trank sehr nachdenklich geworden sein Glas leer. Darauf begann er so nebenbei von einer Jagdpartie in Alaska zu erzählen, die er mitgemacht hatte. Geradezu taktvoll war
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Doch ließ er Ilse keine Zeit, sich zu äußern. Kurz darauf stand er am Klavier, rief in den Raum:„Niggersongs!“, setzte sich und legte los. Er schmachtete, trompetete, zerfloß in Wehmut oder lächelte heftig entzückt, rollte herausfordernd die Augen oder ließ tragisch die Mähne hängen und trug so kalefornisch auf, daß die Hörer aus dem Lachen nicht herauskamen.Selbst Ilse mußte lachen, da sie nicht wie Schormann das Knurren in der verliebt jaulenden Tigerkehle hörte;sie glaubte, das sei wirklicher, harmloser Spaß und in beinahe freudiger Vergnügtheit rückte sie unwillkürlich mit ihrem Stuhl näher zu Peter hin. Aber doch war ihr vor dem losgelassenen Temperament auch ein wenig
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Sam, der trotz seines Erfolges irgendwie verstimmt von dieser Darstellung zurückkam, bemerkte gleich die räumliche Veränderung. Er zeigte sich gereizt, weil er bei Peters Freundin nicht genug Beifall fand. „Wenn Sie vielleicht denken, das ist keine Leistung,“ beschwerte er sich. „Na also dazu gehört Witz, und Herz und Lunge müssen auch in Ordnung sein.“ Ilse, um ihn zu beschwichtigen, begehrte zu Hisfen, ob die Neger wirklich so sängen, und mürrisch ging er darauf ein. Doch wider Erwarten arbeitete er das Thema aus, da er fand, daß es schöne Gelegenheit zur Entfaltung von Zweideutigkeiten bot. In dieser Konjunktur wollte Peter ihn nicht zu lange belassen; ohnehin war er ihm die Parade für den Seitenhieb wegen Herz und Lunge schuldig.
Er erhob sich also seinerseits, um diesmal zu Ilses Ehren südfranzösische Eseltreiber nachzuahmen.Sehr schmelzend sang er, tremolierte, zankte sich in geläufigem Französisch mit einem unsichtbaren andern Eseltreiber er hatte die Szene schon Dutzende von Malen seinen Freunden vorgespielt und vergaß vollkommen seine Achillesferse oder vielmehr -sohle. Seine durchgelaufenen Schuhe und Strümpfe erregten kein kleines Aufsehen, ja, sie waren das eigentliche Ereignis des Abends, wie das Flüstern und Hälserecken bewies, das bei ihrem Anblick durch das Lokal ging.Auch Ilse bemerkte die schamhafte Stelle des Freundes. Sie hätte ihm nun nicht bloß die Hände küssen mögen, nein, auch die bloßen Fußsohlen, mit denen er
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Das bewies vollends der Zwischenfall, den sie noch hervorriefen. Schormann hatte
schon wieder eine Weile am Tisch gesessen, als der Kellner in diskreter Haltung
zu ihm trat und ihm ein verschlossenes weißes Kuvert überreichte. Sam blickte
krampfhaft weg, und auch Ilse, als sie merkte, daß der Amerikaner es für
anständig zu halten schien, nicht anwesend zu sein,wandte errötend das Gesicht
zur Seite, doch hatte sie tief erschreckend noch bemerkt, daß Peter aus dem
Umschlag eine beschriebene Visitenkarte und einen Hundertmarkschein hervorzog.
„Was für ein Skandal das nun plötzlich geworden ist!“ dachte sie für ihn
leidend.So und so viele' Augen richteten sich schon nach dem Tisch. Man besprach
ihn, und sie bemerkte, daß auch über sie geredet wurde. Sie wußte bald nicht
mehr,wohin sie sehen sollte. Sam war blaß vor geheimer Wut. Er starrte wieder
den Nachbar am Nebentisch an und wäre zu einer Boxerei bereit gewesen. Schormann
las auf der Karte die Worte: „Von einem, der weiß, wie es in der Welt zugeht!“
Einen Moment war er tatsächlich verwirrt. „Warten Sie,“ sagte er tief betreten
zum Kellner, obwohl er noch gar nicht ahnte,was er tun werde. Indessen zog er
seine verschlissene Brieftasche heraus, nahm eine Karte und den Bleistift, und
ohne sich weiter zu besinnen, schrieb er hin:167
Der rüstete sich eben mit zwei jungen Damen zum Aufbrechen. „Du, also da ist ein ganz begeisterndes Wesen,“ sagte Sam nun unter einem wahren Ausbruch von Feindschaft zu Peter. „Die Schwarze, die eben aufsteht. Die muß mich noch tanzen sehen. Los,kannst nochmal auftreten. Zeig dich erkenntlich!“ Mit der Gebärde zorniger Verachtung erhob er sich und ging zum Klavier. Die bezeichnete Dame gehörte zu der Gesellschaft, deren Herr Peter die Aufmerksamkeit erwiesen hatte; eben nahm er den Brief vom Kellner zurück. Peter begriff, daß Sam auf eine Demütigung hinarbeitete. Bestürzt obendrein über seine eigene Behauptung, daß die Armut nicht sein größter Übelstand sei, folgte er Sam, setzte sich ans Klavier und begann zu spielen. Alles ging wie in einem bösen Traum. „Aber das hat doch mein früherer Mensch geschrieben!“ grübelte er, während ihm Ilses Gestalt vor den innern Blick trat. „Die Armut ist ja mein schlimmster Ubelstand. Mein Todfeind ist sie geradezu! Freilich, mit hundert Mark wäre ihr nicht beizukommen!“
„Niggertanz!“ hatte Sam inzwischen angekündigt.„Meine Damen und Herren, Sie müssen sich hier so eine sentimentale Affenfratze vorstellen. Schuh und
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Peter hatte das Gefühl, an einem Spektakelstück des Lebens mitzuwirken. Während er von einem hübschen jungen Philister mit seiner Armut lächerlich gemacht werden sollte, wußte er doch zugleich, daß alles dies in ihm, Peter Schormann, enthalten war. Ilse und Sam Cumberland was sie jetzt waren, das waren sie durch den Eintritt seiner Persönlichkeit in ihr Leben. Der nächtliche Gang der jungen Frau,dieser beinahe viehische Tanz, das Champagnergelage,das noch spielende Ringen der Nebenbuhler um Ilse,alles waren Vorgänge, durch ihn bewirkt. Wie für Furcht, so besaß er auch für Lächerlichkeit kein Verständnis. Dagegen hatte er einen lebhaften und besorgten Einblick in das Tempo, mit dem Sam zerfiel und sich prostituierte.
Tatsächlich war es aber dies Träumerische, Selbstvergessene in seinem Wesen, was
ihn vor der Niederlage bewahrte. Das empfand niemand so tief wie Ilse, die der
ganzen grotesken Schaustellung tief ernst mit großen Augen zugesehen hatte. Als
Sam zum erstenmal das von den zerrissenen Schuhen und Strümpfen sagte, zuckte
sie erblassend zusammen, aber beim Anblick von Peters nobler Gelassenheit wurde
auch sie wiedee still; sie ahnte, daß ein Sam Cumberland ihren Helden wohl
beknurren und bebelfern konnte, aber im übrigen blieb Peter eine Größe für sich.
Sam dagegen wurde ihr nun wieder sehr unverständlich.170
Bald darauf stand sie aber mit den Männern auf der Straße. „Sam hat ja alles
bezahlt!“ dachte sie verwundert. „Wie kommt das? Nun, wie es eben kommt, wenn
der andoere so arm ist und ich plötzlich nachts auftauche!“ Das war jedoch ihr
letzter klarer Gedanke. Sie begriff jetzt, daß sie wohl ein bißchen betrunken
sei. Auch Peter schien leicht benommen,wenigstens zeigte er Neigung, still zu
werden. Sam hatte dagegen seine große Stunde; von den vier Flaschen 171
Mochte das nun so sein, so hatte doch Ilse Peter noch nie so sterblich geliebt wie jetzt. Sie hatte den herzlichen und ganz rückhaltlosen Wunsch, mit diesem armen, treuen, gütig wunderbaren Menschen zu Bett zu gehen. Darüber erfüllte zwar gleich eine schreckliche Scham ihr Gemüt, als ob sie den Wunsch laut ausgesprochen hätte, aber auch die Scham änderte nichts daran; es war nun eben einmal wahr, daß sie furchtbar gern mit ihm zu Bett gegangen wäre. „Nun hat man gut gegessen und getrunken, und alles ist aus !“ dachte sie seufzend. „Na, Sam hat's eben bezahlt. Aber es ist ein Unglück!“ Darauf sagte sie so verloren vor sich hin: „Ich liebe dich!“ Das sagte sie in Erinnerung an das erste Gedicht, das Peter vorgetragen hatte. „Ich liebe dich!“ wiederholte sie träumerisch und lachte leise dazu.
