The text was transcribed from the transcription from E-Rara, which is based on the 1879 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from E-Rara, which is based on the 1879 edition.
Erstes Capitel.
Der Sommerabend leuchtete über den See. Lustig rauschte der frische Lstwind daher und blähte die weißen Segel auf, die hier und da über den See geschwommen kamen. An dem Mäuerchcn hart am Wasser sprangen die Wellen hoch auf und spritzten den weißen Schaum bis zum Rand empor, wo zwei Kinder saßen, Mädchen von 10 bis 11 Jahren, die bemüht waren, ihre glühenden Gesichter in dem frischen Schaume abzukühlen. Ringsum im Grase unter den hohen Pappeln und am Rande des Kieswegs saßen die Gruppen der Gespielinnen, sichtlich erschöpft vom fröhlichen Rennen und Jagen, und nun, je nach Anlage und Bedürfniß, still oder laut die wohlthuende Pause genießend. Trüben im dichtbelaubten Gartenhaus saßen die Lehrerinnen, die mit gekommen waren, das Fest zu feiern, eben jetzt aber, ihres Amtes eingedenk, mit ernsten Worten das Wohl der Schule besprachen.
Ein Ferientag hatte die Kinder zu fröhlichem Spiel Verschollen ic. 1
Tie Freundinnen auf der Mauer hatten schon eine Weile lang schweigend da gesessen, ihre Gesichter waren längst abgekühlt.
Nannt), die kleine, gewandte, mit den etwas struppigen Locken und dem künstlerisch umgeworfenen Jäckchen, folgte den Blicken der neben ihr sitzenden Freundin Hellt); sie waren schon längere Zeit unverwandt auf die hohe Pappel gerichtet, an deren Stamm gelehnt eines der Mädchen in Gedanken versunken stand.
Tie hohe, schlanke Gestalt, der Ausdruck, das ganze Wesen der Staunenden schienen auf ein vorgerückteres Alter hinzuweisen, als das der anderen Kinder, und doch wäre diese Annahme wohl irrig gewesen, da sie alle zu derselben Klasse gehörten, und diese Schülerin unter jüngere, denn sie selbst war, unmöglich konnte eingereiht worden sein.
Das Mädchen schaute mit den dunkeln Augen wie träumend über den See hin. Das reiche, braunlockige Haar spielte um ihr warmes Gesicht und ringelte sich weit über die Schultern herab.
„Hab' ich dir s nicht gesagt, daß sie anders ist als alle Andern?" sagte jetzt
Nanny, die Freundin aus ihren: stillen Staunen weckend. Tas war gerade, was
Hetty dachte. Den ganzen Abend schon hatte sie mit unermüdlicher Aufmerksamkeit
jede Bewegung des Mädchens verfolgt, das sie
„Wenn ich nur zeichnen könnte wie du", sagte Hetty, „ich würde jetzt gleich Olga abzeichnen und für mich behalten. Sieh', wie sie dort steht! Sie gefällt mir so gut, da, zeichne sie doch schnell hin!"
Hetty hatte ein kleines Notizbuch hervorgezogen und hielt es Nanny hin.
„Kann man nicht", entgegnete diese mit Kennermiene. „Siehst du, jetzt ist das Gesicht schon wieder ganz anders, und jetzt wieder! Siehst du wohl? Ich will dir sagen, Hetty, wie Olga geht und steht und wie sie die Arme bewegt und den Mund, und wie sie alles sagt, das ist das Netteste an ihr, das kann man nicht zeichnen."
Was das Netteste war. wußte Hetty gar nicht, die ganze Erscheinung hatte einen Zauber, der sie vollkommen fesselte, so daß sie nicht einmal Worte finden konnte für alle die Fragen, die in ihr aufstiegen über dieses unerklärlich fest bannende Wesen. Endlich, vor lauter Fülle, kam die nüchterne Frage heraus: „Habt ihr Alle sie gern in der Klasse?"
„Ob mir sie gern haben", versetzte Nanny ziemlich ent- 1 *
Hetty hörte mit größter Spannung die Mittheilungen an. Bis jetzt hatte sie zwar die Stelle der besten Freundin bei Nanny versehen und sich von dieser wiederum dieselbe versehen lassen, doch begriff sie vollkommen, daß, wo Olga eintrat, jede Andere weichen mußte. Indessen mußte dieser Gedanke an die ältere Freundschaft soeben auch in Nanny aufgestiegen sein.
„Weißt du", fügte sie hinzu, „deswegen bin ich doch auch deine beste Freundin geblieben, das kann ich Beides sein."
Hetty war's recht so.
„Und siehst du", fuhr Nanny fort, „alle Menschen müssen sie gern haben. Die Lehrer sind alle partheiisch für sie, und wir werden nicht einmal böse darüber. Sie ist aber auch in Allem geschickt; du solltest nur ihre Aufsätze lesen, und du solltest sie erst deklamiren hören! Du hast keinen Begriff davon!"
Nein, Hetty hatte keinen Begriff davon, nur Staunen und eine wachsende Bewunderung. Immer höher stand vor ihren Augen das Wesen da, das sich drüben an die Pappel lehnte.
„Hat sie auch Fehler?" fragte jetzt Hetty fast ängstlich.
„Nein, nein!" antwortete Nanny beruhigend. „Alles,
Olga war von der Pappel weggegangen und hatte sich in der Gruppe der Kinder verloren, die um einen alten Baumstamm sich gesammelt hatten, den Epheu davon weg- znlösen und Kränze und Kronen daraus zu schlingen.
Hctty hatte sich dem See zugekehrt nnd schaute in die Wellen, die nun leiser nnd leiser heranplätscherten im stiller werdenden Abendwind. Wo das Mäuerchen aufhörte und das Ufer weniger abschüssig war, da stand ein alter Weiden- banm am See; seine langen Zweige hingen tief hinunter bis in's Wasser und wiegten sich auf den sonnigen Wellen.
„Sieh mal, Nanny", sagte nach einer Weile Hetty, „was sitzt dort unter der Weide nnd schimmert so roth, siehst du's?"
„Freilich seh ich's", lachte Nanny, „und das rothe Jäckchen kenn' ich auch. Von hier sieht's aus wie ein Herrgotts- käferchen im Gras, aber es ist das enorm komische Mädchen von da hinten im Lande. Es gehört nicht zur Schule; weil es zu Besuch ist bei einem der Mädchen von der Klasse, ist es mit eingeladen worden.
6 „Hör' Nanny", sagte Hetty etwas kriegerisch, „nennt Jt Ihr mich auch ,das enorm komische Mädchen', wenn ich nicht dat dabei bin? Ich bin ja auch von da hinten oder doch von In da oben im Lande."
„Ich denke, du wüßtest dich zu wehren, wenn wirwir's probierten", entgegnete Nanny schlagfertig; „aber da kann in ich nicht hclsen, an diesem Mädchen ist Alles komisch von ob> oben bis anten und dazu noch dieser Name! Wer wird dei denn Martine heißen!"
So hieß das Mädchen wirklich, das einsam im rothwthen Jäckchen dort unter der Weide saß.
In Hetty's Herzen stieg eine rege Theilnahme auf fi für den Fremdling. War sie selbst auch nah befreundet mit dt der gescllschaftssichern Nanny und durch sie mit dem ganzcinzen Kreise der kleinen Städterinnen, so hatte sie doch ein Ve Ver- ständniß und ein sympathisches Gefühl für die scheue MaMar- tine, die sich heilte zum ersten Mal unter der lebendigengen Schaar der schmucken Stadtmädchen befand.
Hetty sprang von der Mauer und ging der Weide zi zu. Sie hatte Martine vorher nicht gekannt; nur bei den Spieleielen des heutigen Tages war sie etwa in ihre Nähe gekömmennen, hatte ihr auch, ihrer ganzen Erscheinung nach, gleich das Kinstind vorn Lande angemerkt, das nur vorübergehend zu dem Kreisreise gehören konnte. Als Hetty sich der Weide näherte, bemerkterkte sie, daß Martine, ihren Kops in die Hände drückend, leisleise weinte.
„Was fehlt dir, Martine?" fragte Hetty, zu ihr heran- trretend.
„Nichts" war die Antwort.
Der Kops blieb auf den Annen liegen.
Diese Sprache verstand Hetty.
„Nichts", hieß in solchen Fällen ja auch bei ihr, wie beei allen andern Kindern gerade so viel als: Es geht mir soo tief, daß ich's gar nicht sagen will.
Hetty setzte sich neben Martine auf den Grasboden nnd söchaute eine Zeit lang in's Wasser, auf dem die Weidenzweige leeise hin- und herschwammen. Martine weinte fort.
„Hast du Heimweh, Martine?" frug Hetty wieder an.
„Nein."
„Hat dir Jemand Etwas zu Leide gethan?"
„Nein, gerade im Gegentheil."
„So. Etwas zu lieb gethan?"
„Nein, nicht so."
„Was denn gethan?"
„Gar nichts gethan."
Hier gewann Hetty's angeborene Heiterkeit die Oberhand, sffie brach in ein lautes Lachen aus. Erstaunt hob Martine dden Kopf in die Höhe, und plötzlich angesteckt von der Heiterkeit, stimmte sie laut mit ein, während sie noch die Thränen ^wegzuwischen hatte.
„Es ist wie ein Räthsel, Martine, komm, ich will's gleich er- rrathen", sagte Hetty, sich zum Nachdenken in Bereitschaft setzend.
8 „Nein, nein!" rief Martine abwehrend, „es ist gar nichts- Lustiges, rathe nur nicht. Ich würde dir's schon sagen„ aber du würdest nur lachen."
Hctty versprach, durchaus nicht zu lachen, auch nicht einmal Lust zum Lachen wollte sie bekommen.
„Und siehst du, Martine", sagte sie überzeugend, „du kannst wohl Zutrauen zu mir haben, ich bin zu dir hierher: gekommen, weil es mir leid that, daß du so allein hier unter der Weide sitzest."
„So will ich dir's sagen", sagte Martine entschlossen.
„Siehst du, diesen ganzen Nachmittag hat mich Olga nicht ein einziges Mal gerufen beim Spiel und nur auch nicht ein Mal den Ball geworfen und mich auch gar nie angeschn, und ich weiß schon warum; sie wird mich auch ihr Leben lang nie ansetzn, und doch wollte ich gern auf der Stelle für sie in's Wasser springen, wenn sie nur wollte; aber sie will Nichts von mir, und ich weiß schon warum."
Martine hielt inne, vor Bewegung hatte sie ganz den Athem verloren.
Hctty war sehr erstaunt. Tiefen Grund der Traurigkeit hatte sie nicht erwartet, noch viel weniger die leidenschaftliche Erregung der stillen, scheuen Martine.
„Aber was kann Llga nur gegen dich haben, wenn du sie doch so gern magst?" fragte Hctty, während ihr Erstaunen theils in Neugierde, theils in Theilnahme überging.
„Das will ich nicht sagen, nie und keinem Menschen; frag mich nur nicht mehr." Und Martine kreuzte ihre Arme fest übereinander, als wollte sie den Riegel vorschieben.
Nun fing Hctty's rege Phantasie zn arbeiten an. Was konnte das Ungekannte sein, das Martine nie aussprechen würde und das Olga so gänzlich von ihr abgeschreckt hatte.
„Martine, hast du etwas Furchtbares gethan?" fragte sie mit gedämpfter Stimme, denn drohende Bilder unbestimmter Unthaten schwebten ihr vor.
„Gar Nichts habe ich gethan", antwortete Martine trocken.
„Ja, was ist denn das für ein Geheimniß?" rief Hetty jetzt ungeduldig aus.
Martine gab keine Antwort.
„Nun weiß ich, was ich thue", rief Hetty, „ich laufe hin und frage Olga selbst." Sie sprang auf. Aber auch Martine war aufgesprungen, mit kräftigem Arm hielt sie Hetty fest und sagte in großer Aufregung: „Nein, nur das nicht; lieber sage ich's selbst."
Sie zog Hetty auf ihren Sitz zurück. „Komm, ich will's sagen, aber du sagst Olga nie, nie Etwas von Allem, was wir zusammen geredet haben."
Hetty versprach. Wieder unter der Weide sitzend, kehrte Martine ihren Rücken gegen Hetty und sagte abgewendet: „Darum kann sie mich nicht leiden, weil ich so häßlich bin."
„Ach was", rief Hetty ganz enttäuscht aus, „das ist ja
Martine gehorchte.
„Tu bist ja gar nicht so häßlich, nur ein wenig chinesisch, aber das schadet ja Nichts, im Gegentheil, es sieht ganz gemüthlich aus.
„Hast du denn nicht gehört, wie oft sie sagt: .Gering', wenn ihr Etwas nicht gefällt und sich ganz abwendet davon?" sagte Martine inimer noch in Aufregung. So denkt sie auch von mir, ich sei gering, und sie hat Recht.
„Das ist nicht so gemeint", rief Hetty, „das kann ich dir sagen, du hast ja Nichts gethan, das ihr mißfiele. Nun komm und sei wieder lustig!" Damit zog Hetty die zögernde Martine vom Boden auf. „Komm, wir wollen auch wieder mitspielen; du hast dir nur Etwas eingebildet, am Ende kannst du noch Olga's beste Freundin werden."
Bei diesen Worten flog ein hohes Roth über Martinens Wangen. Die Sache mußte ihr recht tief gehn; Hetty sah es wohl und die einfache Martine gewann immer mehr Platz in ihrem Herzen.
Die Beiden gingen den Pappeln zu, wo die andern Mädchen längst wieder ihre Spiele begonnen hatten und die Ankömmlinge verwundert begrüßten.
„Ihr seid wenigstens eine Stunde lang fort geblieben", rief eins der Mädchen ihnen zu.
„Eine Freundschaft unter einer Trauerweide! darüber
Der Vorschlag wurde bon allen Seiten mit Begeisterung ergriffen, Comödie sollte gespielt werden.
„Und ich weiß auch schon, was wir spielen wollen, eben habe ich mir's ausgedacht", fuhr Olga eifrig fort. „Wir spielen die Bürgschaft; das Stück wird so schön werden, gleich will ich die Rollen vertheilen."
„Wir wollen doch etwas Lustiges spielen", fiel Malwine ein, „nicht immer solche Sachen, die kein Mensch kennt. Wir wollen das Stück spielen vom Eierdieb und der Frau Wirthin zur goldenen Gans."
