Zum Sonnabend. Erlebtes und Erzähltes: ELTeC Ausgabe Schlatter, Dora (1855-1915) ELTeC conversion Automatic Script 142 37096

2022-04-26

Transcription UB Basel Scan UB Basel Zum Sonnabend. Erlebtes und Erzähltes Schlatter, Dora C. F. Spittler Basel 1891

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Ein selig KRind. 30 Winter von 1890 hat manch teures Leben geknickt,* manches Pilgers Weg zu Ende geführt, manch Gotteskind vom Glauben zum Schauen gebracht. Unter den vielen der Näheren und Ferneren, die mein Herz betrauert,steht ein Frauenbild vor mir, lieblich und schön, sanft und rein wie eine Blume. Es ist eine treue, zärtlich geliebte Mutter, die ihr Ziel nun erreicht hat. Wie ein stilles, mildes Licht stand sie unter ihrer Familie; mit sanftem Wort, lindem dächeln, anmutigem Wesen waltete sie in ihrer Haushaltung und in ihrem Kinderkreise, eine stille, tiefe Seele. Es wvurde dir selbst ganz still und ruhig zu Mute, wenn du in hre Nähe tratest, wenn sie ihre großen, tiefen Augen, die den Schmuck des schmalen, feinen Gesichts bildeten, auf dich heftete.So etwas wie Sonntagsruhe überkam dein Herz, wenn du ihr mildes Urteil, ihre feine Rede hörtest. Daß dieser stille Friede mehr als Naturanlage, mehr als die Frucht sorgfältiger Erziehung und großer Liebenswürdigkeit war, das zeigte sich in den letzten zwei Jahren, da diese zarte Seele Schlatter, D. Zum Sonnabend. 1 heiße Trübsal, schwere Schläge zu tragen hatte. Ihr früheres Leben glich jedem Frauenleben. „Wo du hingehest, gehe ich auch hin“ hieß es für sie, als ihr Gatte sie aus dem hohen heimatlichen Bergthal in eine Handelsstadt im Süden verpflanzte. Dasselbe Wort führte in späteren Jahren sie wieder heim. Acht Kinder hatte sie geboren, vier waren im zartesten Alter versetzt worden in die himmlischen Wohnungen. Sie hatte glückliche und trübe Tage gesehen.hatte geliebt und sich gefreut, getrauert und geweint, und aus all den Erfahrungen ihres Lebens hatte sie das feste Kindesvertrauen gewonnen, daß Gottes Wege allezeit gut sind und selig sich enden, wenn wir sie in Demut gehen, auch wenn es uns schwer wird. Es war, als wollte Gott diesen festen Kindesglauben in schweren Proben läutern und prüfen, um ihn dann selig zu vollenden und zu wandeln in dankendes Schauen.

Vor zwei Jahren war es, als sich bei unserer lieben Freundin ein Abnehmen der Sehkraft zeigte. Schmerzlos und ohne irgend ein äußeres Zeichen versagten die Augen nach und nach ihren Dienst. Ein Schatten legte sich über dieselben, der immer dichter und dichter wurde und schließlich zu völliger Dunkelheit sich gestaltete. Das war ein Schmerz für die ganze Familie. Die Töchter wollten sich kaum trösten lassen bei der Erkenntnis, was ihre Mutter betroffen. Als der Frühling mit heller Pracht im Lande drunten einzog,da rüstete sich die liebe Blinde mit ihrer ältesten Tochter zur Reise nach Zürich, um dort einen berühmten Augenarzt zu beraten. Hoffnungsvoll sahen die Kinder ihr nach. „Ich bring'euch die Mamma gesund und sehend wieder!“ war das frohe Abschiedswort der jungen, hoffnungsvollen Begleiterin. Still und gelassen, ohne Hoffnung und ohne Klagen stieg die Blinde in den Schlitten, der sie über die schneebedeckte

Paßhöhe bringen sollte, bis zum jenseitigen Alpenthal, von wo der Postwagen sie weiterführte. „Was wird Zürich bringen?Wie werde ich zurückkehren?“ das war die bebende Frage,die das Herz bewegte, und die Antwort lautete: „Wie Gott will!“ Sorgfältig wurden die Augen untersucht und geprüft, und der traurige Bescheid lautete: „Eine Operation ist hier nutzlos die Augen bleiben blind.“ Zerschmettert lag die Tochter am Boden, ihr Schmerz war grenzenlos, fassungslos: „Die teure Mutter blind! Es kann nicht sein!“ Diese aber saß still und tröstete ihr Kind: „Klage nicht, mein Kind,Gott meint es gut, sein Wille ist immer gut. Ich habe zu danken, daß ich liebe Kinder habe, die mich leiten!“ Nicht eine Klage, nicht ein Murren ward gehört. Noch stiller und friedlicher ward das Antlitz, allen war sie ein Trost, eine Stütze, das Kreuz aufzunehmen, das Gott auferlegt. Sie ließ sich Trostlieder vorlesen und Betrachtungen über Gottes Wort,um sich zu stärken in der Prüfung. Leicht ist es gewiß auch ihr nicht immer geworden, besonders dann nicht, als ein lieber Schwiegersohn eine ihrer geliebten Töchter holte, um sie dem Süden zuzuführen, ohne daß sie je in ihrer Kinder Auge sehen konnte zum Abschiedsblick.

Ein Jahr verging. Da sollten die lichtlosen Augen in heißen Thränen überfließen. Aus dem fernen Südamerika kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Trauerkunde: Der einzige Sohn, die Freude und Krone der Eltern, das Licht und der Stolz ihrer Augen ist tot! Das Fieber hatte in kurzen Stunden dem blühenden Leben ein Ende gemacht.Es war ihr, als faßte der Schmerz die Wurzel ihres Lebens,und die Ihrigen wollten verzagen im Weh. Da ward sie stark und stille. „Gottes Wille ist gut, allezeit gut! Laßt uns Ihm trauen! Mein teures Kind kommt nicht mehr zu mir;aber ich gehe zu ihm. Nur noch ein wenig warten! Wenn

1* ich ganz gewiß wüßte, daß Gott meinen Carlo so früh wegnahm, um ihn zu bewahren vor Versuchung, ich wollte gar nicht klagen“ so sagte sie oft. „Ich will das Kreuz tragen und Ihm stille halten!“ So tröstete sie die Kinder, deren Schmerz nicht so leicht stille ward.

Nun hatte sie eigentlich des Trösteramtes zu warten;wollte doch die tiefe Wunde um den teuren Sohn und Bruder immer neu aufbrechen, als Freundesbriefe kamen, die von seinem Leben erzählten, als mehrere Monate später die Kisten kamen mit seinen Büchern und Sachen, die die zitternden Mutterhände nur betasten konnten. Auch trat der Tod der Familie in besonderer Weise näher und knickte ein Leben nach dem anderen im Verwandtenkreise. Da beschäftigte sie sich stets mit dem Gedanken an ihren Heimgang, malte sich das Wiedersehen mit ihren Lieben aus. Sie fühlte, daß ihr Leben dem Ende zuging.

Gegen Ende des Jahres zeigten sich ihre Füße geschwollen.Der Arzt erklärte, es sei eine Wassersucht im Anzuge.

„Ich habe mich immer am meisten vor dieser Krankheit gefürchtet, jetzt fürchte ich mich aber nicht mehr. Gott wird mich nicht verlassen. Ihm vertraue ich.“

Das übel stieg langsam und brachte eine große Schwäche mit sich. Die Kranke litt keine Schmerzen. „Gott weiß, daß ich wenig Kraft hätte, Schmerzen zu ertragen, darum macht Er's so gnädig,“ sagte sie. All das Unbehagen, das bei ihrer großen Schwäche nicht ausbleiben konnte, trug sie ganz still für sich und verarbeitete auch den Abschied vom Leben im stillsten Innern. „Weinet nicht um mich, wenn ich heimgehe, gönnt mir die Seligkeit und den Frieden! Ich fürchte mich nicht zu sterben. Gott wird es gut machen.“

Und Gott machte es gut. Das stille Leben sollte auch einen stillen, friedlichen Abschluß finden. Kein Kampf, keine

Angst nahte ihr. Sie lag still wie ein Kind, wartend, bis Gottes Hand den dunkeln“ Vorhang wegziehen würde, um sie einzulassen in die Herrlichkeit. Ohne daß die Kinder an ihrem Lager es ahnten, kam der Augenblick. Die Augen, die sie so lange geschlossen gehalten, öffneten sich noch einmal zum letzten liebevollen Blick, dann schlossen sie sich leise für immer.Ein Atemzug noch und die Kindesseele durchbrach die Hülle und flog heim zum Vater. Sie hatte sich nie entfernt vom Vaterherzen, nie an seiner Liebe gezweifelt, nie über seine Führungen gemurrt, immer sich seiner Nähe und Treue gefreut, was brauchte es? Nur ein Wegziehen des Vorhangs, und die Seele war selig daheim am Vaterherzen, das sich ihr nun erschließen konnte in ganzer Fülle und ohne Decke. Gott hat es gut gemacht. Wir aber haben an ihrem Leben und Sterben gemerkt, was es heißt: „Werden wie die Kinder!“ und an ihr das Verslein neu und tief erfahren:Das heißt seine Probe machen,

Ob man fest im Glauben steht,

Wenn man in den schwersten Sachen Wie ein Kind dem HErrn nachgeht.

HVu darfst heimk omærren!Ein armer taubstummer Junge hatte einige Zeit in einer Taubstummenanstalt fern vom Vaterhause zugebracht.Schwer genug war es ihm geworden, sich in die einfache und strenge Ordnung des Hauses zu fügen und die spezielle liebevolle Pflege der sorglichen Mutter zu entbehren, und erst in der Fremde merkte er recht, wie gut er's daheim gehabt.Da kamen die Ferien und mit Ahnen ein Brief von der Mutter, in dem stand geschrieben: „Du darfst heimkommen“.Glückstrahlend erzählte der Junge die frohe Botschaft allen,die ihm in den Weg kamen. Die Hauseltern, die Dienstboten meinten aber, teils im Ernst, teils im Scherz, es wäre zu früh zum Heimgehen und zu weit und schüttelten bedenklich und zweifelnd das Haupt. Erst staunte sie der Knabe an dann legte er plötzlich mit leuchtendem Auge seine Hand auf die rechte Seite seiner Brust, drückte sie fest dagegen und stammelte in kaum verständlichen Lauten, begleitet von um so verständlicheren Geberden: „Ich habe den Brief in der Tasche“.

Ja den Brief! Und in dem Brief stand von Mutters Hand geschrieben: „Du darfst heimkommen!“ Wer wollte dagegen aufkommen? Wer die Erlaubnis bezweifeln oder antasten? Mutters Wort ist mehr als alle andern menschlichen Hindernisse!

Ist das nicht ein beschämendes Vertrauen? Haben wir nicht auch einen Brief in der Tasche wenigstens in unserer Hand, darinnen geschrieben steht: Du sollst und darfst heimkommen? Und wir, verzagte, zweifelnde Menschenherzen, die wir in der Trübsal und Not des Tages untergehen wollen,wir denken so leicht: „Der Weg ist so lang, die Last ist so schwer, das Herz ist so schwach, die Verhältnisse sind so eng,der Kampf ist so fruchtlos, wie soll ich heim kommen?

Höre des HErrn Wort, deines Vaters Brief: „Wenn du durchs Wasser gehst, will ich bei dir sein“ und „Ich stärke dich, ich helfe dir auch, ich erhalte dich mit dem rechten Arm meiner Gerechtigkeit“ und „Siehe ich gehe hin, euch die Stätte zu bereiten, und will euch zu mir nehmen, auf daß ihr seid,wo ich bin“. Was heißt das anders als „ihr sollt heimkommen?“ Und wäre auch der Weg lang und heiß, staubig 7 und dornig, daß du meinst, ich komme nie, nie heim! Da steht's im Briefe: „Du sollst heimkommen, da sein, wo Er istl“ Drücke deine Hand fest aufs Herz, hebe dein Haupt neu auf, fasse frischen, fröhlichen Glauben und halte dich an des HErrn Verheißung als ein gewisses Wort. Ein Mutterwort lockt dich leicht über alle Schwierigkeiten, dem Mutterherzen nahe zu kommen, reisest du durch brennende Hitze Stunden und Tage ohne Zweifel, ohne Ermüdung wohlan,dort liegt das Vaterhaus, dort winken die offenen Arme des Vaters fürchtest du den Weg? scheust du den Kampf?Siehe, sein Wort sagt dir laut und verheißungsvoll: „Sei getrost, halte aus, überwinde den Weg, du wirst heimkommen!“

3.Ausb dem Eeben einer Arbeiterfrau.(Von ihr selbst erzählt.)„Unser Herrgott hat mich nie vergessen! Wunderbar hat Er mich oft geführt; aber immer war das Ende seiner Führung ein gutes Ende. Nicht Reichtum hat Er mir beschert, Armut und Not war reichlich mein Teil, aber geholfen hat Er mir immer und gesegnet, wo ich nichts sah als Nacht.„Ich war ein junges Mädchen von zwanzig Jahren, als ich um meiner Gesundheit willen meinen ersten Dienst verlassen mußte. Ich war gerne in meiner Stelle gewesen als zweite Magd in dem Gasthof eines kleinen Landstädtchens, aber der Dienst war streng, und der Doktor schickte mich heim zu meiner Mutter, um mich zu erholen. Ich war des Landlebens schon ungewohnt, und sobald ich mich kräftiger fühlte, ließ ich meine Augen umherwandern, um so bald als möglich einen Platz zu finden, der für mich passend wäre. Da kam eine Base aus der nahen, gewerbereichen Stadt herunter zu uns und erzählte, sie wüßte jetzt einen rechten Platz für mich. In ihrer Nähe sei eine Frau gestorben, die ein kleines Konditoreigeschäft betrieben, sie habe einen einzigen Sohn hinterlassen, der ohne Verwandte allein dastehe und sich nach einer Haushälterin umsehe. Mir leuchtete das ein. „Haushälterin“ zu werden,entsprach meinem Ehrgeiz; die große Stadt lockte mich, wenn sie mich auch mit einigem Bangen erfüllte, ein Konditoreigeschäft, das sah nach etwas aus. Kurz, die Stelle kam mir verlockend schön vor, und ich versprach der Base, die Stelle zu übernehmen und den Haushalt bestmöglichst zu besorgen.

So zog ich denn eines Tages hoffnungs- und erwartungsvoll in die Stadt ein. Ich war die paar Stunden Wegs zu Fuß gegangen, meine Kleider kamen in einer Holzkifte auf dem Leiterwägelein eines Nachbars zur Stadt gefahren. Wie klopfte mir das Herz! Würde ich die Stelle genügend ausfüllen können? Ich ging zur Base und mit dieser dem Hause meines künftigen Herrn zu. Wie staunte ich, als wir in einem engen Gäßchen vor einem kleinen Hause still hielten.Eine schmale Glasthür und ein winziges Fensterchen zu ebener Erde zeigten den Laden an, über dem geschrieben stand:„Kleinbäckerei von T. N.“ Sonderbar! Ich schielte meine Base von der Seite an und stieg die Treppe hinauf. In einer kleinen, dürftigen Wohnung empfing uns ein schmächtiges,blasses Männchen, dem Hunger und Kummer in jeder Miene geschrieben stand; aber seine guten blauen Augen ruhten mit so freundlichem Blick auf mir, daß ich schnell alle Enttäuschung herunterschluckte und die Bilder, die ich mir vorgemalt, vergaß. Ja, es war freilich ganz anders gekommen. Meine Stellung war eine so sehr bescheidene. Die Mutter von Herrn N. hatte ihr Geschäft nicht zu halten vermocht; sie hatte fleißig kleines Gebäck aus Butterteig und eine Art Waffeln gemacht;aber der Ertrag muß gering gewesen sein. Als sie starb,hinterließ sie etpas mehr als tausend Franken Schulden, die an Zucker, Butter und Milch aufgelaufen waren. Der Sohn stand ratlos. Die Freunde rieten ihm, der Mutter Schulden nicht auf sich zu nehmen; er aber wollte ihren Namen fleckenlos erhalten und mühte sich rastlos ab, die Schulden nach und nach zu tilgen. Da ging es freilich knappzu. Jeden Samstag standen die Leute und bestürmten ihn um Bezahlung. Er gab den letzten Groschen. Kam er zu mir, dann sagte er: „Brauchen Sie Lohn?“ „Ach nein, jetzt noch nicht, geben Sie ihn mir dann, wenn Sie gut können!“ Ich wußte, er hatte kein Geld. Das wiederholte sich alle Wochen ein halbes Jahr ein ganzes Jahr; ich habe nie meinen Lohn erhalten. Ich hätte meinen Dienst kündigen und gehen können, und warum nicht? Aber Herr N. war so seelengut, so geduldig mit mir, so geplagt und so allein, ich konnte es nie übers Herz bringen, fortzugehen. Nach Verlauf eines Jahres ward ich seine Frau. Ich wußte, was meiner wartete, kannte die Schuldenlast, die nur um wenig sich verkleinert hatte,und die ich nun teilen sollte im Tragen, aber ich habe den Schritt nie bereut; ich habe geholfen, zu arbeiten und zu sparen, und heute nach zwanzigjähriger Ehe haben wir keine Schulden mehr. Reich sind wir nicht geworden; die Mühe ums tägliche Brot ist geblieben, und wenn ich meinen Mann frage: „Wann bekomme ich meinen rückständigen Lohn?“dann lacht er und sagt: „Am silbernen Hochzeitstag.“

Viele schüttelten den Kopf über meinen Leichtsinn, in diese Verhältnisse hineinzuheiraten, hätte es auch besser haben können; aber ich konnte einmal nicht anders, mein Mann hatte mich nötig. Schwer waren die ersten Jahre, unsagbar schwer. Krankheit zog ein und aus bei uns, Kinder kamen und wollten mitessen und gekleidet sein. Wir sparten und sparten, aber es ging nicht voran. Einmal war die Not gar groß. Die Pfändung drohte uns, und wir hatten wirklich bittern Hunger. Da machte sich mein Mann auf zu einer Frau Regierungsrat, die schon oft Ware bei uns geholt und sehr freundlich mit uns gesprochen hatte; diese Dame nun wollte er um ein Darlehen bitten. Das war ein saurer Gang! Ich habe daheim zum lieben Gott gerufen und Ihn gebeten, das Herz der Frau zu lenken und uns zu helfen und siehe, mein Mann kam und brachte vierhundert Franken geliehenes Geld. Jede Woche sollte er der Frau Regierungsrat frische Waffeln bringen und einen oder zwei Franken bare Abzahlung. Wir weinten vor Freuden. Die dringendste Schande war abgelenkt. Wir verkauften dann den Laden und das Geschäft und zogen in ein kleines Häuschen vor der Stadt und beschränkten unsere Kunst auf die in unserer Küche mögliche Zubereitung von Waffeln und Bretzeln, die mein Mann hausierend loszuwerden suchte. Da ging's eine geraume Zeit besser. Wir hatten zweihundert Franken an der Schuld bei der gütigen Frau Regierungsrat abbezahlt. Da kam die Not wieder. Jede arme Frau weiß, daß es in unsern Kassen immer geht wie bei der Ebbe, daß das Wasser immer mehr und mehr zurückgeht, und dann ist nichts mehr da, bis die Flut wieder steigt, ach, nicht die Flut der Franken,sondern die Flut der Schulden, die immer näher und näher kommt und uns zu verschlingen droht. Wir konnten mit dem besten Willen nichts mehr abzahlen da schämte sich mein Mann und ging nicht mehr hin in das vornehme Haus. Einst an einem Sonntag, als wir zwei inmitten unserer vier Kinder harmlos auf der großen Straße vor dem Thor spazierten, stand plötzlich die Frau Regierungsrat vor uns,schaute uns mit ihren großen, grauen Augen strafend an und hielt uns eine so gewaltige Standrede über unser Unrecht, die Schuld zu vergessen, daß ich zitterte und mein Mann über und über rot wurde und sich vor den Kindern schämte. Endlich stammelte er: „Frau Regierungsrat, gewiß ich hätte es gerne gethan; aber ich konnte keinen Franken abzahlen.“ „Aber mit der Ware hätten Sie doch kommen können. Ich erwarte Sie von nun an wieder regelmäßig.“ Damit ging sie, und wir hatten genug des Spazierens.

Als mein Mann wieder hinkam, war die gnädige Frau sehr freundlich. Ein paar Wochen nachher hatte sie Geburtstag. Ich wußte es und machte auf diesen Tag die schönsten Waffeln, ordnete sie in ein Körbchen auf schneeweißes Papier ich wußte, sie mochte sie gern essen und trug sie selbst,mein Mariechen an der Hand, hin. Die Fran Regierungsrat war sehr freundlich, bewunderte meine Gabe, erkundigte sich nach unsern Verhältnissen und drückte mir schließlich ein Papierchen in die Hand. Daheim angelangt, fand ich darauf die Quittung für die zweihundert nicht zurückbezahlten Franken.Wir feierten ein Freudenfest, jubelten wie die Kinder und priesen die Güte der Frau, die uns den Stein von den Fersen genommen.

Dann wandelte sich's ein paar Jahre leichter. Man glaubt nicht, wie wohl es einem ist, wenn man um eine Schuld ärmer ist. Dieselbe Frau hat uns nochmals Gutes gethan, und zwar eben wieder in einer Zeit, als die Not sehr groß war und mein Mann und ich oft seufzten: „Wie lange können wir uns wohl noch halten?“ Milchmann, Bäcker und Zuckerlieferant drohten und plagten uns. Da kam einmal ein großes Papier in unser Haus. Es war die Todesanzeige der Frau Regierungsrat. Wir beklagten sie mit aufrichtigen Thränen und gedachten dankend ihrer Güte. Am Nachmittag kam ich ins Haus des Anwalts der Verstorbenen. Da sagte seine Frau: „Wissen Sie's schon, Frau N.?“ „Ja, die gute Frau Regierungsrat ist gestorben, es thut uns so leid.“ „Ach nein, nicht das meine ich, sie hat Ihnen vermacht; mein Mann hat es mir gesagt!“ Ich starrte die Sprechende an,„Ja, ja, sie hat Ihnen 250 Franken vermacht, und mein Mann wird sie Ihnen bald ausbezahlen!“ Ich traute meinen Ohren nicht. Ich rannte mehr als ich ging, unserm Hause zu. „Mann, lieber Mann, höre! der Herrgott hat uns nicht vergessen! Er schickt uns 250 Franken!“ Es dauerte lange, bis mein Mann die Sachlage begriff, dann weinte auch er. Das Geld kam. Wir bezahlten den Bäcker und den Milchmann und waren zu Ende mit dem letzten Franken, ehe wir's uns versahen. Aber unser Herz war voll Dank und Freude über die Hilfe, die uns geworden. Seither ging's besser. Wir steckten nie mehr so tief in der Flut. Gott half immer, oft unerwartet und plötzlich! Er ist ein guter Vater. Wohl allen, die auf Ihn trauen!“

Mie ein Emmenthaler PArchent Huchzeit feiert.Das Emmenthaler Pärchen hat lange warten müssen,bis es sich hat heiraten dürfen. Es ist zwar noch nicht alt,aber so lange sich der Hans denken kann, hat er das Bäbeli gern gehabt, und dies ist doch schon als Schulkind zur lieben Nachbarsfrau gekommen, weil's ein Waislein gewesen, und diese allein mit ihrem Manne auf dem Gute gehaust hat.Der Hans hat aber das frische Mägdlein bald entdeckt und gefunden, daß hinterm fröhlichen Gesicht auch ein frommes Herz stecke. Seine Heimat ist etwas höher gestanden, ein langes Bauernhaus, einstöckig unterm mächtigen Strohdach.Es liegt so recht auf grüner Höhe, einsam in Feldern und Wiesen in der nordöstlichen Ecke des Emmenthals. Das nächste Städtlein, das im Bauernkrieg berühmt geworden,liegt wohl eine Stunde entfernt, und das Schulhaus eine halbe. Zu dem ist dann der Hans mit dem Bäbeli und den Geschwistern hinuntergestiegen durch Sturm und Regen, in Schneewirbel und Tauwetter. Heim konnte man nie zum Mittagessen. Da hat jedes Kind seine große Milchflasche und ein Stück Brot in die Tasche gesteckt, und am Mittag sah man die ganze Schülerschar auf den Tischen hocken, den Hals der Flasche im Munde am kulturlosen Mahl.

Der Hans ist dann nach der Schule fortgekommen. Er hat bei einem frommen Landwirt in der Nähe der Stadt Bern tapfer gearbeitet als Knecht, hat dort manches gelernt und in seinem Geist aufgenommen zum Nichtwiedervergessen.Und das Bäbeli hat das Gut seiner Verwandten treulich besorgt; hat gemäht wie der stärkste Mähder, hat gemolken und den Stall gefegt und hat fröhlich den Sommer durch gewirtschaftet in jugendlicher Kraft. Im Winter aber haben Bäbelis flinke Hände mit der Filetnadel gestrickt mit schwarzer und weißer Seide für ein großes Geschäft im Nachbarthal, und seine hübschen Sachen sind weit in die Welt hinausgewandert.So sind einige Jahre vergangen. Ob der Hans je zum Bäbeli gesagt hat: Ich hab' dich lieb! kann niemand sagen;denn die Berner Leutchen hängen nichts an die große Glocke und haben vor das Herzensthürlein ein dickes Vorhängli genagelt; aber es war der Verwandten allgemeiner Gedanke:Die beiden gehören zusammen, und die beiden wußten's am besten. Durch allerlei kleine und große Fragen und Zweifel,über manchen Stein und Dorn sind die beiden denn endlich vorgerückt zum Hochzeitstag, den sie so recht von Herzen froh und dankbar feiern wollten. Kein Berner Bursche läßt sich aber im Heimatsort trauen; sonderbarer Weise macht er sich mit der Braut davon; je weiter weg die Kirche ist, desto besser,und du kannst lange fragen, bis du erfährst, wo denn die Trauung vollzogen worden ist.

Unser Hans und sein Bäbeli haben sich denn auch endlich des Morgens früh um drei Uhr aufgemacht zum weiten Kirchweg. Die Mutter hat ihnen die Hand geschüttelt und ein „walt's Gott“ mitgegeben. Die gute Verwandte hat ein paar Thränen mit der Schürze getrocknet und den beiden lang nachgeschaut. Das Paar ist aber mutig vorwärts gewandert. Es sah aber auch recht stattlich aus. Der Hans hatte ein nagelneues halbleinenes Gewand an, das die Mutter selbst gesponnen, und in dem er tapfere Schritte ausholen konnte. Und das Bäbeli trug die schmucke Tracht. Das samtne Mieder ließ das schneeweiße Vorhemd blicken;darüber glänzten die neuen silbernen Kettlein und die große bunte „Schäube“ flatterte im Morgenwind. Es ging der Weg so recht mitten quer durch's Emmenthal, wohl sechs Stunden weit bis zu der an der Linie Bern-Luzern liegenden Station Langnau. Dort sollte der Zug sie noch 21/3 Stunden weiter bringen nach Zäziwyl zum Pfarrer F., der früher in einer Nachbargemeinde Seelsorger gewesen und dem die jungen Leute dankbar anhingen. Aber wie sie zum Bahnhof kommen,da sehen sie eben, wie die schwarze Schlange um die Ecke biegt. O weh! Was sollen sie thun? Es bleibt ihnen nichts übrig, als sich nochmals auf die Beine zu machen.So wandern sie Hand in Hand durch Staub und Hitze wohl eine halbe Stunde weit. Gut, daß sich die beiden so wohl mochten, sonst hätte es manch' einer Braut verleiden mögen,für ihren Bräutigam so weit zu laufen. Aber was that's dem Bäbeli? Der Hans lief ja mit, und es wollte nun ja ein ganzes Leben lang mit ihm ziehen bergauf und ab. Doch sieh, was rumpelt und rasselt die Straße herab? Ein Brückenwagen ist's, der den Staub in Wolken vor sich her treibt. „Da sitzen wir auf!“ sagt der Hans. Gesagt, gethan. Der Fuhrmann hält gern still und läßt das schmucke Bernermeitschi aufsitzen. Nun geht die Hochzeitskutsche unter Rütteln und Schütteln dem Ziele zu. Endlich winkt das Kirchlein. Der freundliche Pfarrherr empfängt das verspätete Paar und erquickt die Müden mit einem duftenden Thee.Das macht das gute Bäbeli wieder munter. Neben Hans her geht's in die Kirche. Wie schade, sie ist leer! Keine fürbittenden Hände heben sich mit auf. Die beiden mögen aber die Nähe Gottes gespürt haben, der überall da ist, wo zwei oder drei sich vor Ihm versammeln.

Luk. 8, 22-25 las der Prediger. Jesus Christus ist mit den Jüngern im Schiffe; sie brauchen nur leise Ihn zu wecken, als der Sturm kam. Sie brauchen nicht erst mächtig gegen's Land zu steuern oder des See's Untiefen zu umfahren, Jesus lag mitten im Schifflein, da hätten sie fröhlich ins Wetter schauen mögen. Was der Pfarrer aus dem Terxt dem Brautpaare zu sagen hatte, das können wir uns alle denken, und das Bäbeli hat herzlich gebetet: „Herr Jesu, steig' auch in unser Lebensschifflein!“ Und der Hans will gut aufpassen, daß er den HErrn zur Zeit wecke, ehe der Sturm mächtig kommt.

Etwa um halb zwei sollten sie wieder vom Pfarrhaus fort. Sie wollten zusammen ins Oberland und sich dies Stücklein Welt ansehen, zu dem so viele Fremde pilgern.Sie hatten beide auch noch nie einen See gesehen oder ein Dampfschiff. Aber heute verfolgt sie das Mißgeschick. Der Zug war wieder fort, ehe sie ihn erreichen konnten, und aufs neue blieb ihnen nichts übrig, als noch einmal zwei Stunden zu laufen bis Kiesen an der Thunerlinie. So nahm man denn das Stück in Angriff, und es ging jetzt fröhlich voran mit dem Gottessegen im Herzen. Unterwegs entdeckte der Hans, daß er den Uhrenschlüssel verloren habe. Das war doch ein unentbehrlich Ding auf einer Reise, auf der einem so viele Bahnzüge davonlaufen konnten. Da suchten sie denn einen Uhrmacher auf, und siehe, da fanden sie ein gar freundliches Männchen mit großer Brille, aber nicht vor Rädchen und Federn, sondern vor der Bibel. Und wie es so geht,die drei erkannten sich als Kinder eines Vaters. Sie setzten sich zusammen und erzählten einander vom Weg, den sie gekommen und schauten zum Ziel, wohin sie wanderten, zum ew'gen Vaterhaus mit den vielen Wohnungen. Das gab ein gemütlich Stündchen, und der Alte lud sie zu Tische und setzte ihnen ein festlich Mahl vor, das beste, was er da hätte,zum Hochzeitsschmaus: Kakao und „Beeribrei.“ Und über'm gemeinsamen Mahl ging ihnen das Herz auf, also daß sich gewiß die Engel im Himmel gefreut; sah es doch aus nach dem Apostelwort: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi.“

Es war abends neun Uhr, als das Pärlein endlich das Schiff in Thun bestiegen, um nach Interlaken zu fahren. Das Bäbeli hielt sich ganz nah an den Hans. Es war ja noch nie auf solch schwankem, wunderlichem Ding gestanden. Hell glänzte der Mond über die dunkle Seefläche. Wie schön war das! Dort die stillen, hohen Berge, hier der spiegelklare See und dort die Dörflein mit den blinkenden Lichtern. Und wie mußten sie erst schauen, als bald die Jakobsfeuer aufflammten auf den Höhen! Das Bäbeli zählte 24 auf einmal und erschrak gewaltig, als das erste Bernerhäuschen in bengalischem Licht rot aufstrahlte. So schön hat es sich das Oberland nicht gedacht.

In später Nacht zogen sie im kleinen, sauberen Dachstübchen in Interlaken ein. Der Mond beleuchtete den Mönch und die Jungfrau im weißen Gletscherkleide, und noch lange hatten die zwei zu schauen und zu staunen. So endete der zwanzigstündige Hochzeitstag. Sie haben beide Grüße hinübergeschickt ins grüne Emmenthal zu den Auen und Matten. Am andern Tage sind sie dann im Sonnenscheine über den Thunersee zurückgefahren und heimgewandert, glücklich über Gottes Güte, die ihnen soviel Schönes gezeigt. Und am Abend hat's Bäbeli zum Hans gesagt: „Hans, mit dem Herrn Jesus im Schiffli ist's schön im Oberland und im Emmenthal!“

UAnm sichtbavrve Gemeinschaft.Es ist etwas Köstliches um die Gemeinschaft des Geistes,um das leise verständnisvolle Erzittern der Seele bei der Berührung mit einer andern, wodurch das Bewußtsein entsteht,daß man mit dieser andern Seele eins ist im Lieben, Hoffen,Glauben. Es ist aber ein seltenes Glück, das uns nicht oft im Leben in den Schoß fällt und wenn es kommt, so ist es meistens ein blitzartiges entzückendes Bewußtsein, eine plötzliche Klarheit. Es ist nicht an den Stand, noch an das Alter, noch an die Bildung oder an irgend etwas gebunden.Es kann alle, durch die Verwandtschaft dir Nahestehenden,überspringen und plötzlich im entferntesten Gesellschaftskreis auftauchen; es kann dir jahrelang fremd bleiben und schließlich dennoch dir zu teil werden. Es ist auch selten möglich,Schlatter, D, Zum Sonnabend. 2

O. daß sich das erste leise Erzittern aus bil den kann zum innigen vollen Verstehen, zur gereiften und bewährten Gemeinschaft auf Erden, oft ist es nur wie die Berührung des Fühlhorns jenes schwebenden Schmetterlings, der die Blüte streift und davon fliegt, um sie nie mehr wiederzufinden. Dann bleibt in deinem Herzen lebenslang ein kleines Sehnsuchtsgefühl zurück: Ach, hätt' ich den unvollkommenen Zusammenklaug sich entwickeln lassen können zum vollen Akkord, hätt' ich jene Seele kennen lernen, genießen können, um mich an ihr zu laben! Dies Gemeinschaftsgefühl kann nur rein und voll entstehen auf dem Boden des gemeinsamen Glaubens, ja es gipfelt ja recht eigentlich in dem erkennenden Bewußtsein: Er,dein Mitmensch dient demselben HErrn mit derselben verlangenden Liebe, sucht mit dir das gleiche Ziel. Es ist gewiß der größte Reiz der im Umgang mit vielen liegt, überall, in jeder Gesellschaft, in jedem Haus mit unsichtbarem Tastsinn die zu suchen, die in dieser Gemeinschaft in den stabilen Verhältnissen, in denen wir leben, zu uns stehen möchten. Sie sind oft bald gefunden und das Suchen ist zum fröhlichen Finden oder zum schmerzlichen Alleinstehen geworden. Sobald wir aber durch eine Veränderung unsern Verhältnissen enthoben werden, z. B. bei einer Reise, in der Sommerfrische während der Badekur, strecken wir eilends die Fühlfäden aus und suchen und tasten, wo diese Gemeinschaft des Geistes zu finden sein möchte. Es sind dann auch die schönsten Erinnerungen des Sommers, die du in den Winter hineinnimmst,wenn du in jenem Eisenbahnbeamten, jenem Kutscher auf dem Bock, jener fröhlichen Reisenden einen Schimmer entdeckt hast vom hellen Glaubenslicht, das im Innern brennt.