Das Wort war so etwas wie ein Signal. Sam warf Peter einen jähen Blick zu. „Wie
ein sprung172
Nach einer Weile stummen Nebensihr-herTrottens begann ihn aber ihre körperliche Nähe zu beschäftigen.Verliebtheit weckte stets den Schauspieler in ihm; darin besaß er ungebrochen die Natur des Auerhahns oder irgendeines andern Tiermännchens, das sich in der Brunst produzieren muß. Seine gute Laune brach
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Peter hörte plötzlich auf zu tanzen. Sam wurde wieder aufgeregt. „Also wenn Sie
nicht sofort zu lachen aufhören, so werde ich Sie mitten auf der Straße küssen!“
drohte er; sie wußte nicht, war er nur aufgebracht oder zudringlich. Mit Mühe
bezwang sie 174
Sam verfiel wieder vorübergehend in ein tückisches Schweigen. Er sah aus wie jemand, der einen Plan bebrütet. Plötzlich brachte er eine neue Art von Tanz auf, vier Schritte vorwärts, zwei zurück, vier vorwärts, zwei zurück, dies alles in einem schnellen Tempo und rhythmisch angeführt von schrill ausgestoßenen Pfiffen, wie man sie von Raubvögeln und Murmeltierböcken kennt. Ilse interessierte sich gleich wieder sehr; sie brauchte heute nun einmal Unterhaltung, um ihr Unglück zu vergessen. Peter wollte zuerst widersprechen; er erklärte einen solchen Tanz für Unsinn.Aber Sams grollendes: „Na, wenn der große Geist meint!“ und Ilses Bitte: „Aber so tanzen Sie doch auch, Herr Schormann! Das ist so lächerlich!“ bewogen ihn noch einmal zum Mitmachen. „Wenn du aber lieber deine Sohlen schonen willst ?“ stellte ihm Sam noch rauflustig frei. „Wir tanzen ganz gern allein, Ilse und ich.“ Darauf antwortete Peter mit einem kurzen Lachen, worin Sam zur Not noch einmal unterkam. Wer dafür Ohren hatte, konnte
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Nun hatte aber Sam bereits auf eine Straße voraus mit den Augen eines
Prariejägers, die er besaß,eine Nachtpatrouille vom Bürgersteig weg in einem
Hauseingang verschwinden sehen, ohne daß es ihm nötig erschienen war, Peter
darauf aufmerksam zu machen.Diesem fiel nun auch nicht Sams plötzlich wieder
eintretende Stille auf; er war ganz an sein Trotzlied hingegeben. Ilse sah und
hörte überhaupt nichts als ihn.So kam es für diese und für Peter ganz
überraschend,76
Sam hielt ihren Arm fest. Sein Plan war erwogen. Bevor noch weitere Worte gefallen waren,versetzte er dem nächststehenden Beamten einen Fauststoß unter das Kinn und fing mit Ilse sofort aus voller Kraft an zu laufen. Da an Ilse Schormann hing,und sie ihn unwiderstehlich nach sich zog, lief er ebenfalls mit. Alles geschah in vollkommenem Schweigen,das nach dem vorigen Lärm beinahe unheimlich wirkte.Der zweite Beamte wurde von Schormann nicht absichtlich um, aber notwendigerweise im Anlauf stark angerannt. Peter zitterte wieder still vor Haß gegen eine Gewalt, die sich abermals in einem wichtigen Moment seines Lebens grob störend ihm in den Weg stellte. So kam es aber, daß von beiden Schutzleuten zuerst keiner zur sofortigen Verfolgung bereit war. Bis sie sich aufgesammelt, ihre Waffen gelockert und ihre Figuren in Schwung gebracht hatten, war das Kleeblatt bereits um die erste Ecke herum ihren Blicken entschwunden. Zudem schien Peters Kontrahent beim Straucheln sich beschädigt zu haben; er hinkte. Der andere würgte noch an seinem Faustschlag. Sie erreichten die besagte Ecke und geboten mit erhobenen Waffen von neuem Halt; die Gesellschaft verschwand um eine zweite. Die beiden jungen Männer nahmen mit ihrer gemeinsamen Last, wozu Ilse jetzt vor Schreck und Betrunkenheit wurde, noch mehrere Ecken, und
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Schaffuner, Kinder des Schichals.
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Peter begriff. Er tat gutwillig noch ein paar hundert Schritte. Dann ließ er Ilse
los, um nach dem Herzen zu fassen. Die Kehle schnürte sich ihm zu.Wie gebrochen
wankte er nach den Häusern hin. Dort stützte er sich einige Sekunden hindurch
mit einer Hand gegen die Mauer. Am Verputz ließ er sich darauf langsam
niedergleiten, bis er schwer atmend und vornüber geneigt auf den Platten des
Bürgersteigs saß, eine Hand seitwärts unter sich gestemmt, die andere tastend an
seiner Halsbinde und dem Kragenknopf. Solange hatte Sam, von Ilse aus aller
Kraft gehemmt, seinen Lauf eingehalten. Jetzt zerrte er sie wieder vorwärts.
„Wir haben keine Zeit, einem Schwächling abzuwarten,“knurrte er grimmig. „Die
Schutzleute sind hinter uns!Los!“ Sie kämpfte gegen ihn. „Ich will aber
nicht!“klagte sie. „Ich will bei Herrn Schormann bleiben!“Leidenschaftlich
suchte sie sich von ihm zu befreien. Peter selber beendigte diesen Kampf. „Gehen
Sie mit!“winkte er ihr zu. „Sie sollen nicht hier bleiben.Morgen oder übermorgen
sehen wir uns wieder!“Ergriffen von seiner Stimme und Handbewegung begann sie zu
schluchzen, aber Sam ließ ihr keine Zeit mehr. „Da hören Sie selber,“ schnob er
ungeduldig.„Seien Sie doch vernünftig. Wollen Sie als Straßendirne ins Loch
kommen?“ Er riß sie mit sich weg.79
Nicht sehr lange danach kamen die Beamten bei Schormann an; auf einen so leichten Fang hatten sie bereits nicht mehr gerechnet. Sie wurden miteinander einig, daß der Hinkende bei ihm bleiben sollte, während der andere mit neuer Hoffnung die Verfolgung fortsetzte. Sam hatte mit Ilse bei Schormann Zeit verloren. Auch nachher wurde er durch sie aufgehalten,da sie sich fortgesetzt sperrte und gegen ihn schlug.Wenn er sich von hinten einholen ließ, so war alles verloren. Er hatte ja für mehr zu kämpfen als nur für seine Freiheit; er kämpfte um den Besitz dieses Abenteuers, das sich Ilse Krätke nannte. Stehen bleibend überlegte er. Darauf trug er Ilse zum nächsten Hauseingang und setzte sie auf die Stufen nieder.„Wenn Sie uns verraten, so fliegt Schormann mit hinein!“ bedrohte er sie. Erschreckt ergab sie sich; Peter wollte sie nicht in Gefahr bringen. Neben ihr sitzend erwartete Sam das weitere. Nach einiger Zeit kamen eilige Schritte von genagelten Stiefeln die Straße herab. Ilse zitterte an allen Gliedern. Sam lauerte.Die Gestalt des Schutzmanns tauchte aus dem Halbdunkel auf. Beinahe wäre Sam die List gelungen.Im letzten Augenblick wurde er jedoch mit Ilse entdeckt; ihre hellen Kleider hatten die Blicke des Verfolgers auf sich gezogen. Sam erkannte sogleich die Lage. Mit zwei Sprüngen war er neben dem überraschten Beamten. „Nehmen Sie hundert Mark?Zweihundert? Dreihundert?“ fragte er ihn knurrend
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Etwas später kam der andere Schutzmann, von dem Hilferuf seines Kameraden herbei gezogen. Diesen fand er halb betäubt und Blut spuckend auf dem Asphalt sitzen, vorerst noch ganz unfähig, sich aufzurichten.Nachher zeigte es sich, daß auch der Platz, auf dem Peter mit seinem Herzen gerungen hatte, leer war.Alles, was der Hinkende von ihm in Händen hielt,war seine Brieftasche und sein Notizbuch.
We Gott seine Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen läßt, so dient auch die Erfindung des Automobils den Schlimmen und den Guten. Vielleicht macht es Schwierigkeiten, Sam Cumberland unter diesen Kategorien exakt einzureihen. Für übermäßig gut hatte ihn selbst seine Mutter nicht immer gehalten.Ohne ihm weh zu tun, darf man sagen, daß sein Charakter gewisse Schattenseiten enthielt. Vom Automobil aber kann man geradeaus erklären, daß es in den Großstädten wenig Gewalttäter und Verführungsgeschichten gibt, in denen es keine Rolle spielt. Sam, als er seinen Verfolger für die nächsten Minuten sicher untergebracht wußte, hatte wie gesagt seine süße Last wieder aufgenommen und die Flucht fortgesetzt. In der dritten Straße kam ihm ein leeres Auto erwünscht. Er rief es an, setzte Ilse hinein, nannte deren Straße und Hausnummer, und unter einem starken Frohgefühl, der Aufsicht von Polizei Und Freundschaft entronnen zu sein, nahm er neben der Frau Platz. Im nächsten Augenblick fuhr man schon dem Norden zu. „Es wird gut sein, sich während der nächsten Wochen in diesem Revier nicht sehen zu lassen,“ überlegte Sam.