„Gering", sagte Olga verächtlich und kehrte der Sprecherin den Rücken zu. „Wer spielt mit mir die Bürgschaft? Ihr Beiden doch?" Olga hatte sich zu Hetty und Martine getvandt.
Beide waren damit einverstanden.
„So kommt!" Olga stellte sich vor sie hin. „Ich will also der Tyrann sein, denn ihr wollt natürlich die Freunde vorstellen. Welcher Freund willst du sein, Hetty?"
„Es wäre besser so", entgegncte diese: „ich bin der
Ganz erstaunt richtete Olga ihre großen Augen auf Martine. „Warum?" fragte sie! Martine war dunkclrvth geworden, sie stand da wie eine Schuldige und blickte ängstlich nach Hetty, ob diese sie verrathen werde.
„Ich kann mir das schon denken", war Hctty's Antwort.
„Kommt, wir setzen uns dort auf das Mäuerchen und machen aus, was wir zu sagen haben." Damit nahm Olga Martine bei der Hand mit einer Freundlichkeit, die Jedem das Herz abgewonnen hätte. Welchen Eindruck mochte sie auf Martine machen! Nun saßen sie auf der Mauer und Olga schickte sich an, die ursprünglichen Worte der Ballade so gut als möglich zu vervielfältigen, denn treu beim Original bleibend, schien das Stück als Drama etwas knapp ausfallen zu wollen. Olga entwarf, deklamirte, verwarf, erfand neue Dinge und warf Alles wieder über Bord.
„Nein, es ist alles zu gering", rief sie aus, „wenn ich's doch nur sagen könnte, so wie ich es inwendig höre. Wenn ich nur die schönsten Worte wüßte, die es gibt! Ich weiß die Sachen so schön und wenn ich sie in Worten sage, so sind sie gar nicht mehr gleich, es ist, wie wenn ich sie verdorben hätte. Wollt Ihr mir nicht suchen helfen, JhrBeiden ?"
„Ich weiß gar Nichts von dieser Geschichte", sagte Martine schüchtern.
13 „Ach so! Tann will ich gleich einmal das ganze Gesicht hersagen, soll ich?" Olga schaute die Beiden fragend an. Wie gern wollten diese es anhören.
Olga begann. Immer wärmer, immer bewegter kamen die Worte aus ihrer Seele heraus; sie erlebte, was sie vortrug.
Als die Hemmnisse kamen, die den Geängsteten aufhielten, sprang sie von der Mauer herunter, sie mußte mit, sie eilte athemlos.
„Da schimmern in Abendrothsglutheu von ferne die Zinnen von Syrakus."
Ihre Stimme bebte vor innerer Erregung; einen Augenblick hielt sie inne; dann in den weichsten Tönen tiefen Mitempfindens hanchte sie die rührenden Worte des Wiedersehns der zum Tode getreuen Freunde und des erweichten Tyrannen hervor.
Jetzt schwieg die Stimme. Hetty saß regungslos da. Der Martine liefen die hellen Thränen die Wangen herab. Olga stand an die Mauer gelehnt, bleich vor Erregung. Keines sagte ein Wort.
Die Sonne war im Untergehn. Ein glühendes Roth ergoß sich über die fernen
Schneefelder und warf den hellen Schein auf alle Hügel nieder. Wie flammendes
Gold leuchtete es über den See hin; auf allen weißen Segeln schimmerte der
feurige Widerschein, als hätte der Himmel all seinen Glanz über die Erde
ausgegossen, so lag sie da im
Die Lehrerinnen hatten sich genaht und suchten ihre Hecrde zu sammeln. Eine von ihnen trat zu den Mädchen heran, die noch auf dem Mäuercheu saßen.
„Minder, wißt ihr, was ihr hier gesehn habt, wie man dies nennt?" fragte sie.
Was die Kinder gesehn hatten, wußten sie, wie man es nennt, wußten sie nicht; das Bedürfniß zu nennen war nicht in ihnen aufgestiegen: „Tics nennt man das Alpenglühen", erklärte die Lehrerin.
Tie Kinder sprangen von der Mauer herunter. Schon hatten sich die Reihen der fröhlich plaudernden Schaar in Bewegung gesetzt. Hand in Hand wanderten die drei neuen Freundinnen, den Schluß des Zuges bildend, der Stadt zu.
Troben stand die goldne Mondsichel, und flimmernde Sterne erschienen nach und
nach auf dem dunkelnden Himmels-
„Im großen Theater noch nie", antwortete Hetty mit sichtlich,»! Erstaunen. „Wie kommen dir aber die Sachen so merkwürdig in den Sinn! Eben. dacht' ich, wie schön es heut' war, Eins nach dem Andern und jetzt noch der schöne Mond und alle Sterne, daß man gar nicht heimgehen möchte."
„Gerade an dieß Alles habe ich auch gedacht", sagte Olga, „und so kam mir das Theater in den Sinn. Ihr solltet nur wissen, wie schön es da ist! Alle Menschen sind auch schöner da als draußen, und Alle sprechen so schön und sind viel besser und vornehmer, als sonst die Leute sind."
„Aber weißt du, Olga", sagte Martine etwas zaghaft erst, dann aber Muth gewinnend im Eifer des Redens, „es ist ihnen nicht Ernst, sie thun nur so dergleichen. Ich habe auch beim Fastnachtsspiel manchmal schon unsers Nachbarn Peter gehört seine schönen Sachen aufsagen, aber sonst flucht und schwört er immerfort und haut gleich drein."
„Nein, nein", fiel Slga eifrig ei», so sind nur die Geringen, ich kann dir s
sagen, die Rechten sind gerade so wie sie reden, du hättest nur dieses Frühjahr
die Dame sehn sollen, die hier stielte als Gast; sie war so, daß ich gar nichts
Anderes mehr denken konnte, als nur an sie und
„Gehst du oft in's Theater, Olga?" fragte Hetty.
„Ja, jede Woche", erwiderte sie, „und oft gehn wir zwei Mal. Es ist meine größte Freude, ich weiß gar nichts Schöneres."
„Aber heut' Abend auf dem Mäuerchen am See war's tzoch auch schön", sagte Hetty.
„O ja, gewiß", rief Olga einstimmend, „wir wollen auch gleich einen Freundschaftsbund machen um dieses Abends willen. Wollen wir? Willst du, Hetty?"
„Gewiß!" und Hetty schlug fest ein in die dargebotene Hand.
„Willst du auch, Martine?" wandte sich Olga freundlich an diese. Ob Martine wollte! Ob sie einen Freundschaftsbund mit Olga eingehen wollte!
Sie konnte kein Wort sagen, aber über ihr ehrliches Ge- !
ficht ging ein völliges Leuchten. Olga mußte es verstanden haben. Mit unvergleichlicher Anmut legte sie einen Arm um Martinens Hals, und den andern ihr hinhaltend, sagte sie: „So schlag ein!"
Treulich hatten die drei Menschenkinder, die sich heute zum ersten Mal gesehen,
ihren Bund geschlossen für das Leben; aber morgen schon sollten sie auseinander
gehen und Heines wußte, ob sie sich je wieder zusammenfinden würden,
Tie Kinderschaar war bei der Brücke angekommen, hier schieden sich die Wege. Rechts und links wurden die Hände geschüttelt und nach reichlichen Ausrufungen von Abschied und Wicdersehn zerstreuten sich die kleinen Gruppen nach allen Seiten. Hetty folgte Nanny über die Brücke nach ihrem gastlichen Elternhanse.
Als Hetty am folgenden Morgen erwachte, lag es ihr ganz sonnig im Gemüthe, es war die Erinnerung an die gestern geschlossene Freundschaft. 'Sie besann sich über Alles und liest noch einmal den ganzen Abend an ihren Augen vorübergehen. Nun sie aber weiter nachdachte, um sich klar zu machen, wo die Freundinnen lebten und was uni und an zu ihrem Dasein gehörte, da fand sie sich ganz im Dunkeln: die Beiden standen für sie wie in der Luft, ohne Boden und Umgebung. Nanny mußte da Bescheid wissen. Sobald diese ihren Kops aus dem Kissen erhob, wurde sie mit Fragen bestürmt: wo stand das Haus, worin Olga wohnte? mit wem lebte sie? hatte sie auch Geschwister? Konnten sie denn nicht dazu gelangen, Llga noch zu sehn an diesem Morgen? Am Nachmittag war Hetty's Abreise festgesetzt, war da keine Möglichkeit sie irgendwo zu finden?
Nanny gab ziemlich lakonische Antworten. Olga lebte mit Vater und Mutter, wie
Jedermann, meinte sie. Ge- Vertchollen ic. 2
Tie Mädchen hatten sich unterdessen fertig gemacht, viel früher, als gewöhnlich, denn Hetty war in der Freude ihres Herzens in aller Frühe erwacht. Nun öffnete Nanny ihr Fenster.
„Kamm hierher, Hetty", sagte sie; „nun will ich dir erklären, wv Olga ist. Siehst du jenes hvhe Dach? Das ist ihr Haus. Nun denk dir unten den See, den kannst du nicht sehn, dort hinaus gehn die Fenster; au einem sitzt die Mutter in einem Lehnftuhl und ist krank immerfort, und hat eine weiße Haube auf und ist ganz weiß im Gesicht und spricht nur mit dem Hauch. Da muß man immer leise thun im Haus und wer nicht eine intime Freundin der Olga ist, der kommt gar nicht hinein. Es ist gar nicht so leicht, dahin zu kommen, wie du dir vorstellst, Hetty."
Daß es gar so leicht sein würde, zu Olga zu gelangen, hatte sich .Hetty eben nicht vorgestellt, nun schivand ihr alle Hoffnung, je dahin zu kommen. Sie schwieg und schaute nach dem Hause hin.
„Aber man sieht ja nur das Dach und vom Hause gar Nichts", sagte sie. „Wenn wir schnell vor dem Frühstück zum See hinüber kiesen und du zeigtest mir das Haus ganz in der Nähe?"
Der Vorschlag gefiel Nanny.
Tie runden Strohhüte auf den Kopf gedrückt; weiter
„Und wo wohnt denn Martine?" fragte Hetty auf dem Weg.
„Ach, was weiß ich davon!" warf Nannt) hin. „Dort hinten in einem Dorf, wo nie ein Mensch hinkommt."
„Aber wie heißt es denn?"
Nannt) nannte den Namen.
„Oh", rief Hetty erfreut, „ich weiß gut, wo das ist, da komme ich hin, da war ich schon mit meinem Vater. Nun kaun ich Martine jedes Mal besuchen, wenn mein Vater dorthin fährt."
„Mag dir's wohl gönnen", war Nanny's trockne Erwiderung. Die Kinder waren am See angekommen, ein frischer Morgenwind wehte ihnen entgegen; am Ufer waren leichte Barken angebunden, die wiegten sich hin und her auf den Wellen. Das Wasser flimmerte weithin im Morgenglanz. Das .Haus stand nah am See. Hoch an die Mauer hinauf und rings um den Balcon herum schlangen sich dichte Epheuranken und hoben ihre glänzend grünen Blätter der Morgensonne entgegen. Die Thüre zum Balcon stand weit offen, die Sonne konnte tief in's Zimmer hinein scheinen; doch war Alles stille. Niemand war zu sehn.
Hetty war versunken in den Anblick des Schimmerns und Leuchtens von See und Himmel und des grünumkränzten Balcons da droben, wo Olga zu Hause war.
2 *
Nannt) nickte bejahend. „Tu mußt aber leise reden, dort ist das Fenster offen, wo Olga's Mutter sitzt, sie schläft nie und hört Alles."
„Fürchtest du dich vor Olga's Mutter?" flüsterte nun Hetty.
„Nicht gerade", antwortete Nannt) in derselben Weise; „aber da ist so etwas Vornehmes um sie herum, und sie thut selbst so leise, du solltest sie nur einmal sehn!"
In diesem Augenblick trat eine große Gestalt in langem dunkeln, Gewände auf den Balcvn heraus. Der Sonnenschein fiel auf das weiße Häubchen und das völlig weiße Angesicht der kranken Frau. Sie trat an die Brüstung des Balcons und schaute in den leuchtenden Morgen hinaus.
Die Kinder hielten den Athem an. Eine unnahbare Hoheit lag über dieser Stirn und die ganze Erscheinung ausgegasten. Nur tvenige Augenblicke blieb die Frau auf dem Balcon stehn, sie schaute noch einmal über den See hinauf, dann trat sie wieder in die Thüre.
„Siehst du wohl?" sagte Nanny leise; „käme es dir in den Sinn, in das Haus
hinauf zu laufen, wo die Frau ist, und nach Olga zu rufen?"
Zweites Capitel.
Hetty's Vater war Landwirth- seine vielfältigen Geschäfte, wie seine Interessen, führten ihn weit im Land umher; überall war der hohe Landwagen mit den kräftigen Braunen bekannt, der fast täglich zu sehn war, wie er, von sicherer Hand geleitet, über die waldigen Berghöhen dahinflog.
Schon länger war die Rede davon gewesen, daß der Vater die große Tour nach dem
Torfe weit hinten im Land, wo Martine wohnte, machen sollte. Hetty wußte, daß
sie ihn dahin, wie so oft auf seinen Fahrten, begleiten durfte. Sie freute sich
in doppelter Weise darauf: Einmal war es ihr eine Freude, die warmherzige
Martine wiederzusehn, dann hoffte sie leise, diese möchte ihr irgend welche
Nachricht von Olga geben können, denn sie hatte Nichts mehr von ihr in Erfahrung
bringen können, seit jenem Sommerabend am See, und doch war nun bald ein Jahr
vergangen seither. Hetty war zwar iinmer in Correspondenz geblieben mit Nanny,
wie es zwischen ihnen Sitte war, seit sie schreiben gelernt hatten; aber Nanny
behielt auch in dieser Thätigkeit ihre
So blieb allein noch Martine übrig, die von Slga etwas berichten konnte, denn daß Jene alle Wege ausfindig machen werde, die zu Olga führte», dessen war Hetty sicher.