Es ist dagegen dein größtes Weh und dein nie aufhörendes Schmerzgefühl, wenn du in einem dir begegnenden Menschen,und wärs nur die Kellnerin, die dich bediente bei der kurzen Mittagsrast, das Licht ahntest, dich aber durch deine Schüchternheit oder deine Lage und Umgebung hindern ließest, einen Strahl hervorzulocken. Ich denke mir immer, der einfachste Weg, den Mitpilger oder Mitbruder im Mitmenschen zu finden, ist immer der, ihm mit liebevollem Wort, oder kleinem Dienst, oder achtungsvollem Benehmen zu begegnen; damit verschafft man sich tausend kleine Freunde im Eisenbahnwagen, im Hotelcorridor, auf dem Eisenbahnperron ꝛe., die einem sonst verloren gingen. Neben dem Skizzenbuch, in das ich, so gut es geht, Kirchlein, Seen, Berge und Blumen zeichne, bringe ich von jeder Reise auch ein Stammbuch mit, ein unsichtbares zwar, in dessen Blättern viele Gesichter, manche Gestalt, sogar einige Namen verzeichnet stehen. Wenn ich dann allein sitze im Dämmerlicht des Abends, dann nehme ich mein Stammbuch vor und lasse die kleinen flüchtigen Skizzen vorüberziehen, dann halte ich Zwiesprach mit den Gesichtern und fühle mich mit ihnen verbunden, obwohl ich nicht weiß, wo sie jetzt wohnen auf dem Erdenrund, obwohl ich nur wenige Worte mit ihnen je getauscht, nur einen winzigen Blick in ihr Inneres thun durfte. Ich fühle mich aber dennoch mit ihnen verbunden,meine Seele hat die ihre gestreift und kann den Eindruck nie verwischen, nie vergessen, und ich freue mich oft der vielen,vielen Bekannten, die ich habe in der Weite und Ferne und male es mir gerne aus, wie es sein wird, sie wiederzufinden im großen Vaterhaus.

Ja bei einigen ist es mir geradezu notwendiger Trost,zu wissen, daß, ob mir hier auf Erden keine Gemeinschaft des Geistes möglich war, ich sie droben pflegen darf in der großen Gemeinde der Heiligen und dann viel schöner, viel vollkommener und ohne Sünde. Da taucht aus grauen Nebeln der Vergangenheit ein Stammbuchblatt ums andere hervor,bald in bestimmtern, bald in schwächern Umrissen. Laßt uns

*sehen: Im kleinen deutschen Hotel am blauen Ciresio waltet am Büffet des Speisesaales ein ruhiges, gewandtes Mädchen.Benehmen, Kleidung und Gesichtsausdruck lassen mich auf gute Erziehung schließen. Sie bedient so freundlich, so aufmunternd,daß man sich gern von ihr bedienen läßt. Sie grüßt freundlich, wenn ihr achtungsvoller Gruß begegnet, weist freche Rede kurz ab. Ich spähe nach einer Gelegenheit, ein paar Worte mit ihr zu wechseln und ihr so näher zu rücken. Diese findet fich bald; ich begegne ihr auf der Treppe. Ein Wort fügt sich ans andere. Ich weiß bald, daß Fräulein Emma ein Schullehrerskind ist aus dem Mittelland, daß sie hinauszog in die Fremde, um die Eltern mit den vielen Geschwistern zu entlasten, daß sie aber oft seufzt in der schwierigen Lage, in der sich ein alleinstehendes dienendes Mädchen immer befindet.Durch verschiedene kleine Gespräche merke ich auch, daß sie fromme Eltern hat und daß der Konfirmationsspruch unvergessen ist. Ihr inneres Leben ist kein blühendes mehr, wie könnte es auch, bei so wenig innerer Pflege; aber die Sehnsucht und das Verlangen nach dem ewigen ist geblieben und blickt mir hell entgegen aus der schimmernden Thräne im Auge, als ich ihr freundlich anriet, fest auf Gottes väterliche Leitung zu schauen und zu trauen. Draußen am Rain unter wogenden Halmen blühten so schöne Kornblumen. Was konnte ich bessres thun, als sie heimtragen und sie zum zierlichen Bildchen gestalten? Unter die blauen Blumen setzte ich die Worte:„Der Pilger im Staube muß trostlos vergehn,Grlischt ihm der Glaube: Der HErr wirds versehn!“Fräulein Emma hat mir mit Thränen gedankt und ich hoffe zuversichtlich, das Wort auf dem Bildchen sei ihr ein Tropfen Ölugewesen auf den schwach glimmenden Docht.

Auf der Bahnstation am Fuße des Rigi saß ich an einem sonnigen, wonnigen Sommermorgen neben einer kleinen, blondhaarigen Dänin. Ganz allein war am vorigen Abend das junge Fräulein in unserm gemütlichen Gasthof erschienen, um da zu übernachten, weil kein Zug mehr den Berg hinanfuhr.Vertrauensvoll hatte sie sich gleich an uns gemacht und in radebrecherischem Deutsch ihren Reiseplan auseinandergelegt.Rührend klang ihre immerwiederkehrende Klage: Ich bin ganz allein! Man mußte sie gleich lieb haben mit ihren schimmernden blauen Augen, die so fragend und hoffend einen anblickten.Sie hatte weder Eltern, noch Verwandte, nur eine einzige kränkliche Schwester, die in einem Stift lebte. So war es einerlei, wo sie wohnte, ob am schimmernden Hresund, oder auf dem Schweizerrigi, sie war ja überall ganz allein. Armes wanderndes Zugvögelein! Wir suchten ihr zu dienen, wie wir konnten. Ein paar Morgenstündchen verlebten wir zusammen,als ob wir seit Jahren zusammen bekannt wären, als wären wir Schwestern und wenn uns auch die Sprache hinderte tiefergehende Gesprächsgegenstände auszuführen, was wir von einander verstanden, war vollkommen harmonisch, und als sie davon fuhr von der keuchenden Maschine gezogen, da war mirs,als zöge ein Stücklein vom Herzen davon, als bliebe mir eine Leere, die immer schmerzen würde. Sie zog allein hinauf,die Herrlichkeit der Bergwelt zu schauen, ganz allein, den kleinen Mund schmerzlich zuckend, vielleicht ist sie noch allein im fernen Dänemark, ich weiß es nicht und werde es nie wissen; aber so oft ich an sie denke, steigt mir die Sehnsucht auf, sie wiederzusehen, dann ja dann, wenn sie nicht mehr allein sein wird.

Eben waren wir im gelben, schindelbedeckten Haus an der geschützten Bucht des schönsten der Seen angekommen.Es war uns etwas fremd zu Mute und ein Gefühl wie von Umkehrenwollen regte sich in uns. Wie wird es uns zu Mute sein in der großen lebensfrohen Gesellschaft? Werden wir fremd sein und bleiben? Es kam uns so vor. So schauten wir aus dem Fenster auf den kleinen Garten hart am See;da saß an lauschigem Plätzchen unter Oleanderbäumen, halb verborgen, eine ältere Dame mit einem schmalen, feinen Gesicht. Neben ihr an sie angeschmiegt lehnte ein niedliches vierjähriges Töchterchen, rosig wie ein Knöspchen, augenscheinlich eine Großmama und ihre Enkelin. Sie betrachteten eifrig ein farbiges Bild und die Großmama erzählte. Mehrere Bilder lagen auf dem Tisch vor ihnen. Trotz der Entfernung sah ich, daß es farbige biblische Bilder waren von der gewohnten Art und Großmama hatte sie mitgenommen in die Sommerfrische, um dem Enkelkind zu erzählen. „Auch da findet sich Gemeinschaft. Welch ein Trost!“ Bei der Tafel, die zahlreich und lebhaft war wie erwartet, saß ich just neben dem Enkeltöchterlein und da kam die Berührung mit der Großmama von selbst. Tiefer ins Gespräch und zum Verstehen kamen wir aber erst, als ich die liebenswürdige Frau S. mit einem Strauß von höher oben wachsenden Blumen zu erfreuen suchte.Frau S. war lungenleidend und konnte nicht mehr aufwärts steigen, nur langsam und ruhig am Seesträßchen entlang spazieren, so machten ihr die Blumen Freude. Sie saß aber so freundlich und friedlich bald auf der, bald auf jener Bank,daß niemand sie so recht für krank hielt. Einmal traf ich sie über ein Buch gebeugt, in augenscheinlicher Bewegung,lesend. Unser Verhältnis war längst so warm geworden, daß ich mich zu ihr setzen durfte. Der Titel des Buches hatte mich dergestalt frappiert, daß ich meiner Verwunderung Ausdruck gab. „Sie lesen die Höllenbriefe?“ „Ach, ja, ich finde sie so ergreifend.“ Ich staunte. Mich hatten sie auch ergriffen,aber in anderer Weise; es lebte etwas wie kochender Ingrimm gegen das Buch in mir und ich ließ einige verborgene Dampfwölkchen herauspusten. Erstaunt schaute mich Frau S. an.„Ich finde nichts von dem was Sie sagen, mir weckt das Buch tiefe und ernste Gedanken, eine Furcht vor dem Ort der Qual.“ Wir kamen auf das Jenseits zu reden und tauschten unsre Gedanken. Ich sah, daß sich Frau S. vertieft hatte in die Welt, die hinter der dunkeln Pforte liegt und daß sie es gethan, wie ein Mensch, der weiß: Ich muß mich vertraut machen mit dem, was mir dort drüben wartet. Die tiefe Bewegung, die ihr Gesicht gezeigt bei der Lektüre des Buches,war mir Bürge, daß bei ihr der heilige Zweck der Erschütterung erreicht worden ist, wie ihn der Verfasser gesucht zu haben vorgibt, ja bei ihr hatte es sich verwandelt in die Bitte:„Erlöse mich von dem Bösen.“ Als mir Frau S. zum Abschied die Hand reichte, sagte sie: „Ich werde Sie hier nicht mehr sehen, aber dort! Wenige Wochen nachher starb sie an einer raschen Lungenentzündung, die ihre zarten Kräfte erschöpfte. Ich denke so gerne daran, daß Gottes Engel sie vorübergeleitet haben wird am Thor der Todesschatten und daß sie nun von den himmlischen Wohnungen aus sehen kann,wie anders Gottes ewige Gerichte sind, als wir Menschen sie ausdenken.

Kürzer und weniger greifbar war die Berührung, die mich mit einem ältern deutschen Fräulein aus Marburg verbindet. Sie war eine stille, sehr zurückhaltende Natur, sprach nur sehr selten und mit leiser, tonloser Stimme. Sie war mit ihrer viel jüngeren Schwägerin in der Sommerfrische und ihr Platz an der Tafel war so, daß ich mich nicht mit ihr unterhalten,wohl aber sie beobachten konnte, und was ich sah und zwischen den Zeilen las, weckte mein wärmstes Interesse. Die sehr lebhafte, gesprächige Schwägerin bemutterte die ältere stille Natur,korrigierte ihre leise gesprochenen Ansichten, widersprach ihr

24 immerfort und behandelte sie oft erstaunlich rücksichtslos. Doch gelang es ihr nie, das stille Gesicht zu erregen, nie wurde der Ton der Stimme lauter, nur ein noch intensiveres Schweigen lagerte sich über dem bleichen, weißumrahmten Gesicht. Es war, als hätte die Seele, die dahinter wohnte, im Dulden und Stillesein das Regen und Fühlen vergessen, als läge sie im Winterschlaf, unfähig, den Frühling zu empfinden.Oft malte ich mir aus, wie das Gesicht aussehen würde,wenn die Gefühle, die einst wach waren, sich drin spiegelten,wie schön es wäre, diese Starrheit zu durchbrechen. Nur selten gelang es mir, direkt mit ihr zu reden. Die gewandte Schwägerin fing alle Fragen und Annäherungsversuche auf und erwiderte sie in verbindlichster Weise; aber nach und nach sah ich doch, wie jeder Morgengruß, jedes Lächeln dies stille Gesicht in Bewegung brachte. Mein l. Mann ist ein guter Ruderer und so lockten wir denn eines Morgens die beiden Schwägerinnen hinaus auf den blauen See, der so ruhig und feierlich sich dehnte zu den Füßen der Berge. Das schien meine stille Freundin sichtlich zu beleben sie blickte mit lieblichem Entzücken hinauf zu den weißen Häuptern und nieder in die leise aufrauschenden Wellen. Mir wars ein Genuß, den Schimmer von Freude im starren Gesicht zu bewachen und immer gewisser war mirs, daß da tief verborgen eine Seele dürstete nach Liebe und Wärme, und ich glaube, daß der Durst hinausging über die irdische Liebe und sich sehnte nach ewigem Frieden und göttlicher Ruhe. „Aber wer weist mir den Weg,daß ich ihn finde,“ das war die stille Frage ohne Antwort.Leider gelang es mir nicht, diese Frage herauszulocken, noch die Antwort zu geben. Erst am letzten Morgen, als der Wagen schon bereit stand, die Schwägerin mit dem Gepäck zu thun hatte, da stürzte sie plötzlich auf mich los, drückte mir warm die Hand und stammelte unter Schluchzen ihren Abschiedsgruß. Über das stille Gesicht rollte eine Thräne.Es war das nur ein unartikulierter Ausdruck eines mächtigen Gefühls; aber er packte meine Seele mit Macht. Wie viel verborgenes Leben, das für niemanden blühen konnte! Gott der HErr allein kennet es, und ich bin gewiß, daß Er, der das Leben schafft, es nicht nutzlos verwelken läßt; Er wird es wecken und verpflanzen in gutes Erdreich, wenn Seine Zeit kommt und diese Zeit ist nicht an die sichtbare Welt gebunden,sie kann auch dort kommen, wo keine Hemmnisse mehr für die Seele sich finden, wo die Liebe daheim ist. Oft denke ich an das stille Gesicht und mein Gruß wandelt sich in Gebet.

Einmal ging es mir besonders lustig. Wir fuhren den Comersee hinauf und dachten, abends noch mit der Post von Colico aus nach Chiavenna zu fahren. Es war eine sehr kleine Gesellschaft auf dem Dampfer, eine italienische Familie von Bergamo und wir. Die Kinder, ein kleiner, zarter Bernardino und eine schwarzhaarige Bianca, die mit Vergnügen mir halfen,meine süßen, weißen Trauben zu verzehren, und mir dafür ihre rosigen Mündchen zum Küssen boten, waren mir willkommene Unterhaltung und Studie. Lange noch wehten die Tücher, als das große Boot sie vom Dampfschiff abholend durch die hohen Wellen Gravedona zuführte, um sie für immer meinen Augen zu entführen. Da erst wurde mir ein AugenDDDD 0Es gehörte einem verwetterten Gesicht an, das von einem dunkeln Bart umrahmt war. „Was für ein unheimlicher Geselle“, sagte ich schließlich zu meinem Mann. In diesem Augenblick kam der Schwarze auf meinen Mann zu und wechselte ein Gespräch mit ihm. Er entpuppte sich als Kutscher, der in Colico seinen zurückkehrenden Reisewagen stehen habe und bereit sei, uns auch den folgenden Tag von Chiavenna weiter nach dem Engadin zu führen. Mein Mann lachte über meine Angst, mich dem dunkeln Führer anzuvertrauen und machte die Sache richtig. Mich überschlichen phantastische Bilder aus längst vergessenen Kinderbüchern, und ich stieg nicht ohne einen Stoßseufzer auf die zwei Vorderplätze des sechsplätzigen Reisewagens, um in den dämmernden Abend hinauszufahren.Im Innern des Wagens lehnte eine junge, sehr selbständige kleine Ungarin mit ihrer Tante, die mit dem Bergstock bewaffnet dem Engadin zusteuerte. So waren wir doch wenigstens nicht allein mit dem unheimlichen Führer. Aber siehe,kaum hatten wir die Brücke der Adda passiert, als sich der Kutscher auf seinem Bock umdrehte, und uns erzählte, daß der Name auf unserm Handkoffer ihn bewogen habe, uns als Passagiere aufzuladen. Er stellte sich vor als der Sohn einer guten, uns in einigen Gliedern bekannten Familie des Oberlandes, als das Unterweisungskind meines Onkels, der lange Jahre im Segen in seinem Heimatort gewirkt hatte. Wie fiel mir die Angst von der Seele und wandelte sich in herzliches Lachen. Auch ich erinnerte mich an manches, das er von daheim erzählte und die Erinnerung an des Pfarrers lebendigkräftige Art entlockte ihm ein Anekdötchen ums andere und machte ihn ganz belebt. Er bestätigte uns auch eifrig, daß er nicht nur die Person des Pfarrers, sondern auch seine Lehren im Gedächtnis behalten habe und sie nicht vergessen wolle bis an sein Ende. Sommer und Winter zog er mit seinem Wagen Thal auf und ab; über Paßhöhen hinunter in die italienische Ebene und wieder zurück; das hatte ihn gebräunt. Was war das nun ein fröhlich Fahren durch das wunderschöne Bergell. Nun fühlte ich mich unter väterlicher Hut, denn Freund H. fuhr langsam und gemütlich, wie wirs wünschten, brachte mir Blumen an den Wagen, die er am Wegrand pflückte. Der gute Mann hatte sich ein köstliches Deutsch angeeignet in seinem Verkehr mit den Fremden.

Als er mir ein besonders schmeckendes Würzelchen gebracht hatte und mich aufgefordert hatte, es auf seinen Geschmack zu prüfen, fragte er nach einer Weile: „Haben sie den Gusten noch?“ Dies Wort ist ein stets bleibendes Andenken an den Führer vom Comersee in unserm Wortschatz geworden. So lebten wir vom frühen Morgen bis zum späten Abend mit einander auf unsrer Fahrt und wir hatten genügend Gelegenheit bei seinen Erzählungen zu merken, daß der Mann ein redliches, biederes Herz, ein festes Gottvertrauen und den Glauben an eine ewige Heimat in sich trug. Als wir schieden,that es uns beiden sehr leid; damals hofften wir noch, die Wege würden uns vielleicht wieder zusammenführen. Es ist nicht geschehen. Ich habe auch nichts mehr von ihm gehört,aber ich hoffe, daß der Segen der Konfirmationszeit ihn jetzt noch begleitet und noch manchem Reisenden zu gute kommt.Wie gerne hätte ich jenes kleine Fräulein näher kennen gelernt, das unsern Wallensee besuchte in der Gesellschaft eines,XDEs war so vergnüglich ihr zuzuhören, wenn es so munter sprudelnd die kleine Gesellschaft unterhielt und die vielen primitiven Einrichtungen beim Abendtisch und im Schlafgemach mit witzigen Bemerkungen verschönte und ihnen den Stachel nahm. Das kleine Fräulein hatte ein kluges, liebes Gesicht,so daß man es sehr gern ansah und sogar schön fand trotz dem armen, hohen Rücken und der schmalen Brust. Es war piel, viel krank gewesen und in den Zügen um die Augen stand etwas von der Schrift, die lange Schmerzensstunden einzugraben pflegen. Nur ein kurzes Weilchen sah ich Fräulein Julchen allein auf dem dunkeln, obern Gang, neben der staubigen Bodentreppe und in Gesellschaft einer Mauer von Reiswellen, die des Winters harrten. Das kurze Resums ihres Lebens, das sie mir in Eile stehend gab, war Leiden, Lieben und Dienen. Sie lebte unter einer großen Neffen- und Nichtenschar als liebe, unentbehrliche Tante und freute sich, sie wiederzusehen und neu für sie leben zu können, gestärkt durch die Schweizerluft. Wie sehr wünsche ich, daß die schöne Stimme noch recht lange singen könne von Gottes Liebe und das Auge noch ebenso leuchte ob all der Herrlichkeit, allem Glück, das Gott in ein Menschenleben hineinlegt, wenn es recht gelebt wird, auch wenn es dem blöden Menschenverstand vorkommen will wie ein verkümmertes Blümlein. Ihm ist es prächtig geschmückt und sehr teuer.

Immer weiter ziehen sich die Kreise meiner Erinnerung.In einer Hafenstadt am schwarzen Meer lebt jetzt ein Mann.der mir einst einen wahren Freundschaftsdienst leistete in einer einsamen Zeit. Der graue Strandkorb am Fuße der Düne war für Wochen mir zur Behausung angewiesen. Viele Stunden saß ich dort allein hinter seiner schützenden Wand und sah hinaus auf das Kommen und Gehen der Wogen und lauschte ihrem Sang. All das Regen und Bewegen am Strande, all das Wogen und Schwatzen der Menge, die sich im Sande ergötzte, existierte fiür mich nicht. Ich durfte ihm zusehen,aber mich nicht drein mischen; ich kannte niemand und war von niemand gekannt. Es galt für mich das Wort: „Es gibt viel gute Zeiten, doch ich bin nicht darin.“ Allein sich fühlen inmitten einer Menschenschar, ist empfindlicher als allein sein in einer Wüste. Da knüpfte sich plötzlich unerwartet ein Fädchen an mit einem Herrn aus dem fernen Osten. Er war auch allein unter den Vielen, und da er aus der Schweiz kam,ließ sich leicht an die noch lebhaften Reiseeindrücke anknüpfen.Es ist dies ja ein vielbetretener Unterhaltungspfad, und er ist auch ergiebig und unerschöpflich.

Bald ergab es sich, daß wir nähere Beziehungen hatten,daß ihm einige Verwandte bekannt waren, ja daß er auf einem Grund und Boden des Glaubens stand und sein Leben der Arbeit an der Jugend geweiht hatte. Nun war der Gesprächsstoff da und floß und floß, und manch genußreich Stündchen flog vorüber bei Ebbe und Flut. Nur wenige Tage blieb der Fremde am Strande. Sie sagten nachher,daß er auf dem Gesellschaftsparkett schüchtern sei und still; ich hatte nichts davon gemerkt. Er hatte so warm geredet vom „Dienen in der Liebe“ und hatte mir in der Fremde das Gefühl des Alleinseins genommen. Es waren Glockentöne der Heimat und des tiefinnersten Verständnisses in meine Seele gedrungen und hatten dort ein Brudergefühl geweckt. Nah oder fern wir sind doch Eins im HErrn.

Noch ein Bild will nicht aus meiner Seele weichen, eine Gestalt, die ich nur ein kurzes Stündchen sah; aber dies einzige Sehen hat mir einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Gibt es etwas Schöneres, als wenn dir in eine! Persönlichkeit das entgegentritt, was du dir unter einem „Jünger Jesu Christi“denkst: Frei und groß und doch jedermanns Knecht, erfüllt von der Liebe zu den Armen und Gefallenen und doch selbst geheiligt durch den Geist des Heiligen. Es war nicht ein „zufälliges“ Zusammentreffen, es war ein beabsichtigtes Unternehmen, das uns hinausführte vor die Thore „der schönen Seestadt“ in das kleine Landhaus, wo der vielbegehrte, arbeitüberhäufte Seelsorger ein Refugium gesucht hatte für den Sommer. Es war längst mein Wunsch gewesen den Mann zu sehen, der ein fröhliches Kinderherz, einen starken, salzigen Humor mit tiefem, kräftigem Ernst zu verbinden wußte. Er war nicht da, als wir kamen. Wir saßen in seiner Studierstube und warteten, bis der Tram ihn aus der geräuschvollen Stadt hinausführen sollte in die ländliche Stille. Da tönte es von Kinderlippen: „Papa kommt.“ Und siehe, er kam.Die lange, hohe Gestalt schritt durch den Garten, an jeder

Hand ein ihn begrüßendes Kind. Er kam herein durch die Veranda, bekannt gemacht mit unserm Erscheinen und betrat das Studierzimmer. Ein Blick in sein Auge und ich wußte,daß er so war, wie ichs gesucht. Ich legte meine Hand in die seine, wie wenn ich ihn längst gesehen, und sein warmer,energischer Druck schien ebenfalls zu sagen: Du bist mir keine Fremde.

Wir sprachen wenig. Mir wars so eigentümlich zu Mute.Es war mir so, wie wenn der HErr selbst mir viel näher getreten wäre durch das Erscheinen seines Dieners, der Ihn so lieb hatte. Ich hatte nur zu schauen und Atmosphäre der Liebe in mich aufzunehmen, die von ihm ausging. Er war wie ein großes Kind, ein Kind Gottes, das nichts fürchtet und nichts sorgt, das nur vertrauensvoll und fröhlich vor dem Vater lebt. Es war nicht, als säße man einem Großen gegenüber sondern einem Kleinen, im Bereich seiner Fürsorge und Liebe. Wie liebevoll ging sein erster Schritt nach seinem Schreibtisch, dort kramte er in einer kleinen Schieblade und brachte eine Karte hervor mit getrockneten Blumen von Jerusalem. „Da, das sollst du haben als Erinnerung an mich.“ Es sollte wohl auch eine Erinnerung sein an seine letzte Erquickungszeit auf Erden, die ihm Gott geschenkt hatte vor einer langen ernsten Leidenszeit. Ich stand schon damals unterm Eindruck, daß hier die Frucht in schneller Reife stehe.Ein langes Jahr der Schmerzen und des Feuers hat die Kindesseele geläutert bis zur Vollendung. Er ist hinaufgedrungen auf der Bahn der Leiden und daheim beim HErrn.Mir wars, als hätt ich meinen Vater, meinen Freund verloren.Es war mir Durst und Sehnsucht geblieben, ihn nochmals sehen zu dürfen und mehr von ihm zu lernen. Es konnte nicht mehr sein; aber das weiß ich, daß ich im Himmel, so bald es sein kann (irdisch gesprochen), ihn suchen werde. Wie 81 wird seine Seele jetzt sein! War sie damals ein lichtes Sterulein mit mildem Glanz, erfrischend und erquickend für ein Menschenherz, wie wird sie jetzt sein, „rein und frei und ganz vollkommen und verklärt in Christi Bild!“ Es gibt Menschen, die einem die Sehnsucht wecken nach dem vollkommenen Leben im Licht, und zu ihnen gehörte der Vollendete.

So reicht meine Gemeinschaftsketite schon hinauf in die Schar der Zeugen und hat dort ihr reichstes und liebstes Glied. Gewiß hast du, lieber Leser, ein ebenso reiches,vielleicht ein viel reicheres Stammbuch, und diese Zeilen veranlassen dich, es hervorzuholen und frisch zu durchblättern.Dann freust du dich der vielen, mit denen dich Gott zusammengeführt zum kurzen Sehen auf Erden. Die Freude wird zur Bitte: Laß mich sie wiederfinden in den vielen Wohnungen,die du bereitet hast allen, die Dich lieben.

Aörch Jerne tãglich.Ich hatte einen Onkel, dessen Bild mit meinen Jugenderinnerungen unzertrennlich verknüpft ist. Wer ihn gesehen,den hohen Mann mit dem weißen Haupt, dem zum Himmel gerichteten Antlitz, wer seine mächtige Stimme gehört, die auf belebtester Straße einem zurufen konnte: „Gott segne dich!“ der vergißt diese Persönlichkeit nie. Uns Kindern fiel er in der Vorstellungskraft zusammen mit dem Propheten Elias; anch er konnte eifern um den HErrn; auch er hatte nur ein Bestreben, Altäre Gottes zu bauen und eine Stimme des HErrn auf Erden zu sein, die sein Wort lauter und rein verkündige.Er war von beispielloser Gewissenhaftigkeit. Worte, die ihm sündlich erschienen, Unterlassungssünden, die er nicht mehr gut machen konnte, Gedanken, die ihn lockten, konnten ihn in tiefe Buße treiben und nötigten ihn zu unumwundenem Bekenntnis vor den Menschen, so daß seine Seele in ihren erhabenen und wieder rein menschlichen Regungen von jedermann durchschaut werden konnte. So oft ich zu ihm kam, um eine Botschaft der Eltern auszurichten, fand ich ihn in seinem Studierzimmer über mächtige Bibeln gebeugt. Die Abendsonne hatte freien Eintritt in den einfachen, bücherreichen Raum und überflutete mit ihren goldnen Strahlen das weiße Haupt und das teure Gotteswort, das offen aufgeschlagen war. Das war Onkels Lebenswerk, die Bibel aus der Ursprache nach eigenem Begreifen und Verstehen ins Deutsche zu übertragen und kein Tag verging, da er nicht mit seiner ganzen Lebendigkeit sich der Arbeit weihte. Daß ihm diese eine seltene Schrifterkenntnis beibrachte, läßt sich denken.

Im heranwachsenden Alter fürchteten wir seine Nähe.Kam ein Jüngliug aus der Fremde heim, legte Onkel seine Hand auf dessen Kopf und seine Stimme tönte mahnend ins Herz: „Hast du deinen Gott nicht vergessen?“ Machten jugendliche Verwandte ihm einen Besuch, bald ward das alltägliche Geplauder unterbrochen mit der Frage: „Denkst du auch an deine Seele?“ Schied er aus dem freundlichen Kreis der Freunde, klang die demütige Bitte durch die sich schließende Thüre: „Denkt meiner in eurem Gebet!“

Und war neben dem strengen Ernst, Gott zu dienen, auch Liebe da? Ja, eine Liebe, die das Wort des HErrn buchstäblich erfüllte: „Ihr sollt nichts mit euch nehmen, weder Stab noch Tasche, noch Brot, noch Geld, es soll auch einer nicht zwei Röcke haben.“ Frage die vielen Armen, die seine Habe täglich teilten, vor denen kein gestern gekauftes Paar Stiefel, kein Rock, kein Hemd sicher war; frage die Nächsten, die mit ihm lebten und sein Thun bewachten. Er hat 1Kor. 18 zu üben gesucht, hat daran gelernt mit ganzem Eifer; er hats nicht gekonnt; aber daran gelernt, so fleißig ein menschlich Herz es kann.

Mein letzter Besuch bei ihm hat mir ein Wort bleibend ins Herz geschrieben. Sein ehrfurchtgebietendes Haupt lag auf stützenden Kissen, seine Augen schauten wie immer aufwärts, seine Hände falteten sich. Er wartete schon manche Woche auf das erlösende Wort seines Gottes: Komm heim!Und das Warten war ihm verwunderlich und schwer vorgekommen. Da tönte es laut wie früher von seinen Lippen:„Ich lerne täglich Ergebung in den heiligen Willen Gottes!“Ich lerne täglich. Ich verstand ihn noch nicht voll; aber ich habe ihn seither verstehen lernen.

„Dein Wille geschehe!“ beten wir alle Tage; aber wir fassen die Bitte meist zu oberflächlich an, und doch liegt ein solches Licht, ein solch verklärender Schein für jeden Tag darin,wenn wir sie recht verstehen. Wir denken oft, wir brauchen die Ergebung in den heilgen Willen Gottes nur bei großen Ereignissen: an Sterbebetten, bei Feuersbrunst und Wassersnot, bei durchkreuzten Lebensplänen und zerstörten Zukunftshoffnungen. Es muß aber auch gelernt werden bei den allerkleinsten Dingen im täglichen Leben, muß täglich gelernt werden.Gott hat dich vielleicht leiblich gebunden mit kleinem und großem Weh, das du still tragen mußt und doch deine Arbeit thun; du möchtest fliegen und kannst nur kriechen, du bist vielleicht in einer kleinen Schule oder in einer Anstalt, oder in einem ganz bescheidenen Wirkungskreis, wo du nur ungesehen und unerkannt dienen kannst, und du glaubst dich doch zu großem Werk berufen. Du bist in eine Umgebung gestellt, die dir zur täglichen Aufgabe wird, du solltest sie

Schlatter, D, Zum Sonnabend. 3 lieb haben, möchtest es auch von Herzen und kannst es nicht,fühlst alle deine Versuche scheitern an deinem eigenen empfindlichen Herzen, das so schwer harte Worte, ungerechte Forderungen, langweilige Einmischung tragen und vergessen kann.Ach, du kennst dein eigen Beispiel am besten. Hast du schon probiert, dich täglich zu fügen in den Willen Gottes? Es gibt eine stumpfe Ergebung, eine willens- und regungslose Resignation, die singt: Glücklich ist, wer vergißt, was nicht mehr zu ändern ist. Aber von Ergebung in den heiligen Willen Gottes ist diese Stimmung weit entfernt.

Heilig ist sein Wille, weil er gut ist für dich, gerecht gegen dich. Ergebung in seinen heiligen Willen heißt: Jeden Tag am Morgen sich sagen, es ist mein Vater, der mich ruft, der mich tragen heißt, der mich gebunden hat, der mich ins Dunkel stellt, der mir diese Umgebung angewiesen hat.Kann ich dann noch murren? Dann wirds leichter und heller im Herzen. Ich lerne daran; aber es geht noch lange,bis ichs täglich kann.

7.„Arh bin ein Gast geresen, und ihr habt mich beherberget.“Matth. 25, 36.)Woarum führt des Menschen Sohn gerade auch dies Wort als Kennzeichen seiner Kinder vor, wenn er die Böcke von den Schafen scheiden wird? Ich bin ein Gast gewesen.Ja, Nackende kleiden, Durstende tränken, Gefangene besuchen, das sind Thaten, die an mich eine Forderung stellen, die den Grad meiner Hingabe, meiner Selbstlosigkeit zum Vorschein bringen; aber einen Gast beherbergen, ist nicht schwer, ist ja selbstverständlich! Es gibt ja Häuser, die nie von Gästen leer werden, in denen es gerade zum Bedürfnis der Hausfrau gehört, Gäste um sich zu sammeln. Oft thut mans,weil das Alltagsleben zu trocken erscheint, der Umgang mit den Familiengliedern zu reizlos geworden ist; oft geradezu,weil man dann besser leben darf, seine Kochkunst entwickeln, Vergnügen mitgenießen kann. Heißt es da: „Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherberget? Sicherlich nicht.

Mir schien es bis jetzt schön und ideal, einen Gast aufnehmen zu dürfen. Wie gern rückt man sein bestes Linnen aus dem Schrank, bereitet das Lager zierlich und schmuck, stellt Blumen ins gemütliche Stübchen, sorgt, daß sinnige Bilder von der Wand herniederschauen, schmückt den Tisch geschmackvoll und nett, läßt auch die Unterhaltung nie ausgehen und denkt dann: Wie behaglich muß es dem Gast jetzt sein! Möglich, daß es so ist, aber Christi Wort meint wohl nicht nur das! Es heißt auch hier: „Wenn du alle deine Gabe dem Gaste gäbest und hättest der Liebe nicht, so wäre sie ihm nichts nütze.“ Und hättest der Liebe nicht? Ja, wie würde man denn einen Gast beherbergen und ihn nicht lieben?Es gibt gewissermaßen eine Liebe on gros und eine Liebe on détail, und hier handelt es sich um die allerfeinste, allerzarteste Entwickelung des Liebesvermögens, um ein feinfühlendes Eingehen und Verstehen der seelischen Bedürfnisse des Gastes, um ein Vorbeugen alles dessen, was schmerzlich und verletzlich ihn berühren könnte, um ein Heilen aller Wunden, die er in sich trägt. Das hat freilich alles nicht Platz,wenn du froh bist, wenn dein Gast so wenig Ansprüche macht als möglich, wenn du meinst, er müsse von vornherein höchlich dankbar sein, daß er überhaupt bei dir weilen dürfe.

3*

Man hat zu gewissen Zeiten ein besonders empfindsames Herz, dankbar für alle Liebe, verwundbar von jedem Stich.Das kommt vor, wenn eine große Trübsalszeit über uns geht,oder wenn ein innerer Entschluß uns hin- und herwirft, man hat es auch als Gast. Dann ist man ja doch losgetrennt von den heimischen Verhältnissen, oft fern von der täglichen Liebe der Angehörigen, oft erholungs- und erfrischungsbedürftig, oft etwas ängstlich unter fremden Sitten, immer aber ausschauend nach Liebe. Sehen wir auch in jedem Gast ein Herz, das nicht an deinen Tisch, an dein Stübchen, sondern an deine zarteste Liebe Anspruch macht? Hast du schon gelauscht auf sein kleinstes Bedürfen, sein innerstes Empfinden? Streichst du mit linder Hand über sein Entbehren? Hilfst du ihm über kleine Verlegenheiten? Lenkst du die Unterhaltung, daß ste ihm tief innerlich wohl thut? O, welch ein dankbares Ding ist es, dem Gaste eine kleine Liebe erweisen! Nie vergißt man einen warmen Abend im trauten Kreise, nie ein paar weiche Kinderarme, die sich um einen gelegt, nie ein liebliches Lächeln der Hausfrau, nie ein erhebendes Gespräch des Hausherrn.Es sind das alles Klänge aus der obern Heimat, aus dem Vaterhause, in dem man nimmer Gast sein wird, sondern Kind und Hausgenosse.