Unruhe machte ihm der Gedanke an Peter, der ,81
Ilse hatte nun wie ein brennendes Haus oben und unten zu wehren. Sie organisierte ihren Widerstand mit den traumhaften Kräften, die ihr ihre anständige und von Hause aus reine Natur zu diesem Zweck verliehen hatte, aber sie war betrunken und sie hatte ihre eigenen Triebe gegen sich. Außerdem war sie zum Sterben müde und hatte den Wunsch, besinnungslos durch Tage, Wochen, Monate, ja für ewig, ewig zu schlafen und nie mehr aufzuwachen. Sie dachte immer wieder an den Gashahn zu Hause und dazwischen erinnerte sie sich liebe- und sehnsuchtsvoll an Schormann und an ihre Kinder. Aber stets, wenn sie erwachte, fand sie sich in Sams Armen, hörte sein Liebesgespräch dicht an ihrem Ohr er sprach immerfort,ob sie hörte oder nicht fühlte seine Hände an ihrem
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Die Straßenlaternen beleuchteten und zeigten ihm alles. Aber er traute ihr
plötzlich nicht mehr. Ihr Dasein schien ihm nun so eine stille Hoheit zu
atmen.Ihre schlafende Wachsamkeit hatte etwas Warnendes.„Na, also,“ knurrte er
mit zweifelvollem Verdruß.„Schormann überall!“ Eifersüchtig erlitt er das Feuer
und die Schmerzen dieser sittlichen Konfrontierung,während sein Kopf wieder
hingegeben Pläne zu spinnen begann. „Sogar ganz zuverlässig wird sie Lärm
schlagen!“ erwog er sprunghaft voraus denkend. „Der Teufel verlasse sich auf
diese Schweigsamen!“ Nun flüsterten ihre Lippen im Schlaf; sie formten Worte,
die mit hoher Wahrscheinlichkeit „Peterchen“ und „Liebling“hießen. „Ach was,
Quatsch!“ fuhr es ihm noch einmal durch den Sinn. „Fang sie an zu küssen; das
weitere wird sich finden!“ Allein er widerstand.183
Um weniger zu leiden, blickte er nach der andern Seite. „Donnerwetter, ist es denn bloß der Leib,den ich liebe ?“ verteidigte er sich darauf. „Diese ganze entzückende Person, dies duftige Wunder, diese herrliche Seele !“ Doch dies kam ihm dumm vor, obwohl es vielleicht auch etwas Wahrheit enthielt; er sah Schormanns gutmütiges Lächeln, das er stets zeigte,wenn Sam geistig werden wollte. Go to helll“schimpfte er. Auf deutsch wiederholte er: „Fahr zur Hölle!' Hol dich der Teufel, verdammter Intellektueller!“ Trotzdem hatte er seinetwegen bis zu diesem Moment nicht gewagt, Ilse zu küssen, und er wagte es auch ferner nicht. „Wie aus der Ferne längstvergangner Zeiten “ klang es ihm wieder durch den Kopf, aber das kam ihm ebenso dumm vor. „Gequassel!“ knurrte er. Hier schien ihm jedes Wort unzulänglich. „Nur Oberlehrer können da noch Worte machen! Na, und solche Dichter. Denk nicht an die unanständige Gesellschaft, Sam, smarter Junge!“
Zu seinem Glück hielt nun das Auto. „Jetzt werden wir sehen,“ brummte er liebend.
Mit einem geschickten Griff hatte er Ilses Täschchen geöffnet und ihre Schlüssel
herausgefischt, die er in seine Tasche steckte.Darauf stieg er aus Alse schlief
wohlunterhalten weiter lohnte den Fahrer ab, schloß die Haustür auf, die er mit
seinem Stock verklemmte, und ging Ilse holen. Wenn sie keine ungehörige
Berůhrung merkte, so schlief sie. Sanft hob er sie aus dem Ver
So betrat sie den Hof. In der kühlen Nachtluft kam sie zum zweitenmal zu sich.
Einer der Büsche hatte ihr Gesicht mit einem Zweig gestreift, als wollte er sie
wecken und sozusagen freundschaftlich warnen.Sie besann sich angestrengt. Da
fand sie es verwunderlich, daß noch jemand neben ihr ging. „Wer mag es sein?“
dachte sie unklar. Sie fühlte, daß sie einen Grund hatte, nicht hinzusehen; auch
dies beunruhigte sie. „Es wird wohl mein Zimmerherr sein,“ vermutete sie, indem
sie ins Haus eintrat. Beinahe augenblicklich spürte sie, daß sie auch für diese
Vermutung 185
Eben überwand sie den letzten Absatz der Treppe.Unwidersprechlich nahm sie
bereits den Duft ihrer Kinder wahr. Gespannt horchten ihre Ohren. Es war alles
still. Aus der gegenüberliegenden Wohnung drang leise das Gewimmer eines
Säuglings. Oben schlug ein kleiner Hund an. Aber hinter dieser Tür regte sich
nichts; sie blickte ihr mit schweigendem Ernst entgegen. Nun war Ilse ganz wach.
Aus diesem Briefschlitz hatten die Kinder geheult und gerufen wie lange war das
her? Wohl noch nicht zwölf Stunden.Trotzdem schien es eine Ewigkeit zu sein.
Auch der liebe Schormann war einmal durch die Tür getreten; dadurch hatte sie
eine Weihe empfangen. Die Treppen36
Als leidlich intelligenter Junge, der sich in der Welt auskannte, konnte Sam nicht lange darüber im Zweifel sein, was ihm passiert war. Vor Verblüffung schob er den Hut ins Genick. Darauf begann er zu überlegen. Was war zu tun? Gewiß, er hätte können an ihre Tür schlagen, die Klingel in Betrieb setzen und andere knabenhafte Demonstrationen ausführen, aber einmal hätten sie ihm nichts geholfen, da Schormann hier der Sieger war und der Sieger blieb, und andererseits hätte er sich höchstens die Hausbewohner auf den Hals gezogen. Seine Lage, in einem fremden Haus eingeschlossen, ohne Schlüssel, ohne Hausrecht, in vorgerückter Nachtzeit, war ohnehin nicht eben vorteilhaft,wie er gleichfalls einsah. Ehe er dazu überging, die Folgerungen daraus zu ziehen, steckte er sich eine Zigarette an. Noch versuchte er sich mit einem Vergleich. Er ließ die Klingel ein wenig anschlagen. Darauf sprach er in versöhnlichem Ton durch den Briefschlitz: „Also, Frau Krätke, dann werfen Sie mir wenigstens den Hausschlüssel heraus, damit ich auch nach Hause kann.“ Vergeblich wartete er auf Antwort oder auch nur auf eine leise Regung in der Wohnung.„Hat sich natürlich eingeschlossen und will nichts mehr hören.“Achselzuckend trat Sam von der Tür weg und
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Welt und Leben sind ja schließlich bei keinem etwas anderes, als der kleine
Bezirk innerhalb seiner Haut.39
Sie fand Mäxchen mit ausgestrecktem Arm und geballter Faust auf der rechten
Schulter liegend; er sah immer sehr ernst und gesammelt aus, wenn er schlief,wie
ein kleiner Mann. Emma lag mit offenem Mund auf dem Rücken, das blonde Haar um
sie her, einen Arm unter dem Kopf, und schien zu lächeln; sie hatte schon etwas
von einer jungen Schönheit an sich. Ilse betrachtete sie beide lange. Geweint
schienen sie wahrend ihrer Abwesenheit nicht zu haben; sie wußte, wie ihre
Kinder aussahen, wenn sie geweint hatten. Sie sah ihre kleinen Kleider,
ordentlich über die Stühle gelegt, wie sie es von ihrer Mutter gelehrt waren, zu
oberst die Hemdchen. „Wirklich ordnungsliebend sind sie. Sehr wohlgezogene,
artige, kluge Kinder!“ Doch brachte ihr diese Betrachtungsweise keinen Trost,
eher war sie ihr eine schwere Anfechtung. Sie hätte doch einen Sinn enthalten
müssen. Es wäre nötig gewesen,daß sie irgendwohin wies, eine Zukunft versprach,
An25
Sie prüfte ihre Kinder, ob auch vom Tod ein Zug in ihren Gesichtern enthalten sei. Gewiß, sogar ganz sichtbar drückte er sich aus. In ihren Schläfen saß der Tod. Aus den Schläfen aller Menschen sprach der Tod. Sie atmete auf. Plötzlich hatte dieser entschlossene Ernst ihres Sohnes und das verlockende Lächeln der Tochter einen andern Sinn. Der Tod, der Tod war überall. Diese Möbel künstlich hergerichtete Teile von längst gestorbenen Bäumen. Wie Gespenster kamen sie ihr vor. Diese Teppiche und Gardinen gewebte und aufgefärbte Überreste einstiger Pflanzen.Die Schuhe Hautfetzen verendeter Tiere. Aus allen Winkeln und Gegenden des Daseins kamen ihr die Gedanken und Vorstellungen ihrer Lebensbage. Auf einmal begriff sie, warum sie so einsam war zwischen all den Gegenständen und Einrichtungen.„Der Tod ist Gott!“ flüsterte sie. Die Sentenz war der Titel und Schlußruf eines Schormannschen Gedichtes.