Endlich saß Hetty an einem schönen Junitag auf dem hohen Sitze des Landwagens neben ihrem Vater. Die Braunen schnaubten lustig in den Morgen hinaus, es ging nach Martinens Heimatsort. Gegen Bkittag ward der Flecken weit hinten ini Bergthal erreicht. Jni Gasthaus wurde gleich nach Martine gefragt und der zuvorkommende Wirth gab zu der nöthigen Anweisung der Wohnung gleich noch einige Personalien mit auf den Weg.
Martinens Vater habe ein gutes Handelsgeschäft, er sei ein geachteter Blaun im Flecken. Sein Sohn, der bedeutend älter sei als das Töchterchen, gehe ihm schon gut an die Hand. Die Frau sei etwas kränklich, aber gut geartet. Die Leute machen ein schönes Stück Geld in der Baumwolle so gut wie in den Spezereiartikeln.
Hetty's Vater brachte sie bis zu dem Hause mit den rothen Kreuzstücken und der großen Inschrift über dem Laden im Erdgeschoß; dann ging er seinen Geschäften nach.
26 Hetty trat in das Haus und schaute verwundert einen Augenblick durch die Glasthüre, die in den Laden führte.
Es war eine unaussprechliche Mannigfaltigkeit von Dingen in dem Lokal sichtbar, denn ein solcher Hauptladen eines größeren Torfes muß Alles enthalten, was zu einem Menschenleben irgendwie erforderlich sein kann. Dann stieg ! Hetty die hölzerne Treppe hinauf und stand vor einer offen stehenden, großen Stube. Sauberkeit, Ordnung und Wohlhabenheit schauten aus jeder Ecke des Zimmers heraus. Es berührte Hetty angenehm, daß Martine so einladend wohnte; sie blieb stehn und schaute mit Wohlgefallen, wie der Sonnenschein auf die Rosen fiel, die im schönen Strauß auf dem Tische standen und die Stube schmückten, als sie plötzlich von hinten gepackt und beinahe rücklings zu Boden gerissen wurde: Es war Martinens freudige Ueberraschung, die sich in dieser Weise äußerte. In der schönen, alten Stube, wo sie nun eintraten, fühlte Hetty sich augenblicklich heimisch und wurde es noch mehr, als auch die Mutter erschien und Hetty durchaus als eine alte Bekannte begrüßte und behandelte. Martine mußte sie gut eingeführt haben bei der Mutter. Diese verschwand indessen bald mit geschäftiger Miene, es mußten Vorbereitungen getroffen werden, den Gast zu feiern.
„Was macht sie, Hetty, was weißt du von Olga?" fragte Martine drängend, sobald die Beiden allein waren und auf den zwei Stühlen saßen, die am Fenster standen.
27 Nun kam es denn heraus, daß weder die Eine noch die Andere ein Wort von Olga wußte. Erst waren sie Beide etwas enttäuscht, dann meinte Hetty, sie wollen sich doch den Tag nicht dadurch verderben lassen, sie können doch nun einmal wieder recht von Olga reden, Jedes so viel es wollte, und Jedes wäre Mich sicher, daß ihm das Andere gern zuhöre. Martine sprach gar nichts Anderes die ganze Zeit durch, als sie am Fenster saßen, als die Mutter sie mit Kaffee bewirthete, als sie Hetty durch den sonnigen Abend nach dem Gasthaus zurück geleitete^ Alles, was sie über Menschen und Dinge redete, mündete irgendwie in den Ramen Olga aus. Unter vielen Versprechungen von Wiederkehren und von gegenseitigem Berichterstatten, wenn von Olga irgend Etivas sollte in Erfahrung gebracht werden, trennten sich die Mädchen an der Thüre des Gasthauses. — Wohl zwei Jahre lang hörte Hetty von Olga gar Nichts mehr. Noch einige Male war Jene mit Martine zusammengekommen, aber Keine hatte der Anderen den leisesten Bericht zu geben, ihr großes Interesse betreffend. Während der länger» Besuchszeit, die Hetty jährlich bei der Freundin Nanny zukrachte, war Alles, was sie erfahren tonnte, daß Olga's Mutter immer leidender fest daß keines der Schulkinder mehr in nahem Umgang mit Olga stehe, auch darum, weil sie an andern Dingen Freude habe, als die übrigen Kinder.
Nanny war eine Künstlernatur, sie hatte mannigfaltige und immer neue Interessen
und so Vielem nachzugehen im
Auch die stärksten Eindrücke eines Kinderherzens, wenn sie in keiner Weise Nahrung erhalten, verlieren sich nach und nach, wenigstens für eine Zeit. So berührte es Hetty nur wenig, als Nanny nach Jahr und Tag ihr einmal mittheilte, Olga sei aus der Schule getreten und in das große Mädchen-Institut versetzt worden, das sich unweit der Stadt aufgethan hatte; es wurde aber doch treulich an Martine berichtet.
Einige Zeit nachher wurde auch Hetty in neuen Boden versetzt. Sie lebte nun ganz in der Stadt, um an einer höheren Schulanstalt ihre Kenntnisse zu vervollkommnen.
Eben hatte sie das Schulzimmer verlassen und ging mit halbgeschlosscnen Augen über die blendenden Quadern der Brücke, als sie plötzlich mit lautem Ausruf angehalten wurde und, die Augen aufmachend, Martinens sonne- und freude- glänzendes Gesicht vor sich sah.
„Tu hier, Martine?" rief Hetty erfreut aus.
„Ja, ja", lachte Martine bestätigend, „und du solltest
Das war Hetty eine sehr merkwürdige Nachricht. Sie nahm Martine an den Arm und zog sie mit. Gleich sollte sie erzählen, wie sie zu ihrem Glück gekommen sei mitten in dem heisten Sommer.
In Hetty's kühlem Zimmer, hinter den Jalousien sitzend, fiel Martine mitten in ihre Geschichte hinein, wie Einer, dem es pressiert, die Hauptsache zu sagen.
„Ich bin immerfort mit Olga zusammen und du solltest nur wissen, wie sie jetzt ist!"
„Das konnte ich mir denken, daß dein Glück Olga heiße", fiel Hetty ein, „und wie ist sie denn, und wie kamst du mit ihr zusammen? Erzähl doch vom Anfang an."
Martine berichtete nun, wie sie schon angefangen habe, zu denken, sie werde von
Llga nie mehr Etwas hören, vergessen werde sie diese aber doch nie; da kam
gerade Hetty's Nachricht, Olga sei in das neue Institut eingetreten. Von dem Tag
an habe sie ihrem Vater keinen Augenblick mehr Ruhe gelassen und ihn fortwährend
mit Bitten bestürmt, er möchte sie doch auch in's Institut schicken. Erst habe
er sie nur ausgelacht und ihr gesagt, sie sei rapplig geworden, aber dann habe
sie ihm versprochen, sie wolle so gut rechnen lernen und französisch und Alles
was nöthig sei, daß sie nachher den Laden ganz allein regieren könne und er nie
mehr fremde Leute anzustellen brauche. Und sie habe ihm
„Was, du bist in dem großen Institut?" rief .Hetty in höchster Verwunderung aus, „nun wirst du unrettbar eine Gelehrte, Martine!" Me, die da sind, werden es, bis auf die Köchin herunter, die soll nur nach lateinischen Recepten kochen.
„So gefährlich ist's nicht, und weißt du, Hetty, bei mir nur gar nicht", sagte Martine mit gemüthlichem Lächeln; „aber lernen muß ich schon allerhand, mit dem ich Nichts zu thun weiß; ich würde aber Alles thun, um da zu bleiben, auch noch einmal einen Aussatz machen .über die philosophischen Jdeeu des achtzehnten Jahrhunderts', wenn ich schon damals, wie ich den machen sollte, eine» ganzen Tag und eine Nacht lang immerfort nachdachte und dachte, was ich doch darüber sagen könnte, so daß am Morgen mir alles Nachsinnen ganz stockte und ich da saß wie Einer, dem man den Kops abgeschnitten hat; nicht einen Gedanken brachte ich mehr zusammen, und um 10 Uhr mußte ich den Aussatz bringen. So fand mich Olga und sah meine bittre Angst. Da setzte sie sich hin und schrieb den Aussatz nur so vorweg und sagte: .Komm, Martine, jetzt kannst du schon Etwas daraus machen.' Das konnt' ich aber erst recht nicht. Ich schrieb Alles ab, Wort für Wort und du kannst mir glauben, ich verstand von Allem Nichts."
„Und die Lehrerin?" fragte Hetty.
31 „Tie merkte gleich Alles und ich läugnete gar nicht; sie sagte, mir müsse man's zu gut halten und froh sein, wenn ich das ABC richtig aufsage."
„Und dabei bist du nun so glücklich geworden, Martine?"
„Nicht gerade deswegen, aber ich achte es nicht so stark, denn siehst du, seit fünf Monaten bin ich nun immerfort mit Olga zusammen und sie ist so gut und freundlich und dazu ganz anders, als alle Andern im Institut, Alle haben auch Respekt vor ihr. Wenn Etwas geschieht, das nicht sein sollte und wir Alle durcheinander rufen und es Keins gethan haben will, dann steht Olga ganz schweigend da; die schreit nie mit. Und kommt die Lehrerin, die doch Immer Alle in Verdacht hat; so sagt sie regelmäßig: ,Taß Olga so etwas nicht mitmacht, dessen bin ich sicher.' Und sie kann es auch sein. Aber viele der Mädchen behaupten, Olga sei stolz und kalt und habe kein Herz, denn mit Jedem läßt sie sich nicht ein, und .gering' sagt sie immer noch, viel öfter noch als früher, und gleich kehrt sie den Rücken, wo ihr Etwas mißfällt. Viele fürchten sie auch ein wenig und gehn ihr aus dem Wege."
„Aber du bist doch immer ihre gute Freundin?" fragte Hetty.
„O ja, und was es heißt, sie zur guten Freundin zu haben, weiß ich erst jetzt.
Ich bin auch am meisten um sie. Schon am Morgen früh bin ich in ihrem Zimmer.
Weißt
„Und Olga nimmt dies Alles so von dir an, Martine?"
„Ja, und du weißt nicht, wie gut sie gegen mich ist. Tu denkst wohl, ich wäre ihr zu gering, so nah mit mir um- zugehn, und du hättest schon Recht, aber da siehst du, wie sie ist."
„Nein wirklich, Martine, so dachte ich nicht!" sagte Hetty. „Ich meinte, ob Olga sich auf diese Weise täglich von dir bedienen lasse, ohne es zu viel zu finden."
Diese Bemerkung mußte Martine gänzlich empört haben.
„Was meinst du denn, Hetty?" rief sie in vollem Zorn. „Wofür hältst du mich
denn?" Meinst du, ich werde je in meinem Leben Olga vergelten können, was sie
für mich ist? Glaubst du, dafür habe ich kein Gefühl? Ich habe ganz andere
Gedanken, seit ich sie kenne und besonders seit ich hier mit ihr zusammen lebe,
viel bessere, und Alles was ich thue, nehme ich jetzt viel genauer, denn ich muß
Alles inwendig vor ihr verantworten, ich dürste sie nicht ansetzn, wenn ich
thäte, was ihr verächtlich ist, und früher merkte ich es gar nicht, wenn ich so
Etwas that. Sie hat mich wie aus dem Staub
Hetty wollte nun doch auch noch wissen, ob Olga sie ganz vergessen habe und von dem Abend am See Nichts mehr wisse, da sie Freundschaft gemacht hatten. Martine versicherte, Olga erinnere sich an Alles sehr wohl, habe auch nach Hetty gefragt bei ihr, und sie selbst hätte ihr lange schon über Alles Nachricht gegeben, aber sie habe immer auf eine Velegcnleit ^ivartet, Hetty auszusuchen, um ihr Alles recht erzählen zu können.
Run sprang Martine plötzlich auf und nahm eilig Abschied. Sie' hatte vergessen, daß sie mit der Vorsteherin des Instituts zusammentreffen und mit ihr dahin zurückkehren sollte; schon hatte sie fast zu lange bei Hetty verweilt.
Dieses Zusammentreffen war für die beiden Mädchen das letzte auf Jahre. Sie
waren immer beim mündlichen Verkehr geblieben, eine Correspondenz hatte sich nie
zwischen ihnen angebahnt; so kam es, daß Jahre dahingehn konnten, ohne daß sie
Etwas von einander hörten. Ihre Lebenswege trafen auch in keiner Weise zusammen;
dadurch trat aber nicht das leiseste Gefühl der Entfremdung zwischen sie, Beide
Verschollen ic. 3
Mit Nannt) war Hettt) in den alten Beziehungen geblieben, durch alle die Jahre waren sie zusammen gewandert in ungestörter Eintracht, trotz aller Verschiedenheit ihrer Anlagen wie ihrer Interessen, Jetzt machten die Mädchen in ihrem neunzehnten Jahre stehn. Es war die Zeit des froheil FrühlingsfestcS, da van allen Seiten her die Schaaren des Volkes der Stadt zuströmten, um die Herrlichkeiten des Festzuges mit anzusehen und zum Schluß in den Jubel der ! Jugend einzustimmen, die sich nm die Freudenfeuer schaarte, welche ringsum von allen freien Plätzen emporstiegen, Hettt) zog mit ihrer Freundin Nannt), bei der sie seit einigen Tagen weilte, durch die bunte Menge dem Platze zu, wo soeben die Flammen von einem der Festfeuer empor schlugen. Die Mädchen standen still und schauten in die lustig auflodernden Feuergarben, als Jemand sich durch die Menge zu Hctty heran drängte, „Weißt dn's schon, Hettt), weißt du's schon?" rief es, ehe diese nur sehen konnte, wer hinter ihr stand; die Stimme erkannte sie freilich sogleich, „O, grüß Gott, Martine!" rief Hettt) erfreut, „gib mir 'mal erst eine Hand, und dann sprich weiter, denn ich weiß es wirklich nicht," ^ „Olga ist nus's Theater gegangen!" stieß Martine hervor.
35 „Martine, erzähl' mir doch keine KalendergeschichtenM sagte Hetty halb lachend.
„Was?" rief Martine und machte ihre Augen gerade so weit auf, als es die gegebenen Verhältnisse erlaubten; „glaubst du denn, ich brauche diesen Namen zu Kalender- geschichten? Nein, Hetty, nein, nein: da bist du irrig!"
Hetty sah, das; es Ernst galt. Sie nahm Martine bei der Hand und zog sie aus dem Gedränge weg der hohen Banmallec zu, wo es still war. Hier, unter den alten Linden hin und her wandernd, mußte Martine erzählen, was sie während der Zeit erlebt, da sich die Freundinnen nicht gesehn hatten.