Ein selig Wort: Du bist ein Gast gewesen und ich habe dich beherbergen dürfen, dich, meinen Heiland, in dem ich meinen Gast liebte, wie du liebst, ihn ansah mit deinen Augen.

Es fallen mir hier ein paar Beispiele ein, die einst meine Tante mir erzählte, eine Tante, von der mancher Besuchende bleibenden Segen fortgetragen hat. Diese Tante stammte aus einem Elternhause, in dem jahrlich viele Gäste aus- und einzogen und dort Erquickung und Belebung suchten und fanden.

„Einst,“ erzählte meine Tante, (sie war damals längst verheiratet), „klopfte es an meine Thür. Auf mein „Herein“ erschien ein Herr, fremd von Angesicht. „Ich komme Ihnen zu danken!“ tönte es mir entgegen. „Zu danken! Und ich kann Sie doch nicht erkennen, kaum glauben, daß ich Sie je zesehen!“ Der Herr setzte sich und erzählte mir folgendes:„Ja, ich komme, Ihnen zu danken und zwar für eine Freundlichkeit, die Sie mir erwiesen, als ich vor vielen Jahren Gast im Hause Ihrer Eltern war. Ich war damals direkt vom Missionshaus, wo ich lernte, gekommen, war ein steifer, unbeholfener Jüngling und sah mich bei Tisch in einen Kreis von lebhaften, geistig angeregten Menschen versetzt. Die Unterhaltung drehte sich um wichtige religiöse Fragen, in denen ich mich nicht so schnell zurechtfinden konnte. Ich fühlte mich unbehaglich und von meinem Nichts gedrückt. Zudem kam ich dom Anstaltstisch mit seinen einfachen Formen, wußte mich nicht zu bewegen und fürchtete mich vor dem Augenblick, da die Reihe des „Bedientwerdens“ an mich käme. Sie trugen die Platte und richtig, wie ich die Gabel ergreife, fliegt auch ein schönes braunes Würstlein statt auf meinen Teller auf den Boden. Über und über rot, will ich eben anfangen, meine Entschuldigung zu stammeln, da höre ich noch glücklich, wie Ihre Stimme freundlich tönt: „Nein, bitte, bitte, entschuldigen Sie, ich war so sehr ungeschickt!“ Und im Nu, ehe es jemand gesehen, lag ein neues Würstlein in meinem Teller,und ich konnte fröhlich weiter essen und mich dem Genuß der Unterhaltung hingeben. Seit dem Tage trug ich eine Dankesschuld auf dem Herzen, die ich nie abtragen konnte!“

„Dieser Missionar,“ fuhr meine Tante fort, „erwies sich nun bei seinem Besuch als ein sehr lieber, herzlich gläubiger Mann, und ich habe ein schönes Stündchen mit ihm verlebt,da wir uns der Gemeinschaft desselben Glaubens bewußt wurden.Da hat er mir reichlich vergolten, daß ich ihm einmal eine kleine Verlegenheit ersparte.“

Einst war dieselbe Tante in Deutschland im Hause einer Schwester, die eine große Aufgabe zu lösen hatte, zu Besuch.Eben war es Mittag, das einfache Mahl für den zahlreichen Familienkreis bereitet, als ein Gast gemeldet wurde und zwar ein Graf X. „Was thun?“ fragen die Schwestern. „Wir müssen den Grafen zu Tisch einladen, und doch können wir ihm nicht anbieten, was wir für uns gerechnet haben, und die Uhr ist schon weit vorgerückt.“ „Weißt du was, liebe Schwester, du verstandest daheim so schöne Küchlein zu backen,die werden dem Grafen als „Schweizerseltenheit“ vorgesetzt.“

Gesagt, gethan. Meine Tante stellte sich in die Küche.In Eile flog die Kelle und die Schüssel, die Butter pratzelte in der Pfanne, und bald lag ein Berg duftig brauner Küchlein auf dem Teller. Vergnügt spazierte meine Tante nun dem Eßzimmer zu, um schließlich auch noch etwas von der Unterhaltung des leutseligen Herrn Grafen abzubekommen, den sie schon längst im Herzen verehrte. Aber kaum war sie im Kreise der andern angelangt, so richteten sich die Augen der Schwester, die alles Unschöne und Unschickliche gleich erblickten,auf sie, und es entfuhr ihr der Ausruf: „Aber, liebe Schwester,wie siehst du aus!“ Aller Augen richteten sich auf meine gute Tante, die vom Herdfeuer und dem Kocheifer hochroten Angesichts, verblüfft da stand.

Enttäuscht und verletzt im Herzen stahl sie sich bald hinaus. Was hätte sie noch zu suchen im geselligen Kreise? Sie machte sich dort zu schaffen, wo sie hinpaßte, und wo sie die Röte geholt. Doch siehe, als die Zeit des Abschieds kam, da öffnete sich leise die Küchenthür, und freundlich lächelnd streckte der Graf meiner Tante die Hand hin und sagte: „Ich danke Ihnen für die schönen Küchlein, die Sie mir zu Ehren gebacken haben!“ Sein feines Herz hatte den kleinen Schmerz und den Zusammenhang erraten. Da war es nun der Gast, der Liebes that.

Nicht wahr, wir alle könnten manche derartige Illustration finden aus dem eigenen Leben? Vielleicht haben wir diesen A wesen,“ neu in Praxis zu setzen.

Ich kenne ein einfaches braunes Schweizerhäuschen an Bergeswand. Klein sind die Fenster, niedrig die Stübchen,steil die Treppen; aber drum herum ist ein Garten, grün und duftig, und dort ein Wald, schattig und kühl. Und wer sitzt dort? Da ist ein Blindes, das hier sich des Vogelsanges freut, dort eine bleiche Nähterin, die Waldesluft einsaugt, hier ein armes Jüngferchen, das nirgends sonst in die Sommerfrische reisen kann ꝛc. Den ganzen Sommer fliegt's ein und aus. Ist denn das Häuschen elastisch? Ja, es scheint so.Drinnen waltet ein liebevolles Herz und eine linde Hand, die pielen gern Sommerfreude und Sonnenlicht bietet, ein Herz,das verstanden hat, was der HErr einst gesprochen: „Ich bin ein Gast gewesen, und ihr habt mich beherbergt!“

MDauaæs mir mein Duter erzählte.

Mein Vater hatte ein prachtvolles Erzähltalent. Er wußte kleine Begebenheiten so lebendig wiederzugeben, Charaktere so lebensfrisch auszumalen, daß man mit hohem Entzücken zuhörte. Freilich hatte er auch das Talent, Menschen und Dinge zu vergolden; aber das machte seine Kunst für uns nur um so anziehender. Er erfand denn auch oft lange Episoden aus dem Stegreif, sie anknüfend an Orte in unserer Gegend, oder an geschichtliche Thatsachen, und unsere Ruinen und Brücken,Alphütten und Thäler belebten sich mit Ereignissen und Menschen, die kaum durch alte Chroniken nachweisbar gewesen wären.Wenn wir Sonntags von unsern großen Märschen über Hügel und Berg müde der Vaterstadt uns zukehrten, dann hingen wir Kinder uns an Vaters Hand, und es ertönte die Bitte:„Vater, erzähle!“ Und dann gingen die Füße wie im Traum vorwärts. Da lauschten wir mit angehaltenem Atem, wie es dem Vreneli erging auf der Ebenalp, oder wie sie eine Wiege gefischt aus der reißenden Sitter, oder wie die Ritter von Spießegg den Drachen getstet, oder wie die Leutpriester von St. Lorenzen Luthers Lehre gepredigt. Aber am liebsten hörten wir, wenn Vater zurückstieg in seine eigene Kindheit und uns erzählte von seinem Leben im Geschwisterkreise und flocht sich auch mancher Knabenstreich ein, der uns nicht gerade zur Kopie reizen sollte, wir fanden uns gut drin zurecht und fühlten uns geistesverwandt.

„Vater, erzähl' uns heute, wie du warst als Knabe, und vom Onkel Jakob, der wild war, wie wir!“ Dann hob Vater wohl lächelnd an: „Ja, wir waren ein ungleich Brüdertrio, der Jakob, der Gottlieb und ich. Der Jakob war der stärkste und der Gottlieb war der frömmste. Der Jakob und ich haben immer was angestellt. Besonders erinnerlich ist mir ein Vorfall, der sich beim Bau unsers Hauses ereignete. Das Haus war aufgerichtet, und das leere Balkengerüste lockte uns sehr zum Klettern. Wir sprangen unter hellem Jauchzen im dritten Stockwerk von einem Balken zum andern. Plötzlich sah ich den Jakob springen und stürzen. Sprachlos starrte ich ihm nach und hörte seinen dumpfen Auffall auf einen Bretterboden. Zitternd stieg ich hinunter und holte den Vater. Jakob war nicht tot und bald wieder fröhlich wie wir, aber den Schrecken habe ich nicht vergessen. In eben diesem Hause, das wir mit Jubel bezogen, bekamen wir Kinder so viel möglich ein eigenes kleines Schlafzimmer. Ich mußte mit Jakob ein Dachstübchen teilen. Das war unsere Welt. Einmal stürzten die Lente von der Straße angsterfüllt in den Laden zum Vater und riefen: „Ihre Buben springen auf dem Dach herum!“ Als der Vater heraufblickte, sah er eben, wie Jakob und ich uns um das Dachfenster herumjagten.Auf seinen warnenden Zuruf verschwanden wir eiligst im Loch.

„Ich hätte aber gern mein Stübchen allein gehabt und wußte nicht, wie ich den Jakob los werden könnte; da benutzte ich denn seine Furchtsamkeit. Als wir abends im Dunkeln zu Bette lagen, kratzte ich mit dem Nagel der großen Zehe an der hölzernen Bettwand, das gab einen eigentümlichen Ton.Ich schnaufte dazu, als schliefe ich. Da rief Jakob: „Stephan,hast du nichts gehört?“ „Was?“ fragte ich. „Einen so sonderbaren Ton!“ „Es waren wohl Mäuse in der Diele.“ Ein Weilchen blieb's still, dann kratzte ich wieder. „Stephan, Stephan, hörst du denn nichts!“ „Doch, aber schlaf du nur, das kommt von draußen!“ Dies Experiment wiederholte ich am nächsten Abend, und siehe,am dritten Tag erklärte der furchtsame Jakob der Mutter,er könne es nicht mehr aushalten da droben. Er zog nun in ein kleines Kämmerlein in Mutters Nähe, und das Feld war mein.“

„Unser liebster Spielplatz aber war das Gemüseland der Mutter außerhalb der Stadt. Dort hatte sie nach echter Bürgerfrauen Sitte ein Stück Land mit Bohnen, Kohl, Rüben ꝛc.bepflanzt, und zwischen den Bohnenstangen ließ sichs herrlich spielen. Dort konnte man im Herbst auch ein Feuerlein anzünden und Kartoffeln braten, bis der Landiäger sich zeigte.Dort hinaus kam denn der Gottlieb auch mit. Er war von Anfang an frömmer als wir und suchte schon als Knabe mit ganzem Ernst Gottes Willen zu thun; er ermahnte uns und betete oft für sich draußen unter den Bohnenstangen. Einmal stellte er uns denn gar beweglich vor, wie notwendig es sei,schon als Knabe Gott zu gefallen und sich selbst Ihm zum Opfer zu bringen. Was thun? Durch Gottlieb angeregt,entschlossen wir uns denn feierlich, heute zu fasten und so den Anfang zu einem guten Leben zu machen. In ernster und gehobener Stimmung zogen wir drei heim und drangen durch den Hausflur. Da stand Schwester Babett, unser Vizemütterchen, oben an der Treppe, und um uns Beine zu machen,rief sie: „Kommt schnell heim; es gibt Apfelküchlein zu Tische!“ Apfelküchlein! Das beste, was es geben konnte, und wir wollten fasten! Ich glaube, auch der Gottlieb ließ es für heute anstehen.“

„Ich war leider kein braver Bube und machte meinen Eltern vor allem damit Sorge, daß ich zu keinem Berufe annähernd Neigung zeigte. Meine Mutter hätte gerne einen Theologen aus mir gemacht, ich aber hatte ganz andere Gedanken. Unterm gedeckten Bogengang an unserer nachbarlichen Kirche erschien alle Samstage ein Korbmacher-Mannli aus dem Appenzellerland mit seinem Bub. Das stellte dann seine „Zeinen“ und Körbe in unsern Keller ein bis zum nächsten Markttage. Mit dem schloß ich nun eine warme Bubenfreundschaft, und nichts schien mir schöner, als vom Appenzellerland zur Stadt zu laufen mit Körben, und keine Kunst höher als die, aus Weidenruten künstliches Geflecht zu biegen. Nun wußte ich, was ich werden wollte, und ich lag meiner Mutter an,mich Korbmacher werden zu lassen. Erst verstopfte meine Mutter die Ohren, endlich gab sie nach und sagte: „Nun, ja,so sollst du's probieren; aber wenn du das willst, so mußt du dann auch ordentlich aushalten!“ So packte ich seelenvergnügt mein kleines Bündelchen mit Wäsche und Sonntagskleid und zog am Abend mit dem Appenzeller-Mannli über die Hundwylerleiter seiner kleinen „Heimmet“ zu. Die ersten

Tage gefiel mir's ausgezeichnet, au den Abhängen herumzuklettern und Weiden zu schneiden, und ich that es tapfer. Als sich's aber täglich wiederholte, als der Regen kam und keine Mutter mich besorgte, als es Samstag wurde und ich nicht mit sollte nach der Stadt, da fiel der Mut, und am liebsten wäre ich gleich heimlich fortgelaufen und zur Mutter gekommen.Aber das durfte ich nicht, ich hatte ja aushalten wollen.Noch eine Woche ging's, eine lange Woche, in der ich vor Sehnsucht fast nicht essen könnte. Da, am andern Samstag nahm ich mein Bündelchen unter den Arm und trabte heimwärts, koste es, was es wolle. Sie hatten mich kommen sehen. Als ich an der Hausthür läutete, stellten sie sich hart,erklärten, keine Körbe zu brauchen, und wollten mich nicht einlassen. Ich mußte ordentlich betteln, bis ich Einlaß fand und zu Gnaden aufgenommen wurde. Damit hatte meine Lust am Korbflechten ein Ende.“ADD Knabenzeit. Oft aber, wenn er ein Stündchen erzählt hatte,endete er mit der einen Geschichte, die ihm die liebste und die beste war, und die auch wir gern immer wieder hörten.„Ich muß euch nun noch erzählen, wie ich meinen Gott gefunden, das beste und schönste für mein Leben. Ihr wißt,ich wurde dann Apotheker und habe manches Jahr in der Fremde am Rezeptiertisch gestanden. Ich hatte große Freude an meinem Beruf, und meine Freizeit füllte ich mit Botanisieren aus.“ (Was das war, wußten wir. Noch trug ja Valer viel seine grüne Büchse mit und füllte sie für uns mit kostbarer Beute.) „Ich war ein frischer, beweglicher Mensch geworden,solid und ordentlich, aber von eigentlicher Frömmigkeit wollte ich nichts wissen, ja, die Ermahnungen meiner frommen Mutter waren mir lästig. Überall, wo ich in der Schweiz und in Deutschland als Apothekergehilfe hinkam, verfolgte mich ein

Brieflein der Mutter, das mich an irgend einen ihrer zahlreichen christlichen Freunde empfahl. So kam ich nolens volens immer wieder in diese Luft. Nun beschloß ich, einen Platz in der Nähe von Aachen anzutreten. In jenem katholischen Landesteil wohnte nun gewiß kein christlicher Freund, und ich war sicher. Ich reiste dorthin und blieb auch richtig ein paar Wochen unbehelligt. Aber siehe, da kam ein Brief von der Mutter, liebevoll und warm wie immer, und drin lag eine Einlage an einen christlichen Freund in Vals, einige Stunden von Zülpich weg, der belgischen Grenze zu. „Wieder ein Steckbrief!“ dachte ich und behielt ihn vierzehn Tage still verborgen. Da aber ließ mir's keine Ruhe mehr. Ich lud meine grüne Trommel auf den Rücken und wanderte am sommerlichen Nachmittage dem Orte meiner Adresse zu. Noch sehe ich die weiten, goldenen Kornfelder vor mir, wie sie in wogender Flut sich weit hindehnten. Es war wundervoll still, und ich öffnete mein Herz weit der Herrlichkeit. So kam ich denn am Hause des Herrn B. an, eine unliebsame Unterbrechung im Genuß. Aber siehe, diesmal wurde es anders, als ich dachte. Herr B. empfing mich sehr freundlich wie einen alten Bekannten und führte mich ins Gartenhäuschen, allwo wir bald in eifrigem Gespräch waren. Geschickt knüpfte der alte Freund an meiner Liebe zur Natur an, und sprach über Blumen und Vögel, ihren wundervollen Bau und ihre Bestimmung, Gott zu verherrlichen. Plötzlich sagte er: „Es ist doch schade, daß in der herrlichen Schöpfung der Mensch der einzige Mißton ist!“ „Der Mensch ein Mißton? Ich finde das gar nicht,wie meinen Sie das?“ „Der Mensch ist doch das einzige Wesen der Schöpfung, dem die Sünde anklebt, die Sünde ist das, was uns trennt von Gott, was uns unglücklich und unselig macht, also das ist doch ein Mißton!“ „So sagen Sie;ich fühle mich nicht getrennt von Gott. Wie ich herwandelte durch die Flur, fühlte ich mich mit eingereiht in die Schöpfung,die Gott lobte. Aber freilich, ich verstehe nicht, was Sie Sünde nennen!“ „Gut,“ sagte mein alter Freund, „wollen Sie einmal eine ganze Woche treulich versuchen, durchzukommen ohne diesen Mißton, d. h. ohne zu sündigen? Achten Sie auf sich, vielleicht verstehen Sie mich nach und nach!“ „Gewiß will ich es versuchen; ich denke, nach einer Woche mich Gott noch so nahe zu fühlen wie heute.“ „Dann kommen Sie wieder zu mir, und erzählen Sie es mir!“ So schieden wir. Ich suchte meinen Rückweg durch die Flur. „Bin ich ein Mißton in dieser Herrlichkeit? Gewiß nicht! Gott hat gewiß an mir sein Wohlgefallen, wie an der schlanken Kornähre, wie an der jubelnden Lerche! Aber ich will ernstlich darauf achten. Ich muß es Herrn B. sagen, daß ich anders fühle.“ Aber siehe, ein Tag reihte sich an den andern, und die Woche verging. Mir war helle geworden,was ich noch nie erkannt. Ich war auf einmal unzufrieden mit mir selbst geworden. Ich sah Mängel und Flecken an mir, die ich vorher nie entdeckt. „Ich muß es die nächste Woche besser machen, so kann ich nicht zu Herrn B.“ Und die nächste Woche verging, und der Mißton klang immer schriller in mein Herz, und immer unruhiger wurde ich. Noch eine Woche mühte ich mich redlich. Wo war meine Ruhe,meine Zufriedenheit hin? Warum plagte mich das Wort Sünde, das ich nicht leiden mochte? Da hielt ich's nicht mehr aus. „Ich muß zu Herrn B. Er hat Recht behalten. Ich bin ein Mißton in der Schöpfung!“ Ich kam zu meinem Freunde und gestand ihm ehrlich, daß er recht behalten, daß ich nun wüßte, was Sünde sei. Und er hat mir den Weg gewiesen, durch die Sünde hindurch zur Gnade und zur seligmachenden Freude an meinem Heiland. So hab ich im katholischen Lande meinen Gott gefunden, und er ist mein Licht geblieben und meine Seligkeit bis heute!“ Ach ja, wir Kinder wußten es ja und lebten täglich in dem Glanze dieses Lichtes.

Und nun möchte ich noch zum Schluß erzählen, wie mein teurer Vater das Wörtlein auffaßte: Alles ist euer!

Ehrlich gesagt, es war mir als Kind rätselhaft, und oft ärgerte ich mich darob im stillen. Kam im Herbst eine Schachtel Trauben von einer lieben Bekannten aus dem Rheinthal, so sagte Vater: „Mutterli, Trauben aus unserm Weinberg!“ Brachte eine freundliche Frau einige schöne Birnen, so hieß es: „Kinder, Birnen aus unserm Garten!“ Spazierten wir an einem schönen Garten vorbei, so wandte sich der Vater an uns: „Schaut unsere Bäume, unsere Blumen, wie schön ste sind!“

Wir faßten das reeller, und Vater wußte wohl, wie sehnlichst wir uns alle einen Garten wünschten, und jedes Jahr erneute sich der Wunsch. Darum ließ auch Vater keine Gelegenheit vorbeigehen, ohne uns zu sagen: „Seht all diese schönen Blumen, diese Bäume im Blätterschmuck, die hat der liebe Gott ganz expreß für uns so schön gemacht. Das sind unsere Blumen, unsere Bäume, wir dürfen uns dran freuen und uns satt sehen und haben erst noch keine Mühe damit! Alles ist euer! Freut euch, Kinder, alles ist euer!“ Und dann setzte er mit strahlenden Augen für sich dazu: „Ihr aber seid Christi!“

3 DBAVNIiKR.

„Monita kommt heute heim in die Ferien!“ Das war das belebende Wort, das uns einst an einem Julimorgen fröhlich erwartungsvoll in den Tag hineinstellte. Ja, wer ist

Monika? Ach, eine liebe unentbehrliche Schwester, die jeder im großen Geschwisterkreise speziell ins Herz geschlossen. Lange ist sie fort gewesen, hat viel gelernt, das welsche Land gesehen und kommt nun endlich wieder heim zu uns andern allen.Und mit ihr kommt die Erinnerung an die schönen Tage der Spielzeit, da der kleine Hof widerhallte von unserm Jubel.Im Schatten des selbstgepflanzten Ahorn hatte sich Monika ihre Welt geschaffen; da ward ihr das Faß zur Indianerhütte,der Kaffeesack zur Büffelhaut, der Stock zum Renner; da spukte Rübezahl hinter den Kisten, oder der Ritter kehrte heim mit langem Stab und Muschelhut. Ja, wenn unser „Möggli“(wie wir sie nannten) mitspielte, dann ging's hoch her, dann kamen wir nie anders heim, als glühend vor Begeisterung.

Monika war auch, was man so heißt, ein „außergewöhnliches“ Kind. Sie hatte eine äußerst lebendige Auffassungsgabe; was sie fühlte, fühlte sie tief, und ihre Seele war immer wie ein durstendes Erdreich, bereit, jeden Eindruck aufzunehmen.Was sie im geistig reichen Vaterhause hörte, was sie in der Schule erfaßte, was in der Natur ihr entgegentrat, alles fand bei ihr ein reiches Entgegenkommen. Vor allem waren die Bücher ihre Freunde; wirklich war sie noch nicht fünf Jahre alt, als sie geläufig las. Wie oft sah man sie dann unter den kleinen Freundinnen aus der Sonntagsschule sitzen und ihnen ein liebliches Liedchen lesen. Ihre höchste Freude fand sie an der Hand ihres Vaters, wenn er seine Kinderschar hinausführte auf seine lieben Berge, sie bekannt machte mit den Blumen, die unsere Höhen kleiden und ihre Augen öffnete für die Herrlichkeit, die Gott um uns ausspannt. Wie leuchtete da Mögglis Gesicht! Wahrlich, ihre Augen standen oft voll Thränen, wenn sie des „Vaters“ gedachte, der alles so schön gemacht. Ihr inneres Leben war wunderbar reich und tief entwickelt. Es finden sich in ihrem kindlichen Tagebuche, das sie mit zwölf Jahren angefangen, Stellen, die von reicher Selbsterkenntnis und wirklichem Umgang mit Gott zeugen.So schreibt sie damals: „Herr, ich möchte so gern dich umfassen mit aller Macht meines Wesens. Es ist mein höchstes Sehnen und Verlangen, dein zu sein und dir anzugehören mit Leib und Seele. Ich möchte so gern in deinem Dienst mein Leben zubringen und weiß keine größere Seligkeit, als mit dir umzugehen!“

Schon durch diese ersten Blätter zieht sich der große,ernste Kampf zwischen dem Wollen des Geistes und dem Nichtkönnen des Fleisches. Die Sünde, all ihre Last, die sie für uns mit sich bringt, und die ihr nahe trat in Unvollkommenheit ihrer liebsten und geehrtesten Menschen, in Krankheit und Verderben, in Schwachheit und Tod drückte ihr Herz besonders tief. Unendlich viel Weh, das diesem Zwiespalt entsprungen, füllte schon ihre Kindesseele. Daraus entsprang ihre Sehnsucht nach Erlösung und Befreiung, ihr Heimweh nach dem „Vaterhause“. So findet sich in ihrem Kindertagebuch auf den ersten Blättern schon das Verslein:„Ich ginge gern, so gern zu dir,Doch wenn du mich noch länger hier In Sturm und dunkeln Nächten läßt,So halt' du meine Seele fest.“

Dieses Verlangen nach völligem Frieden, nach Lösung aller Widersprüche im eigenen Leben, wie im Leben der geliebten Menschen wurde immer mächtiger in ihr, und all ihre Briefe und Tagebuchblätter sagen es laut, daß ihre Seele hier nicht daheim war, daß sie sich frühe zum Flug rüstete ins Vaterhaus.

Sie übte einen merkwürdigen Einfluß aus auf alle, die ihr je nahe gekommen. Ihre Freundinnen liebten sie schwärmerisch, ihre Lehrer hielten es für eine besondere Freude,sie zu unterrichten. Es lag wohl ihr Einfluß in ihrer Begeisterung, die sie jeden Augenblick über das Gewöhnliche hob.

Was sonst ein Mädchenherz füllt und erfreut: schöne Kleider,Vergnügungen und örgl. waren ihr gleichgültig. Sie liebte Höheres. Wenn man in ihren unbeagchtetsten Momenten ihr Gedankenbild hätte photographieren können, ich glaube, man hätte nie etwas anderes finden können, als etwa eine brennende,wissensdurstige Frage oder ein Dichterwort, oder eine Klage über sich selbst.

Einer ihrer Lehrer sagte mir lange nachher: „Wenn ich etwa müde zur Klasse schritt, um meine Religionsstunde zu geben, und ich sah bei meinem Eintritt, wie sich Monikas begierige Augen auf mich richteten, dann stand es zündend in meiner Seele: „Wo Monika zuhört, ist deine Mühe belohnt!“

Und diese liebe Schwester sollte in die Ferien kommen in die alte Heimat. Sie war damals neunzehn, ich zehn Jahre alt. Im Triumph holten wir sie ab und brachten sie heim.Wie freute sie sich an der alten, großen Stube mit dem grünen Kachelofen, wie suchte sie ihren alten Bettwinkel wieder, in dem sie früher geschlafen, wie bewunderte sie alle neuen Schätze unter unsern Büchern und Puppen! Sie war so herzig lieb,die große Schwester. Ihr weißes Gesicht mit den schimmrigen graublauen Augen und dem rotblonden Haar darum, schien mir der Inbegriff alles Lieblichen, und gar stolz trottete ich neben ihr her und steckte meine Hand unter ihr graues Radmäntelchen. Oft schleppte ich meine Schiefertafel zu ihr, und dann zeichnete sie mir lange Geschichten vom „Ameisli“ und von der Biene, und ich lauschte atemlos. Dann legte sie wohl am Schluß ihre Hand auf meinen Kopf und sagte zärtlich:„Mi's Meitschi!“ In ihrer Nähe war's so gar eine liebliche Luft, eine Luft, in der ich „brav“ sein konnte, brav sein mußte.Es waren dies gar schöne Wochen für uns alle, und mit Hochgenuß streifte Monika wieder mit Vater und uns allen durch's Appenzellerland, schaute hinunter in's Rheinthal und hinüber

Schlatter D. Zum Sonnabend.zum Bodensee. Und dabei erzählte sie vom schönen Westen der Schweiz, wo sie gewesen, vom blauen Genfersee und den Rebhängen und den schneeigen Alpen, und wir Schwestern wußten keinen. höheren Wunsch als den, Monika nachzuziehen.

An einen Abend dieser Woche erinnere ich mich noch besonders deutlich. Wir kamen von einer Paßhöhe an der Appenzeller Grenze, hatten das Wandern genossen und stiegen fröhlich heimwärts. Die Sonne neigte sich. Es lauerte aber im Westen eine Wolkenbank, und unsere Schar bedauerte eben,daß der Untergang nicht „rein“ werden wollte. Unverwandt blickten wir der goldenen Scheibe nach, wie sie langsam hinterm düstern Vorhang verschwand und die Gegend in Schatten sinken ließ. Da plötzlich brach in der Mitte der Wolke ein goldener Strahl durch; es war als sähe man durch einen Riß hinein in ein Lichtmeer. Da fühlte ich, wie Möggli meine Hand faßte, und jubelnd rief sie: „Siehst du, dort, dort sind die goldenen Gassen!“ Ja, ich sah sie auch; aber Monikas leuchtendes Auge hatte mehr gesehen, und inbrünstig sang sie:„Wie wird's sein, wie wird's sein, wenn ich zieh' in Salem ein!“

Kurz war die Zeit ihres Daheimseins. Die liebe Schwester rüstete sich zu ihrer ersten beruflichen Thätigkeit. In Lausanne warteten ihrer einige liebliche Kinder in christlicher Familie,die sie erziehen sollte. Sie zog aus, gewappnet mit hoher Begeisterung und stillem Vertrauen. Wir sahen sie ungern scheiden. Die ganze Schar begleitete sie hinaus am frühen Morgen zum Bahnzug. · Warum war Mutters Herz so besonders schwer? Warum wollten ihre Schritte sie nicht tragen? Sie hat ja schon manchen Abschied erlebt, schon manchen Schmerz ritterlich ausgekämpft, warum ist ihr heute so bange? Wir wußten es damals nicht, verstanden es aber binnen kurzem.Die schöne Blume sollte nicht mehr lange blühen; wir sollten sie nur noch sehen geknickt und sterbend.

Wenige Wochen später es war im September fiel der dunkle Schatten auf unser friedliches Heim. An einem Mittwoch fand ich bei meiner Rückkehr aus der Schule Gepäck im Flur stehen ein seltsames Ereignis bei uns! Ich stürzte in die Wohnstube, da fand ich die Eltern in ungewöhnlicher Aufregung. Ein Telegramm rief sie schleunigst nach Lausanne,um die kranke Monika zu holen und sie durch Klimawechsel möglicherweise dem Typhus, der das ganze Haus dort bedrohte,zu entreißen. Still und schwül war der Abschied und lange das Bangen und Warten. Noch länger war für die Eltern die Reise; das Herz voll Frage und Not, voll Hoffen und Fürchten da eilt auch der eiligste Zug noch zu wenig.Was sie gebetet und gelitten, das weiß nur Gott. Am Donnerstag erreichten sie Lausanne. „Werden wir unser Kind noch finden? Wie wird es sein? Dies wogte auf und ab im Elternherzen. In der richtigen Straße wandten sie sich an einen Mann mit der Frage: „Welches ist das Haus der Familie C.2“ Er trat aus der Ladenthür, zeigte mit dem Finger die Straße hinauf und sagte: „Jenes Haus, vor dem der Leichenwagen steht. Sie rüsten sich eben zum Begräbnis.“ Der Leichenwagen! War das Telegramm nur eine Vorbereitung? War die Botschaft zu spät? Armes Mutterherz! Wie bebst du unter diesem Gedanken! Kaum wagst du die Wahrheit zu hören. Das Haus im Trauerflor ist erreicht. Ist Monika tot? Nein,es ist der älteste Sohn des Hauses. Er hat sich mit Monika gelegt und ist in fünf Tagen der rasenden Krankheit erlegen.Ein Trost, aber nur ein kleiner. Die Trauer der andern dämpft die Freude des Wiedersehens. Und die Krankheit ist schon mächtig.Kaum kann sich die Kranke trennen von ihrer Aufgabe. Sie hat ja erst angefangen und soll nun so schnell sich schließen!

Der nächste Tag führt die drei heimwärts eine furchtbar lange Fahrt! Die Vaterarme tragen sie beim Zugwechsel

1* von einem Wagen zum andern und endlich nachts die traute Stiege hinauf ins stille Krankenzimmer. Wie wohl ruht sich's da! Vater schrieb über jenen unvergeßlichen Reisetag: „Es war ein schwerer Tag, wo mir das Wasser oft an die Seele ging, und wo der HErr mir das Gedränge nicht ersparte, aber doch treulich durch alles hindurch geholfen hat. Ihm sei auch für diesen Tag meines Herzens innigster und wärmster Dank!“

Nun war's, als wollte die Heimatluft dem müden Kinde neue Kraft geben: Sie freute sich, alle Geschwister wiederzusehen, und so oft wir konnten, stahlen wir uns hinein ans Bett, wo Monika mit leuchtenden Augen lag. Bald jedoch kehrte das Fieber wieder in verstärkter Kraft; aber auch ihre Phantasien waren lieblicher, erhebender Art keine harten Worte, keine unreinen Bilder trübten ihre Seele. Siehe, ihre Eiskappe wird ihr zur Königskrone, mit prophetischen Worten segnet sie ihr Volk. Einmal in den ersten Tagen richtete sie sich hoch auf und sagte mit lieblicher, rührender Betonung ein altes, liebes Kinderliedchen. Wie viel hörte man auch von ihren Lippen das Verslein tönen:Jesus, Heiland meiner Seele,Laß an deine Brust mich flieh'n,Wenn die Wogen näher rauschen,Wenn die Wolken höher zieh'n! Einmal nach einem heftigen Fiebersturm, in dem mächtige Angst ihre Seele erschüttert, faltete sie die Hände: „Dein Name werde geheiligt.“ Vater beugte sich zu ihr nieder und sagte: „Dein Vatername!“ „Ja wohl, dein Vatername,“lächelte site, zurücksinkend in die Fieberträume. „HErr, dein Kind ist nun müde, o nimm es ein zur Ruh!“ Dieses ihr so liebe Wort sollte sich acht Tage nach ihrer Heimkehr erfüllen.Am Freitag eilte ihre Seele von dannen. „Halleluja Amen!“ das war der letzte vernehmliche Laut, dann lag sie noch ein paar Stunden leise atmend, regungslos da, bis ihr Geist heimflog ins Vaterhaus. Unter ihren letzten Brief hatte sie das Gerok'sche Verslein geschrieben: „Meine Seele schreit nach dir, HErr, mein Gott, wann rufst du mir?“ Nun ist das Schreien und Dürsten der Seele gestillt, und sie ist selig im Anschauen des Vaters.