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Voll übermächtigen Verständnisses für ihren Unter
Immerhin: in ihr weinte es leise. Eine ferne,traurige Stimme klagte um ihre frühe Vernichtung.Das Bild ihrer Mutter erschien ihr vorüberschwebend vor dem Blick; vielleicht war sie es, die da klagte. Sie begann wieder zu träumen. Eine gute Zeitlang stand sie mitten im Zimmer und schien ganz vergessen zu haben, was sie wollte. Darauf schüttelte sie langsam,
13 Schaffner, Kinder des Schicksals.
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Die Uhr schlug drei. Vor den Fenstern regte sich der erste Schein der Dämmerung; der Morgen graute.Sie trat an Mäxchens Bett und nahm ihn auf. Sie war nun so müde, daß sie einen zweimaligen Ansatz brauchte, um damit zustande zu kommen. Auch fühlte sie zum erstenmal eine innere Verwüstung nach allem Wein und Zigarettenrauch und nach den unerfüllten Liebeswallungen. Sie kam sich beschmutzt und betastet,sozusagen betreten vor. Männer waren in ihrem Vorhof gewesen. Der eine hatte alles an sich gerissen,der andere nur gebetet. Schluchzend und mit ihrer Last schwankend trug sie Mäxchen nach der Küche, wo sie ihn auf die Bank setzte. Er blieb geduldig sitzen.Nach einigen Augenblicken kam sie auch mit. Emma.Die Küche lag nach einem andern Hof hinaus; hier war das Tagwerden schon fühlbarer. Ein Stern flim
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Allein, nun ging hier eine geheime Bewegung vor. Die Küche füllte sich mit einem grauen Schein,der rechnend und pedantisch war, und dessen Leben aus einem andern Reich stammte. Dieser Schein war er, Krätke, der Verewigte, den sie hatte verlassen,hinter sich bringen wollen, und der sich als stärker erwies, als alle diese lebenden Männer, diese Lebemännchen und edlen Dichter, treibend auf der Woge des Lebens. „Der Tod ist Gott!“ schien er mit Schormann zu sagen, aber er sagte es in einer andern, sozusagen zurechtweisenden Bedeutung. Nun, mochte der Tod schon wirklich Gott sein! Was wuß!e Er davon?„Hast du mich etwa vor diesem Ende bewahrt?“ fragte sie den Geisterschein ihres Dahingegangenen. „Bis zu deiner legalen Ehe hast du doch ein freies Junggesellenleben geführt. Jetzt bist du da, um mich zu holen, aber ich sterbe von Herzen ungern und in Verzweiflung; das kannst du immerhin denken!“
Ihre Slimmung verdüsterte sich unaufhaltsam. Sie hatte auf der Bank Platz genommen, rechts neben sich Mäxrchen, links Emma. Eine Decke, um sie alle einzuhüllen, hatte sie gleich mitgebracht. Umsichtig packte sie die Kinder ein. Alles tat sie wie im Traum oder in der Todestrunkenheit. Es war eine unendlich bittere Trunkenheit. Schmerzvoll öffnete sie die Gashähne. Eine Zeitlang starrte sie noch gedankenlos auf den Herd. Schon schwanden ihr die Sinne. Im letzten Auftauchen bemerkte sie noch einmal den Geister5
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„Bald wird die Grundharmonika verhallen,
Die Seele schläft mir eiin.
Nun wird der Wind aus seiner Höhe fallen,
Die Tiefe nicht mehr sein.“Es war eine jener Strophen, die sie für sich abgeschrieben hatte. Eine leise kummervolle Freude darüber, daß der Wind aus seiner Höhe fallen und die Tiefe nicht mehr sein werde, erschien in ihren müden,blassen Zügen.
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N Peter Schormann merkte, daß er am Leben bleiben solle, daß man ihn allein gelassen hatte, und daß sein Herz wieder arbeitete, tat er, wie die drei Hasen im Lied: er rappelte sich zusammen. Der Schutzmann hatte verschiedenes von ihm wissen wollen, vor allem seinen Namen, aber Peter war ihm den Gefallen widersetzlich schuldig geblieben. Statt dessen hatte er es geschehen lassen müssen, daß der Beamte,bevor er seinem Kollegen zu Hilfe eilte, seine Brieftasche und das Notizbuch mitnahm. In Gottes Namen, im Notizbuch standen keine Personalien, sondern bloß Gedichtideen und Merkworte für Besorgungen. Was aber die Brieftasche anging, so zeigte es sich, daß der edle Stolz immer etwas für sich hat; hätte Peter nicht jene hundert Mark mit seiner letzten Visitenkarte dem Herrn zurückgeschickt, so wäre er jetzt in Schlamassel gesessen.Er hatte also alle Ursache, sich zu dieser Haltung zu beglückwünschen. Es bleibt noch ein Wort über seinen Gesundheitszustand zu verlieren. Er besaß ein großes,starkes Herz, das auch für einen Riesen ausgereicht hätte, sogar ein besonders gesundes, leistungsfähiges Herz hatte er von Hause aus, wie er überhaupt mit einer kräftigen Konstitution begabt war. Hinsichtlich seiner
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In der richtigen Auffassung seiner Gesamtlage erhob er sich also und ging so schnell, wie es seine Verhältnisse zuließen, nach Hause. Als er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, murmelte er hinsichtlich der Polizei einen Wunsch, den schon Götz von Berlichingen in anderer Beziehung geäußert haben soll, der einem aber selten erfüllt wird. Ich teile das mit, um zu zeigen, daß er sich im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte und auch seines Lebensgefühls befand. In seiner Wohnung angelangt, entdeckte er dann, daß er nicht die geringste Lust habe, zu Bett zu gehen. Er überlegte, was zu tun sei, und bemerkte, daß er eigentlich die Theaterbesprechung verfassen müsse; heute abend war seines Wissens Redaktionsschluß. Sam, erwog er weiter, hatte zweifellos Ilse gerettet und nach Hause gebracht. Es konnte aber sein, daß beide der Polizei in die Hände gefallen waren. Den Hilferuf und den Pfiff hatte auch er vernommen. Möglicherweise war von Sam Widerstand geleistet worden, und vielleicht war er in seiner Weinlaune wieder zu Gewalttätigkeiten übergegangen. Peter seufzte leicht. Welche Not war das mit diesem Menschen! Unter solchen Umständen schien es ihm aber wirklich schwer, eine Theaterbesprechung zu schreiben. Ilse war ja der Polizei nichts schuldig geworden; nicht einmal randaliert hatte fie.
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Er zog die Schuhe aus und die geliebten Pantoffeln an, um ohne den Einspruch
seiner Unterwohner in seiner Wohnung herumlaufen zu können. Da gab es ja noch
anderes zu überlegen. Warum war Ilse plötzlich in tiefer Nacht mit farbigen
Kleidern in dieser Stadtgegend erschienen? Die Möglichkeit hatte sich ja nicht
gefunden, darüber ein vernünftiges Wort zu wechseln. Und noch eine Sache gab ihm
zu schaffen.Er war doch ein Dichter mit hochfliegenden Ideen.Also schön. Was
hätte er mit Ilse gemacht, wenn er ihr allein ohne diesen großmaäuligen jungen
Philister begegnet wäre? Nun, ehrlich gesagt, er hätte mit ihr ein Café
aufgesucht, um womöglich hinter einer Tasse schwarzer Ersatzplirre ein gedanken
und gefühlvolles Gespräch zu führen. Und dann hätte er sie in der Elektrischen
nach Hause gebracht und sich ehrbar von ihr verabschiedet, denn er war ein armer
Teufel. Dies alles wäre genau ebenso richtig gewesen wie lächerlich.Statt dessen
war dieser Sam dazwischen gekommen ER Jlse auf den „Schwung“ gebracht, und
tatsächlich 99
Die anschließende ehrliche Untersuchung über Philisterium und dergleichen, zu
welcher Peter sich genötigt sah, verursachte ihm nun doch einige Beschwerden,da
sie ihm das günstige Vorurteil über sich selber nicht im ganzen Umfang beließ.
Und was für ein „neuer Standpunkt“ war das, auf welchem man sich jetzt befand?
Gewiß, während des Verschleißes von vier Pullen Sekt haben schon manche
„Antezedenzien“ ihren Charakter verändert, ohne daß man nachher genau
feststellen konnte, wie es zugegangen war. Doch kann man es als eine sicher
belegte Tatsache betrachten, daß der Gedanke an Sam in Peter langsam zu bohren
und zu fressen begann. Sollte Sam also von beiden diesmal nicht der Philister
sein: gut. Sollte er sogar den „neuen Standpunkt“ veranlaßt haben; auch dies
angenommen. „Irgendwie werde ich ja damit fertig werden!“ dachte er sorgenvoll.