Martine hatte nahezu zwei Jahre neben Olga im Institut zugebracht, als diese nach Hause gerufen wurde; ihre Mutter war kränker geworden. Nun war plötzlich bei Martine aller Wissenstrieb erloschen. Bis dahin hatte sie jeden Monat ihre Eltern flehentlich gebeten, sie möchten sie doch noch fort lernen lassen, nun hatte sie auf einmal genug und wollte gern sojort heimkehren, waS den Eltern ganz erwünscht war. Olga schrieb von Zeit zu Zeit an Martine, nach ihrem Versprechen. Die meiste Zeit, wie sie schrieb, brachte sie im Krankenzimmer ihrer Mutter zu, immer über ihren Büchern sitzend, die ihre Freude waren; dann starb die Bkutter. Von der Zeit an wurden Olga's Briefe knapper und ein Ton des Unbefriedigtseins ging durch sie alle. Es war, als stehe sie ganz allein und unverstanden von denen, die sie umgaben.
3 » 1
Seither hatte Martine Nichts mehr von ihr gehört, sie hatte auch noch keine
Adresse au Olga nach Dresden, obschon diese schon seit langen Monaten da war. So
konnte Martine in keiner Weise zu ihr gelangen, aber sie war voll guter
Zuversicht. „Du kannst Dir wohl denken", sagte sie am Schluß ihrer
Mittheilungen, „daß Olga keinen langen Unterricht nöthig haben wird, und dann
werden wir bald von ihr hören, dessen bin ich gewiß." Hellst war sehr erstaunt
und bewegt von Allem, was sie vernommen hatte. Sollte Olga wirklich diesen Weg
gehn können? Sie konnte nicht fassen, wie es möglich war. Hettst schwieg eine
gute Weile und
„Ja, ich >veiß ihn, aber ich spreche ihn nicht aus, ich habe es Olga versprochen. Uebrigens weißt du, Hetty", setzte Martine eifrig hinzu, „Olga darf nur erst auftreten, so werden die Zeitungen ihren Namen laut genug bringen und so von ihr reden, daß du sie bald erkennen wirst. Glaubst du's nicht auch?"
Hetty war ganz überzeugt davon. Olga mußte Glück machen aus der Bühne. Schon ihre Erscheinung konnte nicht verfehlen, einen durchaus gewinnenden Eindruck auszuüben, und ihre reiche geistige Begabung, vor Allem ihr ungewöhnliches Talent der Darstellung, ließen keinen Zweifel an ihren Erfolgen aufkommen.
„Eigentlich macht mich die Sache recht traurig", sagte Hetty; „wie wird es dieser stolzen und fein fühlenden Natur ergehen auf diesem ungewohnten Boden?"
„Herrlich! Du wirst sehn, welchen Namen sie sich machen wird."
„Soll ich dir gleich schreiben, sobald ich Etwas von ihr höre?" fragte Martine, jetzt vom Wege unter den Bäumen ablenkend, niederwärts dem See zusteuernd, wo sie ihren Bruder treffen sollte, mit dem sie zur Stadt gekommen war. Hetty bat sehr darum, Martine möchte ihr Nachricht geben, wenn sie von Olga hören sollte, bevor ihr Name bekannt würde, als der einer hervorragenden, gefeierten Künstlerin, wie sie Beide mit Zuversicht voranssnhn.
38 Wohl drei Jahre mochten dahingegangen sein. Hetty hatte nicht ein Wort mehr weder von Olga, noch von Martine gehört. Endlich schrieb sie an die Letztere, tragend, ob sie noch lebe und ob denn von Olga und ihrer neuen Thätigkeit noch Nichts zu hören sei.
Bald kam die Antwort. Martine war sehr niedergeschlagen, sie »mißte kein Wort von Olga, hatte seit ihrer ?lb- reise keine Spur mehr von ihr gehabt. Seit drei Jahren hatte sie alle deutschen Blätter zusammengerafft, deren sie habhaft werden konnte, und hatte in allen Theaterberichten »räch dem Namen gesucht, der ihr immerdar im Sinne lag, aber sie hatte ihn nie entdeckt. Vor lauter stummer und Verdruß hatte sie nie an Hetty geschrieben, sie wußte ja gar nicht mehr, was sie denken sollte.
In ihrer Häuslichkeit ging es ihr sehr gut. Zwar hatte sie ihre gute Mutter verloren und der Vater war recht alt geworden. Er hatte sich auch ganz aus dem Geschäft zurückgezogen, das sie nun mit ihrem Bruder Joseph zusammen verwaltete. Sie lebten sehr wohl und vergnüglich mit einander und wünschten nur, daß Hetty einmal »vieder bei ihnen einkehren möchte.
Auch Hetty hatte allerlei Lebenserfahrungen durchzumachen um diese Zeit, und wie oft sie es sich auch in Gedanken vornahm, die Tour zu Martine konnte nie ausgeführt »verden.
Nicht lange nachher hatten sich Hetty's Familienverhältnisse so gestaltet, daß
sie für immer nach der Stadt übersiedelte,
Drittes Capitel.
Es war um die Zeit, da die Bäume sich zu entfärben begannen, als Hetty eines Morgens von ihrem Fenster aus nach den alten Linden hinüberschaute, deren Wipfel golden schimmerten. Da sah sie ihrem Hause eine kleine Figur sich nahn, die, wenn auch lange ungesehn, doch immer in frischem Andenken bei ihr stand, es war Martine. Hetty lief ihr entgegen und führte hoch erfreut die alte Freundin in ihr Haus ein.
Martine hatte nie Vorreden gemacht, sie fiel gewöhnlich gleich mitten in die Sache hinein, welche sie bewegte. Heute, nach jahrelanger Unterbrechung des Verkehrs, waren ihre ersten Worte ganz wie eine Fortsetzung von gestern.
„O Hetty, du solltest wissen, was ich Alles erlebt habe", rief sie unmittelbar nach ihrem Eintreten in das Haus. Hetty bewillkommte erst herzlich den seltnen Gast.
„Nun will ich mir auch gleich Alles von dir erzählen lassen", sagte sie dann,
indem sie die wohl ausstaffierte Figur einiger Hüllen zu entledigen suchte und
sie dann neben sich
„Ja siehst du", eiferte Martine, ihren Platz entnehmend, „mir ist, als könnte ich gar nicht fertig werden mit Allem was ich dir zu sagen habe, und >veun ich dir gleich von jetzt an bis zum Abend immer fort erzählen würde."
„Tann nehmen wir die Nacht dazu und den folgenden Tag und so immer fort, bis wir durch sind", erwiderte Hetty.
„Nein, Hetty, spaß um nicht, es ist gar nicht zum Spaßen, was ich dir zu sagen habe."
Sicherlich war es Martine sehr Ernst, aber die kleinen, so gemüthlich blinzelnden Augen über dem komisch aufgestülpten Naschen machten ihr den tragischen Ausdruck immer streitig.
„Fang nur auch von vorne an", bat Hetty, „daß ich Alles recht gründlich erfahre. Tu weißt, zuletzt habe ich durch deinen Bries von dir gehört."
Martine wollte Alles der Reihe nach erzählen; es liege ihr ja selbst daran, sagte sie, daß Hetty Alles genau wisse, so als wäre sie selbst dabei gewesen, es könnte ja kein Mensch ihr mit der Theilnahme zuhören nnd Alles so mit ihr nachleben, wie Hetty gewiß thun werde.
Bon jener Zeit,an, da Hetty ihren Brief erhalten, hatte Martine nicht aufgehört,
dem Namen nachzuspüren, den sie zuversichtlich endlich als einen der besten und
berühmtesten Künstlernamen in den Blättern zu finden hofft«, aber ver-
Der vorsichtige Joseph hatte sich eingehend erkundigt über alle Lokalitäten, die man in Paris bewohnen könnte, ohne Extrabetrug zu erdulden; bis auf einen gewissen Grad, nahm er an, müsse sich Jeder, der dahin gehe, so Etwas gefallen lassen.
Er fühlte sich sehr erleichtert, als er von einem Bekannten im Torfe hörte, daß,dieser einen Vetter in Würtemberg habe, dessen Base eine Restauration und Pensiop in Paris halte, wo viele Teutsche aus- und eingeht, und wo man wohl versorgt sei.
Eine brave Würtembcrgerin, mit der man ein vernünf-
etwas besser zu Muth, als ich das ehrenfeste Gesicht der > Frau sehen konnte,
denn wir waren nun ganz aus dem dunkeln Gang durch eine große Weinstube, wo die
Leute saßen, in eine Hinterstube gelangt, wo es wohnlich und ordentlich aussah,
wenigstens so, daß man es eine Zeit lang schon ! da aushalten konnte. Aus den
Fenstern freilich, da hatte man einen traurigen Anblick. Was man in Paris für j
„Wenn wir Nachts nach Hause gingen, bogen wir von den Boulevards immer in
dieselbe Straße ein, da war das
„Mehrere Abende nachher kamen wir sehr spät, da war Nichts zu sehn in der Ecke,
dann kamen wir wieder früher, da war das Büblein richtig wieder an seinem Platz.
Dieß Mal ging ich leise zu ihm hin und sah, wie es den Kopf ganz in die Gitter
am Boden hineinsteckte und den Speisen- dampf einsog, der von unten herauskam.
Ach Joseph, sagte ich, der arme Kleine hat Hunger. Ich nahm ihn beim Aermchen
und fragte ihn, ob er Hunger habe. Er suchte sich los zu machen und mir zu
entwischen; aber ich hielt ihn fest. Nun schaute er mir verwundert in's Gesicht,
dann sagte er leise: ,Oui, M kaun.' Ja, das konnte man auch deutlich sehn, es
war Nichts wie Haut und Bein an dem Kreatürchen. Ich fragte ihn, ob er denn oft
Hunger leiden
„In einem Augenblick hatte das schmale Büblein den ganzen Teller geleert. Kannst
du auch Eierkuchen essen? fragte ich, da ! der Kellner eben ein Prachtstück
vorbei trug. ,Oui ülaüawe', sagte das Büblein ganz ernsthaft, aber seine Augen
funkelten dabei aus dem bleichen Gesichtchen heraus wie Leuchtkäferchen lind ich
sagte: ,Nun sollst du auch davon haben, bis du ganz genug hast.' Erst als er
ernsthaft bezeugte, nun sei er satt, verließen wir unser Lokal und gingen nun
ein Stück tveit mit dem Kleinen zusammen. Er sollte uns sagen, wem er angehöre
und was er thue. Er wußte aber nur zu berichten, daß er krrmyois heiße, daß er
bei der mors Sortraäv wohne,
„ Bei einem Seitengäßchen, das absolut dunkel war, stand er still und sagte, da müsse er hinein. Ich wäre gern mitgegangen, aber Joseph wollte nicht, doch versprach er mir, einmal am Tage da hinein zu gehn und Fran^ois aufzusuchen; der wußte aber keine Bezeichnung für seine Wohnung.
^ Wir sahn uns das Loch genau an, daß wir's wieder finden würden. Franyois wischte hinein, wie ein Wiesel.
„ Am folgenden Tag kamen wir extra her und gingen da hinein, wo der Kleine verschwunden war; aber'wir fanden keine Spur von ihm. Joseph ließ mich freilich auch nicht hineingehn, wo ich wollte; er sagte, das seien lauter Raubnester, und zog mich fort. Auch wo ich nach dem Buben fragte bei den Personen, die da herum waren, bekam ich ! keine Auskunft; sie wußten nicht, wen ich meine, gaben sie überall zur Antwort, und Joseph sagte, den fünden wir nie heraus, sie wüßten ganz gut, wen wir suchten, ich solle nur H sehn, was sie Alle für pfiffige Gesichter machten; da könnten wir unser Leben lang herumstolpern für Nichts.
! „Wir gingen. Nun konnte ich auch an der Straßenecke meinen armen kleinen Franyois nicht mehr entdecken, es that ^ mir so leid; überall sah ich nach ihm aus, aber vergebens.
Verschollen rc. 4
„Und nun das bleiche und ausgehungerte Büblein noch zu prügeln und zu
mißl-andrln! Ich war so empört, daß ich ausrief, sie solle mir nur den Buben
hergeben, sie brauche ihn nicht mehr so zu behandeln, ich wollte schon einen Weg
für ihn finden. So wie ich das gesagt hatte, warf der kleine Franyois sein
Kehrichtschäufelchen weg, sprang zu mir her
4 *
„Tie Wirthin beschrieb mir den Weg. Vom Hinterhause ging es in einen Anbau hinüber, dann fünf Treppen hinauf, 'dann waren mehrere Zimmer, sie wußte selbst nicht recht, welche Nummer, aber der Name der Lehrerin stehe auf der Thür. .Dieser Name!' sagte sie und suchte in der Tasche herum, dann zog sie eine zerknitterte Karte hervor. Ich las sie. O Hetty! Da stand der Name, den ich seit Jahren in allen Blättern vergebens gesucht hatte."
„Martine!" rief Hetty in höchster Erregung. „Es ist nicht möglich." Martine schwieg, sie hielt ihr Gesicht in ihren Händen verborgen, die Erinnerung hatte sie mächtig übernommen.
„O weiter, Martine, wenn du kannst", bat Hetty.
Nach einer Weile fuhr Martine fort: „Mir wurde es ganz schwarz vor den Augen und die Kniee brachen mir zusammen. Ich mußte mich niedersetzen, aber nicht für lange.