Was uns so oft nach herbem Scheiden noch für ein paar Tage einen gewissen Trost gewährt, die geliebte Hülle zu schmücken, das war uns hier versagt. Wir sahen unser Schwesterlein sterben, stille und bleich werden und dann nicht mehr.Gott hatte uns wunderbar vor Ansteckung bewahrt; aber unnötig die Gefahr suchen, durften wir nicht. Und wir wußten unsere Monika nun in schönerm Schmucke, in hellem Glanz,freuten uns, daß ihr inneres Leben, das hier gehemmt blieb durch Sünde und Fleisch, sich nun herrlich und reich entfalten durfte und konnte. O, wie köstlich ist's zu denken, daß sie nun nimmer dürstet! Und daß ihre Seele immer gedürstet hatte, das bewiesen ihre Briefe. Ein Jahr vor ihrem Heimgang, als der Herbst an den Hängen des Genfersees einzog und seine bunten Farben auf Blätter und Landschaft malte,da schrieb sie in ihr Tagebuch: „Die herbstliche Natur redet eine mächtige Sprache, und ich lasse sie gern meine Seele bewegen, vertausche gern wieder einmal die Arbeit, die Anstrengung des Tages mit stiller Beschaulichkeit. Die Natur will zur Ruhe; wäre sie für mich auch da! Könnte ich wie ein Vogel mich erheben und mit ihnen wegziehen ins Land des ewigen Frühlings! Wäre ich eins der Blätter, das seine Aufgabe erfüllt hat und das nun, im großen Ganzen sich verlierend, aufgehört hat zu sein, spurlos verschwindet! Was soll das Leben, wenn es nur darin besteht, das eigene Leben zu ertöten, wenn es nur eine Reihe von Kämpfen ist, in denen alle unsere Pläne, unser Wollen und Streben, unsere Hoffnungen und Wünsche einzeln erliegen müssen, wenn es uns keine Wahl läßt, als entweder in niedriger Gesinnung seinen Freudenbecher zu genießen, dahin zu leben mit der Tierwelt in gänzlicher Gleichgiltigkeit gegen alles Höhere, Bleibende, oder dann nach Edelm ringend, Großes liebend und wollend überall erfahren, daß wir Erde sind und gebunden von der Macht der Finsternis und im Schmerz über den Fall der Menschheit die edelste Kraft nutzlos zu verzehren und den Funken des ewigen Geistes ersticken zu sehen vom Raub der Erde? .....Dann ringt sie sich durch bis zur Frage: „O, wann werde ich in Wahrheit klein und arm und willenlos sein, wie der HErr mich haben möchte? Wann wird das ungeduldige, wogende Herz endlich still und fest werden durch Gnade?“ Durch ihre letzten Briefe zieht es wie eine Ahnung, daß ihr Leben sich dem Ende neige, wie ein immer stärker werdendes Heimweh nach der Ewigkeit. So schreibt sie an die Eltern vor ihrer Heimkehr in die Ferien: „O, ich weiß nicht recht, wie mir ist;mir scheint, ich sollte euch alle noch einmal recht innig ans Herz drücken und dann vorwärts eilen und nicht rasten, bis ich das himmlische Jerusalem erreicht hätte, und da fände ich euch alle, und wir feierten zusammen die Hochzeit des Lammes.Wie wird das sein!“ Und später: „Es begleitet mich diese Tage das Wort: In meines Vaters Hause sind viele Wohnungen! In des Vaters Hause! Dieses eine Wort schließt so viel in sih: Aufmunterung und Stärke für uns, die wir noch klagen müssen: Einsam bin ich, Sohn vom Hause, und Trost im Blick auf die, deren Seele wie die des Moses unter dem Kusse des Heilandes heimgegangen ist. Ich denke,es muß eine schöne Stunde sein, wenn man sich befreit fühlt vom Leibe des Todes, wenn die gebundene, sehnsuchtsvolle Seele endlich dem gleich sein wird, den sie in heißem, dunkelm Verlangen gesucht, wenn ste durchdringen darf zum ewigen vollen Leben. Ich mag mich so gern begegnen mit den Gedanken an Tod und Ewigkeit. Es sind ernste, tiefe Gebiete,aber wunderbar erhebend und ermutigend. Dagegen gebe ich mir vergebens Mühe, herauszufinden, was Leben sei, wann man lebt, worin es besteht, wie es sich äußert. In einem Tage finde ich oft nur ganz wenige Augenblicke, von denen ich sagen kann: Ich habe sie wirklich gelebt, und das ist dann, wenn ein großer Gedanke die Seele erfüllt, wenn sie aus ihrem Dasein heraustritt, sich selbst vergißt, um irgend eine große Wahrheit in sich aufzunehmen. Ja, wir sind göttlichen Geschlechts! Doch wie herrlich, daß wir das Leben, das in uns nur suchend und sehnend sich äußert, in Christo wahrhaftig und vollkommen besitzen!“

Wir, aus deren Kreis wir unser liebstes Glied ziehen sahen,wir schauen längst nicht mehr zurück zum Verlieren, sondern fröhlich vorwärts zum Wiederfinden. Wir freuen uns, daß unser „Möggli“ die vielen sauren Tritte nicht mehr mit uns thun mußte, nicht ebensoviel „weinen mußte über das eigene Herz!“ Wir freuen uns, daß es nicht mehr bitten muß: „Führe mich, o Lebensfürste, in den Frieden nach dem Streit!“ sondern daß es singen darf: „Gott sei Dank, der mir den Sieg gegeben hat durch meinen Herrn Jesum Christum!“

10 Ge kRmum so gang aunderx.„Es kam so ganz anders!“ könnte man über gar manchen Lebenslauf schreiben, wenn man des Lebens Plan und Hoffnung, wie die Jugendzeit sich's ausmalte, vergliche mit dem Endziel und der Erfüllung. Wie oft heißt es da:5.*

„Mit tausend Wünschen bin ich ausgegangen,Heim kehr' ich mit bescheidenem Verlangen.“

Auch mein Leben „kam so ganz anders,“ als ich es mir erträumt in meinen Knabenjahren. Ich will es euch erzählen.Ich war fünfzehn Jahre alt, ein schlankes, schmächtiges Bürschlein, beständig am Wachsen, viel von Kopfweh geplagt, aber voll Pläne und Hoffnungen, als ich meine Lehrzeit als Zimmerlehrling begann. Der Schule sagte ich mit Betrübnis lebewohl; ich hatte gern gelernt und oft von meiner Realschule aus in eifrigem Studium sehnsüchtig an eine Fortsetzung einiger Lieblingsfächer gedacht; aber der Gedanke führte ein einsames Leben im eigenen Gehirn und wurde übertönt von der Anordnung der Eltern, daß es jetzt Zeit sei zu praktischer Arbeit. Der Vater war selbst Zimmermann gewesen, war manches Jahr in der Fremde herumgewandert, hatte die Art geführt und den Hobel gestoßen so kräftig wie einer, und wenn er sang:

Ist nun ein Bau vorbei,

A

Gut zu essen, gut zu trinken,

Gebratne Wurst und auch Schinken

Und Bier und guten Wein,

Da ist gut Zimmermann sein dann flog ein Feuer der Begeisterung durch die Adern, als wäre das Leben eines lustigen Zimmermanns das denkbar schönste Ziel. Die Eindrücke der frühen Jugendzeit, die Gespräche und Neigungen der Eltern, ihre Gedanken über Beruf und Geschäft lenken in den meisten Fällen die Wünsche des Knaben, ihre Berufswahl und Lebensgestaltung. In den seltensten Fällen ist die Wahl des Lebensberufs eine ganz freie und unerklärliche, von allen Verhältnissen unabhängige.Das Einstechen der Holzhauer, der Klang des Hobels, das Kreischen der Bandsäge waren mir von frühster Kindheit an gewohnte Klänge, und in kindlichem Eifer schnitzte ich aus Holz allerlei Waffen und Werkzeuge, baute Schiffe und Burgen mit den auf dem Zimmerplatz erlauschten Handgriffen. So lag mein Beruf vor mir, und ich schaute ihm mutig entgegen.Einen einzigen Tag hatte ich frei zwischen dem letzten Akt im Schulhaus und dem Eintritt in die Werkstätte. An diesem Tage kaufte mir mein Vater ein stattliches Schurzfell, ein alter Arbeiter, der viele Jahre im Geschäft gearbeitet, schenkte mir ein schön gearbeitetes Schloß dazu, und stolz wanderte ich damit einher und meinte mich um viele Jahre älter als die Knirpse, die noch die blaue Schulkappe trugen.

Nun ging's ans Werk. Ich ward tüchtig eingetaucht.Wir hatten einen alten Polier, der gegen sich und andere hart war, der tauchte mich unbarmherzig ein, gab mir eichenes Holz zum Bearbeiten, für das meine Kraft eigentlich lange nicht ausreichte. „Er muß es haben wie die andern,“ schnurrte er. Das blieb sein Grundsatz, so lange ich in der Lehre war.Ich war aber nicht zimperig, klagte nicht über geschwollene Hände, hieb tapfer drauf los und saß bei 160 Winterkälte auf dem Abbund wie die andern, auch wenn das Winkeleisen mir in der Hand anfror. Wenn wir Löcher stemmten und zählten, wer die meisten Löcher hätte vom Mittag bis zur Vesper, so kam ich dem schwarzen Riesen freilich nicht nach,aber vor den andern brauchte ich mich nicht zu schämen.Wir hatten viel Arbeit; es kam vor, daß ich in einem Sommer zwölfmal aufrichten half, und ich hatte große Freude daran,hoch oben zu stehen und herunterzuschauen auf die kleinen ängstlichen Menschlein, die sich nicht hingetrauten wo ich stand. Ich wollte auch in keiner Weise weniger leisten als die andern. Wenn einer der großen, starken Arbeiter sagte: „Ach,den Balken zwingen wir nicht allein, du bist noch zu schwach,“ dann sagte ich gern: „Faß nur an, wir wollen sehen,“ und dann schob ich meine Schulter unter, wenn's mir auch war, als krachte sie. So hatte ich zwei und ein halbes Jahr meiner Lehrzeit hinter mir. Noch ein halbes Jahr, dann war sie vollendet, und ich durfte in eine fremde Stadt auf die Bauschule ziehen, dort lernen und zeichnen und das wissenschaftlich begreifen, was ich jetzt praktisch übte. Und dann wollte ich die Bauwerke der großen Meister sehen und schauen,was sie dachten und zusammenfügten. Ich hatte immer für mich hin bei der Arbeit viel gesonnen, von der wilden Gesellen Treiben und Reden habe ich mich immer etwas fern gehalten, ins Wirtshaus bin ich nur bei festlichen Anlässen gegangen, etwa bei einem Richtschmaus; aber bei der Arbeit hatte ich gute Kameradschaft mit ihnen und verkehrte vertraulich mit ihnen und sie mit mir. Lange Wochen schaffte ich so mit einem jungen, gewaltigen Schwaben, der vier Tage mächtig dreinhieb und Arbeit lieferte für zwei, und dann zwei Tage „Blauen“ machte. Er war es, der mir auch zuerst die Augen öffnete über meinen Zustand. Ich erinnere mich deutlich, wie es mir wurde, als er einmal kopfschüttelnd mich ansah und sagte: „Bueb, du gohst mit dem Laub.“ Wohl hatte ich schon lange gehustet und war furchtbar gewachsen, so daß mich meine Mutter zuweilen fragte: „Bist du unwohl?“ aber ich hatte weiter nicht darauf geachtet. Von da an aber kam das Unheil. Eines Abends packte ich mein Werkzeug in die Kiste, ich wußte, es war das letzte Mal, daß ich auf der Kundenarbeit gewesen. Ich hatte den ganzen Tag naß und durchfroren draußen gestanden, der Herbstwind hatte mich müde geschüttelt. Ich kam heim: „Mutter, ich leg' mich schon jetzt zu Bett.“ Und ich bin nicht mehr aufgestanden für lange.Es folgte ein langer, langer Winter. Es kam Blutspeien und fortwährender, quälender Husten. Die Mutter pflegte mich treulich. Sie erleichterte mir, soviel sie konnte, brachte mir.was ich wünschte, aber die Zeit war doch sehr lang. Oft stand ich am Fenster, wenn die Frühlingssonne den Zimmerplatz beschien und sah, wie die Ärte flogen, sah, wie die Balken sich legten zum kunstvollen Gebälk, wie es abgetragen wurde und ein neues begann, ich war nicht dabei, ich war eingesperrt. Ein halbes Jahr noch, und ich wäre fertig gewesen mit der Lehrzeit und nun? Wurde ich je wieder gesund? Siechte ich langsam dahin? Wie oft packte ich den Zollstab in die Faust und schwang ihn im Trotz in der Luft.Wer war mir in den Weg getreten? Wohl wußte ich, daß es „ein Stärkerer“ war als ich, ich kannte Ihn wohl dem Namen nach, aber ich wollte mich Ihm nicht beugen, ich wollte leben, frisch und fröhlich, ich wollte nicht sterben! Ich hatte ja schon ein solches Leben also welken sehen in nächster Nähe, für mich war's zu früh! Ich ward brummig und unfreundlich und habe meinen Lieben die Pflege nicht leicht gemacht. Da kam der Sommer und mit ihm die warmen Tage,und die nie ersterbende Hoffnung wuchs. Ich schlenderte langsam spazieren und schlich den Sonnenstrahlen nach, die auf nach einem warmen Plätzchen im Berner Oberland zu schicken.Damit war ich sehr einverstanden. Abwechselung brachte Erleichterung und vielleicht Genesung.

So reiste ich denn im Geleit und der Pflege meiner Eltern nach dem Brienzersee, an dessen stillen, sonnigen Ufern ich mich in einem einfachen, frommen Hause erholen sollte.Es war ein prächtiges Ruheörtchen. Weit konnte ich nicht gehen, aber der kiesige Weg dem blauen See nach war trocken und sonnig, da wandelte ich auf und ab ohne Atembeschwerde. Da lag das Schifflein am Strande. Mit ein paar Ruderschlägen war ich draußen auf dem See und schaute hinauf zu den waldbewachsenen Bergen und höher hinauf zu 60 den weißen Gipfeln, die drüber emporstiegen ins Himmelsblau.Wie gern war ich draußen! Es waren aber noch nicht die „rechten Berge,“ zu denen ich aufschaute, nein, im Gegenteil.Oft weckten sie ein böses Murren und Knurren: „Warum kann ich nicht hinaufsteigen wie die andern, warum muß ich im Thal herumkriechen wie eine Schnecke und' zöge doch so gern in die Höhe wie die andern?! Ja, warum sandtest du mir die Last, den Hemmschuh, die Krankheit? Ich hatte viel Zeit zum Denken und Sinnen, wenn ich draußen im Walde saß oder im Schifflein lag, und es lenkte sich nach und nach in die rechte Bahn. Der Hausvater in meinem Asyl war ein frommer Mann, der den Herrn Jesum herzlich und einfältig liebte. Der nahm es als selbstverständlich an, daß ich einer Versammlung beiwohnte, die regelmäßig in seinem Hause stattfand. Ich kannte Gott von meiner Kindheit an, meine Eltern hatten an jedem Tage sein Wort mit uns gelesen,aber Wirklichkeit und Kraft war es mir nicht geworden, und Gott stand mir gegenüber als eine feindliche Macht, die hemmend in meinen Lebenslauf eingetreten und mich hinderte am Vorwärtskommen. Aber er hatte mich an den stillen See und zu den blauen Bergen geführt, damit ich dort erfahre,wie groß und gut Er sei.

Einst nahm mich der Hausvater zu einer größern, religiösen Versammlung mit. Viele schlichte und herzliche Ansprachen zogen an mir vorüber, sie fesselten mich nicht länger. Da kam ein großer Bauersmann mit prächtigem, kraftvollem Gesicht und erzählte lebendig und drastisch ein einfaches Geschichtlein:

„Ich sah eine Schar Schäflein, die alle auf einer Weide gingen. Die einen sprangen lustig und froh und hüpften und ließen sich's schmecken, daß es eine Lust war. Daneben sah ich aber einige Schafe, die wollten auch hüpfen und springen; aber stehe, sie konnten's nicht so gut wie die andern, es hing ihnen ein „Tütschi“ (ein Holzklotz; am Hals, das sie an der freien Bewegung hinderte. „Warum tragen die Schafe ein Tütschi?“fragte ich den lieben Gott. Da ward mir die Antwort: „Wenn sie kein Klötzlein schleppen müßten, so würden die Schafe übermütig, sie schlüpften mir durch Hecken und Zäune und verlören sich in der Irre; so aber, wenn ich ihnen ein „Tütschi“ anhänge,bleiben sie auf der grünen Aue und auf der rechten Weide.“

Da fiel mir's klar in die Seele. „Ah, du gehörst zu den Schafen mit dem Tütschi!“ Ja, wer weiß, ich hätte mich leicht, leicht verloren in der Irre ich hatte wenig Freude am Worte Gottes, hatte viel irdische Pläne und Wünsche gehegt, die hoch hinausflogen, nun hängt mir ein Klotz am Halse, damit ich gehe auf grüner Aue. Von da an nahm ich meine Bibel mit ins Schifflein, mit in den grünen Wald; ich habe aufschauen gelernt zu den „rechten Bergen.“aber nicht nur, um dort Hilfe zu suchen, Heilung zu erflehen stürmisch und dringend, ich lernte mehr, ich kam zur Bitte:„Dein Wille geschehel!“ „Laß mir mein „Tütschi“, wenn's mir frommt, nur behalte mich lieb, und laß mir dein Antlitz leuchten!“ Auch der Gedanke ans Sterben verlor seine Bitterkeit, das Leben hatte einen andern Schein bekommen,und die Heimkehr lag freundlich ladend vor mir! Ich habe nie viel gesprochen; ich stimmte kein Halleluja an über das,was ich erfahren, ich verarbeitete je und je alles im stillsten Innern; aber als ich im Spätsommer heimkehrte, wußte ich,daß es anders mit mir geworden, und ich betete in mir:

Im Leben und Sterben preis' ich dich,Vater, du führe mich!

Wieder ward es Herbst, und die Jahreszeit und das heimatliche Klima machten mich kränker als je. Ich fühlte mich jeden Tag schwächer und das Fieber steigend; langsam schloß ich mein Lebensbuch, ich konnte es ohne zu herben Schmerz.

Ich war so dankbar, daß ich nicht letztes Jahr dahingegangen war, „wie das Laub,“ sondern daß ich jetzt einen festen, inneren Glaubensgrund gewonnen hatte, der mir eine Gewähr war des ewigen Lebens.

Und siehe, es sollte nochmals anders kommen. Des Arztes Ausspruch lautete: „Schickt ihn nach Davos, das ist das einzige Rettungsmittel, das ich raten kann.“ Das war eine schwierige Frage für meine Eltern, und das Opfer, das sie bringen sollten, in jeder Beziehung kein kleines. Aber sie brachten es schließlich freudig und ließen mich ziehen ins bergige Thal. Mir war alles recht, ja, jede Veränderung lieber als daheim sitzen und der Arbeit der andern zusehen.

Von meinem Leben dort oben, von meinen Wanderungen durch den stillen Bergwald, von den rasenden Schlittenfahrten auf den Holz und Heuschlitten von den Bergweiden her, vom braunäugigen Ambrosi, dem echten Davoser, dem ich mich angeschlossen, von allem fröhlichen Treiben der vielen jungen Leute, die mit mir dort waren, am Leibe krank. aber voll unangetasteter Lebenslust, die oft aushielt bis zur letzten Lebensstunde, von alledem will ich nichts erzählen. Das liebste waren mir die stillen Gänge zu dem eine Stunde vom Platz entfernten Frauenkirchli, in dem ich des alten Herrn Pfarrer Ludwigs Worten lauschte, der so lebendig warm uns aufforderte, zu schöpfen aus Gottes reichem Gnadenborn.

Es blieb mir in Davos nicht jeder Kampf erspart; es trat dort das Leben an mich heran, wie es jeden Tag jedem Menschenherzen in Versuchung und Entscheidung zum Guten oder Bösen nahe tritt. Gott hat sein angefangenes Werk nicht gelassen. Er gab mir auch dort neue Kraft zum Veben, neue Gesundheit und neuen Mut. Ihm dank' ich es! Sachte und vorsichtig suchte ich dann wieder anzuknüpfen am Leben.Der „Sturm hinaus“ ist nicht wiedergekehrt, die Pläne und Hoffnungen lagen beschnitten, das „Tütschi“ ist immer noch hangen geblieben, wenn auch kleiner und von etwas anderm Stoff, aber tauschen wollt' ich nicht, die Zeit meiner Krankheit missen auch nicht, es ist mir daraus erwachsen eine unvergeßliche Erfahrung von Gottes Segnen in den verborgenen Wegen, von seinem treuen Lieben, auch wenn es sich ins Dunkel hüllt. Kommt es auch zuweilen „ganz anders“ als wir's denken, es kommt doch allezeit gut in Gottes Regierung!

141.Eine danksle Frage und ein lichter ATrust.Mlitten im Herzen unsers schönen herrlichen Schweizerlandes liegt ein Stücklein Erde, das du nur mit Beben und Schauern betrittst, ein Thal der Schrecken, eine Stätte voll Schutt und Graus. Mitten im lachenden Gefilde, umgeben von mächtigen, zum Himmel steigenden Bergen, die des Wanderers Sehnsucht und Ziel sind, umsäumt von blühenden Gärten, friedlich spiegelnden Seen liegt ein mächtiges Totenfeld, ein unübersehbarer Trümmerhaufen, Felsblock an Felsblock liegt neben einander, türmt sich aufeinander, schiebt sich durcheinander in wirrem Chaos. Hier ein Thälchen,dort eine Felswand, auf und ab, so geht's vorwärts eine Stunde in die Länge und eine in die Breite. Du kannst gehen und laufen, klettern und steigen, so lange du willst und du triffst nichts als Felsblöcke braun und bemoost, kahl und öde, wie du es wünschest.

Vierundachtzig Jahre ist es her, da ist die Masse herabgekommen vom hohen Berge, in einem Nu das blühende Thal bedeckend mit der tosenden, zerschmetternden Last. „Und darunter liegt begraben so manches brave Herz.“ Im Sturmwind hat Gott der HErr vierhundert Menschen hinweggerissen aus dem Leben, Häuser und Hütten sind begraben, verschüttet,und auch von den drei Kirchen, die darunter liegen, tönt kein Glockenklang mehr herauf, wie aus der versunknen Kapelle. Das blühende Leben ist geworden zum grausen Tod. Und wenn auch schon die Natur versöhnend ihr Werk begonnen und grüne Tannen, dunkle Föhren, braunes Moos und liebliche Blumen zwischen und auf die Felsen gestreut so ist der starren Oede noch genug vorhanden, um dir laut ins Herz zu rufen: „Tod und Sterben: Los des Lebens!“ Wie ein dunkles unfaßbares Wort liegt das Trümmerfeld von Goldau inmitten der hellen Schrift von Gottes Hand geschrieben,die ringsumher so laut und herrlich verkündet: „HErr, Du bist schön und prächtig geschmückt! Licht ist Dein Kleid, das Du anhast! Du breitest die Erde aus wie einen Teppich!Lobet den HErrn alle Seine Werke!“ Und hier erstirbt das VLob auf den Lippen und wandelt sich in ein zitterndes:„Unbegreiflich sind Deine Wege und unerforschlich Deine Gerichte!“ Unwillkürlich beugst du das Haupt und fühlst du dein Herz zittern vor dem, der solche Gerichte in der Hand hält, der die Berge zerschmettern und zernichten kann. Du fühlst dich als Staub, den der Wind verwehen, als Wurm,den ein Steinlein zermalmen kann.

Da will sich über die Lippen die Klage drängen: „HErr,wer kann bleiben vor Dir und wer kann wohnen in Deinem Lande?“ Es regt sich der Wunsch, zu fliehen an einen Ort,da Seine Hand nicht hinreicht, da Seine Gerichte dich nicht ereilen! Doch wo ist der Ort? Aber siehe! Der Trost ist nicht fene? Auf dem Trümmerfeld selbst steht wieder ein Gotteshaus. Hell leuchtet sein weißes Gemäuer aus dem dunkeln Gestein, von jener Höhe winkt ein Kirchlein. dort am lichten See ragt ein Turm empor, von allen Seiten ist das „dunkle Thal'“ umrahmt von lieblich mahnenden,tröstenden Gotteshäusern. Und haben sie Trost? Komm,tritt herzu. Da steht über der Thüre des einen: „Gott allein die Ehre!“ Ja, das habe ich verstanden im Trümmerfeld,das predigt's ja gewaltig: Ich bin der HErr und du bist Staub! Aber das ist nicht Trost, das ist nur Vernichtung! Und doch! Sobald das Menschenherz sich klein und demütig hinsetzt zu den Füßen des großen, mächtigen Gottes, sobald es Ihm alle Macht und Kraft einräumt und alle Ehre, dann zieht ins kleine Herz ein selig Gefühl: „Auch ich gehöre dem großen Gott und so groß Er ist, ich bin Ihm doch nicht zu klein.“ Da wird das Herz bereit für das Wort, das auf dem Kirchlein am See steht: „Tretet mit Vertrauen herzu zum Throne der Gnade! Ja siehe, aus der zerschmetternden Furcht und dem bebenden Staunen vor der Größe Gottes wächst langsam ein kleines, grünes Reis des Vertrauens:„Der HErr kann thun, was Er will; aber Sein Thun ist Liebe, und Seine Liebe umfaßt auch das kleine Menschenherz, zieht es zu Sich herauf, läßt es teil haben an Seinem Licht und will es vollenden zu einem Leben in Ewigkeit.“ Und siehe, auf dem Kirchlein mitten im Schutt liesest du die Worte: „Er gab sein Herz zur Vollendung Seines Werkes!“ Verstehst du es recht? Fällt es wie ein Lichtstrahl in dein Herz? Hörst du das Apostelwort: „Welcher auch Seines eigenen Sohnes nicht verschonte, wie sollte Er uns mit Ihm nicht alles schenken!“ Gab Er das Beste, Seinen Sohn, Sein Liebstes, Sein Herz, wie kannst du dich noch fürchten? Ist das nicht ein überwältigender Beweis Seines Schlatter, D. Zum Sonnabend. 5

Liebens? Ja, nicht Tod und Gericht, nicht Verwüstung und Vernichtung allein sind des HErrn Wege und Schriftzüge auf Erden, heller und klarer leuchtet Sein Erbarmen und Sein Lieben. Dort sagt Er uns mahnend und erinnernd:„Ich bin der HErr! Vergiß es nicht, kleines Menschenherz und werde nicht groß!“ Hier sagt Er: „Siehe mein Herz!Weit steht es dir offen mit all seinen Schätzen, mit seinem ganzen Reichtum. Fasse sie, fülle deinen Mund, und du wirst in allen meinen Wegen, auch in meinen Gerichten meine Weise finden und erkennen und nie wird mehr ersterben auf deinem Munde das: „Lobe den HErrn, meine Seele, und was in mir ist Seinen heiligen Namen! der dein Leben vom Verderben erlöset und dich krönet mit Gnade und Barmherzigkeit!“

12.DerRIungene Morte.Wenn ich die alten, vergilbten Blätter der Großeltern durchblättere oder ein Lebensbild aus dem Anfang des Jahrhunderts an mir vorüberziehen lasse, immer erfüllt mich der Eindruck mit Bewunderung, wie treu diese Leute die Gemeinschaft des Geistes pflegten. Es ist, als hätte sich am Schluß des letzten und am Anfang des gegenwärtigen Jahrhunderts ein festes Netz gespannt über die Erde von einem gläubigen Herzen zum andern. Trotz des mangelhaften Postverkehrs hatten sie schriftliche Verbindung untereinander und nicht Sprache,nicht Stand, nicht Konfession bildete ein Hindernis. Da war ein Jung-Stilling, ein Flattich, der Schulmeister Hartmann in Ludwigsburg, ein Lavater, ein Menken in Bremen, ein

Bischof Sailer, ein Pfarrer Bayer, etwas später Boos und Goßner, die alle in engerer oder loserer Verbindung mit zinander waren und sich zu gegenseitiger Glaubensstärkung und Fürbitte verbanden. In inniger Liebe hingen diese Knotenpunkte im Netz aneinander und es ist eigentlich rührend, wie sich z. B. edle Bremerfrauen aufmachten, um auf mühsamer Reise diese christlichen Freunde zu besuchen und an ihrem gemeinschaftlichen Glauben das eigene Glaubenslichtlein zu beleben. Selbst nach Rußland, England und Amerika streckten sich die Fäden der Gemeinschaft und Liebe.

In alten Blättern finde ich einige, wenn auch mangelhafte Notizen von einer etwas größeren Zusammenkunft solcher hristlicher Freunde in St. Gallen vor, die ein kleines Bild geben von der innigen und zarten Gemeinschaft, die sie untereinander pflegten. Das Centrum bildete Bischof Sailer,der mit Christoph Schmid, Konrad Schmid, Bayer und andern aus dem Bayerland herübergekommen war, dann mehrere Pfarrer aus Zürich und dem Thurgau, katholische Priester aus dem Stift, frühere Ingolstadter Schüler, und dann eben die befreundeten Männer und Frauen in den herbergenden Familien. Ich lasse das Tagebuch der einen Freundin in aller Einfalt, so wie es ist, sprechen.

„Fast den ganzen Tag verbrachten wir im lieben Waisenhaus, versammelt um den lieben väterlichen Freund, alle voll Sehnsucht, Worte des Lebens von ihm zu hören und durch ihn zu wachsen in der Gnade und Erkenntnis Gottes und unseres HErrn und Heilandes Jesu Christi. In seiner Nähe mußte man hinab und hinauf geführt werden, hinab in die Tiefe seines eigenen Herzens und hinauf zu Gott und seiner Bestimmung. Ich sehnte mich, frei von den Regungen meines eigenen Ichs, diese Feierstunde zu genießen. ....Unvergeßlich ist die Stunde, da Sailer vor dieser zahlreichen

5*

Schar alter und junger Christen aller Konfessionen so lebendig von dem lebendigen Gott zeugte und uns es so klar darlegte, daß Er sich in der Natur, in der Weltregiernng und im alten Bunde immer als den lebendigen Gott bewiesen habe, der seine Propheten sandte mit dem Zeugnis: So wahr der HErr lebt, wenn sie Aufträge an sein Volk auszurichten hatten, und daß Er noch viel mehr sich als der lebendige Gott geoffenbart habe durch Christum, durch sein Leben, Leiden,Sterben und Auferstehn. Aber nicht nur durch diese Offenbarungen hat Er sich als den Lebendigen“ bewiesen, sondern Er thut es jetzt noch an jedem Herzen, das Er durch sein Licht erleuchtet und zur Erkenntnis seiner Sünden führt und durch das Gefühl des Elends zur Erkenntnis seiner Gnade und Erbarmung in Christo hinleitet. „Ja der HErr lebt,“rief der Gesandte Gottes einmal über das andere, „dies zeugt jedes Christen Herz, das, der Vergebung seiner Sünden gewiß,nun Frieden mit Gott hat und freien Zugang zum Vaterherzen, denn wahrlich: dies ist eine Offenbarung, wenn der Sterbliche, der Sünder wieder so vertraulich zu seinem Gott und Vater beten kann und darf. Die Natur hat uns dies nicht gelehrt, nur der heilige Geist lehrt uns beten und vertritt uns selbst mit unaussprechlichen Seufzern. Ja, der HErr wohnt in den Herzen der Gläubigen und offenbart sein Leben durch Früchte des Glaubens, der Liebe, der Geduld und der Hoffnung, durch ein Leben, das dem Seinigen immer ähnlicher wird, durch so mancherlei Tröstungen und Stärkungen in den Leiden und Lasten des Lebens, durch so mancherlei Bewahrung und Befreiung von so vielen Gefahren und Selbsttäuschungen. Ja, Er verwandelt alle Leiden in Reinigungsund Läuterungsmittel, damit die Seinen Ihm nach durch Leiden zur Herrlichkeit eingehen und dort dann Seines Lebens ewig sich freuen können“. ...

Dies sind nur einige Laute von der gesalbten Rede; ich hoffe, der heilige Geist werde mich nach und nach an alles erinnern und es in mir Geist und Leben werden lassen zur Ehre des Vaters und des Sohnes.....

Am andern Tag nach 9 Uhr besuchte mich nun der geliebte Bayer, mit dem mir der HErr eine segensreiche Genußstunde gönnte. Ich konnte über einige Herzensangelegenheiten mit ihm reden und er betete mit großer Innigkeit für mich und meine lieben Kinder im Schlafzimmer meines Ältesten ¶ eines geisteskranken Sohnes ) und ermunterte mich zum kindlichen und vertrauensvollen Anschmiegen an den HErrn in allen Leiden. Wir stärkten uns in Gott und fühlten uns aufs neue und auf ewig vereint in unserm geliebten HErrn.

Nach Tisch ging ich nun wieder zu den Freunden, die bei Schwester Anna versammelt waren, um wenigstens noch einige Brosamen zu sammeln, da mein Kopf sehr müde war.Ich fand die liebe Gesellschaft noch alle beisammen am Tisch und der geliebte Sailer wollte durchaus, daß ich mich neben ihn hinsetze, wo er mir dann selbst Obst und Gebackenes von seinem Teller mit der freundlichsten Liebe vorlegte und so das Seine mit mir teilte. Es war mir unbeschreiblich wohl in seiner Nähe und in der Gesellschaft so vieler Geliebten.....

Leider wollte mir eine sündhafte Zerstreuung einen Teil vom Segen der herrlichen Rede rauben, die Sailer hernach im Beisein einiger seiner Schüler hielt. Wie schwer drückte und demütigte mich dies! Der teure Diener Gottes sprach über das Wort: Unser Leben ist verborgen mit Christo in Gott. Er zeigte so lebendig, daß der lebendige Gott auch in dem Christen lebe und ihn belebe, daß aber sein Leben hienieden ein verborgenes Leben sei, wie Christi Gemeinschaft mit dem Vater eine verborgene gewesen sei am Anfang seines Lebens. Er beschrieb es so lieblich, wie wir eingewurzelt sein sollen in Ihm, um aus Christo heraus, wie eine gute Wurzel,Kraft und Nahrung ziehen zu können, damit es uns an Früchten nicht fehle. „Das Leben des Geistes,“ sagte er,„zeigt sich am ersten durch Erleuchtung des Blinden, indem sich ihm seine Sünden in ihrer wahren Gestalt zeigen, dann in Hunger und Durst nach einem Erlöser und Vergeber, der dem Herzen den verlorenen Frieden wiederschenke. Durch diesen Hunger wird die Seele hingeleitet zu dem Herrn Jesus Christus, der das Kindesverhältnis zum Vater wieder herstellen kann und aus dem gequälten sündigen Herzen ein seliges,vertrauendes Gotteskind machen kann. Das Leben des Geistes ist ein Leben aus Gott, in Gott und vor Gott und heißt deswegen mit Recht: Gottseligkeit. Es ist zwar ein verborgenes Leben, das sich im Äußern wenig von dem anderer unterscheidet, nur die Triebfedern des Christen sind verschieden von denen der Weltmenschen und das gibt unserm Thun und Lassen vor den Augen Gottes den höchsten Wert.“ Weiter legte der Teure aus, wie es Fälle gebe, da auch der Christ aus seiner Verborgenheit heraustreten und sich öffentlich für die Sache Gottes erklären müsse, wie unser Herr es gethan,da sein Vater ihn hervorrief. Da gelte es in allem immer mehr auf Ihn, als auf unser größtes Vorbild zu sehen u. s. w.

Mein armer Kopf hinderte mich, mehr aufzufassen von dieser geistvollen Rede, aber ich hoffe zum HErrn, sie werde dennoch Frucht bringen ins ewige Leben. ...

Einmal gönnte es mir der HErr, dem teuren Freund mein Herz auszuschütten und durch ihn beruhigt, belehrt und gestärkt zu werden. O es war mir so viel daran gelegen,daß er mich ganz kenne und in die tiefen Bedürfnisse meines Herzens hineinblicke, damit er dann hernach auch in Briefen mir so manches Notwendige sagen und desto inniger für mich und meine Kinder beten könne. Ewig gepriesen sei der HErr für dies kurze aber segensreiche Beisammensein, das mir ein neues Pfand war von der Liebe des HErrn, die alle Bedürfnisse kennt und zur rechten Stunde befriedigt. Wenn einst mein Lauf vollendet und mein Kampf ausgekämpft sein wird,dann wird auch dieser Knecht Gottes es mit hoher Freude sehen, was seine Worte und sein Beispiel mir gewesen waren,dann wird er manches ausgestreute Samenkorn in Frucht verwandelt finden zur Ehre dessen, den er verkündigt in Wort und That.....

Kurz und eilig nahm dann der Teure von uns Abschied.Wir begleiteten ihn die Treppe hinunter, währenddem er uns seiner Freundschaft und Fürbitte versicherte. Dann reichte er uns die Hand, und wir hielten sie, voll Glaubens ans niemals letzte Wiedersehen, und so schieden wir liebend und segnend und gesegnet von ihm.