„Aber wie ist's mit Ilse? Der Weg zu ihr nach Hause führt durch viele Straßen,
und der Raum eines Autos ist eng!“ Die Theaterkritik hatte er schon ganz
vergessen und das Stück, das er beurteilen sollte, dazu; hier schien ihm eine
wesentlichere Handlung agiert zu werden. Aber bis auf weiteres spielte er keine
Rolle darin, ja, vor Anbruch des neuen Tages konnte er nicht hoffen,wieder
Gelegenheit zum Auftreten zu bekommen. Welche Wendungen waren bis dahin möglich,
die er mit gebundenen Händen geschehen lassen mußte! Es war gar nicht voraus zu
sehen, was für eine Szene er vor700
Bis um vier Uhr lief Peter in seinen beiden Zimmern hin und her. Dann wurde er müde und er legte sich angezogen aufs Bett. Draußen lag der erste zarte Hauch des neuen Tages; es war so hell, daß man knapp lesen konnte, aber noch herrschte vollkommene Stille. Eine wunderbar würzige Luft drang durch das offene Fenster; Schormann atmete sie mit vollen Zügen in seine verkrüppelte Lunge hinein. „Kraft und frisches Blut ist jetzt nötig!“ dachte er. „Punkt sieben Uhr : na, da sollst du mal sehen, mein Junge!“ Nebenher begann er tiefgründige Erwägungen über die Frage anzustellen, was der Mensch zum Leben braucht. Nicht eine einzige Gedichtidee, auch nicht der Schatten einer lyrischen Stimmung kam ihm diese Nacht, aber die dramatischen Impulse flossen ihm in uüͤberraschender Fülle und Dichtigkeit zu; es war vorauszusehen, daß er nun überhaupt einer dramatischen Epoche entgegen ging. So paradox das klingt, aber die Not hatte ihn etwas verweichlicht, dagegen bestand Aussicht, daß die volle reiche Wirklichkeit ihn zum ganzen Mann erhärten werde nämlich wenn er nicht zu spät kam. „Das wird sich finden!“ dachte er stoisch,da es doch keinen, Zweck hatte, sich jetzt darüber aufzureiben.Es war halb Fünf. Aus einem Keller krähte ein Hahn, so ein Kriegshahn, den sich jemand wegen der Eierknappheit zu drei oder vier Hennen hielt. Der
201
Etwas stellte sich nun heraus. Gestern auf dem Weg zum Theater war ihm
eingefallen, daß er seine Butterration erheben könne, so brauche er nicht mehr
daran zu denken. Er erhob sie und dachte auch wirklich nicht mehr daran. Die
ganze Nacht bis zu diesem erkenntnisreichen Moment hatte sie in seiner
Rocktasche gesteckt. Er zog sie hervor und brachte durch das Entfalten des
Papiers ein Etwas ans Tageslicht, das nach allerlei Stoffen aussah, nach
dickgewordenem Rüböl,nach zerlaufener Pomade, nach Läusesalbe, nur nicht nach
Butter. Er ging damit in die Küche und suchte
Nicht, als ob er nie in reiche Häuser gekommen wäre; mit seinen Talenten war er
immer ein gesuchter Gast. Aber außer „schlapprigem“ lauen Tee und Keks aus, Gott
wußte, was für Bestandteilen, und dann und wann einem Kriegsabendessen widerfuhr
seinem armen asketischen Adam wenig Sinnenfreude; er hatte eben den Salon
geziert, und damit gut. Wohlbewußt,welche Schicksalswendung ihm bevorstand, hieb
er mit seinen schadhaften Zähnen ohne jeden Rückhalt „anständig“ ein, zumal er
sich daran erinnerte, daß man in seiner Heimat von einem Mann auch einen
tüchtigen Esser verlangte. Eine Animalität durchdrang ihn, über deren unbändiges
Gehaben er sich freilich etwas wunderte; er hatte doch nicht gedacht, daß
derartiges in ihm enthalten sei, aber viel mehr war noch nötig, wenn er an Sam
dachte, mit dem es unter Umständen abzurechnen galt. „Nun, handgemein werde ich
mit ihm 203
Um halb sieben Uhr begann er sich herzurichten.Er rasierte und wusch sich,
bürstete seine Kleider aus,wichste seine Schuhe, insofern noch Leder daran
war,und eine Zeitlang verbrachte er mit Nachdenken darüber, ob er seinen
eichenen Wanderknüppel mitnehmen solle oder nicht. Schließlich entschied er sich
als Antimilitarist dazu, dem Feind mit bloßen Händen entgegen zu gehen; das
schien ihm würdiger und der menschlichen Hoheit besser entsprechend. Punkt
sieben Uhr trat er aus seiner Wohnung. Die Sache lag so: Sam hatte doch für
seine ausgedehnten Kunst, Lieebes und Schieberbeziehungen die täglichen
Hamstergeschäfte nicht gerechnet ein Telephon. Läutete nun Peter bei ihm an, und
er meldete sich, so war er zu Hause, und es bestanden freundwillige
Wahrscheinlichkeiten. Meldete er sich nicht und Peter wollte klingeln lassen bis
zur vollständigen Gewißheit so befand er sich noch außer dem Haus, und na, und
man mußte 204
Als Peter, annähernd über seine Umstände, im klaren,wieder ans Licht des Morgens
trat, sah er entgegen aller Erwartung um einige Jahre jünger aus,
gestrafft,entschlossen, wenn auch etwas blaß, und seine Augen enthielten einen
Glanz, von Absichten herrührend, deren Unerbittlichkeit und Unwiderstehlichkeit
auch fremde Menschen, die ihn gar nicht kannten, ahnungsweise ermessen konnten.
Er wurde diesen Morgen besonders von jüngeren Frauen und Mädchen, die zu ihren
Geschäften eilten, ernsthaft beachtet, und das widerfuhr ihm sonst nicht oft,
eher hatte man bisher in diesen Kreisen über ihn gelacht, wenn man auch gewisse
Schönheiten nicht übersah, und im Grund lachte man auch bloß aus Opposition,
weil man bei ihm den Blick für die Schönheiten der Gegenseite vermißte. Heute
hatte er ihn zwar auch nicht, aber er schien ihn zu haben und tatsächlich war er
ganz voll von den Reizen,Holdseligkeiten und Schicksalen des Geschlechts. Eine
für Millionen genommen, diese Eine aber ganz hemmungslos in vollkommener
Ergriffenheit! Der Ausgang des Zusammenstoßes, dem er entgegenging, beunruhigte
ihn nicht mehr. „Einer von beiden wird auf dem Platz bleiben,“ dachte er voll
warmer Entschlossenheit. „Körperlich oder moralisch. Richtunggebend ist Ilses
Schicksal.“ Gestern hatte er geglaubt,sie zu lieben. Das schien ihm heute eine
inhaltlose Spielerei gegenüber dem Gefühl, das ihn nun erfüllte.205
Befruchtung versieht, von welcher die eigentlichen Taten ausgehen. Kein
schöpferisches Individuum ist ohne diese sinnliche, feine Verschärfung denkbar.
Dort beruht seine Liebenswürdigkeit und das Rätsel seines Erfolges bei Frauen
und Männern, ja, bei Freund und Feind und sogar bei den Tieren. 206
Der Boden stand vorschriftswidrig offen. Licht war nicht da; er zog seine
elektrische Taschenlampe hervor. Sehr hineingelegt fand er sich nun von der
schweigsamen Frau im Hinterhaus; er bedauerte sich aufrichtig und wurde ganz
elegisch. „Wie aus der Ferne längstvergangner Zeiten blickt dieses Mädchens Bild
mich an!“ summte er träumerisch. Na, immerhin wußte er seit dieser Nacht, wie
die Arie zu singen war;morgen wollte er sie an den rechten Mann bringen.Ein
Labyrinth von Verschlägen nahm ihn auf. Lattengitter, Türen, Winkel, Schlösser,
und darüber Dachziegel, hin und wieder ein blasser Stern, fahles Morgenlicht.
„Könnte ganz interessant sein für eine geheime Zusammenkunft,“ maulte er müde.