„Olga, hieß es in mir, Olga nur wenige Schritte von dir
„Fetzt kam eine Zeit, die werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Bon Paris
hatte ich genug gesehn, das Uebrige konnte Joseph allein genießen. Vom Morgen
früh an bis spät in die Nacht hinein saß ich oben bei Llga in ihrem
Dachstübchen. Was waren das für Tage so schön und so voller Freude und wieder so
traurig. Skga erzählte mir Alles, was sie erlebt hatte, und ließ mich auch
Blätter lesen, die sie geschrieben hatte in einer Zeit, da sie ihr Leben kaum
mehr zu ertragen vermochte, wie sie sagte, und keinen
sammcnkäme! O nie in meinem Leben werde ich das j kleine Fenster vergessen, an
dem wir da zusammensaßen und über die abscheulichen Höfe hin in lauter schwarze
Dächer und Kamine Hineinsahn. Sie saß auf dem alten Strohstnhl und ich auf ihrem
Koffer, vor uns stand das viereckige Tischchen von Tannenholz und daneben ihr
Bett. Da >var noch ein kleiner, wurmstichiger Kasten, und zwei schäbige, blaue
Vorhänge hingen an den Fenstern, Alles so ärmlich! Aber mitten drin saß Llga wie
eine Königin, die nicht dahin gehört, die man eingekerkert hat, aber sie sieht
nicht darauf, auf ihrer Stirne steht es geschrieben. Sie weiß wohl, bald muß die
Thüre ausgehn, und sie wird frei und geht zurück in ihre Herrlichkeit. So war
sie, Hetth, so sah sie aus, wenn sie nur erzählte von all dem Leid, durch das
sie gegangen war und dann von ihrem Trost und der bleibenden Freude, die sie
gefunden hatte." — Hier stand Martine auf, trotz Hetty's mächtigem Widerstand,
denn nun sollte ja Llga's Geschichte folgen, die sie kaum erwarten konnte, und
gerade da wollte Martine abbrechen, das konnte doch nicht sein. Aber Martine
blieb dabei. Ihr Bruder habe ihr auf der Pariser Reise so viel nachgegeben, daß
sie ihm nun auch ein wenig zu Gefallen
Martine zog beim Fortgehn noch ein Heftchen Blätter hervor und legte es in .Hetty's Hand, das sollte sie lesen; die Blätter waren von Olga's Hand geschrieben, wohl zu verschiedenen Zeiten, sie lagen lose auseinander.
Ihrem Versprechen gemäß kam Martine die folgenden Tage wieder, und aus ihren mündlichen Mittheilungen, wie aus den geschriebenen Blättern, als lebensvoller Ergänzung, wurde Hetty mit Allem bekannt, was Olga in den Jahren ihres räthselhaften Verschwundenseins erlebt hatte.
viertes Capitel.
Endlich hatte Olga das letzte Hinderniß überwunden; bereitwillig war sie auf die
Bedingung eingegangen, ihren Namen abzulegen, keinem Bekannten den nun
angenommenen zu nennen, noch je einen von ihnen von dem Orte ihres Auftretens in
Kenntniß zu setzen. Sie konnte nicht begreifen, daß man so sehr dagegen
eingenommen war, sie den idealen Weg betteten zu sehn, den sie vor sich sah und
für das Schönste hielt, das ihr das Leben bieten könnte. Sah sie doch darin den
direktesten Weg zum Ziel ihres ganzen Stte- bens, zur Veredlung ihrer selbst und
aller derer, die ihr nahe kamen, und auf wie Viele einzuwirken wurde ihr in
dieser Weise Gelegenheit geboten. Olga kam nach Dresden. In dem Lehrer, der sie
erwartete und der sie in die nöthigen Kenntnisse und Vorbereitungen für die
Bühne einzufiihren hatte, fand sie den Mann, dessen sie bedurfte. Er regte an,
er begeisterte und — was Olga mehr Noth that — er sichtete mit kundiger Hand die
gesammelten Schätze ihres Geistes. Die reiche, aber unklare Welt ihres Innern
cnt-
Nach der alten Stadt Prag zu gehn, leuchtete Olga ein, dazu in der Rolle der
Maria Stuart zum ersten Mal aufzutreten, war, was sie nur wünschen konnte. Sie
fühlte sich vollkommen sicher in der Darstellung der unglücklichen Königin,
hatte sie doch dergestalt in ihr Schicksal und Wesen, ja in jedes ihrer Worte
sich hineingelebt, daß es ihr war, als habe sie beim Wiederholen derselben durch
die Erinnerungen
Der Abend war da. Olga trat auf. Viel tausend Augen und Gläser sah sie auf sich gerichtet, große Schaaren von Menschen saßen stumm und gespannt da und erwarteten ihre Worte. So hatte sie sich's nicht vorgestellt.
Einen Augenblick verlor sie den Muth. Wie konnte sie an diese Menge heran die Worte sprechen, die ihr das Herz bewegten? Aber hatte sie nicht eben jetzt die Herzen dieser Schaaren in ihrer Gewalt? Konnte sie nicht alle zu derselben hohen Bewegung der Seele erheben, die sie erfüllte? Noch einen Schritt trat sie vor, blaß und zaghaft, als träte die leidende Königin wie scheu in das ungewohnte, freie Sonnenlicht heraus. Es war eine lautlose Stille. Ihre Stimme zitterte leise bei den ersten Worten, aber sie fuhr fort: „. . . . Diese Flitter machen die Königin nicht aus. Man kann uns niedrig behandeln, nicht erniedrigen."
diun war sie drin. Die Stimme wurde fester, sie vergaß die Umgebung, sie war
Maria. Die Scene im Garten folgte. Hier konnte Olga ihre ganze warme,
poesieerfüllte
Ter Schluß des Aktes kam. Da stand die gedemüthigte, dann schmählich verhöhnte
Königin vor ihrer machtvollen Gegnerin. Es mußte Olga leicht werden, hier mit
vollendet natürlichem Stolze sich zu erheben und die höhnende Feindin vollkommen
und mit solch überlegner Hoheit zu Boden zu schmettern, daß das augenblickliche
wie versteinernde Ergriffensein der Menge begreiflich war. Jetzt brach der
langverhaltene Beifall mächtig los. Maria mußte erscheinen; wieder und wieder;
Blumen und Kränze wurden von allen Seiten zu ihren Füßen geworfen. Mit jeder
Scene steigerte sich nun die laute Theilnahme. So tief hatte Olga in keiner
ihrer Proben das Schicksal durchgelebt, dessen Trägerin sie heute war. Ob das
lebendige Mitgefühl so vieler Menschenseelen dazu beitrug? Sie kam zum Schluß.
Noch einmal zitterte ihre Stimme, aber nicht mehr vor Scheu. Sie sah keinen
Menschen mehr. Vor ihrem innern Auge stand die
Ich fürchte keinen Rückfall, meinen Hast Und meine Liebe hab' ich Gott geovfert."
Es kamen die Schlußworte, bevor Maria ihren letzten Gang anzutreten hatte. Die lautlose Stille wurde nur von unterdrücktem Schluchzen durchbrochen.
Das Stück war zu Ende.
Jetzt brach ein Sturm los, wie ihn das Schauspielhaus lange nicht gehört hatte. Das Heraustreten der Maria wurde so lange und immer neu verlangt, daß sie entschieden verweigern mußte, nochmals zu erscheinen, wie laut und stürmisch auch ihr Name noch durch das Haus erscholl.
Jetzt trat ihr Lehrer zu ihr heran, eben als sie sich zum Weggchn bereit machte. Er schwamm vollständig in Entzücken. Er sührte seine Schülerin an den Wagen und brachte sie nach ihrer Wohnung.
„Mehr als man erwarten konnte, mehr als ein Mensch erwarten konnte, und ich erwartete viel!" sagte er wieder und wieder, und seine väterliche Freude machte ihm die Augen naß.
„Das habe ich Ihnen zu danken", versicherte ihm Liga, „und daß Sie dabei waren,
ist mir das Liebste am ganzen Erfolg."
Die Wohnung, welche Olga bezogen hatte, lag nahe bei dem alten, sturmtrotzenden
Clam-Galas-Palast, unweit der schönen Karlsbrücke, nach welcher Seite hin sie
gleich von Ansang am liebsten ihre Schritte lenkte, um unter den schattigen
Platanen am Franzensquai hin und her zu wandern und der ruhig fließenden Moldau
nachzublicken, oder über die statuenreiche Brücke hin nach dem hohen Hradschin
auszuschauen. Diese hoch thronende Kaiserburg, die ihre Thürme und Zinnen in den
Himmel hebt und stolz be- ! herrschend weit über Stadt und Fluß und das Gefilde
niederschaut, zog sie vor Allem mächtig an. Kein Tag verging nun mehr, daß sie
nicht ihren Gang machte nach der schattenreichen, immer stillen Baumallee, am
leise dahin ziehenden Berichollen rc. 5
Jetzt wurde „Tasso" vorbereitet.
Olga war mit ganzer Seele dabei. In der Prinzessin Leonore hatte sie nicht in eine Andere sich hineinzuleben, es war ihr eignes Wesen, das sie zur Erscheinung bringen konnte, in Worten, die mehr als ihre eignen es vermochten, den wahren, vollen Ausdruck ihrem Sein verlieh».
Ein Strahl der hellen Morgensonne fiel eben in Olga's Zimmer, wo Pauline, ihr treues Mädchen, das lange Lockenhaar der Herrin ordnete.
67 „Mach schnell", drängte diese, es mus; wunderschön sein draußen, ich möchte nach der Baumallee hin!
Pantine mochte nach einem Gegenstand suchen, der das Fräulein interessiern könnte, ihr Werk war noch keineswegs zll Ende und sie war damit genauer, als Olga selbst.
„Haben Sie schon den Gast gesehn, Fräulein, der den Tasso spielen soll?" begann sie nun ihre gesnndene Unterhaltung. „Man spricht so viel von ihm."
„So! wer spricht denn so viel von ihm?" fragte Olga.
„O Jedermann, die Leute vom Theater, in den Kaufläden, und Jeder, den man so sieht, Alle sagen, kein Anderer komme ihm gleich. Er war schon einmal hier längere Zeit, dann ging er nach Wien, und hier konnten sie es kaum erwarten, daß er wieder kam. Jetzt ist ein rechter Aufruhr vor Freude, daß er wieder da ist. Alle Leute sind für ihn eingenommen, sogar Alle am Theater, die ich kenne. Drüben ini Kunstladen hängt sein Bild, haben Sie's schon gesehen?"
„Nein, wie sieht er denn aus?"
Pauline meinte, er sehe aus, als wäre er recht ernsthaft, fast traurig und so,
als spräche er nie ein Wort und denke nur immer nach. Die Augen lägen ihm so
tief und dunkel im Kopf drinnen, und das Gesicht sei so scharf geschnitten, wie
das von der Bildsäule in Dresden, bei der das Fräulein immer stehen geblieben.
Sie habe auch gehört, er sei sehr groß und gehe immer ganz aufrecht einher. Aber
am merkwürdigsten sei die Stimme, die erkenne man unter Hunderten 5 *
„Ich bitte dich!" sagte Olga. „Bist du bald zu Ende? Woher hast du alle diese Berichte?"
„O man hört hier ein Wort und da ein Wort", ent- gegnete Pauline, „und jetzt spricht Alles von Herrn v. D., Alle am Theater und wo man hin kommt. Er heißt überall der .schwarze Tasso', weil er so schwarz aussieht, Haar und Augen und Augbraunen und so das Ganze, und weil man ihn in dieser Rolle so gern sieht. Jetzt freut man sich auch recht, daß Sie Beide in diesem Stück neben einander auftreten."
„So. Kann ich endlich gehn?" Olga stand auf, das Werk war wirklich zu Ende. „Und hör, Pauline", sagte sie jetzt mit bestimmten Ton, „laß dir's noch einmal im Ernst gesagt sein, daß du dich mit den Leuten am Theater in keine Plaudereien einlässest, davon will ich Nichts!"
Die Proben waren vorbei gegangen, die Aufführung des Tasso war auf den folgenden
Tag bestimmt. Von dem schwarzen Tasso hatte Olga außer den Worten seiner Rolle
ivcuig vernommen. Fast die ganze Zeit durch, da er nicht selbst thätig war,
hatte er schtveigend, in einer Ecke sitzend, zugebracht und die Andern
beobachtet. Daß er sie, die neu Angekommene, besonders scharf sixirte, fand sie
ganz begreiflich. Offenbar war er kein gesellschaftlicher Mensch; keiner der
andern Schauspieler machte sich an ihn heran, keinem
Nur noch zu hören: ,Geh, dir ist »erziehn!'
Allein ich hör' es nicht, ich hör' es nie!"
Der Sonnenschein fiel mild,-und lieblich auf die golden angehauchten Herbstbäume am Franzensquai. Es war still und menschenleer da in diesen Nachmittagsstunden. Nur hier und da saß ein lahmer Alter aus einer Bank unter den Platanen und schaute geruhlich auf den sonnebeschienenen Boden zu seinen Füßen.
Olga war schon einige Male der grünen Moldau entlang auf und nieder gegangen.
Nun setzte sie sich auf ihre lange schon erwählte Bank, und den Rücken der
Banmallee zugekehrt, schaute sie dem ruhig dahinfließenden Wasser nach. Nicht
lange hatte sie, in ihre Gedanken vertieft, da gesessen, als von der Brücke her,
die Allee entlang, eine hohe Männer- gestalt sich nahte. Es war wie eine
Fortsetzung ihrer Ge-
Jetzt wandte er sich zu Olga; als wären seine Worte nur eine Forsetzung von Ausgesprochenem oder nur Gedachtem, sagte er: „Sollten Sie wirklich den Ausblick auf die steinerne Burg und all die Kirchen- und Klosterthürme dort oben demjenigen vorziehn, der Ihnen im Rücken liegt? Ich kenne nichts Wohlthuenderes, als in diese reichen Baumgipfel hineinzuschauen, wo leise die Sonnenstrahlen durchbrechen und die Blätter alle in grün-goldenen Schimmer tauchen."
Olga war sehr erstaunt.
„Ich freue mich der Aussicht vor uns täglich von Neuem", sagte sie. Nie werde ich müde über die ruhig fließende Moldau hin,- auf nach dem majestätischen Schloßbcrg zu schauen, den eine so erinnerungsreiche Vergangenheit umweht, daß es mir die Seele weitet, darauf zu verweilen."
„Diese Vergangenheit hat viel beunruhigende Töne", be-
„So wenden Sie Ihre Blicke immer der Allee zu, wenn Sie hieher kommen? Das hätte ich nicht gedacht", sagte Olga verwundert.
„Das hätten Sie nicht gedacht, mein Fräulein, und warum denn nicht?" fragte Herr v. D. in seiner ruhigen Weise.
„Weil ich geglaubt hätte", erwiderte Olga lebhaft, „dieses großartige, von der Natur wie von des Menschen Hand so herrlich ausgerüstete Gemälde müßte mehr zu Ihrem Wesen stimmen, als solches Stillleben der Natur."