Nun hat mir der HErr wieder viel gegeben durch Sailers Besuch, viel Köstliches, Ewiges geschenkt, mich wie lange nicht mehr tiefe Blicke in mein Herz thun lassen. Alle meine Schwächen und Flecken fielen mir recht schwer auf, aber sie trieben mich zu Dem hin, der das Schwache stark, und das Unreine rein machen kann. In Sailer sah ich die Leutseligkeit und Gottseligkeit in Person vor mir stehen. Nur der Christenglaube und der Geist unseres Herrn Jesu Christi hat ihn so veredelt und dies belebte meinen Mut. Ich traute es der allmächtigen Liebe zu, sie könne und werde auch mich nach dem Maß meiner Kräfte und nach meiner Bestinimung reinigen,läutern, vollenden und darum setze ich getrost meinen Weg weiter und freue mich neu meines Gottes und dieses seines Auserwählten.“

So weit die Schreiberin. Wie eigen mutet uns die Vorstellung an, daß dieses durstige, protestantische Menschengrüpplein zu Füßen des innig frommen katholischen Bischofs saß. Wo fände sich Ähnliches? Vieles in der Gestaltung des inneren Lebens jener Seelen kommt uns stark gefühlvoll,fast mystisch vor und verlor sich vom einfältigen Weg in spekulative, nutzlose Vorstellungen und Hoffnungen; aber der Eindruck wiegt doch weit vor, daß wir es mit einer mächtigen Liebe zum HErrn, mit gründlicher Selbsterkenntnis und einem wahren Durst nach Heiligung zu thun haben. Christi Bild ähnlich zu werden, das war das Centrum all ihres Strebens,Trachtens und Lebens. Es überfällt uns fast wie Heimweh nach dieser warmen, frühlingsartigen Empfindung, wenn wir uns umblicken in unserm kühlen, kritischen Realismus, der sich auch tief in unser religiöses Leben einschleicht. Darum rat ich dir, lieber Leser, willst du einmal wieder recht warm werden, dann vertiefe dich in die Sinnes- und Denkweise „der Großeltern im Geist“ und lerne von ihnen, was Lavater ihnen aus der Seele sprach:

„Eins nur auf einmal mit Ruhe und Einfalt und Hoffnung!

O es häufen sich segnend die vielen Eins in der Seele!

Eile mit einem Blick auf das ewige Eins durch das Nachtthal!

Eins nur sei dein Ziel: zu gefallen dem liebenden Einen!“

44 VNur zwei Rappen.

Leicht welkt die Blum,

Eh's Abend,

Weil achtlos du verwischt den Tropfen Thau,

Der labend,

Am Morgen sie erfrischt!

Dies alte Hammer'sche Verslein fällt mir oft ein, wenn ich auf Bauplätzen, auf Bahnhöfen, an Arbeitsstellen alte, verwitterte Gesichter an mir vorüberziehen sehe, in denen ein finsterer oder resignierter Zug mir erzählt, daß im Herzen dort nicht mehr viel vom Leben gehofft und erwartet wird,daß dort tief eingegraben steht: „Was ist mir das Leben?Mühe und Arbeit, Jagen und Plagen? Um nichts!“

Könnte man diese Herzen sehen, als sie jung gewesen!Auch sie haben den Sonnenschein des Kinderherzleins mit auf den Weg bekommen. Auch sie schlugen wonne- und hoffnungsvoll dem Leben entgegen! Wie in Glanz und Schimmer lachte auch vor ihnen das leuchtende Glück! Wann ist der Glanz erbleicht? Wann, Herz, hast du zum ersten Mal den Frosthauch der Enttäuschung über dein Erwarten hinblasen gefühlt? Vielleicht frühe! sehr frühe! Und du hast schon deine Kinderschritte erwartungslos und resigniert gethan. Armes Herz!

Vielleicht ist's manchem ähnlich gegangen wie ihr, die jetzt,nachdem viele Jahre über jenen Frühlingsfrost hingegangen,nicht ohne bittere Thränen daran zurückdenken kann, und die wir im Folgenden selbst ihre Erinnerungen erzählen lassen.

„Ich war, so hat sie uns erzählt, sieben Jahre alt, als mich mein Vater eines Morgens bei der Hand nahm und sagte: „Wir gehen in d'Schweiz nei!“ Vater trug seine Habseligkeiten in einem Säcklein, und ich trippelte neben her,nicht eben traurig über die überraschende Reise, hatte ich doch oft gehört, daß Leute aus dem Dorf in die Schweiz gingen,um dort guten Verdienst zu finden. Die Stücklein Brot daheim waren nicht unvertilgbar gewesen, mit hoffnungsvoller Erwartung schaute ich dem Glück entgegen. Die Schweizergrenze lag nahe. Wir steuerten bald durch den Thurgau der Stadt Zürich zu, wo eben am Eisenbahntunnel gebaut wurde und wo mein Vater mit vielen andern Arbeit finden wollte. Mich wollte er auf einem Bauernhof unterbringen zum Kinder- oder Viehhüten. Ich hatte mir meine Beinchen ordentlich müde gelaufen, als nach mehreren Tagen die Arbeitsstelle erreicht war. Ziemlich fühllos trabte ich neben her und weiß nur noch, daß Vater betrübt war, da er vergebens Arbeit gesucht.Augenscheinlich waren auch seine Mittel sehr erschöpft, denn er führte mich bis nach Zürich, um dort ein paar Rappen zu erbetteln für sein und mein Abendbrot. Ich hatte noch nie gebettelt, habe auch Vater es nie thun sehen. Gehorsam stellte ich mich an eine Straßenecke, furchtsam ob dem Hin- und Herwogen der lärmenden Menge; aber deutlich, als wäre es erst gestern gewesen, sehe ich meinen Vater über die Straße gehen,zögernd eine Ladenthür aufmachen und verschwinden. Angstvoll starrte ich die Thüre an. Ein Moment bangen Alleinseins zog über mich. Da erschien seine Gestalt wieder; aber nie werde ich sein Gesicht vergessen er streckte mir seine Hand entgegen, darauf lagen zwei rote Rappen. Nur zwei Rappen! Im selben Augenblick sah ich einen Mann in dunkelm Rock mit glänzenden Knöpfen hinterm Vater auftauchen, sah,wie er ihn an der Achsel packte und ihn anwies, daß er ihm folgen müsse! Ich begriff nicht, was mit uns vorging,lautlos trabte ich neben her auf die Wachtstube! 2 Rappen und auf die Wachtstube! Aber betteln war betteln! Und doch um zwei Rappen! Wo Vater die Nacht zubrachte,weiß ich nicht! Ich wurde im selben Raum untergebracht mit zwei Frauen oder Mädchen, deren schreckliche Gespräche mein Kindesohr hören mußte, wohl ohne es zu verstehen, nicht aber ohne daß mein Herz davor ergraut, wenn ich mir jetzt die Situation vorstelle. Am Morgen fand ich meinen Vater wieder. Ich war kein siebenjähriges Kinderherz mehr, als ich mit ihm und einem Landjäger Zürich verlassen mußte. Ich hatte meinen Frühling begraben, meine Hoffnungen lagen wie junges Laub geknickt vom Froste. Ich habe nie mehr Zürich's Gegend betreten, dort lag ja das Grab meiner Kindeseinfalt.“

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Armes Herz! Ich habe oft an diese deine Erfahrung gedacht, wenn ich dich bitter urteilen hörte über die reichen Leute, wenn du das Leben auch gar so trübe ansahst,« als wär's nur dazu da, um die Menschen zu jagen und zu plagen!

Nicht wahr, wenn du, lieber Leser, oder ich einen solchen knurrigen, verbitterten Menschen antreffen, wollen wir uns nicht abwenden und denken: es lohne sich nicht der Mühe, ihm freundlich zu begegnen, sondern wir wollen ihm mitleidig und freundlich entgegenkommen und denken: ein liebreich Wort ist wie ein Tröpflein Tau auf sein resigniertes Herzl! Du siehst es ihm vielleicht nicht an, sein Gesicht bleibt vielleicht mürrisch;aber wenn du hineinsehen könntest in sein Inneres, du sähst vielleicht doch einen kleinen lichten Strahl der Freude!

Wir können den Windhauch des Lebens mit seiner erkältenden Not nicht aufhalten: aber wir können viel kleine Liebe säen. Und wenn es dort heißt: Um zwei rote Rappen viel Schmerz, so heißt es hier: Durch ein kleines liebevolles Wort viel Freude! Vergiß nicht, daß deine Magd, deine Wäscherin, dein Milchmann, dein Sandbub, dein Arbeiter,wer und was er auch sei, dasselbe liebebedürftige Herz hat wie du und begegne ihm rücksichtsvoll und zart, und du wirst aüͤhnlich werden dem, den sie „die Freundlichkeit“ hießen.

Eununsbrũder.Es war in den siebenziger Jahren. Von England her war ein warmer, belebender Hauch in die christlichen Kreise und Kreislein gefahren und hatte das Gemeinschaftsbedürfnis neu belebt. Man fand sich eifriger denn je zusammen, besonders geschah es auch, um die neu erscheinenden, volks tümlichen und warmen Lieder zu singen, die auch dem musikalisch Schwachbegabten zu erlernen leicht wurden. In einem Dorf im weltberühmten, fremdenreichen Bödeli hatte diese Bewegung ebenfalls Platz gegriffen. In einem neuen, schmucken Saal fanden sich die Lernbegierigen zusammen, um neben dem gewöhnlichen Abendgottesdienst und dem Jünglingsverein eine außerordentliche Gesangsstunde zu halten. Da tönte es dann durch die abendliche Stille: „Sicher in Jesu Armen,“ und „Es ist ein Born“ u. s. w. ein bekanntes Lied nach dem andern. Nur wenige Stimmen bildeten den kleinen Chor und er ermangelte entschieden des Ruhms vor jedem gebildeten Kapellmeister einer großen Stadt, aber er sang aus der Tiefe des Herzens, fast wie „die Schelme die Frommen,“ in Geroks Lied. Der Sopran hatte einen guten Leithammel in einem schmucken, frischen Mädchen, das den Tag über eifrig Schnitzereien: Bärlein und Gemsen und anderes Getier beizte in der Fabrik. Der Dirigent war Schnitzer von Beruf und verstand sich ein wenig auf die Geige, so leitete er mit leichtem, gutmütigem Stabe die kleine Herde. Wäre er nicht gutmütig gewesen, er hätte es nimmermehr aushalten können mit den zwei Bassisten dort im Hintergrund, aus deren Kehlen Töne kamen, die man fast mit dem Surren einer Brunmfliege hätte verwechseln können. Oft schaute der Schnitzer und Musikmeister mit leiser Verzweiflung hinüber zu dem dumpf singenden Paar; aber wenn er die eifrigen Gesichter sah, die mit jeder Muskel-Falte ihrer Stirn den Eifer bekundeten, den richtigen Ton zu finden, dann lächelte er liebevoll. Allein singen ließ er sie nie; das wäre nie gegangen; aber so hinterm Chor her, das ging noch und nahm sich aus, wie das ferne Echo im Bergthal: „Der HErr aber siehet das Herz an,“ damit tröstete er sich leict. Wer war das Paar: Äußerlich war der eine sehr verschieden vom andern; aber in der inneren

Begabung lag eine entschiedene Ähnlichkeit und das wars was den jüngern bräunlichen zum ältern blonden Gefährten hinzog. Der Ältere war eine Art Künstler und gehörte zur zahlreichen Schar derer, die Tag aus, Tag ein die Jungfrau malten zum Fremdenverkauf. Wer kennte diese Bildchen nicht,die weiße, leuchtende, oder rosig überhauchte Bergschöne mit dem grünen Rugen oder der Heimwehfluh im Vordergrund?Aber es ging unserm Maler nicht wie jener Engländerin, die an einem andern Fremdenort malte und einem Frager erklärte:„Toujours waterfall et toujours argent“. Bei ihm hieß es auch toujours malen, aber selten ein Stück Geld. Oft schlug er seine Bildlein los um ein Zweifrankenstück. Als der jüngere Bassist den Maler einst besuchte, fand er ihn in einem alten Bauernhause. Die Kammer im Dach, aus rohen vom Alter gebräunten Brettern umfangen, war zum Atelier geworden.Beim Licht des nicht eben großen Fensters malte der fleißige Mann unermüdlich dieselbe Auffassung des Bergausschnitts mit unverwelklicher Liebe. Wie rührend war dies Käünstlerblümlein, das da am Schatten keimte und sein Leben fristete.Vielleicht hatte auch sein Jugendtraum einst anders ausgesehen!Gewiß hatte er Idealen nachgestrebt, wäre so gerne hinunter gezogen ins südliche Land und hätte gelernt an der Quelle der Kunst wie die andern, um dann bereichert und frei gemacht heimzukehren zur trauten heimischen Natur. Aber was wollte der Vogel, dem die Flugfedern genommen worden und den kein Glücklicher auf den Rücken nehmen wollte? Mit eigenen Gefühlen saß der jüngere Genosse im schlichten Atelier des Malers. Er hatte selbst sich den Beruf des Künstlers von ferne angeschaut, spürte selbst ein Fünklein von Gestaltungskraft in sich und alle freie Zeit, die ihm der erwählte praktische Beruf gelassen, gehörte der Handhabung des Stifts und des Pinsels. Ihm war die Kunst nicht Lebens zweck aber Lebens schmuck und Lebensfreude, und er verehrt jeden Mann, der sein ganzes Lebenswerk daran setzen darf, dem inneren Gedanken vollendet schöne Sichtbarkeit zu geben, den tiefen seelischen Eindruck in Farbe und Form zu bannen.

So standen beide an der Pforte des Gartens Eden und blickten sehnend hinein; der Genius war leise an ihnen vorbeigehuscht, als sie in der Wiege lagen und hatte sein Füllhorn nicht über sie ausgeschüttet. Aber eine Pforte hatten beide weit offen gefunden und niemand konnte sie je zuschließen!Und wenn der Ältere müde war vom mühsamen Ringen und seine Seele bedrückt vom elenden Resultat der Lebensarbeit,dann eilte er zum offenen Thürlein, durch das die unsichtbare herrliche Welt so licht zu ihm niederblickte. Drum sang er mit besonders bewegter Stimme das Lied: „Geöffnet stehet eine Thür“, und „Bald, ja bald, o wie schön, werd ich dort dann mit Jubel eingehn“.

Den Durst der Seele nach künstlerischer Vollendung und Gestaltung hat Gott dem Armen nie gestillt; aber Er hat ihm den seligen Glauben gegeben an eine ewige Sättigung der Seele im Schauen der Herrlichkeit droben. Welch ein Trost für so viel mühsames Ringen!

Der Ältere hat nun schon lange die Zeit des Kampfes hinter sich. Er malt nicht mehr Jungfraubildchen, um kümmerlich den Hunger zu stillen. Er ist daheim und seine Seele ist genesen im ewigen Licht. Nun singt er auch nicht mehr in brummenden Baßtönen: „Bald, ja bald“, er hat längst jubeln gelernt und der einsam zurückgebliebene Bassist denkt oft mit Wehmut an den Bruder, der beides nun so viel besser kann: malen und singen.

15.Erhte Qiebe.DZu des Hauses Inventarstücken gehört auch der alte Franz. Eine wunderbare Figur: kurz und breit, fast breiter als hoch! Die Beine biegen sich einwärts, als möchten sie die Last des Körpers nicht tragen und die Füße schlürfen schwerfällig kreischend über den Boden. Auf den breiten Achseln sitzt ein großer, runder Kopf mit struppem, grauem Haar.Breite Falten, die durch die Jahre tiefen Rinnsalen gleich geworden, durchziehen das Gesicht, und wenn sich der Mund zu einem Lachen verzieht, dann blickt man staunend in die vorwiegende Horizontalentfaltung des Angesichts.

Viele Tage im Jahre sitzt der Franz im Hof hinterm Kaufmannshaus und dreht die Kurbel eines mächtig dampfenden Kaffeeröstofens, und beim Knarren der Maschine, umweht vom bläulichen Dampf, bildet die kurze Gestalt einen beinahe malerischen Anblick.

Aber der alte Franz ist gar nicht etwa zum Auslachen,wie man auf den ersten Blick meint, nein, ich kann dir sagen,ich schaue ihn nie ohne stille Bewunderung und hohe Achtung an. Gott hat in dies unscheinbare Wesen ein Herz gelegt mit warmen, edlen Regungen, ein Herz, das in selbstlosem Lieben viele beschämen möchte. 'Schau nur in seine treuherzigen Augen, und du siehst dort einen Strahl von einem Licht, das tief innen liegt.

Er ist auch einmal jung gewesen, der alte Franz, wenn's auch weit, weit zurückliegt, damals war's Frühlingszeit im Herzen. Blüten sproßten und trieben, Sonnenschein lachte durch's Herz und Auge. Wie leicht rollten die Fässer den Hof entlang, wie flogen die Ballen und Kisten! Warum das?

Dort in der Küche im Herrenhause, dort sang es den ganzen Tag, und die Küche hatte ein Fenster, das ging gegen den Hof, und dort erschien von Zeit zu Zeit ein blühendes, frisches Gesicht und ein Lachen, ein Gruß flog herunter, daß Franzens Herz hüpfte. Das war ein glücklich Hoffen! Franziska hieß das frische Mädchen mit den lachenden Augen und dem leichten Sinn. Franz und Franziska! Wie schön klänge das, wenn sich das zusammenfände fürs Leben, zum ewigen Lieben!Aber siehe, der Franz hatte einen Bruder, der war Milchmann und trug täglich die glänzenden Kannen voll schäumender Milch ins Kaufmannshaus. Der hieß Andreas und war schön und schlank und trug eine rote Weste mit silbernen Knöpfen auf schneeweißem Hemd. Er konnte reden und seine Worte fügen zu zärtlichem Satz. Der Franz sang draußen im Hof seine glücklichen Liedchen, das Herz voller Freude, (er hörte nicht scharf) und drinnen im Hausflur stand Bruder Andreas und die fröhliche Franziska und plauderten lange und länger.

Und die Franziska zog an des Bruders Hand ins alte Vaterhaus unter den grünen Bäumen, und der Franz zog aus, allein, nicht weit weg in ein einsames Stüblein.

Was er empfand? Er hat es niemand gezeigt. Nur wer ihm tiefer ins Auge sah, sah dort einen Schatten. Er hatte sie lieb gehabt, er hätte ihr die Hände unter die Füße gelegt, aber, aber, sie hatte den Bruder gefreit, den jungen und schmucken, es war ja begreiflich, aber liebbehalten mußte er sie doch.

Und die Jahre kamen und gingen. Nur wenige davon waren glücklich im Hause der Franziska. Den jungen Mann traf der Schlagfluß, hilflos und lahm lag er jahrelang da,ein armes, geknicktes Leben. Mit ihm lag der Verdienst lahm,Not und Sorge klopften an, und das Lachen der jungen Frau verstummte. Doch siehe, als ob es sich von selbst verstände, stand Bruder Franz da. Er, der kleine Mann, war nun der große und starke. Er griff an sein Erspartes; was ihm gehörte, gehörte auch ihr. Er richtete im Hause einen kleinen Kramladen für seine Schwägerin ein, das paßte für sie, sie war freundlich und gefällig, die Leute kamen gern und fleißig, und sie fand ihr Auskommen für sich und ihren Mann.

Der Franz packte seine Habseligkeiten zusammen und zog zurück zu den Geschwistern, dort war Arbeit für seine Arme.Wenn er abends heimkam vom Tagewerk in der Stadt, dann hackte er Holz klein für den Herd und trug Wasser zu, er that's ja für Franziska. Was wäre aus ihr geworden ohne ihn?

So lebten sie viele Jahre, so übte er sein Liebeswerk ohne Worte, als ob es ganz so sein müßte und nicht anders.Wohl zwanzig Jahre pflegten sie den armen kranken Mann,und was diese Jahre an Hingabe und Entbehrung in sich bargen, das weiß nur Gott. Nun sind die beiden alt geworden; der Andreas ruht im Schatten der Friedhofsmauer.Franz sorgt nach wie vor für seine Schwägerin; an ihm hat sie auch als Witwe Rat und Hilfe, und sein Besitz, sein regelmäßiger Lohn gehört ihr und kommt ihr zu gut. Wie könnte er anders, er hat sie ja lieb gehabt!

Ja, alter Franz, ich schau dir gern zu, wenn du summend und sinnend deine Kurbel drehst, ich sehe hinter dir ein Leben voll Treue und Liebe, voll rührender Entsagung und Hingabe, und beschämt fühle ich, daß du besser daheim bist als ich in 1. Korinther 13, und daß du dort den fünften Vers nicht nur kennst, sondern auch thust.

AB

WV GSEin Mort an die Frautent.„Dem ungesehenen KHeldentum Ich weihe mein Cied den Srauen!“So singt eine deutsche Fürstin auf östlichem Thron,und das Wort summt und singt in meinem Innern und läßt mich nicht los. Klingt es nicht zu schön? Dürfen wir das Wort annehmen? Freilich, ich weiß, es gibt nichts Schöneres als eine reine Frau, auf deren Antlitz geschrieben steht: Lieben und Dienen ist meine Zier, deren Hände gemacht sind,Friede und Freude zu verbreiten. Und es gibt noch solche Frauen; aber wahrlich, oft scheint mir ihre Zahl so klein,ihre Reihe dünn geworden. Mich überfällt oft eher eine heiße Scham, wenn ich sie sehe, die Schar von Frauen, wie sie an mir vorüberzieht in der Straße, auf Spaziergängen, in Eisenbahnen, auf Dampfschiffen: eine Figur mit Kleidern behängt.Da stolziert sie daher, die Dame unserer Zeit, bei jedem Schritt bewußt: An mir ist etwas zu schauen; von der Zehe bis zum Kopf in Form und Farbe studiert, das Resultat langen Sinnens. Und lauschest du aufs Gespräch, das so berechnet von den Lippen fließt, es ist ein endloser Faden nichtsnutziger Kleinigkeiten, gespickt mit kleinlichen Komplimenten. Die schönste Landschaft kann vorbeifliegen, der glänzendste Abendhimmel sich entfalten, was rührt dies eine Dame? Eine Düte voll Zuckerwerk, ein klapperndes Armbandgehänge weckt eher ihre Begeisterung.

Wo ist das Heldentum? Ist es wirklich nur ungesehen von dir? Schwerlich!

Und schaust du tiefer hinein in die nächsten Kreise, da der Schein dich nicht mehr täuschen kann, findest du nicht auch da eine bedenkliche Armut? Wie schwer wird es der Frau, 88 sich zu erheben über das Bedürfnis des Tages, über Speiseund Kleiderfrage. Wie gehemmt ist sie im Urteil über höherstehende Dinge! Im Gespräch ist sie nie vorurteilsfrei augenblicklich mischt sich das persönliche Gefühl ein, im Widerspruch meistens maßlos; wenn sichs ums Teilen handelt, selbstsüchtig. Oft steht des Mannes Wort und Anschauung so hoch,so edel, weit über den Köpfen und Herzen der Frauen.

Wohl hat unser Jahrhundert die Emanzipation der Frau gezeugt und will diese so hoch stellen, wie sie noch nie gestanden; doch kommt mir vor, die Stellung der Frau sei eher eine tiefere geworden. Die Wege der Arbeit sind ihr geöffnet, arbeiten darf sie neben dem Manne; Geld fließt ihr zu wie dem Manne, und das will sie zeigen.

Aber wenn du einmal hineinschaust in die Tagebuchblätter deiner Großmutter, geht dir da der Unterschied nicht machtvoll auf? Die Frau dachte damals, in ihrem innern Leben blühte und keimte es; der Gelehrte verschmähte es nicht,in der Stube seiner Frau zu arbeiten, nicht etwa nur zu rauchen und zu plaudern, nein, zu arbeiten. Sie durfte Zeuge sein seines Suchens und Forschens, in ihrem Verständnis lag ihm der Preis seiner Arbeit. Sie waren keine „Blaustrümpfe,“ die Frauen des letzten Jahrhunderts, aber sie hatten ihren Geist nicht vertrocknen lassen im Alltagsrennen; sie kannten und wollten höheres als Toilette und Gesellschaft. Und gibt es denn eine würdigere Stellung für die Frau, als die,welche sie erhält durch den Mann, der sie würdigt, seine Freundin, seine Gefährtin zu sein, der sein inneres Denken und Schaffen vor ihr offenbart, ihr bescheidenes Wort hört und achtet, der sie für fähig hält, sein Arbeiten und Gelingen zu verfolgen und am Ende auch schwere Zeiten zu tragen,ohne Wimmern und Klagen? Ich weiß keine höhere Emanzipation als die, daß die Frau nicht mehr im Winkel steht, in

6* der Küche, im Toilettenzimmer, gut genug für die Ruhestunden,aber unfähig zum Teilhaben an den hohen und höchsten Interessen des Mannes.

Ein Frauenherz und Frauenkopf kann verstehen und kann sich begeistern für die männliche Arbeit und des Lebens größtes Werk, ohne von ihrer Weiblichkeit nur einen Schimmer zu verlieren. Alles, was die Frau weiß und hat, hat sie ja nicht für die Öffentlichkeit, sie hats ja für ihren Gatten, ihren Bruder. Diesen gehören die Schätze, und glücklich die Frau,die von ihnen herangezogen wird zur Geistesgemeinschaft.

Wir Frauen selbst schaffen unsere Stellung den Männern gegenüber; wir sind schuld, wenn verächtliche, lächelnde Blicke uns folgen, und je mehr wir uns zu Knechten der Mode und der Lust der Erde machen, um so tiefer sinkt unsere Stellung.Wohin sollen wir kommen? Der Strom der Zeit kommt mächtig daher! Schein und Genuß sind die Losungsworte.Sie haben das Mädchen gepackt und die Frau, die Dienstmagd und die Herrin. Wo bleibt die Kraft zu dienen, zu tragen, sich zu versagen? Wo werden die Frauen einst zu finden sein, deren Leben in dem Wort gezeichnet ist:

Es sei der Frauen Leben sowie ein geistlich Lied,Das nicht mit eitlem Brausen am Ohr vorüberzieht,Das sich in festem Takte nur langsam fortbewegt,Und doch der Herzen viele mit sich zum Himmel trägt.Die Mädchen werden sein ein Spielzeug der Jünglinge, die Frauen ein Dekorationsstück am Arm des wohlhabenden Mannes!

Ich male kaum zu schwarz: Genuß ist wie eine erdrückende Schlingpflanze. Ihm zu liebe opfert die Frau die Pflicht,die Freude, den Frieden! Erst kommt der erlaubte, kleine Genuß er wuchert und wuchert und erstickt das innere Leben und wird zur unwiderstehlichen Macht. Es gilt wahrlich einen echten und rechten Kampf in unserer Zeit, ein entschlossenes und festes Herz, ein Vermögen, anders auszusehen, bescheidener zu leben, verborgener den Weg zu gehen, als Nachbarin rechts und links. Siehe, da ist ein kleines Feld zum ungesehenen Heldentum, wenn es gilt, sich diesen und jenen Genuß zu versagen, daheim zu bleiben, statt dem Vergnügen nachzulaufen, noch länger im bescheidenen Kleide zu gehen ꝛc. Aber nur aus dem Versagen dieser kleinen Dinge erwächst die Kraft, etwas Rechtes und Tüchtiges zu leisten, auch Schweres zu tragen, dem Manne eine Gehilfin zu werden und in Ehren neben ihm zu stehen, als seine Perle und seine Krone.

Da steigt vor mir ein Frauenbild auf aus einer Zeit,da der innere Wert noch höher geachtet ward als der äußere Schein, eine schlichte, einfache Frau, aber sie that eine Heldenthat. Ich sehe sie vor mir sitzen, die einfache stille Frau im gemütlichen Lehnstuhl, den weißen Strickstrumpf in den Händen, nie rastend und ruhend; es gibt ja viel zu sorgen für eine Schar von dreißig Enkeln. Großmütterlein hat ein liebes, stilles Gesichtim Rahmen des weißen Häubchens;aber es liegt um ihren Mund ein kräftiger Zug, und in den Augen leuchtet noch oft ein lebendiges Feuer. Man setzt sich gern zu ihr und hört den weisen Worten zu, die Mahnung und Trost enthalten, und immer findet man Teilnahme und Verständnis. Es ist jetzt ein so stilles Leben geworden beim Großmütterlein; es ist wie ein grünes Thal im Abendschein,wir ahnen kaum mehr, daß einst Not und Kampf das friedliche Herz erschütterten, und fest die Schritte sich halten mußten auf steilem Wege. Nur was die Feder noch zitternd in Briefform oder als leise verklingendes Verslein aufs Papier legte, das zeugte vom kostbaren Golde, das aus dem Brausen und Stürmen früherer Zeiten rein sich gesetzt hat: Gold, wie's nur das Feuer erstehen läßt. Als Großmütterlein jung war und kräftig, da war sie Lehrerin, da sammelte sie um sich eine

Schar lerneifriger Mädchen, da hatte sie sich eine Stellung geschaffen, selbständig und geachtet. Frühe hatte sich das liebliche Elternhaus geschlossen. Da suchte ein Witwer ihre Hand; er bedurfte ihrer für seine sieben Kinder, die alle noch klein waren. Da stand die liebe Frau vor einer großen Aufgabe; selbst noch jung, schien sie beinahe zu groß. Aber es war ja eine Stellung für ein starkes und liebewarmes Frauenherz; sie folgte dem Ruf und umfaßte den neuen Kreis mit mächtiger Liebe. Sie war dem Manne eine Freundin, also daß er die Zeit der Einsamkeit vergaß, sie half ihm die Last des täglichen Lebens tragen, so gut sie es konnte. Aber siehe,nicht lange dauerte die Gemeinschaft nur vier Monate lebten sie zusammen, da nahm Gott der Herr den Mann hinweg und ließ die Frau allein mit kleinen Mitteln und einer großen Schar. Da kamen die begüterten Verwandten und ratschlagten und fanden's geboten, die Kinder zu verteilen und einzeln zu erziehen, hier eins, dort eins, jedes anders. Und was that die neue, junge Mutter? War sie es wohl zufrieden, daß ihr die Bürde abgenommen wurde, die Bürde von sieben lebhaften, unerzogenen Kindern, an die nichts sie kettete, als kurze vier Monate? O nein! „Das Häuflein gehört zusammen, und ich will's erziehen mit Gottes Hilfe; so gut ich's kann! Es ist meines Mannes Gabe, und ich will sie hüten und hegen!“ Das war ein tapferes Wort, und tapfer hat die junge Witwe ihre sieben Stiefkinder erzogen und von zu Hause haben sie ihre Kraft zu tragen, zu entsagen und zu leiden, aber auch die Kraft zu lieben die andern mehr als sich selbst. Eins ums andere der sieben Kinder ist schon heimgegangen, und wenn man an ihrem Sarge fragte: „Wo hatten sie ihren Glauben her, wem verdankten sie das Licht ihres Lebens?“ dann hieß es: „Die Mutter hat es ihnen vorgelebt in treuem Sorgen und Lieben; sie war ihre Führerin zum HErrn!“ Ja, Großmütterlein, mit deinem stillen Abend,dein Leben hatte eine heiße Sommerzeit; aber du hast dich brav gehalten, und alle deine Kinder und Enkel, die du dir erzogen, danken dirs, daß du ihnen gezeigt, daß Leben für andere und entsagendes Lieben die Krone der Frau ist.

Nicht wahr, es gibt noch viele solche Frauen, sie gehören aber nur zu den Verborgenen! Wohlan, liebe Frauen,stellen wir uns in ihre Reihe! Wohlauf, ihr Mütter, erzieht eure Töchter zum „Heldentum,“ zeigt ihnen bessere Schätze als Kleid und Schmuck, Tanz und Vergnügen, lehret sie dienen und lieben im engsten Kreis dann werden wir eine Mauer bilden gegen den Zeitstrom, unsere Ehrenstellung, die uns das Christentum gebracht, behaupten, und teil haben am „ungesehenen Heldentum!“

7 GSine schwere Kunrst.Es gibt gewisse Dinge, die in der Praris des Christenlebens einem schwer und schier unerreichbar erscheinen. Zu diesen Dingen gehört für mich die Kunst, in richtiger Weise „Besuche machen und empfangen.“ Geht es dir wohl wie mir, daß du auf dem Heimwege immer nachsinnen mußt, was du besser hättest ungesagt sein lassen, was du anders hättest benennen müssen, wie du das Gespräch hättest ernster und tiefer gestalten können? Ich kannte eine Dame, die sandte jedem ihrer Besuche ein Billet nach, in dem die Entschuldigung und Zurechtrückung von der Hälfte des Geredeten stand. Das ist freilich wenig mehr nütze. Wie vielmals hatte ich schon das Gefühl, wenn sich die Thüre schloß: Nicht einen Klang aus der oberen Welt habe ich gehört! Man sprach über dies und das, über Verwandte und Freunde, über freudige und traurige Ereignisse; aber dem Reich Gottes Fernstehende hätten ganz ebenso reden können. Das innerste Bedürfen und Erleben wurde sorgfältig zugedeckt; man war immer drauf und dran, die richtige volltönende Pfeife zu ziehen; aber es kam nicht dazu.

Ich weiß schon, da taucht nun jene Art von Christen vor euren Augen auf, die in einer Art von christlichem Treibhaus leben, die es für verlorene Zeit halten, über natürliche,alltägliche Dinge zu reden, die auf dem Stuhl rutschen, wenn nicht von „Bekehrung“ und „Hingabe an den HErrn“ geredet wird, die Art von Besuchen kann ebenfalls einen unbehaglichen Eindruck hinterlassen. Das meine ich nicht. Wir dürfen die Fragen des Alltagslebens, Kunst und Wissen, Ereignisse im engern und fernern Kreise und soziale Zustände ꝛc. ꝛc. zu unsern Gesprächsgegenständen machen, doch so, daß man immer weiß: Christen reden. Keine frivole Bemerkungen, keine oberflächliche Beurteilung, keine lieblose Behandlung darf sich einmischen und kommt man der Frage nahe: Wie stellst du dich hier oder da nach deiner religiösen Ueberzeugung? dann darf man nicht kläglich Deckung suchen hinter einer gesellschaftlichen Phrase.

Ich weiß wohl, es ist schwer, ein Gespräch richtig zu führen.Leicht wird es Disput, eben so leicht leeres Geschwätz. Wenigen ist es gegeben, ihr bestes Denken und Fühlen in gangbare Worte zu fassen, ebenso wenigen wird es leicht, über ihr verborgenes Leben in Gott zu reden. Dies ist auch nicht nötig.Eines aber ist nötig: daß Christen z. B. in der Frage über Kindererziehung, über Dienstboten, über Toilette, über Besitz und Reichtum, über Krankheit und Tod reden als solche, die das Wort inwendig kennen: „Unser Bürgerrecht aber ist im Himmel.“

Ist das nicht schwer? Hast du nie ein verletztes Gewissen heimgetragen? Hast du noch nie über den andern gedacht:Die weiß nicht, wofür sie ihre Kinder erzieht, die verlangt zu viel von den Dienstboten, die hat kein Verständnis für fremdes Leid, die hängt am Geld, am Kleid, an dem und jenem? Und fandest du's besser bei dir? Ich habe schon oft herzlich gebetet, wenn ich einen Besuch machen wollte:„Und daß kein Wort mich einst verklage, sei du mit mir!“Und: „Laß mich wenigstens ein Wort wahrer herzlicher Liebe finden, das dem andern wohlthut, daß ich nicht davongehen muß mit dem bittern Gefühl: Ich hab' dir nichts gebracht als ein leeres Herz!“

Da erwacht nun wohl manche Erinnerung an eine trauliche halbe Stunde in Krankenstübchen und Dachkammer, wo's leicht war, ein „lieber Besuch zu sein“, weil du mit der Absicht kamst, zu geben. Vielleicht denkst du auch an behagliche Räume, wo du gern einkehrst, um so besser. Ein Bild löst sich mir besonders los vor den andern. Es ist ein sehr einfaches, getäfeltes Wohnstübchen, äußerst reinlich und aufgeräumt und hell durchschienen von freundlicher Morgensonne.Dort wohnt meine alte Tante. Willst du mit mir kommen?