„Zum Beispiel mit der schwarzen Sechzehnjährigen drunten. Na,inzwischen bist du
ein Sechzehnen diger. Ordentlich was aufgesetzt hat dir die Ilse, also wie einem
Ehekrüppel. Na, wenn alle Stränge reißen, nächtige oder morgige ich auf dem
Treppenläufer.“ Im nächsten 208
Als er wieder erwachte, ging es gegen acht Uhr,und lag eine graue Katze auf seinem Schoß. Er streichelte sie lachend. „Bist du die stolze Unbefriedigte
14
Sschaffner, Kinder des Schichals
209
Als Peter so früh am Tage seinen Freund mit dem 30
211
„Also ich mache wohl den Eindruck, als hätte ich bei einer hübschen Frau
genächtigt?“ schnob er ihn an.212
Peter flimmerte es so still und glückselig vor den Augen, als ob Goldstaub aus
dem blauen Himmel niederrieselte, und noch nie war ihm Sams Organ so schön und
klangvoll erschienen, wie jetzt, wo er unverhohlen eine allumfassende
Katerstimmung in den gottesfürchtigen Sommermorgen hinein grunzte. Ganz
mechanisch wie im Traum ließ er seinen Arm los und griff in die rechte
Rocktasche, aus welcher er ein braunes,213
„Ach du mit deinen Negerzigarren!“ knurrte aber Sam. „Ich soll mir wohl eine Nikotinvergiftung zuziehen? Du hast natürlich schon gefrühstückt. Ein anständiger Mensch schläft überhaupt um die Zeit noch.Hilf mir lieber ein Lokal suchen, wo ich wenigstens eine heiße Lurke und eine Stulle mit Kriegsmarmelade in den Bauch kriege.“ Sehr übellaunig wandte er sich zum Gehen. Peter klappte lächelnd sein ledernes Völkermordarsenal zu und folgte ihm. „Was für eine elende Gegend ist das hier!“ schimpfte Sam. „Na,also: überhaupt keine Gegend ist das! Sogar das genaue Gegenteil von einer Gegend. Kannst mich zu einem Rostbeef rösten, bevor du mich noch einmal hier heraus bringst, und wenn hundert Polizisten hinter mir her sind. Das hat man von der Galanterie.Stoße das nächstemal deine Dulcinea selber nach Hause.Und tanze nicht Foxtrott auf der Straße, wenn dir das Zeug dazu fehlt. Da muß man Vitalität haben,mein Junge, Brustkasten. Davon kommt alles her. Wie ist das denn weiter abgelaufen mit dir? Laß mal hören, ob du dich wenigstens nachher wie ein Mann von Welt verhalten hast.“
Peter ließ eine kleine, still amüsierte Pause vergehen, ehe er antwortete. „Na,
viel zu verhalten war da nicht,“ versetzte er darauf lächelnd in einem Ton,der
ungefähr besagte: „Sam, mein Junge, wir beide 214
„J wo,“ machte er schnoddrig und ohne seine Schritte einzuhalten. „Zur Rettungsmedaille bin ich notiert. Ich sollte wohl deine Liebste ritterlich in Schlamassel bringen?“ ärgerte er sich, als Peter wieder nachgekommen war. „Markiere doch nicht den Neugeborenen!“
„Gewiß, deine Person kam ja auch gar nicht in Betracht,“ bemerkte Peter langsam. „Ilse soll dir ein Monogramm für den Winterüberzieher sticken.“
Diesmal blieb Sam stehen. „Meine Person?“grollte er, indem er ihn vom Kopf bis zu den Füßen maß. „Also, meine Person hätte ich durch die Fixigkeit meiner Beine umgehend in Sicherheit gebracht. Das merke dir gefälligst. Keine asthmatische Lunge hätte mich daran verhindert. Und deine Ilse na: also einen weg hatte sie, und nicht zu knapp. Mit euch werde ich nochmal was unternehmen! Zu unbeliebt macht man sich dadurch bei den öffentlichen Organen!“Er setzte sich wieder in Gang.
Du hast also rein mir zu Liebe den Schutzmann auf 215
„Weiß nicht, ob ich den Schutzmann auf mich genommen habe,“ murrte Sam. „Ich denke, ich hätte ihn in die Fresse gehauen, daß ihm das Sprachzentrum in Unordnung kam. Unbequemlichkeiten waren schon da!“Peters Augen begannen zu leuchten. Es schien ihm wieder sehr schwer, mit diesem Menschen freundschaftlich auszukommen; immer mußte man vor ihm auf der Hut sein.
„Dann will ich dir sagen, daß zu dieser Brutalität nach meiner Auffassung ein Grund in der Sache selber nicht vorlag,“ versetzte er erzürnt. „Den Grund hast du hinein getragen. Sam, ich kann dir's nicht ersparen: du hast gehandelt wie ein Schubjak. Ich kam ohnehin ursprünglich her, um mit dir einmal abzurechnen.“„Ich kann boxen,“ erwiderte Sam trotzig.
„Es gibt auch moralische Niederlagen.“ Dazu schwieg Sam. „Ich sagte zu Hause,
einer von beiden müsse auf dem Platz bleiben,“ fuhr Peter darauf sehr einfach
fort. „Das finde ich jetzt unnötig. Ich teile es dir bloß mit, um dir die
Antezedenzien zu zeigen.216
„Na, hast nun mal deine geistige Überlegenheit,“gab Sam etwas erleichtert zu. „Und man soll tatsächlich nicht immer nach dem Schein urteilen. Sieh mal, auch ich war doch in Alkoholstimmung, mußt du bedenken. Aber was meinst du mit den hinein getragenen Gründen, warum ich den Schutzmann niederschlug? Da bist du einigermaßen dunkel, muß ich sagen.“Sein Ton war schon wieder ein bißchen keck, da er schließlich den Schubjak doch nicht gern auf sich sitzen lassen wollte. Aber Peter hätte es für verfehlt gehalten, ihm diesmal etwas nachzulassen.
„Frage dein Gewissen,“ riet er. „Was wäre dir im andern Fall, bei deiner Erscheinung und deiner Schnauze, passiert? Aber du hattest über diese Nacht bereits sonstwie verfügt.“
„Also höre mal!“ empörte sich Sam. „Alles hat seine Grenzen. Nutze meinen
verkaterten Geisteszustand nicht zu skrupellos aus. Das hat sich doch alles erst
ergeben !“„Nun, wenn es sich ergeben hat ! Dagegen kann man freilich nichts
machen. Kinder des Schicksals 217
Sam sagte nichts mehr. Außerdem war nun das Café gefunden, und er brauchte seine Divinationsgabe für andere Lebensgebiete. Mochte er also ein Schubjak sein; das verschlechterte seine Lage nicht weiter. Dagegen war es von Wert, heraus zu finden, ob in diesem Lokal bei entsprechender Gegenleistung nicht erstens ein echter Kaffee, zweitens Milch, drittens Zucker, viertens und fünftens ein Butterbrot mit Wurst oder Schinkenbelag realisierbar sei. Er befand sich körperlich und moralisch in einer zu geschwächten Verfassung, man hatte ihm zu großes Unrecht getan, als daß er sich hätte unterstellen können, diesen angefochtenen Tag mit einem schwarzen Rübenkaffee und einer gesetzlich erlaubten sauren Marmeladenstulle zu eröffnen. Nun,Gott sei Dank, wenigstens diese Sache gelang; das war doch wieder ein Anfang. Er bekam nach einigem Verhandeln, was er wollte, aber Peter lehnte es ab,mitzuhalten; er steckte sich eine seiner geliebten schwarzen dicken Zigarren an.
„Sage mal,“ begann darauf Sam in merklich gestärktem Ton das Gespräch wieder: „Was hast du jetzt eigentlich so im Sinn? Du mußt dir doch bei all dem was denken. Hast du weitergehende Pläne mit deiner Ilse?“
„Na, seitdem du keine mehr hast, kann ich versuchen, die meinen zu verwirklichen,“ lächelte Peter hinter seiner Rauchwolke.
„Du, also das kannst du nun beiseite lassen,“ er
218
„Hast wohl noch mehr Ideen?“ spottete Peter.
Was: „Hast wohl noch mehr Ideen?‘ Was soll das heißen?“ muckte Sam auf. „Also mit dir ist ja die Unterhaltung geradezu anstrengend, seitdem du dich meinem Einfluß entziehst. Wenn's alle ist, ziehst du wieder aus. Diese Umstände immer! Schließlich wird sie doch auch wieder heiraten wollen. Davor kannst du ihr nämlich nicht stehen, mein Lieber.“
„Nein, gewiß nicht.“ Peters Ton wurde immer undurchdringlicher. „Möglicherweise werde ich ihr selber dazu verhelfen. Na,“ lenkte er jedoch gleich ab,als Sam groß aufsah, „zuerst müssen wir zu leben haben. In vielen Dingen bist du nämlich ein Kaffer.Wenn du eine Ahnung davon hättest, was hinter der Person steckt, so hättest du dir nicht diese Blamage auf DDDDimmer zu verstehen geben wollte. Kannst mir den Turner! verkaufen, aber nicht für, vielleicht dreitausend Taler“‘. Das mindeste sind fünftausend.“
„Wir wollen uns über Dinge aterdalten, von denen du was verstehst,“ schlug Sam indigniert vor.
„Davon verstehst wieder du nichts.“ Peter erhob sich. Es ließ ihm keine Ruhe
mehr. Es zog und trieb ihn gleichzeitig. So unpassend er die Tageszeit fand,219
„Na, ruf mich heute mittag an,“ forderte ihn der Amerikaner auf. „Kannst dann mitkommen und den Herrn selber hochtreiben. Werde dir loyal helfen.“
„Kartet miteinander ab, was ihr wollt,“ achselzuckte Peter, seinen Hut nehmend.
„Abkarten! Warte mal, mein Junge! Hast deinen Vorteil ausgenützt. Bist auch nicht edler als andere. Na, nu geh schon. Und laß dich nicht gleich zu tief ein, hörst dul Sollte mir leid tun, wenn du dich festrenntest! Das will alles mit Kenntnis betrieben sein.“
Aber Peter hörte ihn schon nicht mehr.