Olga hatte eben vorher ähnliche Gedanken in ihrem Herzen bewegt, jetzt wußte sie aber selbst nicht recht, wie sie dazu gekommen war, diese auszusprechen. Herr v. D. schwieg.
„Sie sind noch nicht lange auf der Bühne", bemerkte er nach einer Weile.
„ Nein, hier in Prag bin ich zum ersten Mal aufgetreten. Sie haben wohl den Neuling bald durchgefühlt", bemerkte Olga.
„Sogleich", sagte Herr' v. D. lächelnd. „Daß nur der Hauch der Alles umgestaltenden Zeit solchen Neuling niemals berühren möchte."
Olga schwieg. Einen Augenblick schaute sie verwundert den Menschen an, den sie
so kurz erst kannte, der ihr doch
„Ich hatte den entgegengesetzten Eindruck von Ihrem Spiel", sagte sie dann, das Gespräch wieder aufnehmend. „Sie müssen in dieser Rolle so daheim sein, daß Sie jeden Hauch der Stimme in Ihrer Gewalt haben. Ihr Spiel und Wesen war so ganz Eins, daß mir vorkam, Sie mußten sich selbst kaum mehr von Tasso unterscheiden können."
„Mein Uebergehn in Tasso's Wesen ist mehr Natur als Kunst, das ist ganz richtig", entgcgnete Herr v. D.; „fing doch die Ähnlichkeit unserer Wege so früh schon an! Stur selbst Erlebtes sage ich in jenen Worten: „Und zog die schöne Welt den Blick des Knaben Mit ihrer ganzen Fülle herrlich an, So trübte bald dm jugendlichen Sinn Der theuren Eltern unverschuldet Leid. lind öffnete die Lippe sich zu singen, So floß ein traurig Lied von ihr herab."
„O wie traurig!" rief Olga in reger Theilnahme aus. „Was konnte nur so früh solch' tiefe Schatten in Ihr junges Leben werfen?" Sie erschrak aber ein wenig und fügte schnell hinzu: „Verzechn Sie, mein Mitgefühl trägt die Schuld, zu solcher Frage habe ich ja gar kein Recht."
„Ein wahres Mitgefühl ist besser als ein Recht", erwiderte Herr v. T. in der
freundlichsten Weise. „Kann es wirklich Interesse für Sie haben, zu wissen, wo
und wie
„ O gewiß, ein großes Interesse", versicherte Olga. „Aber einmal waren Sie doch ein fröhliches Kind. Jeder ist das doch einmal im Leben, nicht wahr?"
„Mancher wohl kurz genug", erwiderte Herr v. D. „Ich erinnere mich Eines
ungetrübt frohen Tages meiner Kindheit, meiner ganzen Jugendzeit. Ich ging
zwischen hohen Taxushecken und Resedabeeten hin mit meiner Mutter. Sie hielt
mich an der Hand. Die Resedablumen dufteten, und Sonnenschein lag aus den Hecken
und auf dem grünen Rasen dazwischen. Mir war sehr wohl. Meine Mutter liebte ich
über Alles; sie war bei mir, und um uns war Alles Schönheit und sonnige Stille.
An jenem Abend trat mir die Freude des Daseins in's Bewußtsein, um nie mehr so
wiederzukehren. Von der scheidenden Sonne fielen die Strahlen so auf meine
Mutter, daß sie ganz von Goldglanz umflossen neben mir stand. Wie war sie so
lieblich!" Herr v. D. hielt inne, er wollte wissen, ob er Olga nicht ermüde; sie
bat dringend darum, er möchte fortfahren und recht ausführlich erzählen. Er fuhr
fort: „Gleich nachher muß meine Mutter krank geworden sein. Wir wanderten nie
mehr im Garten zusammen, ich saß fortwährend an ihrem Bette, da war ich nicht
fortzubringen, auch nach dem Garten nicht mehr. Meine Mutter muß eine sehr
Poesiereiche Natur gewesen sein, sie sagte mir die
Wie zitterte ich bei ihrem Erzählen um den Handschuhritter im Löwenzwinger! Wie schlug mir das Herz vor Tank und Freude, wenn der gute Fridolin gerettet wiederkam ! Mit welch' fieberhafter Spannung verfolgte ich erst den Trachcnkampf. Tann mußte Alles dargestellt werden. Schubladen wurden zu Trachenhöhlen, Fensternischen zu Kapellen, das offne Kamin zum Löwenzwinger, alle Stühle zu Kampsrvssen. Ich war die handelnde Hauptperson, die Mutter alle Andern. Das waren herrliche Stunden! Aber oft mitten im Spiel kam ein tiefer Schmerzenszug auf der Mutter Angesicht, sie legte den Kopf zurück und wurde todes- blaß. Eine Weile lag sie dann unbeweglich und sagte kein Wort mehr. Tann kroch ich zu ihrem Bett hin und weinte, und alle Freude war vorüber. Ich glaube, so ging es jeden Tag. So vergingen mir die Kinderjahre. Von der Liebe und der Poesie meiner Mutter genährt und getragen, hätte ich ein schönes Dasein gehabt in unserer Abgeschiedenheit, und Nichts weiter verlangt, aber ihr Leiden trübte mir jeden froh begonnenen Lebenstag." „Doch vcrzeihn Sie", unterbrach sich hier Herr v. T., „ich vergesse mich in der Erinnerung; so lange darf ich Sie nicht in Anspruch nehmen."
Aber Olga bat auf's Neue, Herr v. D. möchte weiter
„Sie lebten also auf dem Lande", sagte sie, wieder in die Erzählung einlenkend; „darf ich auch wissen wo? Und Ihr Vater?"
„Ich erzähle Ihnen gern weiter, wenn es Ihnen nicht zu viel wird", fuhr Herr v. D. fort. „Gewiß, wir lebten Sommer und Winter auf dem einsamen Gute, das mein Vater schon als Kind bewohnt hatte und das auf ihn, als einzigen Sohn, übergegangen war, wie es dereinst auf mich übergehn sollte, welcher Gedanke meines Vaters Glück und Stolz ausmachte. Das Gut liegt in Schlesien. Noch sehe ich die fernen blauen Linien der Schneekoppe und des waldigen Kienasts drüben am Horizont über die dunkeln Taxushecken in den Garten hereinschauen. Mein Vater war ein stiller, immer ernster Alaun; heiter sah ich ihn nie, so wie die Mutter manchmal mitten aus ihren Leiden heraus sein konnte.
„Ich glaube, der Zustand meiner Mutter machte ihn immer ernster und
schweigsamer. Er war freundlich gegen mich; aber wenn er in das Krankenzimmer
der Mutter kam und lange Zeit schweigend und düster in der Fensternische stand,
fühlte ich mich gehemmt in meinem schönen Spiel; ein unbestimmtes Gefühl sagte
mir, daß mein Vater keinen Sinn für meine Ritter und Drachen habe, die doch mein
ganzes Leben erfüllten und mir näher standen, als alle Ge-
Alle meine Gedanken waren mit meiner Mutter verknüpft, Alles, was mich hob und
begeisterte, das allein mich auf die Bühne zog, hing mit Erinnerungen an meine
Mutter zusammen. In meinem verödeten Vaterhause war sie ja nicht mehr, dahin
konnte ich nicht zurückkehren. Ich betrat die Bühne. Auf wiederholte Briefe an
meinem Vater erhielt ich keine Antwort mehr. Es ging mir gut. Ich wollte mir
einen Namen machen und dann meinen Vater zu versöhnen suchen. Da erhielt ich die
Nachricht seines plötzlichen Todes. Auch diesen Schatten noch auf meinen
Lebensweg! Ich kann es nun versteh», wie dieser schweigsame, aber tief fühlende
Mann in solcher Einsamkeit von seinem Gram und so viel quälenden Gedanken hat
verzehrt werden
Herr v. D. schwieg plötzlich. Er schaute vor sich hin und blieb stumm.
Auch Olga hatte lange geschwiegen. Voll warmer Theilnahme sagte sie dann: „Schauen Sie nicht mehr zurück auf die Vergangenheit, blicken Sie vorwärts, machen Sie durch ein schön und edel angewandtes Leben an der Gegenwart gut, was Sie sich vorzuwerfen haben für vergangne Tage. Bieten Sie denen, die leben, von Ihren reichen Gütern, mit denen Sie die Dahingeschiedenen nicht erfreuen konnten. Ihnen ist zu viel Anderem auch noch der schöne Trost geblieben, der für so Viele zum hohen Genusse wird, daß Sie das Wort in vollster Wahrheit sagen können: , Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, Gab mir ein Gott, zu sagen, was ich leide.'
Und in welcher Weise können Sie es sagen!"
Herr v. D. blickte auf. Mit dem weichen Klang seiner tiefen Stimme sagte er: „Es gibt einen Trost, der mir ganz anders wohlthun kann, das ist die Theilnahme eines Menschenherzens, die mir geschenkt wird. Sollten Sie solche für mich empfinden können?"
„Gewiß habe ich herzliche Theilnahme für Sie gefaßt", erwiderte Olga in ihrer gradsinnigen Weise. Sie reichte Herrn v. D. ihre Hand, er hielt sie fest in der seinigen. Jetzt stand Olga aus.
79 „Für mich ist es Zeit, nach Hause zu gehn", sagte sie, ihre Hand leise zurückziehend. „ Morgen werde ich unter den Bäumen von Belriguardo wieder mit Tasso zusammentreffen."
Herr v. D. bcgleitetcte Olga schweigend bis zu ihrer Thüre; dann verliest er sie.
Am solgenden Tage sand die Aufführung des Tasso statt.
Unter den Bäumen von Belriguardo trafen Tasso und Leonore zusammen, aber seltsam. Es war als wären sie nur da für sich, als sprächen sie nur zu einander, nicht für die Menge, die da versammelt säst, um zuzuhören. Wie einfache Wirklichkeit tönten die Worte Tasso's an ihr Ohr, die er mit der stillen Wärme sprach, welche nur das lebendige Gefühl aushaucht: „So war auch ich von aller Phantasie Von jeder Sucht, von jedem falschen Triebe Mit Einem Blick in deinen Blick geheilt.
Wenn unerfahren die Begierde sich Nach tausend Gegenständen sonst verlor, Trat ich beschämt zuerst in mich zurück Und lernte nur das Wiinschenswerthe kennen."
Auch ihr flössen die Worte ohne Hinzuthun jeglicher Kunst warm und lebendig von den Lippen: „Wie schön befriedigt fühlte sich der Wunsch Mit ihm zu sein an jedem heitern Abend!
Wie mehrte sich im Umgang das Verlangen, Sich mehr zu kennen, mehr sich zu verstehn!
Und täglich stimmte das Gemüt sich schöner Zu immer reinern Harmonien aus."
Mit jedem Wort erhöhest du mein Glück, Mit jedem Worte glänzt dein Auge Heller.
Ich fühle mich im Innersten verändert, Ich fühle mich von aller Noth entladen, Frei wie ein Gott und Alles dank' ich dir."
Jetzt brach der Beifallssturm, der bis dahin um der Ruhe willen oftmals gedämpft worden war, unaufhaltsam los. Tausendstimmig erscholl der Ruf nach Tasso, auch Leonorens Erscheinen wurde stürmisch verlangt. Es machte keinen Eindruck aus sie. Tos Berauschende des Beifalls, das sie als Maria Stuart empfunden, war gänzlich vorüber. Sie stand ivie träumend an eine Coulisse gelehnt und hörte den Lärm draußen wie Etwas, das sie Nichts anging. Jetzt trat Tasso zu ihr heran, er faßte sie bei der Hand, um sich mit ihr aus der Bühne zu zeigen. Das Haus erbebte von dem Lärm der entzückten Menge.
Olga folgte erst willenlos, dann besann sie sich: „Es gilt ja Ihnen", flüsterte
sie beim Eintritt und wollte stehn bleiben. Aber eine feste Hand hielt sie und
zog sie leise zwingend mit sich fort. Jetzt schob Tasso sie mit leichter
Bewegung voran, Leonore mußte den ersten Freudenstrom für sich gelten lassen.
Sie ließ Alles geschehn, sie fügte
Das Schauspiel war zu Ende.
Noch einmal stand Olga an Tasso's Hand vor der jubelnden Menge, dann führte er sie zu ihrem Wagen.
„Das war Tasso, der ächte Tasso", sagte Olga beim Einsteigen.
„Nur die ächteLeonore vermag einen solchen zu erwecken", entgegnete Herr v. D.
„Erst seit heute weiß ich, wie Tasso sprach, wie Tasso schwieg", sagte Olga wieder, indem sie ihm die Hand zum Abschied reichte.
„Erst seit heute weiß ich, wie Tasso empfand." Herr v. T. drückte die Hand, der Wagen fuhr weg.
Ueber Olga hatte sich ein Zustand nie gekannter Lebenswonne ausgebreitet. Sie fühlte ihr ganzes Dasein wie getaucht in einen süßen Sonnenschein, der alle Kräfte und Keime ihres Wesens durchdrang und sie zu vollen Blüthen entfaltete.
Ein erhöhtes Leben durchströmte sie. War es doch, als ob Alles, das sie sah und hörte, aus einmal einen viel tiefern Sinn bekommen, als ob jedes Ding um sie her einen höhern Werth erhalten hätte. Jeden Morgen war das erste Gefühl des neuen Erwachens das eines vollkommnen Glückes, wieder einen Tag des schönen Erdenlebens vor sich zu haben.
«erschollen,c.
6
Und dieser Mann, von dem sie wie von keinem andern Lebenden angezogen war, hatte
für sie eine Aufmerksamkeit, wie er solche für keinen Andern zeigte. Er fand
sie, wo sie sein mochte, er wußte so gut, auf welchen Wegen sie zu treffen war.
Er blieb verschlossen und schweigend, wo er auftrat, bis Olga sich zeigte, dann
wandte er sich zu ihr, und nie war er es, der den Faden brach, wenn sie, im
Gespräch vertieft, die Stunden unbemerkt an sich vorbeiziehn ließen. Wie wurde
ihr Blick geweitet, wie gewann ihr Urtheil an Sicherheit, durch diesen täglich
sich erneuernden Austausch der Gedanken mit ihm! Sie wurde von ihm verstanden,
wie sie es nie im Leben erfahren hatte, aus halbem Wege schon, und sein klares
Verständniß machte ihr das eigne oft erst völlig klar. Führte er sie auf die
Wege seiner eignen Gedanken, daß sie auch ihn verstehe, da ging ihr mit jedem
Schritt ein neues Licht, ein neuer Blick in die Tiefen des Menschenherzens aus.