„Sei mir herzlich willkommen!“ tönt es mir beim Eintreten entgegen, „das ist doch brav, daß du zu mir kommst!“ Die liebe alte Tante hat gern hier und da einen Besuch,aber nicht gern viele auf einmal. Ich nehme mir einen Stuhl und setze mich vors Tischchen am Lehnstuhl. Dieser große Lehnstuhl mit kattunenem Bezug bildet eine Behausung für sich. Diese bezieht die liebe Tante am Morgen mitsamt ihren Büchern und verläßt sie nur selten während des Tages. Jahrelange Gicht im Rücken und Händen haben die einst hohe Gestalt total gebeugt. Fast rechtwinkelig beugt sich der Oberkörper vorwärts, und schwer wird es dem lieben, weißen Scheitel, 90 sich aufzurichten. Das Gesicht aber ist markig und kraftvoll und leuchtet in innerm, frischem Leben. Du schaust so gern hinein, ist es doch wie ein Vermächtnis aus früherer Zeit kräftigen Ringens und Strebens. Es ist ein gar trauliches Plätzchen am Lehnstuhl nebem grünen, riesigen Kachelofen.Durch die Fenster schaut den ganzen Morgen die strahlende Sonne, wenn sie über die hohen Rücken der Berge heraufsteigt, und daß Tante die hereinschauen sieht, grün und tanngekrönt, ist ihr gar lieb. Wie denkt sie da zurück an die Tage,da sie glücklich mit ihrem „Daniel“ darüber gestiegen, hellen ADDDD kamen an den „Daniel“ und sie kamen ja täglich dann hatte auch das weiße Taschentuch im Ecklein gar viel zu thun. Ach, erst seit er gestorben, saß ste ja da, und Jahr um Jahr sitzen und stille sein und Schmerz um Schmerz ertragen,das läßt Raum für manche innere Einkehr, auch für manches Gericht. Und Tante wußte, daß sie in Gottes Schule war, und so oft man kam, man fand das Gotteswort in nächster Nähe.

Nun kommt die gewöhnliche Frage: „Wie geht es dir denn, liebe Tante, bei Tag und bei Nacht?“ „Ich habe unendlich viel zu danken und zu loben. Es ist nur Gnade,die Gott an mir thut!“ „Aber werden dir denn die Tage in deinem Stuhl nicht lang?“ „Ach, ich muß so froh sein um jeden Tag, den Gott mich noch hier läßt, ich habe noch so viel zu lernen. Das ist mein Schmerz, das kränket mich,daß ich nicht g'nug kann lieben dich!“ Dabei kommen der lieben Tante die Thränen. Sie hat immer viel über Mangel an Liebe zu klagen. Vielleicht hat sie sich viel auf ihren Daniel gelehnt, hat an seinem reichen geistlichen Leben mitgelebt und muß erst jetzt lernen, so ganz allein dem HErrn nachgehen im Leiden. „Aber,“ fährt sie fort, „Gott hat immer noch Geduld mit mir und vergibt mir alle Schuld und tilgt meine Sünde wie einen Nebel. Ja, wie wird uns sein, wenn wir dich, Jesu, sehen!“

Plötzlich unterbricht sie sich und sagt: „Ach gelt, ich rede immer nur von mir, das ist für dich sehr langweiligl“ Ich versichere sie des Gegenteils und suche sie auf Erinnerungen zu bringen. „Nicht wahr, Tante, Onkel war sehr alt, als er nach dem Orient ging?“ „Ja, sehr alt, schon siebzig Jahre,und sein Haupt war schneeweiß und seine Hände zitterten.“Nun war der Faden gelöst. „Mir war sehr bange, daß er diesen Plan nicht aufgeben wollte; aber er hatte sich sein ganzes Lebenlang gesehnt, auf dem Boden zu wandeln, den seines HErrn Fuß betreten. Und dann wollte er allein gehen und mit so wenig Mitteln als möglich auskommen. Du weißt ja,wie er sich Entbehrungen auflegte!“ „Ach ja, er ist ja die zwölf Stunden nach Zürich gelaufen mit nur einem Brötchen in der Tasche!“ „Ja, und er ist im Zwischendeck gefahren mit einer Schar Ochsen zusammen, sodaß er ganz elend in Alexandrien ankam. Er wollte zu Fuß durch die Wüste zum Sinai pilgern und hätte es durchgeführt, wenn nicht ein befreundeter Schweizer ihm das Versprechen abgenommen, ein Kamel zu benutzen.“ „Und nicht wahr, er ist in Jerusalem nicht in die Grabeskirche gegangen?“ „Nein, er wollte nur die Stätten sehen, die ihm geschichtlich verbürgt schienen.Aber Gethsemane suchte er auf, und auf den Olberg stieg er.Wie mag sein Auge geleuchtet und sein Herz gejauchzt haben,als er dort stand, wo Er einst gestanden. O, du kannst dir nicht denken, wie brennend mein Daniel den HErrn liebte;er hätte Ihm alles gegeben, am liebsten sein Leben. Und als er heimkam, elend und krank, da war er der Erinnerungen voll! Es ist ihm gegangen, wie den Jüngern auf Tabor. Es war sein Wandern an den heiligen Stätten für ihn zum Festzug geworden, ich glaube, es war ihm, als sähe er seinen

HErrn“ Und du freust dich sehr, Onkel droben wiederzusehen?“ „Ja, ich freue mich unendlich, ihn und die Geschwister zu sehen. Es wird fast zu schön sein! Wer weiß aber, ob Gott mich wird brauchen können? Doch nein, Er handelt nicht nach Würdigkeit, nur nach Gnade, und auf Gnade darf man trauen!“

„Spielst du noch etwa?“ Ich deutete auf das alte Tafelklavier, das ehrwürdig in der Ecke stand. Tante hatte uns so oft Freude gemacht mit ihren alten Liedern, die sie schon im Elternhaus gelernt, und die für das Geistesleben jener Tage so bezeichnend waren. „Ach, meine Stimme ist zittrig geworden, und es ist solch eine Mühe hinzukriechen; aber wenn du helfen willst, kanns wohl sein.“ Der Stock in der Ecke half mit, und bald saß die alte, gebeugte Gestalt vor dem Klavier. Ein rührendes Bild! aber ich wußte, daß es ihrem Herzen wohlthat. Und nun klangen bald die zitterigen Töne durchs Stüblein:

Du wollest uns das Kreuzgeheimnis lehren Und unser sehnlich Bitten drum erhören“ bis zu dem tröstlichen Vers:„Ihr dürft, so wie ihr seid, zum Heiland kommen,Und kommt ihr nur, so seid ihr angenommen!“

Zuletzt sagte ich: „Aber nun, liebe Tante, kommt noch unser Lieblingslied von Fenneberg, nicht wahr?“ Ein paar leise vorspielende Töne, und dann klang es:

„Lasset uns traulich loben Gott in dem Himmel oben,

O, er liebet uns gar sehr!Wir sollen bei ihm wohnen, Er will mit sich uns lohnen,O. er liebet uns gar sehr!“

Wie jubelnd das klang: O, er liebet uns gar sehr! Die liebe alte Tante hatte sich die helle Freude mit dem Gedenken an Gottes große Liebe ins Herz gesungen. Welch ein Glanz lag im Stübchen, über der gebückten Gestalt, selbst der Lehnstuhl war wie verklärt. Was kann denn dunkel sein, was kann drücken und bange machen, wenn der Klang helle tönt: O, Er liebet uns gar sehr!“ Und den Schein im Herzen wollte ich bewahren; ich ließ ja meine Tante fröhlich und selig im Lehnstuhl zurück, sie hatte sich neu erquickt an der alten und der ewig neuen Kunde: O, Er liebet uns gar sehr!“ Lebt dieses Dank- und Lobgefühl im Herzen, und ist unser Sein und Wesen ein Zeuge davon, dann wird unser Reden lieblich, unser Erscheinen wohlthuend werden. Möchte jeder Besuch, den wir machen, jede Berührung mit andern Menschen eine Spur in sich tragen von der beseligenden Kraft des Wortes:„O, Er liebet uns gar sehr!“

18.Eber dasx Peiraten.„Im Herbst werde ich nun heiraten!“ Dieses Wort höre ich nun schon seit Wochen aus dem Munde eines Dienstmädchens, so oft ich demselben auf der Treppe oder im Hausflur begegne. Und ich bin wirklich froh, wenn dieser Herbst bald kommt und das ersehnte Ereignis eingetreten ist. Das arme Mädchen! Schon rückt es dem dreißigsten Jahr nahe,und seit dem siebzehnten hofft es von Herbst zu Herbst, von Monat zu Monat, daß der Tag komme, da ihm die Hochzeitsglocken läuten. Und wie hofft es? Mit verzehrender Sehnsucht.All sein Sinnen, Denken und Berechnen geht darauf hinaus.Du magst mit ihm sprechen, wovon du willst, beim Wetter anfangen oder bei der Arbeit, immer endet das Gespräch:„Wenn ich nun heirate!“ Von Platz zu Platz ist es gezogen, es ist Küchenmagd gewesen, Köchin, Stubenmädchen und Kammerfrau, alles nur im Gedanken ans Heiraten.Es zeigt dir eine Reihe von Photographien, Bilder allein oder mit ihm, was du nur wünschest. Und wer ist der „Er?“ O, eine wechselvolle Reihel „Ich habe gehabt,“ ist hier das Zeitwort. Gegenwärtig ist's ein Schlachterbursche mit hellroter Bluse, weißer Schürze, kräftigen Armen und rotem Gesicht, ein Typus naturkräftigen Jugendlebens. Armes Mädchen!Im Gefühl, daß seine Schönheit verblüht, seine Frische vergangen ist, gibt sie sich alle erdenkliche Mühe, den jüngeren Geliebten zu fesseln. All seinen Lohn hängt es in Kleidern,in Bändern und Armspangen an den Leib. Es kauft ihm Geschenke: Uhrketten von eigenem Haar mit goldenen Gliedern,Biergläser und Früchte, alles um ihn zu fesseln, zu halten.„Wenn ich jetzt nicht heiraten kann, dann weiß ich nicht, wozu ich lebe!“ so sagt sie oft mit wehmütiger Stimme, und es ist wahrlich herzbetrübend, zu sehen, wie Tag um Tag hinzieht in vergeblicher, verzehrender Hoffnung. In den Freistunden werden Handtücher genäht, Betttücher gesäumt, all die Schätze werden hundertmal aus- und eingepackt aus dem Schrein, der sie beherbergt, alles ist bereit! Alles! Nur eines fehlt:die Treue fehlt! O, ich fürchte, daß auch die jetzige Hoffnung fehlschlägt, daß das arme Mädchen ihre Jahresfrist wieder hinausschieben muß, wie lange!

Ihr denkt, sie ist eine Thörin, und ihr habt Recht. Jawohl sie ist es. Aber ob wir es auch klüger verstecken und feiner bemänteln, die Sehnsucht, oder besser die Sucht,heiraten zu können und es zu wollen um jeden Preis und auf jedem Weg, tritt dir doch entgegen, wo du gehst und stehst, auf jeder Straße, in jeder Zeitung, im eigenen Hause und im eigenen Herzen. Ihr sagt: Es ist ja des Mädchens Bestimmung und höchstes Ziel. Wohl und gut. Aber es gibt nun allbereits so viele Mädchen, die vergebens nach diesem

Ziel gesucht, so viele, die ihr Lebenlang allein ihren Lebensweg suchen müssen, daß es bald nicht mehr der einzige Endpunkt eines Mädchenlebens sein darf. Und je weniger Gelegenheit sich findet zum Heiratenkönnen, um so eifriger wird die Jagd darnach, um so heftiger der Ringeltanz um die erhoffte Gelegenheit.

Lieben Mädchen, wir wenden uns davon ab mit Abscheu,mit Verachtung. Wir wollten uns nicht dazu hergeben. Und doch ist es so begreiflich, daß viele nach einem Mann jagen und angeln.

Was bewahrt uns davor? Zwei Dinge: Der Mädchenstolz und das Gottvertrauen. Der Mädchenstolz ist wahrlich ein kostbar Gut, eine zarte, leicht verletzte Blüte, die, einmal berührt und geknickt, nie wieder sich ganz erholt; der Mädchenstolz, der sich sagt: Ich will gern geliebt sein, aber ich will geholt sein und mich nicht anwerfen. Was für ein Glück soll erblühen aus einer erzwungenen, erkauften Wahl, wenn dir der Mann nachher vorwerfen kann: „Du bist mir nachgelaufen,ich suchte dich nicht, du bist mir entgegengekommen, es kostete mich keine Mühe, dich zu gewinnen.“ Nur was den Mann Mühe und Kampf gekostet, das hält er hoch und des Preises wert sein Lebenlang. Was ihm an den Hals fliegt, schüttelt er nachher ab, was ihn gelockt, das verlacht er nachher.

Lieber allein den Lebensweg gehen, als um den Preis der Ehre und des feinen Stolzes sich an einen Mann hängen.

Und das Gottvertrauen hat hier auch seinen Platz.Es sagte einst ein lediges Mädchen zu mir, es hatte die Blüte der Jahre hinter sich und nicht freien können, obwohl es alles besessen, was ein Mann gewöhnlich sucht: Reichtum und Schönheit, Klugheit und Bildung. Es sagte: „Ich denke,wenn Gott gewollt hätte, daß ich verheiratet durchs Leben gehe, so wäre es Ihm ein Leichtes gewesen, mir einen Mann in den Weg zu führen, es scheint nicht gut für mich gewesen zu sein!“ Willst du nicht auch so denken? „Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn,“ der kann dir einen Mann bescheren, ohne daß du mit Brille und Operngucker danach ausspähst und die schönsten Lebensjahre hinziehen lässest in eitler, lähmender Sehnsucht. Es gilt immer die Ansicht, als wäre dann das Lebensglück verspielt,und die Mütter sind so betrübt, wenn's den Töchtern nicht gelingt, gewiß, das Lebensglück ist nicht an den Mann gebunden. Niemand ist unentbehrlicher und geliebter, als eine einzige Tochter, eine liebende Tante, eine fleißige Arbeiterin,eine treue Dienstmagd. Das Glück liegt in der Erfüllung einer Lebensaufgabe, werde dir diese zuteil an der Seite eines Mannes, oder in der Pflege eines Angehörigen, oder im Dienst an Bedürftigen, oder wo es immer sei. Auch die verheiratete Frau ist nur glücklich in der Erfüllung ihrer Aufgabe und nicht durch den Mann an sich. Lieben Mädchen,nicht wahr, Gott kann euch so oder so glücklich machen. Ihr wollt mit Rückert sagen:

„Ich bin die Blum' im Garten

Und will in Stille warten,

Wie und in welcher Weise

Er tritt in meine Kreise.

Ja, warten und nicht machen! Gott wird's machen.Und kommt der Ersehnte, wohl, dann danke deinem Gott;bleibst du allein, wohl, dann sei's zufrieden; das beste und schönste hast du doch, du hast den HErrn im Himmel zum Vater und Freund und von Ihm singt Paul Gerhard:

„Gott ist das größte, das schönste und beste,Gott ist das süßste und allergewißste, Aus allen Schätzen der edelste Hort!“

19.Swru ei EBriUlent.Es kommt mir oft recht beschämend vor, wie wenig wir Menschenkinder uns selber kennen. Von den Dingen der Natur um uns her, von den Erzeugnissen in Industrie und Gewerbe,von Mitmenschen, unter die wir gestellt von allem machen wir uns ein weit richtigeres Bild als von uns selbst. Ist das nicht recht ein Zeugnis für die Beschränktheit unseres menschlichen Erkennens, daß wir gerade das Nächstliegende,uns selbst, unsere äußere und innere Beschaffenheit nicht richtig auffassen? Hast du's vielleicht noch nicht gemerkt? Ist dir's im Umgang mit andern noch nie von ferne aufgedämmert,bei einer unerwarteten Außerung: „Ach, so sieht man dich an,so taxiert man dich, als das wirst du gehalten!“ Wie schlecht stimmt das zu deinem eigenen Bild, das war so schön,so rein, so edel! Hat der andere wohl eine schwarze Brille,durch die er dich und dein Thun und Denken ansieht, oder bist du der Getäuschte und trägst eine blaue Brille für dich?

Es kommt wohl auch vor, daß dir unverholen, rauh,fast grausam dein eigenes Bild angetastet wird, daß du dich verdächtigt, heruntergezogen, vernichtet fühlst, da liegst du denn zerschlagen am Boden und zuckst schmerzlich zusammen;aber ganz zerstören läßt sich das eigene Bild von sich selbst nicht; es zieht sich nur etwas tiefer zurück. Verstehst du mich wohl kaum? Denk' nur, mir begegnet das oft, daß ich hell auflachen möchte, wenn mir der Gegensatz der verschiedenen Auffassungen entgegentritt; oft gäbe es für ein und dieselbe That, für ein dasselbe Können, für ein und dieselbe Persönlichkeit zwei Photographien, zwei Bilder, so verschieden wie das Silberhorn im Abendglühen und im Novembersturm, wie der Apfelbaum im Blütenschmuck und im Märzföhn.

Schlatter, D. Zum Sonnabend.

Wer denkt nicht: „Ich thue meine Arbeit fleißig und treu;ich richte alles klug ein, das habe ich doch prächtig zu stande gebracht!“ ꝛc. Denkt wohl dein Nebenmensch gleich?

Da ist eine Hausfrau, die denkt: So häuslich wie ich bin,ist doch kaum eine Frau; ich gehe selten aus und lebe ganz für die Familie. Meine Küche darf sich sehen lassen, und allen schmeckts, die bei mir essen; auf meinen Dielen liegt kein Stäubchen, und meine Wäsche ist schneeweiß. Daß ich meine Stellung auszufüllen verstehe, muß doch jeder anerkennen.“

Und siehe, wie lautet das Urteil des Nächsten über dieselbe Hausfrau? „Das ist doch eine ungemütliche Haushaltung,es muß an der Frau liegen; immer stolpert man über Möbel im Flur, weil stets reingemacht wird; so oft ich komme, ist Wäschetag, und will ich einmal aufs Sopha mich setzen, muß ich Flickzeug wegräumen; und will ich gemütlich plaudern,heißt's: „Entschuldige mich; ich muß schnell in der Küche nachsehen, ob nichts anbrennt!“ Nein, eine solche Hausfrau ist nicht mein Ideal.“ Und denkst du von dir: „Ich bin nun doch einmal eine Hausfrau, welche das Ideale zum Nützlichen fügt, welche die äußern unerläßlichen Stürme im Gange des Haushalts so ungesehen als möglich ausspielen läßt,“ so denkt die andere: „Eine sonderbare Hausfrau, die läßt fünf gerade sein, die denkt nicht gern an Fegen, Waschen, geschweige,daß sie es mal thäte; es ist, wie wenn für sie die Heinzelmännchen noch lebten, und alles in der Nacht aufräumten“ ꝛc.

Und es ist nicht nur bei den Hausfrauen so, es ist auch so bei den Lehrerinnen. Jede denkt: „Ich halte am besten Disziplin, so eben das richtige Maß von Strenge und persönlicher Freiheit.“ Bekommt eine derselben eine Klasse aus der erzieherischen Hand einer andern, so denkt sie: „Nein, wie muß ich wieder arbeiten, bis ich die Klasse nur aus dem Gröbsten heraus habe. Wie still ging alles bei mir zu, wie aufmerksam waren sie, und wie schön alle schriftlichen Arbeiten! Und jetzt?“ Und die Lehrerin in der noch höheren Stufe denkt dasselbe.

Und so ist's sicher in jedem Stand. Das Dienstmädchen sagt: „So gut versorgt wie meine Herrschaft ist keine.“ Die Wäscherin denkt: „Die Leinewand ist weiß wie der Schnee,wenn sie aus meiner Hand kommt.“ Die Mutter denkt: „Mein Töchterlein weiß sich doch allerliebst zu benehmen.“ Die Arbeiterin im Geschäft denkt: „Man merkt's doch recht, seit ich da bin, geht alles flott.“ Die Kunstjüngerin denkt: „Etwas wenigstens habe ich erreicht, was mir niemand streitig machen kann.“ Und so geht es fort in allen Tonarten und Stufen.

Ob's bei den Männern besser ist? Ich glaube kaum. Vielleicht gelingt es dort einigen klaren Köpfen, auch für sich selbst klar zu sehen, aber jedenfalls sind es seltene Ausnahmen.

Und was nun? Ist's denn nötig, daß wir unser goldenes Bild schwarz anmalen? Ja, so gewiß wir nach Wahrheit streben, so gewiß wir überhaupt streben, so gewiß ist es nötig, daß wir über uns selbst ein richtiges Bild bekommen. Erst dann sind wir gerecht gegenüber den Leistungen anderer, lernen neben und mit andern arbeiten, gewöhnen uns,die Nebenmenschen höher zu achten als uns selbst, verlernen viele scharfe Urteile, verletzende Worte. So lange wir immer herumstolzieren wie Pfauen, die sagen: „Ach, schaut doch, wie schön meine Federn sind, wie viel ich ausrichte, wie gut ich das machen kann, wie viel ich nütze,“ so lange werden wir nie sehen und beachten, wie wohl auch dem Spätzlein sein grauer Rock ansteht, wie viel der andere thut, wie unentbehrlich er ist und wie viel du ihm verdankst.

Und nützt diese leidige Klarheit, die nur zu langweiliger Enttäuschung führt, etwas? Ja, sie nützt. Die Decken und Schleier auf den Augen halten nur, so lange wir auf Erden sind, dann fallen sie. Und wenn schon einige kluge Menschen

7* 100 kinder hinter der Hausecke stehen und aus ihrem Versteck her dich und dein falsches Krönlein auslachen, wieviel mehr wird sein Flittergold einst zerstieben auf der Wagschale, auf der nur goldener Weizen bleibt.

Mie nahe sirh Erziehung und PBeiligurntg berũhrent.Wir finden es äußerst angenehm, mit einem „wohlerzogenen“ Menschen zu verkehren; da ist kein unschönes,verletzendes Wort, keine plötzlich hervorbrechende Leidenschaft,kein taktloser Eingriff in deine persönlichen Rechte. Es ist dein höchstes Lob, das du einem neuen Bekannten erteilen kannst: „Er hat eine gute Erziehung gehabt.“ Die Eltern haben dem Manne, der Frau schon im Kindesalter die Gewöhnung beigebracht, die Regungen der Seele zu zügeln, ihre Außerungen zu beherrschen, sie haben es sogar zu gewissen Kundgebungen von Wohlwollen und Liebe für andere gewöhnt,die außerordentlich wohlthuend ist. Freilich, die Beweggründe zu solch feiner und lieblicher Gewöhnung sind oft sehr äußerlicher Art. Warum thun sie es? Weil die Leute es sehen,sie bewundern sollen, weil sie es den besten unter den Leuten nachmachen wollen. Aber plötzlich fällt da die gute Erziehung ab wie eine lose Tünche. Plötzlich tönen dir Worte aus dem wohlerzogenen Munde entgegen, daß du zurückprallst, plötzlich brechen Leidenschaften, Neid und Zorn hervor, wo du nur Liebenswürdigkeit vermutetest. Es braucht dazu nicht viel, oft nur ein Kreuzpunkt im Lebensweg, Widerwärtigkeit, Entbehrung, 101 Not. Da ist die gute Erziehung nichts wert, nur eine Vergoldung auf brüchigem Gips.

Und dennoch, eine wirklich gute Erziehung ist schon ein Stücklein Wegs auf der weiten Straße der Heiligung. Es muß nur der Grund geändert werden. Warum bezähme ich meinen Leib? Warum beherrsche ich meine Leidenschaften?Warum wache ich über Zunge und Augen? Nicht um der Leute willen, sondern um dem HErrn zu gefallen. Das ist leicht zu verwechseln und doch fühlbar verschieden, ja, so merklich,daß du's dem Nebenmenschen gleich abfühlst und er die tiefste Ursache für sein Handeln nicht verbergen kann. Du sagst:Ach, all das Streben nach Heiligung, all die ernste Arbeit an mir selbst ist doch nur ein Bau auf Sand gestellt, nichts als ein löchericht und befleckt Kleid; rein und schön wird mein Herz erst, wenn ich das Irdische verwandeln darf ins Himmlische. Wohl und recht! Dann wird dein Herz gesättigt, eher nicht! Aber nur zu tief fühlst du, daß nichts dich von Gott trennt als die Sünde, nie dein Auge getrübter ist, als wenn du dem Zorn freien Lauf ließest, nie dein Gebet langsamer aufstieg, als wenn du die Liebe verletztest, nie deine Sehnsucht nach der Ewigkeit geringer war, als wenn du anfingst, die Welt lieb zu behalten. Es bleibt des Apostels Wort stehen: „Jaget nach der Heiligung, ohne welche niemand Gott schauen wird.“ Diesen Weg betritt man nie zu früh, ihn haben wir schon unsern Kindern zu weisen. Indem die Eltern, die Erwachsenen, selbst in der Heiligung stehend, das Kind langsam erziehend hinführen auf den schmalen und guten Weg, daß sie erst die Sünde fliehen und überwinden lernen im Gehorsam gegen die Eltern, um dann später, erstarkt, selbst vor Gottes Augen zu wandeln,helfen wir ihnen ein großes Stück. Es kann durch Gottes Gnade auch in einem unerzogenen Menschen plötzlich das Verlangen erstehen, der Sünde Herr zu werden; aber wie viel schwerer, wie viel mühsamer ist die Arbeit: Leidenschaften, die groß geworden sind, dämpfen, eine Zunge zähmen, der man stets freien Lauf gelassen, auf einmal Liebe üben, geben, teilen,wo man nur zu nehmen, an sich zu denken gewöhnt war.Mit der Gewöhnung erwacht auch das Gewissen und wird feiner, zarter und mächtiger.

Denken wir zum Beispiel an des Apostels Wort: „Geben ist seliger als nehmen.“ Das lebt von Natur im Kinde nicht. Wenn es einen bunten Gegenstand, ein süßes Bröcklein,irgend etwas Begehrenswertes sieht, so ruft es: „Haben, haben!“reißt es mit Gewalt an sich, und ein Zetergeschrei ist die Folge,wenn man dasselbe zum Abtreten des begehrten Gegenstandes bewegen will. Und doch wissen wir Erwachsene, wie süß das Geben ist, und welch eine Freude darin verborgen liegt, sollte es uns nicht daran gelegen sein, das Kind dahin zu führen, daß es nach und nach willig ist, auch das Begehrteste herzugeben?

Wenn zwei Geschwister nicht frühe lernen, miteinander zu spielen, einträchtig die Bausteine und andere Spielsachen zu teilen, wenn sie dafür mit scharfen Augen wachen, daß das andere nichts von seinem Eigentum berührt, nicht ein größeres Stück Kuchen bekommt, nicht einen schönern Ball, wie werden diese später können, „wie Brüder einträchtig beieinander wohnen?“ Da wird schon in der Kinderstube das Wort waäahr werden: „Denn wo Neid und Zank ist, da ist Unordnung und eitel böses Ding.“

Wenn dein Kind bei der kleinsten Widerwärtigkeit in zornige Thränen ausbricht, wenn kein Soldat umfallen, kein Turm einstürzen, kein Butterbrot etwas lange verzögern darf, ohne daß Geheul und Geschrei die Folge ist, wie soll ein Kind die großen Querstriche und Kreuzbalken ertragen lernen, die Gott in jedes Leben legt, auch in das des zärtlichst geliebten und gehegten Kindes? Langsam lehre dein Kind die Geduld, die uns not ist, damit sie daure im Kampf und erbe die Verheißung. Du weißt, was Jakobus sagt „von der Zunge,die ein kleines Feuer ist und doch einen Wald anzündet.“ Was geht schneller und lebhafter aus und ein, als das Zünglein des Kindes? Lieblich und kindlich sind oft die Worte, die ihm entströmen, dem Mutterohr süße Musik. Aber auch da schon kommen oft böse, lieblose, urteilende oder altkluge Worte,die wehe thun und nicht wohl. Lehre dein Kind, daß diese nicht über die Zunge dürfen, hilf ihm sie bewachen und zähmen, und du ersparst deinem Kinde für die Zukunft tausend und tausend Reuethränen, Stunden voll bitterer Klage.Wie viele Erwachsene leiden daran und jammern: „Wenn ich's nur früher gelernt hätte! Ich weiß nicht, mir fährt alles heraus, auch das, was ich selbst nicht sagen will!“

Und noch einen Spruch darf ich euch vorführen und ihn anschauen im Licht der Kinderstube, einen Spruch, den wir Christen immer wieder ins Herz fassen und uns vor die Augen stellen sollten, das Wort Johannis: „Habt nicht lieb die Welt, noch was in der Welt ist.“ Das ist gewiß in unserer Zeit not, den Kindern vorzuleben. Laßt uns nicht zu viel Gewicht legen auf das äußere Behagen, auf gutes Essen und Trinken, auf schöne Kleider und lustige Gesellschaften,auf Vergnügen und Tand. Wenn wir bei Tische nichts reden können, als ob der Braten saftig und die süße Speise gut geraten sei, wenn wir unsere Zeit mit Toilettenfragen füllen und unsere Kinder herausputzen nach dem Modejournal, wenn wir sie und uns spazieren führen, um gesehen zu werden,wenn wir lechzen und schmachten nach äußern Vergnügen und nicht Befriedigung finden im Hause, dann werden auch unsere Kinder diesen Dingen einen Wert beilegen, der ihnen 104 nicht gebührt, das Vergängliche bewundern und suchen,als wäre es ein köstliches Gut. Stehe du, liebe Mutter, selbst über dem Tand der Erde, suche deine Freude höher und dein Kind wird es an deiner Hand auch thun.

Lehre es Essen und Trinken, Schmuck und Kleid, Vergnügen und Gesellschaft ansehen als notwendige Dinge des Lebens, die man nett und zierlich, freundlich und gemütlich betreibt und abwickelt, aber als solche Dinge, über die man niemals das Hohe und Höchste vergißt.

Am Bilderbuch lehre dein Kind die Freude am Schönen und Sinnigen, am Geschichtenbuch wecke den Sinn für gute Lektüre, auf dem Spaziergang führe es zum Verständnis der Natur, zur Bewunderung der göttlichen Weisheit, und dein Kind wird nie mehr Genüge finden an der Leerheit und Hohlheit der Erdengenüsse.

Die Bibel ist ein großes und tiefes Erziehungsbuch, nimm einen Spruch und setze ihn in That und Wahrheit um an dir und an deinen Kindern, und du hast den Weg zur Heiligung und den Schlüssel zur Erziehung das erste für dich, und das andere für deine Kinder.

2*Der schünste Grubes schurk.„Es war ein großes Leichengeleit! Der Zug war so und so lang, der Sarg war bedeckt mit Kränzen, ja es folgte eine leere Kutsche voll Blumen und Palmzweigen nach!“ So hört man's oft rühmen auf der Straße. Das rührt mich immer herzlich wenig. Ob ein Kranz auf meiner Bahre liegt oder hundert Kränze, was nützt mir das? 105 Aber ich wünsche mir auch ein Leichengeleit, doch ein anderes: Ich wünsche mir, daß mir eine Thräne nachgeweint würde, eine reine, heiße Thräne, nicht nur von Eltern und Geschwistern, von Mann oder Kind, von Verwandten und Freunden, nein, eine Thräne die nicht den natürlichen Liebeshanden entsprungen, eine Thräne von jemand geweint, der mich, so zu sagen, eigentlich nichts anging, und der mich warm geliebt, weil ich ihm Liebes gethan. Ich habe mit tiefer Sehnsucht nach solcher Thräne letzthin an einem Grabhügel gestanden. Sie haben eine Frau begraben, eine liebereiche,edle Frau und wahrlich, um ihren Grabesschmuck war sie zu beneiden. Wie sah er aus?

Da kommt am Samstag eine Frau zu mir, eine Mutter don vier Kindern, schlecht und recht. Sie trägt eine Blechkiste am Arm, und darin steckt ihre Wochenarbeit, eigenes Gebäck,das sie an heißem Feuer bereitet. Kaum sieht sie mich, so stürzen ihr die hellen Thränen über die braune Wange. „Ach,sie ist tot; ich kann sie nicht mehr sehen! Sie wissen nicht,was sie mir war! Wohl fünfzehn Jahre komm' ich in ihr Haus, und immer hat sie ein freundlich Wort für mich gehabt!“ Und nun erzählt sie mir von ihrer letzten Begegnung mit ihr. „Denken Sie nur, ich durfte sie noch einmal sehen. Wie ich ins Haus komme, begegne ich dem Mann der teuren Frau;der sagt: „Frau R., heute mache ich Ihnen eine große Freude,Sie dürfen zu meiner Frau, sie will Sie sehen; aber nur fünf Minuten, länger nicht!“ Und ich habe sie dann gesehen und habe ihr die Hand geben dürfen, und sie hat mich angeblickt so lieb wie immer. Das war das letzte Mal! Als die Todesanzeige kam, man hat mir auch eine geschickt, da war ich fort zum Waschen, und als ich heimkam, sagten die Kinder: „Mutter, es ist ein Brief gekommen!“ Mein Mann wollte ihn aber nicht zeigen; er sagte: „Sie weint sonst nur den ganzen Abend!“ Ach, ich kann sie nicht vergessen!“ Ich wußte wohl, wieviel die teure Verstorbene jedem gewesen, der ihr nahe kam; ich ehrte den hervorquellenden Schmerz der armen Frau. Sie war mit demselben nicht allein,viele teilten ihn. Ich sah vor mir aufsteigen ein einsam Nähstübchen, wo die Thränen ebenso heiß flossen; ich wußte, daß ein blindes Kind ebenso tief trauerte, ich hörte das Schluchzen des vierzehnjährigen Pächterkindes, dem seine große „Freude“gestorben, ich kannte den Schmerz einer alleinstehenden Jungfrau, deren Sternlein erloschen war, o, ich sah sie alle,alle wie ein großer Kranz von schimmernden kostbaren Thränen,reiner, dankbarer Liebe entsprungen. Wie vielen war ihr reines wohlthuendes Lieben ein Segen! Sie stand in keiner Vereinsthätigkeit, wirkte nicht in Komitees und Versammlungen; aber jedem, der ihr nahe kam, that sie wohl mit Verständnis, Trost und linder Liebe. „Selig, wer so sterben kann,“ hinter sich lassend solch' liebendes Gedenken. Sie hat das höchste Gebot erfüllet.

Im alten Liede der Waschfrau heißt es: „Könnt' ich am Ende gleiche Lust an meinem Sterbehemde haben.“ Ich möchte sagen: „Könnt' ich dieselbe Liebesspur bei meinem Scheiden hinterlassen!“ Wahrlich, das war der schönste Totenschmuck!

Und wie kann ich ihn finden? Durch Liebhaben!Liebhaben den Armen und Aermsten! Liebhaben ist nicht schwer, es ist so einfach. Versuch es nur!

22.Anuf durtkela Pfuden.An einem tiefen, dunkeln Bergsee unsers Schweizerlandes liegt ein kleines trauliches Dörfchen. Eng angeschmiegt an die mächtige Felswand haben sich zehn bis zwölf Häuslein um die friedliche Kapelle geschart, als wagten sie's, im Schutze des Kreuzes, das vom kleinen, roten Turm winkt, der Gewalt der Elemente zu trotzen, die bald der See, bald die Bergwelt entfesselte. Welch ein traulicher Erdenwinkel! Da liegen die braunen Holzhäuschen mit blitzblanken Fenstern, vom steinbeschwerten Schindeldach bedeckt, geschmückt mit glühenden Geranien und beschattet vom Laubwerk des stattlichen Nußbaums.Jedes winkt und lockt: Tritt ein, tritt ein! An meinem Tisch ist's gemütlich, an meinem Ofensitz heimisch! Um die Häuser reihen sich die Gärten, sorgsam bepflanzt, es ist dem Felsboden mit saurem Fleiß das beste abgerungen, selbst der Rebe malerisches Grün zieht sich an der Wand ein Viertelstündchen hinauf, dann winkt der Schatten des Laubwaldes und darüber steigt majestätisch und gewaltig zu einer Höhe bon 1500 Meter der Fels empor. Aber einsam liegt das Dörflein. Nur ein steiniger, beschwerlicher Saumpfad führt hoch über die grünen Alpen und Wiesenplätze an den geschützten Hängen der Wände hinüber zur nächsten Ortschaft am See, sonst ist es nur auf dem Wasser erreichbar. Aber die Leute sind geborene Schiffer. Sie haben sich einen sturmsichern Hafen gebaut, drin ruhen so viele Boote („Weidlinge“ nennen sie's),als Häuser sind, und auf diesen Booten werden die bescheidenen Bedürfnisse herübergebracht. Auch die Post wird so vom jenVVVKleine zehnjährige Mädchen sogar stehen im Weidling und 108 führen kräftig das eine Ruder, während ein anderes mit dem seinigen steuert. Der Kampf mit der Erde tritt hier früh an den Menschen heran, stählt die Kraft und macht das Herz mutig. Karg und bescheiden ist der Erwerb im Dörflein.Zwei Kühe nur sind dort zu finden, dafür aber eine ordentliche Schar Ziegen. Die sind im Sommer droben auf den Alpen und laben sich an den duftigen Kräutern, die dem Bergboden entsprossen. Dort oben wird auch das Heu für den Winter geholt. Auf schwindelnden Höhen, an schmalen Vorsprüngen holt der Wildheuer das kräftige Gras und führt es auf gehörnten Schlitten hinunter in den kleinen Stall, ein entsetzliches, lebensgefährliches Werk! Aber er kann nicht anders. Die Natur zwingt ihn, das schwerste zu versuchen.