E s war vielleicht sechs Uhr, als Ilse über dem Herd erwachte. Der Rücken
schmerzte sie. Ihr Kopf war dumpf. Eine große Verwunderung erfüllte sie wie ein
Gram über den Verlust von etwas unwiederbringlich Verlorenem. Über ihrem Schoß
lagen ihre Kinder und schliefen mit tiefen, regelmäßigen Atemzügen. Im Fenster
stand die Sonne. Alles bebte und glänzte vor Licht. Dies prangende, prahlende
Licht schon wieder versprach es, machte Anerbietungen,Aussichten. Sie aber
fühlte, daß dies eine furchtbare,unausdenkbare Enttäuschung war!l Ein Zittern
überkam sie: sie lebte! Eine Katastrophe bedeutete es!Würdigere und
barmherzigere Absichten hatte sie mit sich und den Kindern gehabt. Nun, man
mußte das von Gott Verhängte hinnehmen. Es war nicht erlaubt,zu grübeln und zu
rechten. Gott hatte einmal beschlossen, sie zu verfolgen, zu schlagen, zu
erniedrigen;mochte sein Wille geschehen. Seufzend und viel zu mũde, um
Nachforschungen anzustellen, erhob sie sich und brachte ihre Kinder ins Bett
zurück. Sie erwachten flüchtig, und Emma beschwerte sich in weinerlichem Ton,
aber sobald sie wieder im Bett lagen, schliefen sie 7221
Ilse legte sich angekleidet auf ihr Bett. Alle Glieder taten ihr weh vor Ermattung. In zwei Stunden würden die Kinder erwachen und zu Essen verlangen.Es war nichts vorhanden. Nun mußte sie dennoch mit den Sachen ihres Verewigten auf den Handel gehen.A würde; darin war nicht Gottes Wille gewesen. Dann würde sie einen Zimmerherrn nehmen. Man konnte immer noch einsamer und unglücklicher werden als man schon war. Mit welchen Hoffnungen und abenteuerlichen Erwartungen hatten die Sterne sie zum Beispiel gestern abend ausziehen sehen! Sie erinnerte sich an einen Spruch, den sie zu Hause immer in der Kammer ihrer alten Dienstmagd gelesen hatte, die,nach vierzigiähriger Treue bei ihrer Mutter und der Mutter ihrer Mutter, das Zeitliche segnete. So lautete er:„Was sind Wunsche? Der Säugling schon weint,Sobald sein erster Wunsch ihm bleibt verneint.Der Jüngling wie die Jungfrau flucht,
Bleibt erster Herzenswunsch ihnen ungebucht.Das Alter derohalb auch grollt,
Als wenn der schwere Donner rollt.
Nur der Greis, der alles weiß,
Der auch weiß, daß alles in der Welt rollt:
Er weder weint, flucht, noch grollt!“252
12
Peter hatte sich die Szene so gedacht: Morgensonne im Zimmer, ein gedeckter
Kaffeetisch, Kinder daran, Ilse mit frohem oder stillem Erstaunen ihm entgegen
und das weitere nach Gottes Wohlgefallen.Statt dessen stand er einer schwarzen
verhärmten Frau gegenüber, deren erloschener Blick aus einem Abgrund von
Hoffnungslosigkeit und Armut zu steigen schien.Und hatte sie nicht noch vor
wenigen Stunden getanzt und gelacht? Ihr Bündel auf dem Arm : Nun,Schormann
wußte aus Erfahrung, wie das aussieht,wenn man zum Pfandverleiher oder zum
Trödler geht.Die Wohnung lag still. Keine Kinderstimmen tönten.Eine nüchterne,
leere Frühe herrschte darin. Ahnungsweise wußte Peter plötzlich, was Ilses
Erscheinen diese Nacht in seiner Gegend, und was die farbigen Kleider zu
bedeuten gehabt hatten! Das Herz erzitterte ihm.Sein Blick bekam eine mit Leben
bis zur Grenze des Faßbaren erfüllte Schwere. Ein goldner Schein ging darin auf,
aber es war kein flitterhaftes Gold, sondern ein durch Schmerzen erkauftes. Er
bedeutete ja so 224
„Ja ich wollte mal nach Ihnen sehen kommen,“sagte er nach der Begrüßung und nachdem seine Seelenkamera eine groß gefühlte erste Aufnahme der vorgefundenen Umstände gemacht hatte. „Wir haben ja eigentlich noch so wenig miteinander gesprochen; heute nacht kamen wir überhaupt nicht dazu. Darf ich eintreten? Oder ist Ihr Gang unaufschiebbar ?“
Endlich kam wieder etwas menschliche Regung in sie, so daß sie von der Tür zurücktrat und ihm Raum gab.
„Nein, nein,“ brachte sie seufzend hervor, „es hat Zeit. Bitte, treten Sie ein. Die Kinder sind noch im Bett,“ fügte sie hinzu, ohne zu wissen, warum sie es sagte. Wie fragend sah sie ihn an, dann schlug sie den Blick mutlos zu Boden. Was sollte dies alles jetzt noch?„Dann haben Sie wohl noch gar nicht gefrühstückt?“ fürchtete Peter. Sie antwortete nicht darauf.Immer mehr begriff er diese Nacht. Diese tanzende Motte! Und daß sie dabei Sam widerstanden hatte !„Mein Gott,“ dachte er erschüttert, „sind dabei nicht wichtige Teile ihres Menschtums verbrannt?“ Sie geleitete ihn nach dem Wohnzimmer.
„Ich bin noch nicht an die Hausarbeit gekommen,“bemerkte sie in demselben verlorenen Ton. Er lachte
14
Schaffner, Kinder des Schichsals
225
„Nun, an Hausarbeit wollen wir jetzt auch nicht denken, liebe Frau Ilse. Manchmal, wissen Sie, da ist's eben Zeit zu feiern. Ich bin doch nicht da, um Also hören Sie: Ich werde jetzt den Kaffee kochen und alles herrichten. Darauf verstehe ich mich nämlich ausgezeichnet. Bei mir zu Hause mache ich ja auch alles allein. In der Zeit nehmen Sie die Kinderchen auf. Wissen Sie, man arrangiert gewöhnlich ein sogenanntes Katerfrühstück nach einer durchbummelten Nacht. So wollen wir das betrachten. Das da “sie hatte immer noch ihr Bündel auf dem Arm „das können wir uns zum Beispiel noch überlegen.Gott ist ja groß!“ Er nahm ihr die Sachen ab und trug sie behutsam nach dem Eßzimmer, wo er sie über einen Stuhl legte. „Oft,“ betrachtete er zurück kommend in seinem freundlich hellsehenden Ton, „ist es nämlich richtig, sich über solche angebliche Tatsachen auch mal hinwegzusetzen. Zuviel Schwindel ist da dabei. Man muß sie mit großem Mißtrauen behandeln. Um davon zu reden: Haben Sie gebrannte Gerste? Oder kochen Sie Ihren Kaffee ganz mit Rüben? Na ja, um Gerste zu bekommen, muß man sehr gute Beziehungen haben. Ich hätte auf alle Fälle Tee mitbringen sollen, aber ich war mir ja auch noch nicht so klar, als ich aus dem Haus ging .“
Er hatte jetzt das Bedürfnis zu sprechen, da er fühlte, daß es augenblicklich das Wohltätigste sei.Immer, was man gerade zum Leben braucht! Manch
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„Aber da sind ja alle Gashähne offen!“ sagte er endlich leise. Sie sah, daß seine Blicke zugleich nach der Bank vor dem Herd gingen, die noch da stand.„Gott sei Dank,“ fügte er nach einer Weile mit stiller,aber tief erschütterter Innigkeit hinzu, „der Haupthahn ist geschlossen! Was für ein Unglück hätte das werden können!“
Länger hielt sie ihre eigene Starre und dies alles nicht aus. Wie ein Mörder kehrte das Grauen dieser Nacht zurück. Zitternd wandte sie sich ab, und unter dem letzten Aufgebot ihrer Kraft schlich sie weg. Sich den Wänden nachtastend, ging sie der nächsten Tür zu wie ein Gespenst, das sich selbst besucht. Während die ganze Welt über ihr zusammenzubrechen schien,wankte sie zum Sofa, über das sie, bereits von einem furchtbaren Schluchzen durchschüttelt, sich hinwarf. Ein Lebensschmerz durchdrang sie, daß sie einen Herzkrampf zu haben glaubte. Alle Glieder zitterten ihr vor Gram,aufgewühlt durch die Stöße der wiederkehrenden Sehnsucht und des neuerwachenden Verlangens, denn sie war jung. „Warum mußte er mir das noch antun?“
7*8*
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Sie hatte nicht gehört, daß Schormann ins Zimmer getreten war. Er sah aus wie ein Mann, der nun vollkommen unterrichtet ist; einige Blicke in ihre Büchsen und in die Speisekammer hatten ihm alles gesagt, was er / noch nicht wußte. „Und heute nacht hat sie getanzt!“ dachte er immer wieder. Nachdem er auch noch die arme schluchzende Gestalt auf dem Sofa mit einem letzten großen Blick des Verständnisses umfaßt hatte, ließ er sich bei ihr auf die Knie nieder, zog ihr sanft eine Hand vom Gesicht und begann diese liebevoll und mit tief bewegter Zartheit zu küssen.Sie zuckte zusammen. Zuerst wollte sie sich ihm entziehen, aber er war stärker als sie, und unter einem neuen Tränenausbruch ließ sie ihn gewähren. Doch war in ihr Weinen ein neuer Ton gekommen; sie weinte nicht mehr so furchtbar verlassen, sondern wie ein Mensch, der weiß, daß er gehört wird. Das ist ein sehr großer Unterschied.