Aber was sie höher schätzte als all' seine geistigen Gaben und Güter, war, daß
sie in ihm gesunden, woran ihr Herz geglaubt, was sie als Höchstes gesucht
hatte, einen Menschen, dessen ganzes Wesen das Ideal
Die Tage waren dahingegangen, kaum konnte Olga begreifen, wie ihr der Herbst entschwunden war, als sie entdeckte, daß ihre Bäume an der Moldau entblättert standen und das dürre Laub ihr unter den Füßen rauschte. Länger als gewöhnlich hatte sie an diesem letzten, milden Spätherbsttage draußen verweilt. Es war schon dunkel, als sie in ihre Wohnung trat. Auf der Treppe stand ihr Mädchen in so eifriges Gespräch vertieft mit einer Fremden, daß es die Eintretende erst gar nicht bemerkt hatte. Nun Olga vor ihr auf der Treppe stand, erschrak Pauline, verabschiedete in Eile die vor ihr Stehende und folgte ihrer Herrin. Olga trat ohne Bemerkung ein. Das Mädchen mochte ein Gefühl von Unrecht im Herzen haben; wie sich entlastend sagte es: ,, Ja, Fräulein, wenn man aber auch Dinge hören muß, die man kaum glauben kann! Wer hätte denken können, daß Herr v. D. kein Ehrenmann sei!"
„Was erlaubst du dir, Pauline?" fuhr Olga auf.
„Wenn's aber aus der ersten Hand kommt, fo muß es wohl wahr fein, ich will Ihnen
auch Alles erzählen", sagte Pauline eifrig. „ Da ist die junge Sängerin,
Fräulein Nina, mit den braunen Augen, die sich abhärmt und ihre Augen verweint,
und es ist kein Wunder, wenn man weiß, daß Herr v. D. eine ganze Zeit lang sie
immer aus allen Andern heraussuchte und mit ihr spazieren ging und sie be- 6 »
„Pauline", sagte Olga mit zurückgehaltener Aufregung, „du weißt, daß ich dich nur unter der Bedingung mit hierher genommen habe, daß du dich von allen Klatschereien fern hältst, die an jedem Theater vorkommen und gewöhillich aus den geringsten Motiven hervorgehn. Laß es das letzte Mal sein, daß ich so Etwas von dir höre!"
Als Olga allein in ihrem Zimmer saß, stieg ihr das Gehörte wie ein Vorwurf auf, als wäre in ihrem eignen Hause ihrem nahen Freunde ein schweres Unrecht geschehn. Sie wollte es gut machen, sobald sie ihn am nächsten Morgen sehn würde. Nicht daß sie ihn von dem niedrigen Geschwätz in Kenntniß zu setzen dachte, nur ihm mehr als je ihr gänzliches Vertrauen zeigen wollte sie.
Als sie am nächsten Morgen ihren Gang zur Probe machte, traf sie, in das Gebäude tretend, auf die braunäugige Nina.
Zum ersten Mal faßte Olga beim nahen Borbeigehn das Mädchen fest in's Auge und
seltsam — das konnte keine Täuschung sein —, auch Nina schaute sie besonders an;
ein langer, wie fragender Blick war's, den sie auf Olga gerichtet hatte. Wie ein
Stich ging er ihr durch's Herz. Sie fragte sich warum? Zum ersten Mal stieg ein
Gefühl von Zweifel, von Verdacht in ihrem Innern auf. Ein eisiger Griff in
Jetzt mit Herrn v. D. zusammentreffen, wie sie's gewohnt war, konnte sie nicht. Auf ihrem Zimmer saß sie und staunte vor sich hin, unfähig, sich von dem beunruhigenden Eindruck zu befreien, den sie nicht zum klaren Gedanken zu gestalten vermochte, der als ein unbestimmtes Bangen sie quälend verfolgte.
Jetzt trat Pauline bei ihr ein. Sie konnte nicht ertragen, ihre Herrin so schweigsam und verändert zu sehn. Sie hatte sich gedacht, ihr Schwatzen habe das Fränlein verdrießlich gemacht, und bat um Verzeihung. Sie wollte in ihrem Leben nie wieder plaudern; aber was wahr sei, bleibe doch wahr, versicherte sie.
Olga wollte wissen, wie das Mädchen dazu komme, so fest zu behaupten, es hätte
nur Wahres ausgesprochen. Pauline erzählte bereitwillig, die Frau, von der sie
Alles wisse, sei die Arbeiterin, die dem Fräulein die hübschen Kleider-
broderien liefere. Wenn sie nun hie und da zu dieser in's Haus gegangen sei, um
ihr Arbeit zu bringen, dann habe so ein Wort das andere gegeben, und in der
letzten Zeit habe die Frau oft gejammert und sich beklagt bei ihr, daß sie
solche Sorge um ihre Tochter Mna haben müsse, die sei gar nicht mehr dieselbe,
die sie früher gewesen, nicht mehr zu erkennen. Gesundheit habe sie sonst nie
viel gehabt und
„Was", fragte Olga, mit Gewalt ihre Bewegung unterdrückend, „Alles, was du mir gestern von der jungen Sängerin gesagt, hättest du von ihrer eigenen Mutter gehört?"
Pauline bestätigte nochmals, daß sie die ganze Sache von der Mutter vernommen habe, daß diese es auch gewesen sei, mit der sie sich am vorigen Abend auf der Treppe ein wenig vergessen habe, nachdem ihr die Frau das neue Kleid für das Fräulein übergeben hatte.
Als Olga wieder allein mit ihren Gedanken saß, fing die unbestimmte Qual an mehr
und mehr feste Gestalt zu gewinnen. Könnte es sein? Könnte dieser Mensch trügen?
Könnte er sie, könnte er Andere hintergehn? Nein, so war es nicht, das wußte sie
bestimmt. Aber wie war es möglich? Wie war Alles zu erklären? Klarheit mußte sie
haben. Sollte sie hingehn unter die Platanen? Da mußte er jetzt aus- und
niedergehn, vielleicht ihrer wartend. Nein, das war sie nicht im Stande. Wie war
Gewißheit zu erlangen? Schon ging der Tag zur Neige und noch saß sie an ihrem
Fenster, ihre Gedanken wurden immer unruhiger. Drüben am alten
Clam-Gallas-Palast blickten die dunkeln Steinfiguren sie immer finsterer an;
sonst schaute sie so gern hinüber, jetzt sahn- sie schrecklich aus! Sie stand
auf
Früh am nächsten Morgen fragte sie ihr Mädchen um die Adresse der besprochenen Frau, sie wollte dieser neue Arbeit bringen. Pauline schaute erstaunt ihre Herrin an: Sollte sie nicht die Sache besorgen können? Olga erwiderte kurz, diesmal wolle sie selbst es thun.
Auf dem bezeichneten Wege fand sie sich leicht zurecht Sie stieg die vielen Treppen des alten dunkeln Hauses hinan Zu oberst angelangt, wurde es Heller. Sie schaute durch das Fenster am Ende des schmalen Ganges, es ging nach dem Franzcnsquai hinaus, gerade auf ihre Bank hin konnte man sehn. Die Thüre wurde ihr von einer Frauengestalt aufgemacht, welche Olga beim ersten Blick als die Mutter der braunäugigen Nina erkannte, wie sehr auch das ehmals schöne Gesicht eingefallen und verwittert aussah. Halb elegante, halb armselige Kleidungsstücke hingen an der Frau. Olga machte ihre Bestellungen und gab dann ihren Namen ab.
„ O", sagte die Frau, „ den Namen kenne ich schon, habe auch schon öfter für die Dame gearbeitet. Die Dame ist am Theater, da habe ich auch meine Bekanntschaften. Die Dame kennt wohl auch meine Tochter Nina?"
„ Wenig, nur von weitem", entgegnete Olga, „ gesprochen habe ich sie nie. Sie sieht zart aus."
„Ja, ja, ist es auch und war es immer", fiel die Frau eifrig ein; „aber blühend
wie eine Rose war sie bis zu
„Was hat das Mädchen für Kummer?" fragte Olga. Die Warte kamen ihr halberwürgt aus dem Halse heraus.
„Ach was sollte es für ein Kummer sein!" sagte die Frau ironisch. „Nichts Neues.
Tie Dame kennt ja wohl den Herrn v. D., der am Theater ist, und weiß Wohl, wie
der spielt! Es ist auch wahr, er spielt, wie's kein Anderer ihm nachthut, und so
ist er im Umgang. Kein Mensch glaubt's, der ihn nicht nah gekannt hat; das habe
ich aber» denk' ich. Wie oft kam er hierher in dies kleine Zimmer und saß bei
uns und las dem Mädchen Sachen vor und sprach zu ihr, wie nie Einer vorher, und
that, als hätte er ein Interesse für ihren hintersten Gedanken. So ging's» bis
sie nicht mehr ohne ihn sein konnte, dann blieb er weg und kani nicht mehr. Wenn
ich das Mädchen frage, was da vorgefallen sei, so sagt sie, da sei gar Nichts
vorgefallen, und wenn ich meine Meinung sage, so thut. sie noch, als wäre ich im
Unrecht. Aber seither ist's vorbei mit ihr. Da grämt sie sich herum und sieht
aus wie ihr eigner Schatten. Aber ich hab' es ihr zum Voraus gesagt. Nina, sagte
ich, wie er das erste Mal kam und ihr Bücher brachte» und es ist wahr, sie hat
viel von ihm gelernt, es war ihm an ihr gelegen, aber, sagte ich zu ihr: 'nimm's
nicht zu Herzen. Ich weiß, wen ich jedes Mal zu Besuch gesehn
Olga war ausgestanden. Sie hatte genug gehört, noch mehr anzuhören war ihr unmöglich. Sie entschuldigte sich, daß ihre Zeit nicht weiter reiche. Nun entschuldigte sich auch die Frau, daß sie mit ihrem Erzählen die Dame aufgehalten. es werde ihr aber zu viel, die Sache so allein zu tragen, sie müsse ihre Last etwa ablegen bei einem theil- nehmenden Menschen.
„ Tas Kind ist ja meine einzige Stütze und Hülfe ", schloß sie, halb in Jammer, halb in Zorn, „ und er hat sie unglücklich gemacht, er hat uns ruinirt."
In diesen! Augenblick öffnete sich die Thüre, und Nina trat herein. Als sie Olga gewahr wurde, flog über ihr blasses Gesicht eine brennende Nöthe. Olga grüßte. Sie erwiderte den Gruß und wandte sich weg. Sie mußte die letzten Worte der Mutter gehört haben. Plötzlich wandte -sie sich wieder um und sagte in höchster Entrüstung: „Tas war ein Unrecht von dir, Mutter."
„Da sehn Sie's, Fräulein, da hören Sie's selbst", rief die Frau aus und faßte in
ihrer Aufregung Olga's Hand und Arm, um sie fest zu halten, denn Olga hatte das
Zimmer verlassen wollen. „Tas soll man Alles nur hinnehmen. Erst gewöhnt er sie
an sich, bis sie nur noch von ihm lebt, wie eine Primel von der Sonne; dann läßt
er sie am Schatten sitzen, bis sie verkommen ist, und es soll
„Mutter", sagte Nina jetzt mit verhaltener Aufregung, die durch die Stimme zitterte, „und wenn auch Alles ganz so wäre, wie du sagst, so wollte ich es lieber so, als daß ich ihn nie gekannt hätte."
Olga hatte sich losgemacht, sie eilte fort. Draußen schien die blasse
Novembersonne über die alte Stadt hin. Sie konnte nicht in ihr Haus eintreten,
sie fürchtete sich, allein mit ihren Gedanken in die Stille zu kommen. Sie eilte
der Brücke zu, gegen den Hradschin hinauf, sie wollte den weiten Ausblick
aufsuchen, der von oben her die ganze Umgebung beherrscht, daß ihre Gedanken
sich ausweiten möchten, daß sie von ihrer eignen Persönlichkeit abgezogen
würden, daß sie befreit werden könnte von dem stechenden Weh, das ihr ganzes
Wesen durchdrang. Nun stand sie oben auf der Terrasse und schaute über Fluß und
Brücken, über die baumreichen Gründe und auf die alte Stadt nieder, — es war,
wie wenn Alles anders geworden wäre. So trüb und reizlos lief die Moldau dahin,
so kahl, so schaurig standen die blätterlosen Baumgängc, so düster schaute die
alte Stadt herüber, als wäre lauter Jammer in diesen Mauern. Olga wandte sich
weg, da konnte sie nicht bleiben. Sie lief die hohen Schloßtreppen hinab. Auf
den Stufen saßen wie immer die alten Bettler und murmelten ihre Bitten. Olga war
zu hastig heute, um sie zu bedenken, wie
Olga wollte ihre Hand zurückziehn, aber die Alte gab nicht nach, sie wollte sich verständlich machen. Jetzt hörte sie Fußtritte nahn, ein eigenthümlich aussehendes Männchen kam die Treppen herauf, die Alte mußte den Schritt kennen: „Nick", rief sie und winkte den Kommenden zu sich heran.
Sie hielt noch immer Olga's Hand, küßte sie jetzt wieder und sagte eifrig ihre
Worte und Einiges noch, zu dem Manne gewandt. Dieser kehrte sich nun zu Olga,
indem er mit seltsamer Würde seine Mütze tief - vom Kopfe zog und sagte: „Die
alte Blinde will, daß ich Gnaden danke in ihrem Namen und ich soll Gnaden wissen
lassen, daß die Alte alle Tage zu Gott beten will, daß Er Gnaden ein sanftes
Sterbestündlein geben wolle." Etwas weniger gravi-
Erst jetzt sah Olga, daß sie sich vergriffen, daß sie der Alten Gold, nicht Silber in die Hand gelegt hatte; diese mußte es gleich gefühlt haben. Die Freude der Alten und ihr gutes Versprechen thaten Olga einen Augenblick wohl; sie drückte die magere, runzlige Hand und eilte fort.