Hart am See halten zwei Häuschen gute Nachbarschaft.An dem einen ist das Holzwerk fast blauschwarz vor Alter,das andere ist neuer, stattlicher und vornehmer. In beiden fehlt der Hausvater und Ernährer. In jenem wohnt die alte Judith mit ihrem zwölfjährigen Töchterlein Ursula, die Nähterin des Dörfleins, die den ganzen Tag Stich an Stich reiht zum schönsten Manneshemd, auch oft die prächtigsten Stücke einsetzt in Aermel und Achseln, die längst rettungslos scheinen.In diesem haust die Krämerin Barbara mit dem einzigen Sohn Hubert. Der Mann war Schuster gewesen und hatte die schweren Bergschuhe gesohlt und mit großen Nägeln beschlagen.Sie aber konnte das Handwerk nicht weiter treiben und hatte einen kleinen Laden mit Mehl, Gries, Käse und Zucker angelegt, ein ganz unentbehrliches Ding, denn täglich fünf bis sechsmal tönte die schrille, kleine Glocke außen an der Ladenthür, und dann stieg ruhigen Schrittes die Besitzerin herunter und bediente bedächtig und freundlich die Kunden. Sie kannte ja alle im Dorf, wußte eines jeden Lebensgeschichte, hatte Freud'und Leid mit ihnen geteilt, so gab's manche Rede und Gegenrede.Der Hubert war ihre Freude und ihr Stolz. Für ihn hielt sie die Werkstätte des Vaters unberührt und hoch in Ehren. Er sollte das Handwerk lernen und wieder treiben,wenn er groß wäre. Er war aber auch ein strammer Junge,hochgewachsen, blondhaarig und blauäugig, wie's im Buche steht; aber freilich etwas eigen war er, nicht wie die andern Buben. Er war so still und immer nachdenklich. Selten lachte er, nie tollte er herum, beim Spiel schlich er davon und hockte in einer stillen Ecke, und wenn die Mutter ihn schalt: „Was bist auch immer allein?“ so sagte er: „Laß mich, Mutter,s ist schöner so!“ Dann ließ sie ihn gewähren und dachte:„Der Vater ist auch so gewesen, er hat's geerbt. Und wenn der Hubert so brav wird wie er, dann ist's lang gut, aber freilich, etwas weniger sinnen thät' auch gut.“

Eine innige Freundschaft verband von je an den Hubert mit der Ursula drüben im braunen Häuslein. Soweit sein Denken reichte, floß sein Leben zusammen mit dem des lustigen Urseli. Wenn seine Zunge nichts sagte, dann bewegte sich die ihre um so schneller, wenn er etwas Wichtiges aussinnen wollte, lachte sie all seine Gedanken weg; aber leben konnte er nicht ohne 's Urseli. Sie war so fröhlich und sang und sprang, und ihre Augen leuchteten wie Sonnenschein, und ihre Backen glühten wie eine Alpenrose. Jeden Abend holten sie sich ab zum Feierstündchen, dann durfte sie hinaus, sonst mußte sie schon fleißig der Mutter helfen und Nähte vornähen und heften. Aber am Abend war Freizeit, da durfte sie Kind sein,und sie hoffte und harrte den ganzen Tag, bis die ersehnte Zeit kam. Oft krabbelte es ihr in Händen und Füßen, wenn sie den Sonnenschein blinken sah auf den Wellen des Sees,und sie saß drinnen auf niederer Holzbank am Schiefertisch. Ach, warum mußte sie drin sein und helfen? Warum konnte sie nicht singen und springen den ganzen Tag? Aber die

Mutter saß eifrig und sorgenvoll an der Arbeit und hielt das Töchterlein stramm dazu an. „Das Leben ist nicht zum Tanzen und Singen. Kind, Kind, du wirst es früh genug erfahren.Sorge und Arbeit, Sorge und Arbeit, nichts weiter!“Dann flogs wie ein Schatten über Ursulas Gesicht, aber nur einen Augenblick, dann sah sie wieder eine Welle aufblitzen auf der Fläche des Sees, oder ein Sommervögelein vorbeischweben im Sommerwind, dann dachte sie: „Dort freuen sich die Fischlein, und die Vöglein tanzen und ich freue mich auch!“

„Urseli, kommst du?“ tönte am Abend der Ruf unterm offenen Schiebfenster. Es war Huberts Stimme. „Gelt Mutter,jetzt kann ich,.“ und ehe die bejahende Antwort kam, huschte das leichtfüßige Ding hinaus und faßte Huberts Hand, um eiligst um die Hausecke zu biegen, damit nicht etwa noch ein hemmendes Nein die Stunde der Freiheit verkürze. Erleichtert atmete Urseli auf: „Endlich! Das war einmal ein langer Tag! Je schöner der Himmel ist, je länger ist der Tag.Meinst du nicht auch, Hubert?“

„Meins nicht,“ sagte er gelassen, „mir sind die Sonnentage nie lang. Man hat ja immer was zu schauen auf dem See und an den Bergen.“

„Ja, du hast gut reden, du bist ein Bub' und mußt nicht immer die Nadel halten und sticheln, bis die Finger krumm sind. Du weißt nicht, wie gräßlich das ist!“ erwiderte Ursula.

„Nein, das weiß ich nicht, Urseli; aber du hast mirs so oft gesagt, daß ich's bald weiß. Komm aber, wir wollen laufen. Siehst, die Sonne steigt schon hoch hinauf am Mürtschenstock. Fast ist sie unten, eh' wir auf dem Waldplätzli sind.“

Die Kinder stiegen eilend den steilen Gang hinauf über Geröll und kurzes Gestrüpp, bis sie auf einer kleinen, runden Wiese anlangten, die umsäumt von hohen Buchen nach vorne den Blick frei ließ auf den schimmernden See und die schneeigen Berge, die vom jenseitigen Ufer herüberwinkten.

„Ah! da ist's schön,“ sagte Urseli, „da kann man sich freuen,gelt Hubert? Warum kann man sich nicht immer freuen?“

Hubert hatte sich bedächtig ins Gras gelegt und schaute träumerisch in die Herrlichkeit. „Doch, doch, Ursy, man kann sich immer freuen.“

„Nein, nein, das kann man nicht! Wenn du daheim wärst bei mir, wo die Mutter immer traurig ist und die Hemden alle langweilig, du wüßtest, daß man sich nicht freuen kann. Ja, da oben ists anders!“

Hubert dachte nach, dann sagte er: „Mein Vater sagte einmal, sich recht freuen, sei fromm sein. Wenn ich nur wüßte,was er meinte?“

„Ach,“ lachte Ursy, „dann wäre fromm sein leichter, als ich's mir gedacht, wenn der Herr Pfarrer in der Kinderlehre vom Frommsein spricht. Freuen ist leicht das kann ich sehr gut. Siehst du, jetzt kann ich's!“ Und Ursy drehte sich im Kreise herum und lachte und jauchzte, bis es müde ins Gras fiel. „Weißt Hubert, ich möchte mein ganzes Lebenlang mich freuen, immer, immer! Warum kann ich's nicht? Warum muß ich nähen? So kann ich auch nicht fromm sein!“

Da tönte leise feierlich ein heller Klang herauf. Die Betglocke sandte den ersten Ton über den See und hinauf zu den Bergen und den hohen Alpenhütten. Hubert rückte näher zum Ursy. „Du, vielleicht hätte der Vater dir's nicht so gesagt. Vielleicht ist für dich nicht „freuen“ fromm sein, weil du's schon kannst, vielleicht ist fromm sein für dich: „Daheim sitzen und nähen.“

„Hu,“ sagte Ursy, „dann will ich nichts davon wissen. Warum bist auch so ernsthaft heute, Hubert? Komm, wir wollen lustig sein und froh!“Bald hörte man jauchzenden Kindergesang herüberschallen durch die Bäume, und Ursys helle Stimme war doppelt hell bei dem Vers: „Mein Herz ist wie 'ne Lerche und stimmet ein mit Schall.“ Als tiefe Dämmerung den See herabschlich,da schlüpften zwei junge Gestalten um die Hausecke und verschwanden im Dunkel.

Manches Jahr war über die Berge gezogen, manche Welle hatte ans Ufer geschlagen und war versunken in der Tiefe.Ju den beiden Häusern am See wars anders gewesen und wieder gleich geworden. Hubert war ein paar Jahre fort gewesen, um seines Vaters Handwerk zu lernen. Bis in die Stadt Zürich war er gekommen und hatte dort Stiefel aus feinem Leder gemacht und Schühlein, winzig und zart; aber still und in sich versunken ist er geblieben. Inwendig lebte er daheim im Dörflein und sah seinen See und die Berge und 's Urseli. Nun ist er heimgekehrt, ein stattlicher Jüngling,hoch gewachsen und mit blondem Bart. Auf seines Vaters Arbeitsplatz sitzt er, und sein Hammer klopft Stunde um Stunde in heller, gleichmäßiger Musik hinüber zum braunen Nachbarhause. Dort lauscht das Ursyh dem Tone, als wäre es Harfenklang. Nie hat der Hubert ein Wörtlein gesagt vom Liebhaben oder von der Zukunft. 'S ist alles geblieben wie früher.Sie sehen sich täglich, seit er wieder da ist, sie gehören notwendigerweise zusammen, wer könnte sich das Leben anders denken! Ursula ist auch fortgewesen, hat das Nähen besser und gründlicher gelernt und ist nun der Mutter Stütze, deren Augen müde geworden und blöde. Noch ist ihr Herz immer dürstend nach Glück, nach Freude, und sie hätt's nimmer und nimmer ausgehalten ohne den Gedanken an Hubert, in dessen tiefem Auge sie eine Liebe und Treue gelesen, die ihr ein unzerstörbar Licht ins Herz gesenkt. Gern denkt Mutter Judith an die Zeit, da ihr leichtherziges Töchterlein hinüberzieht ins wohlhabende Krämerhaus und sie sich dann behaglichere Tage gönnen kann und auch Mutter Barbara ist's zufrieden,daß sie in abzusehender Frist die Besorgung des Ladens juugen Füßen und Händen übergeben kann. Sie sieht auch die frohe Ursula gern kommen. Ihrem Mutteraug' ist's nicht entgangen,daß in ihrer Nähe der stille Sohn sein Sinnen und Grübeln vergißt und fröhlich lachen und sprechen kann wie andere Burschen.

Wieder ist Sommerabend. Früher als gewöhnlich klopft es ans Fensterlein: „Kannst kommen, Ursy? Ich bins!“

Schnell fliegt die Arbeit weg. Der Ruf ist immer noch das erlösende Wort. Wieder steigen sie hinauf zum Wiesenplätzchen. 'S ist fast wie in früheren Jahren, nur ist der Schritt kräftiger, ruhiger geworden.

„Warum kommst heute früher als sonst, Hubert?“

„Weil's heute für ein paar Tage 's letzte Mal ist.“

„'S letzte Mal? Ich bitt' dich, warum?“

„Morgen muß ich ins Wildhen hinauf, da bleib' ich ein paar Tage oben auf dem Solmer-Aelpli!“

„Um Gotteswillen, Hubert, das thust du doch nicht? Denk'an den Vater. Wenn's dir gleich ginge! Ach, warum hast du's nicht früher gesagt, daß ich dir längst hätte abraten können, nun sitzt der Gedanke gewiß, wer weiß, wie fest.“

„Ich wollt dir's nicht früher sagen, Urseli, weil ich dir die Angst ersparen wollte. Siehst, 's geht nicht anders. Bis jetzt haben die Nachbarn unsern Gemeindeanteil vom Wildheu der Mutter heruntergebracht für den Winter. Nun ich aber heimgekommen bin, groß und stark, denken sie, ich könne selbst für die Mutter sorgen. Und sie haben recht, nicht?“

„Ja, wenn's nur nicht so gefährlich wäre! O Hubert, wenn dir etwas zustieße, ich weiß nicht, was dann aus mir würde!“

Schlatter, D. Zum Somnabend. 8 114 Schluchzend barg Ursula ihr Gesicht in den Händen. Hubert ließ sie gewähren, bis sie nach und nach leiser weinte und ruhiger wurde. Dann faßte er ihre Hand und sagte:„Schau, Ursy, wie schön ist's jetzt! Siehst, wie der Mürtschen glüht im letzten Strahl? Den seh' ich auch da droben und schau dann hinunter zu dir und denke an dich und jodle herunter.“

„Ich sehe gar nichts mehr Schönes, gar nichts mehr. Ich sehe nur schwarze Nacht. O Hubert, warum mußt du gehen?Erst hab' ich wieder gelernt, mich zu freuen, und nun hört's schon wieder auf. Andere dürfen sich doch auch freuen, andern geht's immer gut, warum darf ich mich nicht freuen, nie, nie?“

„Doch, du darfst dich auch freuen, Ursy, jetzt und dann, wenn ich wiederkomme!“

„Aber wenn nicht?“ fragte Ursy mit verzehrendem Blick.

„Das Wenn wollen wir nicht ausdenken, und doch, wenn ich nicht wiederkommen sollte, wie mein Vater einst,bann, Ursy, vergiß nicht, daß das Gott gethan. Die Berge vor uns ließ Er erstehen in ihrer Macht, den Wellen gebietet Er, daß sie brausen oder still liegen nach seinem Befehl, und wenn Er ein Menschenkind zurückruft in seine Welt, was geht es uns an? Wir müssen uns beugen. Vergiß es nicht, Ursy!“

„Beugen? Das werd' ich nie, nie können. Hubert, du kennst mich nicht! Ich werde es nie, nie können!“

Sanft strich ihr Hubert über den Scheitel. „Komm, wir wollen uns den letzten Abend nicht verdunkeln. Warum das Schlimmste fürchten? Du freust dich ja so gern, warum nun heute es nicht thun? Sei wieder fröhlich, Urseli, kleine alte Lerche, sing' einmal wieder recht hell und laut.“

Ursy versuchte es, den Bann abzuschütteln; aber so recht gelingen wollte es doch nicht. Dennoch kam die Nacht schneller als sie's gewünscht. Es war beiden, als könnten sie sich nicht trennen, als hätten sie sich noch nie genug lieb gehabt. 115 Am frühen Morgen stieg Hubert den Bergen zu, den Hornschlitten auf dem Rücken, Proviantsäcklein und Sense dran gebunden, den Rechen als Bergstock benutzend, und das Herz voll Zuversicht. Ursy schaute ihm nach, bis er ihren Augen entschwand.

Zwei Tage waren vergangen. Manch liebes Mal huschte sie von der Arbeit weg hinter's Haus und spähte hinauf an den Wänden von Grasband zu Grasband. Es war unmöglich, ihn zu sehen; aber schon ihre Blicke schienen ihr ein Schutz zu sein für den, der da droben hing und in gebeugter Stellung, vielleicht am Seil festgebunden, über turmhohen Abstürzen das kurze Gras mähte. Ursy durfte sich's nicht ausmalen. Hundertmal fuhr sie zusammen in erdichtetem Schrecken.Wohl schlich sie hinauf zur Kapelle und kniete dort nieder in brünstigem Gebet, aber es brachte ihr keine Ruhe. „Beugen“,hatte Hubert gesagt. „Beugen“ was sollte sie damit? Nein,haben will sie, den Hubert haben, jetzt und ganz, und glücklich sein und sich freuen. Gott muß es ihr geben. Sie läßt ihn nicht los.

Da am dritten Tage gegen Mittag hört sie schnelle Schritte den Bergweg herunterkommen. Zwei Buben rennen herab mit erhitzten Köpfen. Was haben sie? Sie schiebt das Fenster auf.„Was ist? Was gibt's? Sie rennen vorbei, direkt auf Frau Barbara los, die aus dem Laden kommt. „Der Hubert ist gefallen! Sie haben ihn stürzen sehen vom Solmer-Aelpli aus.Sie bringen ihn bald!“ Ursy hat genug gehört. Ihr stockt der Atem. Verstehen kann sie es nicht und will sie es nicht.So ist es gekommen, wie sie's gedacht! Ihr schöner, ihr braver Hubert ist gestürzt! Ob er noch lebt? Sie eilt hinüber. Die arme Mutter sitzt starr und thränenlos da. Herzerschütternd könt ihre Klage: „So brachten sie vor fünfzehn Jahren den Mann, so bringen sie nun den Sohn, den einzigen! Ach, daß ich das noch erleben muß! Warum konnt' ich nicht vorher sterben?“

8* 116 Langsamen Schrittes kommt ein kleiner Zug von Männern daher, alles Aelpler und Wildheuer. Sie fahren langsam auf dem Hornschlitten den Hubert zu Thal. Still und ernst tragen sie ihn hinein auf der Mutter Bett. Manch einem rollt eine Thräne über die wetterbraune Wange. „'sS ist schad' um ihn!Er war so brav und gut!“ Die Mutter wirft sich über ihn in lauter Klage. Ursy hat mit einem Blick alles gesehen.Huberts tiefes warmes Auge hat nicht mehr sie angeblickt,wird nie mehr sie anblicken und in ihrem Herzen Licht anzünden. Sie schleicht in ihr Kämmerlein. Dort, wo niemand sie sah, hat sie den bittersten Schmerz allein verwunden, dort hat sie in ihrem Herzen ein großes Grab gegraben für alle Liebe und alle Frende, und auf dem großen Stein, der das Grab deckt, steht das Gefühl: „All' Lieb' und Glück ist aus! Gott hat mir alles genommen, mir ist alles gleich. Lauf'hin, Leben, wie du willst. Zieh' hin, Tag, und bring', was du willst mir bleibt nichts mehr zum Freuen übrig, nichts mehr zum Lieben, nichts als das Warten, bis ich zu Hubert komme.“

Als Ursy wieder zu den Leuten kam, war sie still und gefaßt; kein Zucken verriet den heißen Kampf in ihrem Innern,als ihre Hand ein duftend Sträußchen von Alpenveilchen in des Toten Hand legte. Es waren seine Lieblingsblumen von Kindheit an. Stumm stand sie neben der laut jammernden Mutter, kein Trosteswort hatte sie für sie, ihr Herz hatte ja selbst keinen Trost, nur eiskalte Ruhe und innerlich nagendes Weh. Sie ließ sich vom Mathes erzählen, wie es gekommen.Hubert hatte glücklich sein schweres Werk fast zu Ende gebracht und war jeden Abend vergnügt auf der Solmer Alphütte angelangt. Oft hatten sie ihn sogar jodeln hören und sich gewundert, daß der schweigsame Bursche es überhaupt könne. Am dritten Tage hatte er noch ein besonders steiles Grasband zu 117 mähen. Sorgsam hatte er den Pflock in die Erde geschlagen,das eine Ende des Seils daran gebunden und das andere um seinen Leib geschlungen. Schon hatte er das Plätzlein Gras gemäht und schaute dem Rückzug entgegen, da plötzlich ein Ruck ein Schrei ein Sturz! Der Pfosten hatte sich gelöst, unerklärlicherweise, und das Furchtbare war geschehen.Als die Alpleute herbeieilten, hatte er ausgehaucht.

Zwei Tage nachher rüstete sich die kleine Flotille des Seedörfchens zum feierlichen Leichengeleit. Die Pfarrkirche und der Gottesacker liegen am jenseitigen Ufer. Das goldene Morgenlicht lag glitzernd auf der weißen lichten Seefläche, als Boot an Boot die stille Flut durchschnitt. Voran das Schiff mit dem schwarz verhangenen Sarg, dem Chorbüblein, der das umflorte Grabkreuz hielt, daneben die weinende Mutter und das still bleiche Ursy, dann alle die mittrauernden Dörfler und Alpleute. Still rauscht der See, still ragen die Berge. Warum rufen sie nicht deutlicher in Ursys Herz:Hebe deine Augen auf!? O, sie rufen es vernehmlich genug;aber Ursy kann und will nicht hören. Ihr Herz wiederholt nur immer das eine Wörtlein: Warum? Warum? Warum mußte mir das geschehen? Warum dürfen andere glücklich sein und ich nicht? Warun mir das Weh?

Wochen strichen hin über den Trauertag, Wochen, die aussahen wie Ewigkeiten. Ursula nähte Tag um Tag, mechanisch wie immer. Die Mutter hatte es nicht leicht neben der stillen, oft bittern Trauer des Mädchens. Dumpfer Schmerz macht selbstsüchtig und lieblos, und kaum merkte Ursula, daß die Mutter älter und gebrechlicher wurde. Mancher Bursche hätte gern ans Fenster geklopft und einen Gruß erhascht, aber Ursulas tiefes Gemüt konnte nur einmal die Herzensblüte dem Licht öffnen, nur einmal lieben. Der Winter kam und mit 118 ihm ungewöhnliche Kälte und massenhafter Schnee. Die Berge lagen im Sterbekleid, der See kalt und bleiern. Im braunen Häuslein war's auch Winter. Die Mutter lag im Bett und fror neben dem heißen Ofen. Ursula meinte erst, das seien nur Rheumatismen, die würden schon wieder besser, wenn die Wärme komme; aber die Mutter jammerte täglich mehr und stöhnte und seufzte oft zum Erbarmen.

Einmal in einer Nacht, als der Januarsturm an den Fenstern rüttelte, rief die Mutter leise: „Ursula, bist du wach?“

Ursula fuhr auf. „Was willst du, Mutter?“

„O, ich möchte wohl etwas, aber etwas sehr, sehr Großes.Ich weiß nicht, ob du mir's zuliebe thun willst?“

Ursula fühlte den Vorwurf, der in den Worten lag. Ja,sie hatte in letzter Zeit wenig mehr zuliebe gethan. „Was soll ich thun? Kann ich's, Mutter? Sag's nur!“

„O, ich möchte so gern noch den Herrn Pfarrer sehen,ehe ich sterbe. Wolltest du ihn holen, Ursula? Ja, ich weiß,der Weg ist weit, aber thu's nur dies eine Mal für mich.Ich mach' dir bald keine Mühe mehr!“

Ursula ward weich. Alle Kindesliebe, die im eigenen Leid erstickt war, wachte flammend wieder auf, und ihre mutige Natur überwand alle Furcht. „Ja, ich will gern gehen, Mutter!Gleich will ich Mutter Barbara rufen, daß sie bei dir bleibt,bis ich komme.“

„Tausend Dank, Ursy, tausend Dank! Gott vergelt's dir!“

Ursula läutete am Nachbarhaus und weckte die stets dienstbereite Nachbarin. Dann band sie den Weidling von der Kette los und steuerte behutsam aus dem Hafen hinaus in den offenen See. Der Wind kam thalab, da hatte sie Gegenwind und hatte alle Kraft zu brauchen, um das schwere Schiff allein durch die hohen Wellen zu bringen. Auf und ab ging's in regelmäßigem Schlag. Aus der Mutter Stube leuchtete ein 119 schwaches Lichtlein zu ihr herüber, bald verschwand auch das und alles war dunkel. Über den Himmel zog dichtes Gewölk und hing tief über die Häupter der Berge. Welch eine Einsamkeit! Aber Furcht kannte Ursula nicht. Wohl aber kam die Erinnerung über sie, die Erinnerung an jene Morgenfahrt, da sie den Liebsten über den See gebracht, und dann weiter zurück, an all die Stunden mit ihm, an so manches Wort, das er ihr gesagt. Warum stand das alles heute auf? Warum hatte sie's vergessen so lange Zeit? Was hatte er gesagt: „Vergiß es nicht, Ursy, daß Gott mich wegnimmt und beuge dich!“ Hatte sie sich gebeugt? Bewahre,nein! Sie hatte still im Herzen gemurrt und geklagt. Sie hatte Gott gezürnt und sich von ihm gewandt, als von etwas,das man nur fürchten muß und nicht lieben kann. Aber Hubert hatte gewollt, daß sie sich beuge. Wozu denn? Wo war Hubert? Hubert war eben dort, wo der war, dem sie zürnte.Und sie, sie war ferne von ihm, ferne von Gott, ferne von Hubert! Die Welle stieg auf und ab, und in Ursulas Herzen ging's auf und ab. Hundertmal hatte sie gebetet im Vaterunser: Dein Wille geschehe! aber nur mit dem Mund,nicht mit dem Herzen! Da fiel es wie ein Schleier von ihren Augen weg, sie fand den Weg zum Vater über den Wolken:„Gott, du willst, daß ich mich beuge, lehre es mich! Du hast mir den Hubert genommen, du nimmst mir das letzte,die Mutter! Lehre mich sagen: Dein Wille geschehe! Er geschah damals. Er geschehe heute! Lehre mich dahin kommen,wo Du bist, wo Hubert ist!“

Ein neues, längst entbehrtes Gefühl von Frieden zog durch ihr Herz. War das Beugen? Und war beugen so selig? Sie fühlte sich auf dem wogenden See so sicher, so froh wie noch nie. Gott ist nahe, ja, der Gott, der die Berge gegründet und die Wasser bereitet, wie Hubert sie gelehrt.

Sie hatte ihn nicht gekannt und nie gesucht und auch Hubert nie verstanden, wenn er so inbrünstig seine Hände gefaltet.Aber jetzt hatte sie seine Nähe verspürt; auf den Wassern war der HErr ihr begegnet.

Das Boot fuhr knarrend auf den Sand. Ursula band es an. Mit geflügelten Schritten eilte sie zum Pfarrhause.

Der späte Wintermorgen dämmerte überm See, als Ursula mit weitausholendem Stoß den Pfarrherrn hinüber ruderte dem Häuschen entgegen, wo die Kranke sehnsüchtig ihrer harrte.Als Ursula ins Stüblein trat und sagte: „Mutter, da bring ich dir den Herrn Pfarrer“ da flog ein so helles, dankbares Lächeln über das alte, abgezehrte Gesicht, daß Ursula sich über die Maßen verwunderte, daß solch kleiner Liebesdienst so glücklich machen könne. Es war ihr nun ernst, noch so viel Liebe als möglich über das Krankenbett zu breiten, und der Mutter letzte Worte waren Segensworte für sie. Noch nie hatte sich Ursula Gott so nahe gefühlt, noch nie sich gefreut im Bewußtsein: „Nun ist Hubert zufrieden mit mir!“

Die Berge haben ihr Winterkleid mit dem Frühlingsgewand getauscht, die Alpenrosen sind verblüht, und der Herbstwind hat die Enzianen geknickt, viele, viele Male!l Im braunen Häuschen lebt Ursula allein. Schon ist ihr Rücken leicht gebeugt, schon bleicht ihr Scheitel, aber es ist, als ob das Gesicht jünger geworden. Ein Zug von friedlichem Frohsinnn liegt immer darüber. Noch näht sie fleißig Tag für Tag; aber nicht mehr seufzend im harten Frohndienst, nein,froh und emsig. Sie hat sich eine Maschine gekauft in der Stadt, sie muß ja fleißig verdienen für sich und andere. Weshalb für andere? O, Ursula ist eine Gemeinde-Ursula geworden.

In jedem Häuslein hat sie Patenkinder! Wo ein Kleines im Weltlicht erscheint, ist Ursula dabei, wo eines krank liegt, wird Ursula geholt, wo die Mutter fehlt, steht Ursula ein. „Ursula kann's, Ursula thut's“ heißt's am ganzen Ufer. Und Ursula freut sich der Arbeit. Sie hat den Segen gefunden, der im Lieben verborgen liegt. Sie hat sich beugen gelernt unter Gottes Hand, die ihr das Erdenglück anders beschieden und geordnet, als sie's gedacht, und im Beugen sind ihr Blumen entsprossen, die sie nie geahnt, hat sie ein Glück gefunden, das nicht von der Erde ist. Sie hat Mutter Barbara zur Ruhe gebettet drüben neben Hubert.Ursula ist nun ganz allein; sie wartet noch immer, bis sie zum Hubert kann; aber sie wartet fröhlich und gelassen, bis es Zeit ist. Dann will sie froh heimfahren zu dem, der ihr auf dunkeln Pfaden das ewige Licht gezeigt hat.

23 Meihnachten an der Einie.Der 24. Dezember stieg herauf mit Sonnenschein und Himmelblau. Fast wie ein Frühlingstag war er gestaltet, so warm lag das Licht auf dem tiefblauen Bergsee, der leise ans Ufer spülte. Freilich schauten auch jetzt die Bergwände herunter in blendendem Weiß. Tief und dicht hüllte der Schneemantel die Erde ein. Kaum guckten die braunen Häuschen aus der Decke hervor; die Tannenäste hingen schwer und müde herunter, die Hecken und Pfähle lagen tief vergraben; weiß die Hänge, weiß der Thalgrund, weiß die Bergköpfe, blau der Himmel und blau der See. Nur eine Linie unterbrach die Farbenreihe, ein e schwarze, schmale Linie, die schwarze Schienenlinie, die sich dem Seeufer nachschlängelt, sich in den Felsen hineingezwängt und in tiefen Tunnels durch den Felsen durchgebohrt hat. Auf dieser schwarzen Linie saust der Bahnzug durch die Stille, unter den mächtigen Bergen durch, überspringt den tosenden Wassersturz und berührt fast die schäumenden Wellen.

Dort an der schwarzen Linie steht einsam ein kleines braunes Bahnwärterhäuschen. Im Sommer ist's freilich ein lieblich Fleckchen Erde, wenn die Rebe grünend ums Fenster rankt und die prächtigen Pfirsichbäume ihren feinen Blätterschmuck über das Dach breiten; aber im Winter, da liegt es allein, zwanzig Minuten von M. und ebensoviel von der Station H. entfernt. Eben kommt der Bahnwärter Hartmann von seinem Amtsgang zurück. Er klopft die großen Schneeklumpen von den Füßen, schaut die Bergwand entlang zum Himmel und ruft: „Mutter, komm mal heraus und schau den Himmel an! 's ist Föhn in der Luft, wenn's nur kein Unglück gibt!“ Die Frau kommt aus der Küche, in der sie am Feuer gewaltet. „Ja, ich hab's schon gemerkt, daß es heut' außergewöhnlich warm ist. Es drückt mir auch allen Rauch ins Kamin zurück; aber ein Unglück braucht's deshalb doch nicht zu geben, fürchte nichts! Heut' ist ja Christabend,da darf sich jeder freuen.“ Damit strich sie dem Manne die Falten von der Stirn und lockte ihn freundlich zum warmen Herd. Er folgte so gern. Ihm war sein kleines Heim ein kostbarer Besitz. Dort hatte er seine frische, fröhliche Frau,die immer zu trösten wußte und nie murrte oder klagte, dort seine drei Töchterlein, rotbackig und blondhaarig, die alle ihn anlachten. Eben kamen sie dahergesprungen, Frida, Lydia und Martha und meldeten: „Mutter, der Tisch ist gedeckt und alles bereit!“ Aber mitten im fröhlichen Geplauder am Frühstückstisch konnte der Vater die Sorge nicht verscheuchen; immer hörte sein Ohr ein pfeifendes Sausen, immer irrte sein Auge zum Himmel hinauf.

Bald rief ihn sein Amt wieder hinaus auf die Linie.Der Blitzzug brauste eben aus dem Tunnel heraus, der einige hundert Schritte entfernt sich öffnete, dann im Nu am Häuslein vorüber, und fort war er. Im Häuslein aber regte sich's lebhaft. Die drei Mädchen hatten eifrig zu wischen und abzustauben, Tassen zu trocknen und in den kleinen Schrank zu tragen. Dabei ging das Zünglein wie ein Rad rundum. Das schwirrte und fragte und lachte beständig. „Mutter, wann zünden wir an heut' Abend?“ „Mutter, wo hast du die Tanne versteckt?“ „Mutter, was bringt mir's Christkindlein?“ So ging's hin und her, und die Mutter hatte viel zu wiederholen,was sie schon hundertmal gesagt: „Am Abend, wenn der Schnellzug von X. vorbei ist, dann zünden wir an, dann hat der Vater Ruhe und kann bei uns sitzen und den neuen Tabak probieren,den ihm's Christkind beschert.“ Frida und Lydia hatten auch ein Geheimnis auf dem Herzen. Jede hatte dem Vater einen Socken gestrickt, ach, war das eine Arbeit für siebenfährige Finger mit so groben Nadeln! Aber jetzt lag das Paar warm und wohlig im Schrank. Wie wird der Vater sich freuen! Und der Mutter hatten sie ein Bildchen gekauft,das sollte Mutters Gesangbuch schmücken, wenn sie zur Kirche ging! Das große Geheimnis war kaum mehr zu bewaähren,und der Abend noch so fern! Manchmal sind die Tage wirklich extra lang!

Jedes der Kinder hatte der Mutter einen Herzenswunsch ins Ohr gesagt. Martha hatte dringend eine Puppe gewünscht;die alte hing den Kopf wie ein geknicktes Rohr. Sie war von der Mutter selbst gemacht; auch der Kopf. Er war von weißem Zeug gebildet, das Gesicht schön angemalt und mit Kleie gefüllt. Nun war aus dem Hals die Kleie verloren gegangen und das arme Gebilde sah allzu betrübt aus. Selbst die zärtlichste Mama konnte das Kind nicht mehr schön finden.

Unter dem Christbaum sollte ein neuer Pflegling liegen. Die gute Mutter hatte gespart und gesorgt. Sie wollte ihren Kleinen so gern eine Freude machen, eine recht tiefe, volle.Sie wußte von ihrer eigenen Kindheit her, welch hellen Glanz ein selig Weihnachtsfest ergießen kann über den ganzen Winter.Frida und Lydia sind schon vernünftiger. Ihre höchste Sehnsucht ist eine neue Schürze, ein Schreibheft und ein Bleistift.All das liegt bereit.

Der Tag zieht vorüber in froher Erwartung, in festlicher Vorfreude. Der Himmel hat sich mit weißen Schäfchen bedeckt,die am Abend rosig erglühen. Den See hat kein Windhauch gekräuselt. Die frühe Nacht kommt mit ihrem Dunkel und ihrer Stille, die weihevolle Christnacht.

„Mutter, ist's bald Zeit? Mutter, wann kommt's?“ so klagt Martha in fast weinerlichem Ton.

„Bald, Kind, sehr bald, jetzt ist's sieben Uhr, noch ein halbes Stündchen, und der Schnellzug geht vorüber. Steig'du mit den Schwesterlein in die Kammer hinauf und wart'droben, dann huscht das Christkind in die Stube und macht alles bereit, bis der Vater kommt.“

Die drei ließen sich das nicht zweimal sagen. Heute war's auch nicht kalt in der Kammer wie sonst. Die Mädchen faßten sich an der Hand und standen am Fenster. Sie sahen, wie der Vater mit der hellen Laterne der Linie entlang ging, und im Dunkel des Tunnels verschwand. Sie warteten, bis er herauskam und nun näher und näher schritt. Schon war er an der Hausthür, jetzt in der Küche. Juchhe, nun geht's los! Die Kinder tanzten und zappelten. Da plötzlich tönt ein Brausen durch die Luft, ein Krachen und Tosen, das Häuschen zittert und bebt. Die Kinder schrieen laut auf, dann rannten sie die Treppe hinunter. Totenbleich standen Vater und Mutter unter der Thür. Ein mächtiger Schneeberg türmte sich kaum hundert Schritte vor dem Häuschen auf. Wie auf einer Rutschbahn war eine Schneemasse den Berghang heruntergekommen,Felsblöcke, Geröll und mächtige Tannen mit sich reißend. Die eine Tanne lag quer über die Schiene, die andere streckte ihr gewaltiges Wurzelwerk darüber hin, dazwischen, in Klumpen geballt, Schnee und Steinmassen. Die Mutter bebte.