Dies in edler Tiefe verstehend, legte er schweigend seine Schläfe an die ihre und
ihre Hand an seine Stirn,bis sie anfing, ruhiger zu werden, und bis er wieder
menschliche Wärme und das Zittern des zurückgekehrten Lebens in ihren Fingern
fühlte. Dann empfand er, daß 32
Da begann auch er zu zittern. Die Zeit der Worte war vorbei. Ein selig blůhendes Schweigen ging ihm auf. Sie selber war dies Schweigen. Sie war das Blühen. Sie war auch die Seligkeit. Durch dasselbe Tor gelangt man zum Tod und zur Liebe. Zurückgewendet durchschritt es ihre Seele zur Liebe. Die mißlungene Handlung der Verzweiflung löste sich ihr und ihm auf in die wunderbarste und gottnächste Handlung des Entzückens. Schauernd und bebend traten beide in die Wirklichkeit ihres Menschseins ein. Lächelnd fanden sie sich dann als neuerschaffenes Paar im Paradies, im selben Paradies, aus welchem noch keine Glücklichen durch die Erkenntnis ausgetrieben wurden, denn die wahre Erkenntnis ist die Erhalterin und Wächterin des Glückes. Wenn Menschen das Paradies verlieren, so verlieren sie es durch Unwissenheit oder Mangel an Großmut.
230
Sie sagte es. Die Butter konnte er auch dort beziehen. Er nahm seinen Hut, küßte sie noch einmal,kehrte an der Tür um und küßte sie wiederholt, und darauf ging er die Treppe hinunter. „Jetzt bin ich ein Familienvater!“ lächelte er. „Kinder des Schicksals müssen sich zusammen tun. Allemal!“ Drunten dachte er, jung wie ein Primaner: „Ob sie mir nicht nachsieht ?“ und blickte zu ihren Fenstern hinauf. Sie tat es und nickte ihm zu mit so einer Neigung des lieben hübschen Kopfes am liebsten wäre er gleich noch einmal hinaufgerannt, um sie abzuküssen oder um vor ihr auf die Knie zu sinken. Beides hatte etwas für sich.Aber er mußte ein Mann sein. Er kaufte Milch die
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„Onkel Schormann, wo bist du so lange geblieben 7examinierte Mäxchen ein bißchen streng.
„O, ich mußte doch eine Reise um die Erde machen!“ entschuldigte sich Peter. „Das war nun gar nicht länger aufzuschieben!“
„Da kannst nu sehn!“ Mäzxchen betrachtete ihn prüfend. „Na, und jetzt ?“
„Jetzt? Was da: jetzt? Jetzt wird gefrühstückt !“belehrte ihn Peter. „Ich hab' auch Sprotten mitgebracht von Grönland.“
„Sprotten gibt's bei der Peltzen auch,“ bemerkte Emma. „Hast du sonst was mitgebracht ?“
„Na, Kinderfragen mit Zucker bestreut die schwere Menge.“
Jise hörte in der Küche dies Gespräch. Ihr Augenblicksgefühl war so groß, daß sie
die Hand aufs Herz legen mußte, weil es ihr beinahe zu weit werden wollte.231
„Wirklich, nun sieh mal an!“ freute sie sich für ihn. „Jetzt kannst du wieder auftreten !“
Ein bißchen schämte er sich trotzdem. „Dieser verfluchte Schuster ist ja nie zu
haben!“ klagte er errötend. „Na, nu wird ja hinter die ganze Geschichte ein
neuer Dampf kommen! Dafür stehe ich aber ein!“Einstweilen ging er in Krätkes
Stiefeln, an jeder Hand eines von Ilses hübschen Kindern, nach dem Savignyplatz
spazieren. Ilse hatte endlich entschieden auf die Notwendigkeit hingewiesen, für
das Mittagessen zu sorgen. Auch dafür waren von Peter wie von einem sommerlichen
Sankt Nikolaus die verschiedensten Dinge hergeschafft worden, wie ein Tragnetz
voll Kar232
22*23 t
Er dachte nach.
„Nennt mich vorläufig Peter,“ schlug er vor. „Das weitere wird sich dann finden.“
„Peter ist gut!“ bemerkte Mäxchen ernsthaft. „Jetzt sind wir wieder zwei Männer. Det merke dir man, Emmaken. Und ooch Fritzen wird villes nu anders kommen. Zu Vatern sagte ich auch manchmal Willem,“teilte er Peter noch mit.
„Kannst zu Peter auch manchmal Vater sagen, wenn du willst!“ stellte ihm Schormann frei. Aber das war so nebenbei bemerkt, daß Max bloß schnell an ihm hinaufblickte, ohne etwas darauf zu erwidern.
Als man nach Hause kam, hatte Ilse sich frisch frisiert und eine helle Bluse angezogen. Sie errötete,als sie Peter aufmachte und ihre Kinder mit ihm eintreten sah.
„Es ist auch etwas gekommen!“ machte sie in einem halb verlegenen, halb komischen Ton bekannt. „Komm,sieh !
Da hatte Sam einen ziemlich umfang und inhaltreichen Geschenkkorb geschickt mit
Herrlichkeiten darin, die Stück für Stück unter Riskierung von Gefängnisstrafe
wegen Ubertretung der Rationierungsgesetze für diese Verwendung frei geworden
waren, außer Wein für die Großen und Malzextrakt für die Kleinen Speck,
Sardinen, Schinken, ein Huhn, etwas Butter, Fett, Käse 234
„Lieber Schor und Dichtersmann! Es hat keinen Zweck, sich länger etwas vorzumachen. Dieser Korb ist ein graziöser Abschiedsgruß! Leb sowohl als auch! Ich glaube sogar, daß mir der Abschied schwerer fällt als dir. Wisch deine Tränen ab mit Löschpapier! Ich sehe ein, daß du auch so eine Art Friedländer bist, bei dem es Nacht sein muß, wenn seine Sterne strahlen sollen.Ein rechter Deutscher will einmal sein Schicksal haben!Hoffe für meine Person, unbelästigt von jeder Art Schicksal mich so freudig weiterhin durchzuschieben!Amen! Grüße deine Ilse. Kannst ihr sagen, das ist der Korb gefüllt zurück, den sie mir verdammt leer heut Nacht gegeben hat. Wegen des Turner geh schon selber zu dem Herrn. Heißt Manfred Knoop, stammt aus Amsterdam. Gib ihm das Bild nicht unter 2000 Gulden holländisch, hörst dul Macht 10 o00 Emm.uUnnötig, daß der Knoop die Valuta schindet. Schinde sie deinerseits. Aber du wirst es ohne mich doch für tausend hergeben! Schluß! Ich fahre heute nachmittag mit einer Juno nach Grünaul Da ist der Himmel blau! Alles Gute wünscht dir knüppeldicke dein Sam Cumberland!“
Das war Sams Brief. Wegen des Abschiedes hatte er nicht so unrichtig
vorausgesehen, und Peter brauchte nicht einmal Löschpapier.236
Zum Essen trank man auf Sams Wohl das erste Glas von seinem Wein. Nachher zog Ilse sich von Kopf bis zu Fuß ganz weiß an, mit Ausnahme einiger schmaler schwarzer Bändchen, die sie ihrem Dahingegangenen noch schuldig zu sein glaubte. Ein Paar ist eigentlich erst ein Paar, wenn es dies auch unter andern Menschen gewesen ist. Sanssouci machte sie vollends zur Familie, und als sie auf dem Dampfer von Potsdam nach der Pfaueninsel fuhren, um dort Kaffee zu trinken,und dann nach dem Wannsee, dessen festliche Weite sie aufnahm wie eine glückliche Ewigkeit, da war es ihnen,als seien sie schon zehn Jahre beisammen, ohne sich seither auch nur eine Minute gelangweilt zu haben.
Es gibt vielleicht bedenkliche Gemüter, die gerne die Versicherung vernehmen, daß
auch fernerhin alles gut und löblich ging, daß das Paar endlich, mehr der Leute
als seinetwegen, Hochzeit machte, daß Peter nie der Wunsch nach einer
„kongenialen Gattin aus den bessern Ständen“ überkam, denn die hatte er ihr
bester Stand war an seiner Seite und daß er das Bild tatsächlich für tausend
holländische Gulden verkaufte,da er es für unanständig gehalten hätte, Valuta zu
236
Vollends Ilse ! Nun, Gott mit der längst gewesenen Ilse Krätke! Als man sie in
Peters Kreisen näher kennen lernte, begriff man seinen unbedachten Schritt. Man
fand sie nicht nur sehr, sondern nachgerade auffallend hübsch. Aus ihren Augen
blickte jetzt viel mehr als nur die Lebenslust. Und ob sie eigentlich klug sei
oder nicht, danach fragte diesmal überhaupt miemnand. Was ist Klugheit! Andere
Geistesinhalte sind es, die das Schicksal seinen Kindern mitteilt! Sie
überstrahlen so eine Klugheit, wie ein schöner Sommertag einen wohlangelegten
Spaziergang überstrahlt. Um davon zu reden, so könnte sie zum Beispiel jedem
versichern, daß es sich mit der göttlichen Kaiserpfalz mindestens um keinen
leeren Traum und auch um keine Schiebung handelt. Aber sie zieht es vor, sich
darüber wieder auszuschweigen.257