„Ein paar Minuten später, und du wärest getroffen worden!“sagte sie und suchte ihres Mannes Hand. „Gott sei Dank!“

Der Mann aber fand die Besinnung wieder und den klaren Überblick. „Um Gotteswillen, Frau, in fünf Minuten kommt der Schnellzug von H. her! Wenn's nur nicht zu spät ist!Wenn er aus dem Tunnel fährt, ehe er mein Signal gesehen ist er verloren! Dort gähnt der See! Schnell die Laterne und dann hinaus! Es gilt Menschenleben!“,

Er faßte seine Leuchte und stürzte fort. Atemlos sah ihm die Frau nach. Heute in der Christnacht ein Unglück es sollte, es durfte nicht sein! Sie zog ihre Kinder an sich,die ängstlich hinausblickten und den Christbaum vergessen hatten.Sie schauten, wie der Vater bis tief über die Kniee im Schnee versank, wie er mühsam über den Stamm der Tanne kletterte und dann in der Tiefe verschwand. Dem Mann dort draußen aber pocht das Herz. Er strebt voran, so schnell er kann, er fühlt das Zittern des Bodens vom heranbrausenden Zug, jetzt weiß er, er hat den Tunnel erreicht, er rennt,was er kann, hier eine Alarmpatrone auf die Schiene legend, und dort wieder eine. Sie wird platzen, im letzten todbringenden Augenblick. Er schwenkt die Laterne. Sieht man ihn? Nein, der Tunnel verdeckt ihn noch! Er erreicht den Tunnel, gottlob, da blitzen die feurigen Augen der Lokomotive ihm entgegen, da schnaubt es neben seinen Ohren ein Knall ein Sumsen und Bremsen der Maschinist hat ihn gesehen und verstanden. Die Maschine steht, hart unter'm Tunnelloch. Eine Minute später, und es wäre zu spät gewesen! „Was ist? Was gibt's?“ tönt's von der Maschine her. Der Zugführer kommt dahergesprungen. Die Wagenfenster fliegen auf. „Was ist? Was gibt's? Warum bleiben wir stecken?“ So tönt's von allen Seiten. Hartmann berichtet dem führenden Personal den Vorfall. Sie steigen ab.Da überblicken sie die Gefahr, der sie entgegenfuhren und der sie entronnen.

Was nun thun? Eine kurze Beratung führt zum Beschluß: hinüber zum Bahnwärterhäuschen, dort signalisiert man nach der Station M. Es ist am besten, man wartet den Güterzug ab, der um neun Uhr von M. herüberfährt und wechselt die Passagiere. Die Belastung der Linie ist zu groß, als daß sie in kurzer Zeit freigemacht werden könnte.

„Und die Passagiere in den Wagen?“ Die können dort bleiben und schlafen, oder aussteigen und herumgehen!“war die Antwort des Zugführers. Die einen schalten, die andern dankten im stillen für die Bewahrung. Es war ja freilich allen ein Strich in der Rechnung, auf viele wartete der warme, heimische Herd, vielleicht der brennende Weihnachtsbaum. Aber hier galt es, sich still zu schicken in das, was ein höherer Wille verfügt hatte. „Dort drüben ist mein Haus, Sie finden dort eine warme Stube,“ sagte Hartmann zu den ausgestiegenen Reisenden. Dann schritt er zurück zum Häuschen. Wie leicht ging's jetzt über die Tanne und durch den Schneel! Das Zittern seines Herzens hatte aufgehört. Es war ihm eigentlich fröhlich im innersten Kämmerlein. Kein Menschenleben war verloren!

„Mutter, zünde den Baum für die Kinder an! Ich muß leider hinunter nach M. und den Stationsvorstand benachrichtigen. Es müssen Leute her zur Arbeit.“ Als er das betrübte Gesicht der Frau sah, sagte er tröstend: „Dienst ist Dienst, 127 liebe Frau. Freu' dich, daß uns Gott behütet hat und so viele mit uns.“ Dann küßte er sie und eilte der Linie entlang nach M. Die Mutter seufzte. Ihr war's gar nicht christabendlich ums Herz, und nun sollte sie anzünden. Aber da saßen ihre drei Kleinen so still und betrübt, Martha weinte sogar leise. Da raffte sie sich auf. „Und es ist dennoch Weihnachten, und ich sollte danken, statt murren! Kommt Kinder, wir zünden die Lichter an.“ Bald flammten sie auf.Wie Sternlein flimmerten sie durchs Dunkel. Nach und nach leuchteten auch die Augen der Kinder auf. Die Freude zieht so gern wieder ein ins Menschenherz und vertreibt Kummer und Thränen. „Mutterchen, eine Puppe! Schöne, süße, liebe Puppe!“ jubelt es durch den Raum, und Martha herzt und küßt ihr neues Kleinod. Lydia und Frida strecken der Mutter ihr Bildchen entgegen. Sie fühlen's, daß sie sie trösten müssen darüber, daß die Socken so allein liegen und niemand den guten Tabak rühmt. Die Mutter lächelt und küßt sie. „Nun aber singen wir, ehe die Lichtlein klein werden. Zuerst gehört dem Christkind unser Dank!“ Frida und Lydia singen fröhlich und hell hinaus:„Sei uns mit Jubelschalle,Christkindchen, heut' gegrüßt!Wie freuen wir uns alle,Daß dein Geburtstag ist!Für uns zur Welt geboren,Lagst du auf Heu und Stroh,Sonst wären wir verloren,Nun aber sind wir frohl“

Die Mutter hatte Marthchen an der Hand gesaßt und singt leise mit. Eine Thräne glänzt in ihrem Auge. Draußen liegt es ja so deullich heute abend, daß wir „verloren“ wären ohne Gottes treue Sorge und sein Erbarmen! Da quoll der Dank um so tiefer herauf aus ihrem Herzen. Und nicht nur aus irdischer Not errettet Er uns, nein, Er schenkt uns ewiges Leben! Sollte das nicht froh machen, von Herzen froh?

Leise hatte sich während des Singens die Thür geöffnet Kopf an Kopf drängte herein durch die Spalte. Der Lichtglanz war hinausgedrungen zu den wartenden Reisenden und hatte sie herbeigelockt. Wer mochte nicht gern einen Lichterbaum sehen? Da standen sie nun bald alle in der kleinen Stube;der rußige Heizer, der Maschinenführer mit dem Adlerauge,der reisende Kaufmann, der flotte Student, welcher in die Ferien zog, der Arzt auf Berufswegen, der Offizier, der Urlaub hatte,der Bauersmann, der vom Markte kam eine große, zusammengewürfelte Gesellschaft. Sie kannten sich nicht, hatten sich nie gesehen, aber in ihrer Mitte brannte das Weihnachtslicht, für alle entzündet, allen Friede bringend. „Wir wollen eins singen, das alle können,“ tönte es da aus dem Haufen, und gleich darauf stimmte ein kraftvoller Tenor an:„O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit.“ Wer wollte das nicht können! Das sang, das klang, als wollte es die engen Wände zersprengen! Und es drang hindurch, es zog hinaus über die Stille des Sees, hinauf zu den Höhen, da sein Auge wacht, und sein Ohr offen steht für das Bitten und Danken des Menschenherzens. Manch Herz zitterte noch im Singen, wenn es der Gefahr gedachte, der es entronnen. Erst als sie hinüberstiegen über die Trümmerhaufen auf der Linie, als sie hinunterblickten in die tiefe, dunkle Seeflut, erst da hatten die Reisenden begriffen, was ihnen gedroht, und wem sie entronnen. Da hatte das Murren aufgehört und sich gewandelt in Dank. Drum klang's so hell und froh durch die stille Nacht.

Als Hartmann mit einer großen Mannschaft mit Schaufel und Pike zurückkehrte, da fand er in seiner Stube eine große,einträchtige Familie. Der Studio ließ die Puppe auf seinen Knieen tanzen, und die kleine Martha jauchzte dazu. Eine freundliche Dame saß bei Lydia und Frida und bewunderte ihre Schürzen und Mutters Bildchen; die Männer plauderten,und am Baum brannte das letzte Licht.

Bald kam der Güterzug, welcher diesmal zum Personenzug werden sollte, und nahm die harrenden Reisenden nach der Station M. und von dort ihrem Ziele zu. „Danke, Hartmann! Danke vielmals!“ tönte es aus vieler Munde. Es ging an ein Händeschütteln und Drücken, an ein Abschiednehmen und gute Reise wünschen. Es war, als trennte sich eine große,eng verbundene Familie. Lange noch hallten die Grüße und Rufe aus dem forteilenden Zuge. Hartmanns Auge strahlte,als er einen Augenblick der Ruhe suchte in der Küche bei seiner Frau. In seiner Hand schimmerte ein blankes Goldstück;jemand hatte es hineingedrückt; er wußte nicht wer. Aber nicht das machte ihn fröhlich, sondern das Bewußtsein, daß er durch Gottes Gnade hatte andern einen Dienst thun können,und viele Herzen bewahrt waren vor Trauer und Thränen!Und das am Christabend!

24.EUnser Christa bend in Dauose.

Wenn Weihnachten rückt mit seinen stillen Geheimnissen,seinem verborgenen Liebeswalten, wenn die langen Abende mit ihrem gemütlichen Lampenschein die Glieder des Hauses vereinen,wenn der Schneesturm draußen sein wehmütiges Lied singt und die Flocken leise ihr Leichentuch weben über der müden Erde, dann ist die Zeit, da die Erinnerung wach wird, die Erinnerung vor allem an die frohe, selige Kinderzeit, an all die

Schlatter, D. Zum Sonnabend. 9 Weihnachtsfeste, die das Herz schon gefeiert, an all die frohe Winterzeit, die vorübergezogen. Unter all den Bildern,die sachte, sachte aufsteigen aus der Vergangenheit und in blassern oder hellern Farben mir vor die Seele treten, drängt sich eines besonders klar hervor und weckt warme und lebendige Gefühle wie kaum ein anderes. Was sehe ich? Ich sehe ein weißes Bergthal liegen, umsäumt von schön geformten Bergen, die weiß und leuchtend im Glanze des ewigen Schnees sich in das Blau des Himmels tauchen. Blendender Glanz breitet sich über die schimmernden Schneefelder, über den stillen Bergsee, über das Kirchlein inmitten einer Häusergruppe. Das ist Davos, die Zufluchtstätte vieler Leidender, der Hoffnungsanker armer Kranker, die dort ihr Lebensfädelein verstärken,verlängern möchten. Es ist lange her, daß ich dort in Davos Weihnachten feierte. Noch war es erst ein aufgehender Stern,noch war von den mächtigen Hotels, die jetzt Davos-Platz bezeichnen, wenig zu sehen, das Kurhaus freilich stand und war schon dicht besetzt. Ich hatte mich in einem kleinen Hotel an der Sonnenseite des Thales eingenistet; es faud sich dort eine kleine gemütliche Gesellschaft von 36 zusammen,fast lauter junge Männer, die die ernste Krankheit leichter oder schwerer angefaßt hatte. Nur vier Damen hatten sich als milderndes Element in unsern fröhlichen Kreis gewagt, und wir waren dankbar dafür. Wie viel Spaß hatten wir zusammen.Sobald die Sonne schien, waren alle Gemüter hell auf; gestern,als der Nebel tiefgrau überm Thal hing, da war des Hustens und Klagens kein Eunde, aber mit dem ersten Lichtstrahl war man voll Pläne und Einfälle für die Gegenwart und Zukunft. War auch die Gesellschaft unsäglich bunt zusammengewürfelt nach Land, Sprache, Religion, Sitte, Beruf, es wirkte doch jeder mit besten Kräften dahin, daß das Zusammenleben ein nettes und gedeihliches ward. Freilich, es war das ein Akt der Notwendigkeit, wußte doch jeder, daß er fünf Monate wenigstens mit dem andern zu leben hatte und daß dies besser im Frieden geschah als im Zank. Wie lebendig stehen sie vor meiner Erinnerung all die bärtigen und männlichen Gesichter, viele mit glänzenden Augen und brennenden Wangen, andere bleich und hohl von der Krankheit. Wir waren 9 Holländer, 1 Amerikaner, 8 Schweizer und sonst lauter Deutsche, vorwiegend Sachsen, auch Pommern, Rheinländer und Süddeutsche; darunter auch manche, die im 70ger Krieg den Keim der Krankheit geholt hatten. Ich sehe ihn noch, den großen holländischen Doktor, der eben die Exramen mit Ehren bestanden und so lustige Schnurren zu erzählen wußte aus dem Studentenleben, den Seemann, der fern aus Ostindien heimgekommen war, und mit seinen Seebeinen die schneeigen Sträßchen des Davoserthals auf und abschritt,den bleichen, ernsten Unteroffizier von Trier, der hinter Bourbaki hermarschiert war, um ihn an die Schweizergrenze zu drängen, den stillen, ältern Herr S. aus Frankfurt,der wie ein Papa unter uns saß und zu den Stillen im Lande gehörte in des Wortes tiefster Bedeutung; alle, alle ziehen vorüber an meinem innern Auge. Wo sind sie? Ach, viele,viele deckt der grüne Hügel; sie haben frühe schon des Lebens Ziel gefunden! Der liebste Freund ward mir ein junger Thüringer, ein lang aufgeschossener, blonder Jüngling. Er war so freundlich mit mir, dem Jüngsten des Kreises, und da er von einer frommen Mutter erzogen ward, verband uns bald ein inneres, tieferes Verständnis. Mit ihm bin ich täglich langsamen Schrittes die sonnigsten Weglein gewandelt. Sein junges Lichtlein zehrte am letzten Endchen, es flackerte nur noch auf und ab und ist bald hernach ausgelöscht. Aber ich weiß,daß er das rechte Ziel erreicht hat; er kannte den Vater und liebte ihn. Nicht vergessen darf ich auch unsern Direktor.q*

Er war selbst krank nach Davos gekommen, auch eine Frucht des langen Winters auf Frankreichs Boden, ein liebenswürdiger Mann. Er hielt prächtige Manneszucht unter uns und war doch immer gern gesehen in unserm Kreis. Witzig und fein war seine Rede, manchmal etwas stark gewürzt.Einmal, so wurde erzählt, hat ihn unser Zimmermädchen, ein stilles, frommes Mädchen, fluchen gehört, da sagte sie zu ihm: „O, Herr Direktor, jetzt weiß ich, warum Sie krank sind, Sie glauben an keinen Gott.“ Da antwortete er ohne Zürnen und Zögern: „Freilich glaube ich an einen Gott und an seine weise und herrliche Weltordnung; aber wie Er sich zu mir siellt, darüber habe ich nicht Zeit gehabt nachzudenken.“ Unser Direktor hat wenige Winter nachher darüber nachgedacht und ein lieber Freund ist bei ihm gewesen in seinem letzten Stündlein und hat es miterlebt, wie dieser Gott dem Sterbenden war Stecken und Stab im dunkeln Thal, also daß er sich freute „aufs Heimkommen.“

Wir alle also rüsteten uns auf Weihnachten. Wir wollten feiern, so gut es ging, fern von der Heimat. Lange bildete das wie den Gesprächsgegenstand. Mehrere Tage zog der Ambrosi, die kräftige Bündtnerfigur, mit seinem Hörnerschlitten hinauf in den Bergwald, um Tannzweige herab zu führen.Mehrere Nachmittage waren wir in der Trampelbude gesessen und hatten den windenden Damen Zweiglein geboten, bis diesen die Finger weh thaten und verklebt waren vom Harz und unsre stärkern Hände mithelfen mußten. Wir wollten von einem Fenster im Saal zum andern die Guirlanden spannen und an jedem Knotenpunkt zwei Fähnchen stecken, alle Landesfarben, die vertreten waren. Wie klebten da die Herren im Saal ihre Fähnchen zusammen aus buntem Papier; Hamburg und Frankfurt, Pommern und Schlesien winkten, die amerik. Sterne glänzten und auch das weiße Kreuz im roten Feld, doch als man zur Musterung schritt, siehe, da fehlte die deutsche Reichsfahne. Ein Schweizer mußte diesem Mangel abhelfen und die Reichsfarben erstellen. Nun schien alles bereit. Da kam der 24. Dezember. Früh am Morgen klopfte es an meiner Thür. Ich fuhr aus dem Schlafe: „Was gibts?“ Da tönte des Direktors Stimme: „Ich habe mich verrechnet, es fehlen noch fünfzehn Meter Guirlande, können Sie nicht raten und helfen?“ Fünfzehn Meter, nicht übel;dachte ich, schlüpfte aber eiligst in meine dichte, graue Joppe und stellte mich dem Direktor zur Disposition. Es blieb nichts übrig, als heute noch am heiligen Abend mit dem Ambrosi in den Wald zu fahren, um Zweige zu holen. Hei, wie der Schnee knirrte im eisigen Tannwald, wie schwer die Zweige hingen unter der mächtigen Schneelast, wie es auf uns niedersprühte in Flocken und Sternen bei der leisesten Berührung!Aber es war prachtvoll im stillen, weiten, schlummernden Wald.Ambrosi und ich schafften gewaltig bis unser Schlitten voll war und wir mit ihm in sausendem Fluge zu Thal fuhren.Dann ward gewunden und geschafft aus Leibeskräften, bis endlich unser Saal aussah wie ein grüner Tannwald und der Tannduft schon von weitem verkündete: Heut ist Weihnachten!

Aus dem Grün guckten die bunten Fähnchen fröhlich heraus.Selbst die Holländer mußten schließlich bewundern, die bis jetzt leise und laut gelacht hatten über die Deutschen, die solch einen Spektakel anstellten um ihr Weihnachten, als ob man noch Kinder um sich hätte. Ach ja, das wars eben, man mag an Weihnachten noch Kind sein und jeder sehnte sich nach einem Tröpfchen Wärme und Heimatgefühl ins Herz. So eilte man denn auch in froher Erwartung dem Saale zu, als unser Direktor mit dem Glöckchen das Zeichen gab, daß die Lichter entzündet seien. Da strahlte der Weihnachtsbaum inmitten des Saals hell und licht und schön und hob sich 134 prachtvoll ab vom dunkeln Grün der Wände. Feierliche Töne empfingen uns. Der junge, totwunde Unteroffizier spielte prachtvoll das Klavier und jedes Herz lauschte still und andächtig, als er leise ausklang im altbekannten: O Sanctissima!

Es sehlte keines der 3858. Alle umstanden im Kreise den Lichterbaum, jeder mehr oder weniger berührt von seinem Zauberglanz.. ... Da erhob unser Direktor seine Stimme,erinnerte uns in einer kleinen Rede an die Heimat, in der wir sonst den Lichterbaum umstanden, an die Kindheit, in der uns der helle Strahl beglückte, an den Kinderglauben,an das Kindlein zu Bethlehem, in dem wir einst selig gewesen, und er wünschte, daß unsere Herzen alle heute etwas spüren möchten von dem Hauch, der aus der Kindheit herüber wehe im Scheine des Weihnachtsbaums!

Fehlte auch dieser Rede die evangelische Kraft, sie rührte doch an die Herzen. Kein Auge blieb trocken. Welches Herz könnte trocken bleiben bei der Erinnerung an die Kindheit,und wir waren ja alle unter besonderen Verhältnissen fern vom Elternhaus! Mein Thüringer Freund stand allein und blickte sinnend in das Licht. Dachte er an jenes Licht, das droben leuchtet, heller und reiner, von dem das Kerzenlicht am Weihnachtsbaum nur ein fahler Abglanz ist?

Die Erinnerung an die Kindheit war geweckt, man wollte ein Lied singen, man suchte eines, das alle konnten,wenigstens die Deutschen, und siehe, nach langem Suchen fand man das Liedchen: „Ihr Kinderlein kommet, o kommet doch all ꝛc.“ Es war wirklich rührend, wie die heisern, hustenden Stimmen, die Männer alle, die Jahre lang kaum mehr ans Christkind gedacht, dies Liedlein sangen.

Gewiß ist manchem der Ton ins Herz gedrungen und er hat's nimmer vergessen. Dann schüttelte man sich die Hände,tauschte die Geschenklein aus, die eine gemeinsame Kasse für jeden besorgt hatte, und mischte sich in fröhlichem Lachen und Scherzen. Jeder brachte schließlich aus seinem heimatlichen Packet das heimatliche Gebäck und jeder mußte versuchen wie's schmeckt. Da kamen Pfeffernüsse aus Sachsenland, Marzipan aus Hamburg, Honigkuchen aus Süddeutschland, Bibermann aus der Schweiz, jeder versuchte, prüfte und kostete,und fand schließlich das eigene Gebäck am besten. Natürlich! So verstrich der Abend. Die Lichter verlöschten am Baum,die Rede verstummte nach und nach. Man hätte für ein Weilchen vergessen, daß man krank war, war unbesorgt fröhlich gewesen, sehr fröhlich.

Das war Weihnachtsabend in Davos. „Es ist sehr schön gewesen,“ stammelten die Holländer, und die Deutschen lachten und sagten: „Ja, wir verstehens eben, was Weihnachten ist!“ Mein Freund drückte mir die Hand und sein Blick sagte:„Und wir verstehens noch besser. Wir brauchen das Licht fürs dunkle Thal, das vor uns liegt. Wohl uns, daß wir's heute aufs Neue geschaut!“

325 Meinex DPatere Permächtnis.

Wir waren unser sieben Geschwister, und ich denke,jedes von uns hat ein eigenes Bild in sich aufgenommen von unserm Vater, je nach unserer Eigenart und unsern Anlagen.Das eine von uns sah den Vater in seiner Jugendfrische, das andere kannte ihn nur als alternden Mann, diesem drückte sich der Charakterzug unvergeßlich ein, jenem ein anderer.Es sind das wie die Farbenbildchen eines Prismas, das leuchtend die Sonnenstrahlen zerlegt hat und nur, wenn 186 man alle diese Farbenbildchen wieder vereinen könnte, gäbe es das vollkommene Bild des Vaters, wie er war.

Jedes kehrt aber immer so gern zurück zu seinem Bilde,labt sich daran und ruft sich die einzelnen Züge zurück; es ist ein Quellchen, von dem immer noch lebendige Wassertropfen ausgehen, andre belebend und erquickend. Er war eine seltene Gestalt in seiner Schlichtheit und Kindlichkeit, in der Wärme seines Glaubens und seiner Liebe, eine jener Gestalten, herausgewachsen aus dem lebenswarmen Pietismus der ersten Jahrzehnte, die in unsrer Jugendzeit noch zahlreich vorhanden waren, die nun aber verschwunden sind im Strom des Jahrhunderts. Ferne ist es mir, ihn zeichnen zu wollen, wie er war; einige Züge aus seinem Wesen festhalten ist alles, was ich kann.

Wer hätte ihn nicht gekannt, den einfachen Mann im glänzenden Ladenrock und dem gestickten Hauskäppchen auf dem dünnen, leicht gelockten Haar, das sein freundliches,lächelndes Gesicht umrahmte? Tag um Tag stand er hinterm Ladentisch und wog den Zucker und den Kaffee aus und legte zum Päcklein der Käuferin auch einen teilnehmenden Gruß oder ein freundlich Wort. Manche Frau versichert mir heute noch:„Ich bin manchmal in den Laden gelaufen, um mir ein freundliches Wort zu holen, nicht wegen Zucker; aber wenn Herr S.etwas sagte, dann war's wie ein Trost für den ganzen Tag.“Ja wahrlich, ihm fehlte selten das rechte Wort am rechten Platz und weil er während und bei der Werktagsarbeit in seinem Innern stete Zwiesprach hielt mit seinem Gott, brauchte er nur hinein zu langen in Gottes Brünnlein und der andere vernahm sein Rauschen und seinen erquickenden Ton. Wie oft sagte er: „Meine Arbeit im Laden würde mir nicht genügen,wenn ich nicht in ihr und neben ihr noch Anlaß fände, etwas zu wirken für Sein Reich.“ Diese Tagesarbeit wurde ihm in seinem Alter oft recht beschwerlich, wenn die Winterkälte eisig durch die Räume blies und sein gebrechlicher Körper fühlbar darunter litt, aber nichts konnte ihn abhalten, sein Tagwerk aufzunehmen, nur hörte man ihn dann beim Treppabsteigen singen: „Nur frisch hinein; es wird so tief nicht sein!“ Es war überhaupt seine Gewohnheit, jeden Ärger oder jede Mißstimmung von sich weg zu singen, oder eigentlich oft nur zu summen. Aber es brauchte viel, ihn aus seiner fröhlichen Stimmung zu bringen. Loben und danken, das war eigentliche Grundstimmung. Er konnte oft Gott für etwas danken,was mir durchaus nicht dankenswert vorkam, und erst in spätern Jahren bekam ich den Schlüssel zu seinem oft wiederholten Wort: „Wer Dank opfert, der preiset mich, und das ist der Weg, daß ich ihm zeige mein Heil.“ Das was mir dankenswert und erstrebenswert vorkam, das hatte ja auch nie einen Reiz für ihn. Was nach außen glänzt und scheint, das war ihm Tand. Buchstäblich erfüllte er das Wort: „Wer zwei Röcke hat, der gebe dem, der keinen hat.“ Mein Vater hat selten mehr als einen ordentlichen Rock besessen und sein Freund 3. faßte ihn einmal ganz vorwurfsvoll am Kragen und sagte: „Du, mein allerwüstester Rock daheim wäre für dich grad noch ein Sonntagsrock!“ Vater war vollständig bedürfnislos. Wollte man ihm leise einen neuen Hut in die Hand spielen, dann sagte er: „Meinst du, Mutterli, wäre der andere nicht noch lang gut?“ Dieselbe Anspruchslosigkeit zeigte er im ganzen Leben, auch im Essen. Erst in den allerletzten Jahren wollte er ein Tröpflein Wein zum Essen trinken,sonst hielt ers immer mit dem Most und dem Wasser. Ein Glas Bier habe ich nie in meines Vaters Hand gesehen. Und doch konnte er fröhlich seine Hände reibend sagen nach dem einfachsten Mahl: „Gott sei Dank, wir haben gespiesen wie Fürsten.“ Für sich hatte er nie Geld, für andere immer.

Weit und breit kannte man sein bereitwilliges Westentäschchen,in dem die großen und kleinen Stücklein so recht handlich bereit waren, um all den zahllosen Bittenden, die geistliche und leibliche Not zu ihm führte, Handreichung zu thun. Er galt fast für einen Wundermann, der nur seine Hand aufzuthun brauchte, ja man traute ihm zu, er wisse genau, welche Nummer in Hamburg das große Loos gewinnen werde. Der Donnerstag Nachmittag war seine liebste Zeit. Da hemmte ihn nicht Sturm noch Regen, nicht Schnee noch Nässe, er zog aus auf seine Krankengänge. Da hätte er seine Pfleglinge,die sehnsüchtig seiner harrten. Es waren die Ärmsten und Kleinsten, die niemand fand, die ihm die Liebsten waren, und nie kam er glücklicher heim als dann, und nie setzte er sich dankbarer in seine Kanapee Ecke und sagte: „Wie schön ist's daheim. Wie gut haben wir's.“ Es ward ihm gegeben wie wenigen, die Herzen zu gewinnen, das rechte Wort des Trostes zu finden; es war auch nie gesucht; er lebte so nahe, so fröhlich in der Gemeinschaft des HErrn, daß er nur zu sagen brauchte, was er selber dachte. Wie oft sagte er:

Ja fürwahr, uns führt mit sanfter Hand

Ein Hirt durchs Pilgerland der dunkeln Erde,

Uns. seine kleine Herde.

Hallelujah!Und dieses guten Hirten war er des Lobes voll. Jedem pries er den sanften Stab und die treue Hand an.Und es war auch nicht ein leidiges Trösten, sein Trösten.

Er saß nicht im Vollen, in der Gesundheit, im Glück, und teilte von seinem Ruhsitz aus gute Räte aus den andern.Jeder kannte sein fleißiges Tagwerk, wußte, daß ihm des Lebens Not und Last reichlich bekannt war und auch im körperlichen Leiden war er wohl bewandert. Er hat jahrelang stille seine bösen Beschwerden getragen und ihrer nicht geachtet.

Zahllose Nächte, besonders die Sonntagnächte, nachdem er den ganzen Tag geredet hatte, hat er durchgehustet und wenig genug geschlafen. Wenn wir ihn aber am Morgen fragten:„Vater, wie hast du geschlafen?“ „O, ich hab' eine köstliche Nacht gehabt.“ Nur Mutters vielsagender Blick erzählte uns,wie's war. Eben diese Erfahrung gab seinem Worte die Kraft.Wenn er einem Jammernden sagte: „Ja weißt, du mußt halt jetzt Geduld lernen, Geduld ist euch not!“ oder „Thu' du lieber danken, als klagen“, dann wußte man, er sagt das nicht nur; er thut's auch nach besten Kräften. Welch eine Freude war ihm der Sonntag. Am Morgen und am Abend sammelte er seine kleine Gemeinde um sich, in deren Mitte er in reiner Gemeinschaft den HErrn anbeten wollte. Dort freute er sich königlich der Gnade des HErrn, die sich herabließ, solch arme Geschöpfe zu Kindern des Reiches zu machen. Jede Seele war ihm ein kostbares Gut, hatte sie Flecken in den Augen der andern, war sie einfältig und arm, in seinen Augen war sie lieblich und schön, „eine Seele, die der HErr lieb hatte,“ und als solche wert seiner Liebe und seiner Pflege.Dann sang er gar zu gern das Wort: „Es glänzet der Christen inwendiges Leben.“

Unvergeßlich ist mir sein Bild, wie er den Sonntag feierte.Er kam dann schon ganz festlich glücklich aus seiner Schlafkammer und suchte schnell seine Ecke auf, das Testament mit dem großen Druck in der Hand und das Gesangbüchlein daneben. Dann las er bald im einen, bald im andern, oder summte vor sich her glücklich wie ein Kind, das einem Geschenk entgegensieht. Von jedem Sonntag erwartete er einen besonderen Segen, eine Gabe von seinem reichen Vater: „Was hat uns wohl Gott heute beschert,“ pflegte er oft zu sagen.Und wenn wir Kinder kamen, dann legte er wohl seine Hand auf unsern Scheitel und sagte: „Geb' dir Gott ein Tröpflein

Ol aufs Lämpchen!“ Der Wunsch klingt mir noch jeden Sonntag im Herzen, obwohl der Mund längst verstummt ist,der ihn sprach.

Wie innig betete er dann: „Sei Du der Töpfer, laß mich den Ton sein! Forme aus mir nicht bloß ein Gefäß Deiner Barmherzigkeit, sondern mache es zu einem Gefäß Deiner Verherrlichung. Laß meinen Mund übergehen von Lob und Dank für die unaussprechliche Gabe, die uns geworden ist im Sohne!“ Oft rannen ihm die heißen Thränen über die Wangen, wenn er sich hineinversenkte in die Liebe,die den HErrn in den Tod getrieben für uns.

Manchmal kam er fröhlich aus der Versammlung, manchmal stille. Dann pflegte er zu sagen: „Gott hat mir heut'das rechte Wörtlein geschenkt,“ oder „Es ist heut' nicht recht geraten.“ Der Sonntag Nachmittag gehörte uns, den Kindern.Das waren unsre Schätze, da konnten wir den Vater genießen voll und ganz. Da führte er uns hinaus in Gottes große, schöne Welt. Er hatte bis in sein Alter ein lebendiges Interesse bewahrt für alle Erscheinungen in der Natur. Besonders die Pflanzenwelt kannte und liebte er und von früh an lehrte er sie uns kennen und lieben. Unter seiner Leitung schleppten wir Pflanzenlasten heim, trockneten und ordneten sie.Wie ging sein Herz auf im Anschau'n der Berge in ihrer einzigen Schönheit. Mit ihm und um ihn haben wir den 103. und 104. Psalm verstehen gelernt, und wo lernte er sich leichter als auf unsern Höhen, wenn die Berge ragen in ihrer stillen Pracht und tief die Thäler sich dehnen im Abendfrieden?

Wir Kinder alle werden's nie vergessen, wie schön es war, mit dem Vater draußen zu sein. Sein kindlich fröhliches Herz, das allzeit den Vater sah, paßte so herrlich in die schöne Natur. Es war überhaupt etwas so weites, freies an ihm, nirgends ein Zwang, eine beengende Lehre oder Ermahnung. „Wir leben dem HErrn,“ das lebte er vor und das in einer rührenden Kindlichkeit. Alles was schön war,was lieblich und nützlich, das führte er in unsern kindlichen Bereich. Er spielte selbst so schön mit, als er noch jung war.Später freute er sich an allem, was wir lernten und spornte uns an zu fleißiger Arbeit. „Ihr tragt an nichts schwer,lernt alles, was euch in den Weg kommt, laßt nichts liegen!“das prägte er uns unauslöschlich in unser Herz.

Dem Studium der Brüder gehörte sein wärmstes Interesse und alle unsre jugendlichen Bestrebungen fanden in ihm einen Förderer. Er selbst schenkte mir meine getreue Malschachtel, beschaute jedes Blümchen, das mein Piusel malte.Noch sehe ich, wie der alte, vierundsiebzigiährige Mann in seinem letzten Lebensherbst heimkehrte von einem entfernten Krankenbesuch, einen Erdenkloß auf der flachen Hand tragend,dem fröhlich die zarte Zeitlose entsproßte, und sagte: „Kind,die mußt du malen, ich hab' sie dir ausgegraben.“ Daß ich das Bildchen bewahre als liebliches Andenken an sein Interesse, versteht sich von selbst.

Er hatte auch die köstliche Gabe zu vergessen; nie schleppte er einen Quark von unliebsamen Erinnerungen und bittern Erfahrungen hinter sich her. „Man muß jeden Tag neu nehmen,“ oder „man muß sich nie ärgern, nur verwundern,“das war seine Lebensgewohnheit, so schiffte er neben den schwierigsten Menschen vorüber, ohne zu verletzen. Jedem Tag ging er mit neuer Erwartung entgegen; er nannte einen Tag ein Schächtelchen und pflegte oft fröhlich zu sagen beim Aufstehn: „Mutterli, was meinst du, was hat Gott wohl heut'ins Schächtelchen gelegt für dich und mich?“ Und wenn ihm Gott Gelegenheit gab, einem Armen eine Liebe zu erweisen,einem Betrübten ein Trostwort zu sagen, oder gar ein Wort des Bekenntnisses anzubringen, das seinen Gott ehrte, dann war er seelenvergnügt mit seinem Schächtelchen und sagte am Abend zum Mutterchen: „Heut' war ich „rundum glücklich.“

Dies kindlich dankbare Herz hat meinen Vater begleitet bis zum letzten schmalen Thürlein, und als es für ihn hieß:„Wenn ich auch gar nichts fühle von Deiner Macht,“ da hat er sich immer und immer vorgesagt: „Er hat uns lieb, das ist genug, uns ewiglich zu freuen!“ Gott hat auch ihn auf unsäglich schweren Leidenswegen vollbereitet zur Herrlichkeit.Fand er zum Loben auch nicht mehr den vollen Harfenton,die zitternden Lippen haben's immer noch zum Danken gebracht und sterbend hat er's bezeugt: „Gott ist treu.“ Uns Kindern ist sein Bild ein teures Vermächtnis und unsers Herzens tiefstes Wünschen ist das: „O könnt ich lieben, danken und loben wie er!“