Nun stand Olga auf der Brücke. Sie lehnte sich an den Sockel einer Bildsäule,
sie konnte nicht weiter, eine lähmende Müdigkeit war über sie gekommen. Einen
Augenblick wollte sie ausruhn; aber rastlos, wie unter ihr die eilenden Wellen
der Moldau, so verfolgten sich in ihrem Kopf und Herzen die quälenden Gedanken
immer unruhiger, immer peinlicher. Sie stand wieder auf und fuhr zusammen, war
ihr doch, als schaute ein lebendiges Auge auf sie nieder, da sie in das stille,
ernste Antlitz des Märtyrers blickte, an den sie sich gelehnt hatte, ohne es zu
wissen. Sie hatte das ruhige Angesicht nie so gesehn, wie konnte ihr dieser
Ausdruck entgangen sein! Eine Weile lang konnte sie ihr Auge nicht abwenden von
dem Manne mit dem heiligen Buch in der Hand und dem Angesicht voller Frieden.
Wußte dieser denn Nichts von Leid und verzehrenden Qualen? fragte sie sich. Sie
lehnte sich von Neuem au die Statue und fiel in ihre grübelnden Gedanken zurück.
Jetzt trat ihr
„Gnaden sind wohl fremd in Prag. Könnte man Gnaden einen Dienst erweisen? Die Kirchen zeigen? Die alten Säle im Hradschin? Vergegenwärtigen, was da geschehen ist?"
Halb unterthänig, halb überlegen hatte der kleine Mann zu Olga gesprochen. Sie schaute ihn an, wer konnte er sein? War er ein verkommner Gelehrter? War er nur ein uuter- thäniger Lakai? Seine stechenden, schwarzen Augen waren auf sie gerichtet, etwas leidenschaftlich Unruhiges lag in dem Blick.
Olga dankte für das Anerbieten, sie hatte keinen Wunsch irgend Etwas anzusehn. Der seltsame Nick stand noch immer vor ihr. „Gnaden lehnen sich da an einem Guten an", sagte er wieder, indem er mit Ehrfurcht zu der Statue em- porschaute. Gnaden kennen wohl unsern Vater Nepomuk?
Der hat viel Elend gesehn, schon zu seiner Zeit und seit er hier aus der Brücke steht. Wer kann wissen, wie er die Sanftmuth aus dem Gesichte behalten hat, als gäbe es doch eine Gerechtigkeit und käme Jeder noch zu seinem Recht. Gnaden kennen die Geschichte von Prag?"
„So ziemlich", erwiderte Olga, zu keinem weiter« Gespräch geneigt.
_ 94 „ O, erlauben Gnaden, das ist der Ort der Geschichte^ die sollten die Fremden auf dem Platze hören. Da steht der Hradschin da droben, das alte Kaiserschloß, und schaut auf die Brücke herunter. Da hat auch der wilde Wenzel drin gehaust, der zorumiithige König, von dem haben Gnaden wohl auch gehört und wie die Königin, seine Gemahlin, schön und fromm war, und von allen Böhmen geliebt.
„Und wenn nun der König wild und rachsüchtig war, so war sie still und sagte kein Wort der Widerrede und ging fleißig in die Kirche. Wie sie's aber vermochte und die Sanftmuth dabei behielt, das wußte Keiner, als nur Einer, und konnte es wissen, das war ihr Beichtvater, dieser hier, mit dem friedlichen Angesicht. Und einstmals war der König mit seiner Gemahlin wild umgegangen, daß Alles floh und Keiner mehr dabei sein wollte. Und wie er Tages darauf sieht die Königin von der Beichte kommen, schickt er hin nach dem Beichtvater, daß er vor ihn komme, und er kommt. Da befiehlt ihm der König, daß er die Beichte seiner Gemahlin hersage. .Nimmermehr!' erwidert der heilige Vater. Den zweiten Tag läßt ihn der König wieder rufen und gebietet ihm dasselbe. , Niemals!' sagte der heilige Vater, , und keine Macht soll mich dazu bringen!' ,Das wollen wir sehn', ruft der wilde Wenzel höhnisch und läßt den heiligen Vater auf die Folter werfen. Am dritten Tag heißt er ihn nochmals kommen und redet die gebrochene Gestalt mit Spott an und fragt, ob der Vater mürbe sei und endlich gehorchen wolle.
.Nimmermehr, so wahr Gott lebt, will ich diese Sünde thun!' entgegnete der ehrwürdige Vater. Da ruft der König seine Henkersknechte zusammen und läßt seiner Gemahlin sagen, sie solle an ihr Fenster treten, so könne sie sehn, was ihr gefallen müsse. Und wie die Königin da oben an ihr Fenster tritt, so sieht sie, wie die Henkersknechte den ehrwürdigen Vater greifen mit rohen Händen und stürzen ihn hier iiber die Brücke in das tiefe Wasser der Moldau hinunter, da wo wir stehn."
Der seltsame Erzähler hatte mit solch intensivem Gefühl gesprochen, so, als wäre Alles soeben geschehen und sein eigenstes Interesse damit verknüpft, daß er Olga aus sich herausgerissen und seinen Worten zu folgen gezwungen hatte. Ihr krankhaft erregtes Gemüth wurde von der Erzählung mit Gewalt ergriffen. Sie schaute nach dem Fenster des Hradschins hinauf, wo die Königin gestanden und zugeschaut hatte, wie sie den zum Tode brachten, der um sie litt. Da unten floß die grüne Moldau dahin, wie damals, als die Königin auf die Gräuelthat herniedersah.
„Ach wie viel Elend!" rief Olga aus und verbarg ihr Gesicht in ihre Hände.
„ Ja, ja, und für die Königin war's noch nicht zu Ende", fing Nick auf's Neue
an. „Einstmals in einer Nacht war sie aufgestanden und an's Fenster getreten und
schaute hinab auf ! die dunkle Moldau. Wer kann wissen, was für Pein und
marternde Gedanken den Schlaf von ihren Augen scheuchten!
Und seither hat der heilige Vater noch mehr gesehn und gehört. Was er nur drüber denkt, wie's hier unten zugeht! Aber Gnaden sollten sich zurückziehn, sehn ermüdet aus, empfehle mich Gnaden!"
Damit zog der seltsame Nick seines Weges.
Olga hatte sich am Sockel der Statue niedergesetzt; sie war zum Erliegen
ermattet und wie von schweren Lasten niedergedrückt. Ihr war, als ob der
„Menschheit ganzer Jammer" sie erfaßte. Das eigne bittre Leid, der Anderen Noth
und Angst, das Weh so Vieler, Alles lag auf ihr als ein großes, erdrückendes
Elend. Sie saß da, kraft- und muthlos. Sie suchte nach einem festen Halt, daß
sie sich daran klammere und aufschwinge, aus diesem Zustand hüls- losen
Darniederliegens. Sie sah aus nach einem sichern Gute, daß sie daran sich Muth
und Freudigkeit erhole. Sie hatte solchen Halt und solches Gut gekannt. War sie
nicht immer über alles irdisch Enge und Hemmende hinwegge-
„Jetzt nicht", antwortete sie hastig; „ich kann nicht, ich bin auch müde, ich muß nach Hause."
Es war nicht Llga'S gewohnter Ton, in dem sie eben gesprochen hatte. Einen Moment schaute Herr v. D. sie durchdringend an, dann sagte er, sie bei der Hand nehmend: „Ja, Sie müssen müde sein, Sie sehn völlig erschöpft aus, ein Grund mehr, daß Sie sich einen Augenblick hier ausruhen." Damit sührte er Olga zu der Bank hin. Sie folgte ihm ohne Widerstand, sie war mehr von diesem Willen beherrscht, als sie je selbst gewußt hatte.
Der Sonnenschein lag blaß auf den gelben Blättern am Boden vor der Bank. Slga setzte sich hin an die Stelle, wo sie so oft neben dem Freunde gesessen in immer lebendiger fließendem Austausch der Gedanken. Sie konnte nicht mehr zu ihm reden. Herr v. D. schaute sie fragend an. Nach einer Weile sagte er: „ Sie denken nicht, daß die Schatten auf Ihrem Angesicht einem nahen Freunde entgehen könnten. Sollte ich Ihr Vertrauen nicht so weit besitzen, daß ich die Ursache Ihres veränderten Wesens kennen dürste?"
Noch schwieg Olga. Wie sollte sie reden? Was wollte sie sagen? Endlich brachte
sie in abgestoßenen Worten die Fragen heraus: „Herr v. T., haben Sie mich
getäuscht? Suchen Sie
Herr v. T. schaute Olga verwundert an. „Ich verstebe Sie nicht", sagte er in einfacher Weise.
Mit Mühe begann Olga wieder: „Herr v. T., ich habe Fräulein Nina gesehn, sie ist gänzlich unglücklich. Sie haben sie an einen nahen Verkehr mit Ihnen gewöhnt, dann plötzlich verlassen und vergessen. .Sie haben wähl mehr ähnliche Beziehungen und — und —" mit einem Mal hielt Olga inne. Viel leidenschaftlicher, als sie es gewollt, war ihr Ton geworden, plötzlich hatte sie ihn selbst gehört und war erschrocken. Jetzt trat ihr die Frage entgegen: Welches Recht hast Tu denn an den Menschen? Die Auszeichnung, die er ihr bewiesen, seine warme Theile nähme für Alles, was sie betraf, seine ausschließliche Auf- merksamteit für sie, gaben ihr diese, gab ihr irgend Etwas das Recht, zu ihm zu sprechen, wie sie ttzat, wie sie eben noch thun wollte? Sie sagte kein Wort mehr.
„Ich will Sie zu Ende hören", bemerkte Herr v. T. ruhig.
„Ich bin zu Ende", war die kurze Entgegnung.
„Was Sie mir sagen, setzt mich in Erstaunen", sagte Herr v. D. so einfach und
natürlich, daß es wahr sein mußte. Ich habe zu einer Zeit viel mit dem
liebenswürdigen Mädchen verkehrt; ich hatte großes Interesse für Fräulein Nina,
sie hat viel Talent und ist eine einnehmende Erschei- 7 *
„Ich wollte, ich hätte diese Worte nie von Ihnen gehört, Herr v. D."; Llga's Ton mochte noch mehr als ihre Worte aussprechen, was in ihr vorging.
Ob Herr v. D. dagegen die Sache leichter behandeln wollte, als er sie selbst empfand? Fast wegwerfend ent- gegnete er: „Wie kann dieser unbedeutende Vorfall Sie nur so tief beschäftigen! Es wird ja bei dem Mädchen bald vorüber- gchn, da ist ein Trost möglich: ,Noch treffen sich verwandte Herzen an Und theilen den Genuß der schönen Welt?
Denken Sie nicht mehr an die Sache."
Olga stand auf. „ Ich muß gehn", sagte sie, die Stimme zitterte ihr vor
verhaltner Aufregung. „Und, Herr v. D., ich muß fort von Prag, gleich, hier kann
ich nicht mehr bleiben."
„Tieß kaun Ihr Ernst nicht sein", sagte er mit erzwungener Ruhe. Was kann Sie zu so unsinnigen, ganz unausführbaren Gedanken bringen! Sie stehn im Anfang einer glänzenden Carriere, Sie haben kontraktlich ein Engagement angenommen. Wollen Sie ihr Wort brechen? Wollen Sie Ihren Namen, Ihren ganzen Weg ruiniren? Nur im Moment einer vorübergehenden Aufregung können Sie einen so unbegreiflich verkehrten Vorsatz fassen; einmal ausgeführt, müßten Sie ihn Ihr Leben lang bereuen. Und, Fräulein Llga", fuhr er mit weicherem Tone fort, „denken Sie denn gar nicht an mich? Hatten wir nicht reiche, köstliche, unvergeßliche Tage zusammen? Ist Ihnen ein solches Verständniß von keinem Werth? Wollen Sie den Sonnenschein von meinem Lebenswege nehmen? Das können Sie nicht! Das thun Sie nicht! Geben Sie mir Ihre Hand darauf, Sie thun es nicht."
Herr v. T. war ausgestanden, er hatte sich vor Llga hingestellt und ihre Hände erfaßt.
„Führen Sie mich nach Hause", sagte Llga, „heute kein Wort mehr, ich kann nicht mehr."
„Versprechen Sie, keinen Schritt zu thun, der Ihr Verderben wäre."
Herr v. T. hielt ihre Hände fest, sie fühlte, wie die seinigen zitterten vor Aufregung.
„Ich muß fort", wiederholte Llga. Sie machte sich los
Olga war in ihr Zimmer eingetreten, von Pauline gefolgt, die sich nicht erholen konnte von ihrem Erstaunen. „So spät, und nirgends Mittag gehalten. Und ivic Sie aussehn", rief sie erschrocken, nun sie ihre Herrin recht im Licht sah. Sie wollte irgendwelche Erquickung herbeiholen. Olga sagte ihr kurz, sie habe Nichts nöthig, sie möchte allein bleiben. Später trat Pauline nochmals ein, sie meinte, es müsse Zeit sein, das; das Fräulein etwas genieße. Heute nicht mehr. sie sei müde, sagte Olga, Pauline möchte sie ungestört lassen.
Das Mädchen ging.
Da saß nun Olga allein, in der Stille, Konnte sie endlich ihre verworrenen Gedanken sammeln, daß sie einen Ausweg finden möchte aus der Verwirrung? Sie legte den müden Kopf in beide Hände und schloß die Augen. Da stand der beunruhigende Nick vor ihr mit seinem leidenschaftlichen Erzählen. Tann war es das verweinte Angesicht der braunäugigen Nina, das sie vorwurfsvoll anschaute. Tann erblickte sie oben auf dem Hradschin eine zitternde Frauen- gestalt am Fenster, die schaute auf die dunkle Moldau nieder.
103 Taun stand ihr Freund vor ihr mit durchdringendem Blick und wollte sie festhalten. Was sollte aber dann aus ihr werden? Heute war ihr klar in's Bewusstsein gekommen, was nun vor Allem sich in ihren unruhigen Gedanken be- bewegte, Ihr Freund hatte eine Gewalt über sie gewonnen, gegen die sie mit Macht ankämpfen mutzte, wollte sie sich nicht verlieren. Und dieser Freund, den sie bis jetzt so nah zu kennen glaubte, war heute ein Anderer für sie geworden. Wie sollte es weiter zwischen ihnen werden? Sie hatte nie ein köstlicheres Gut gekannt, als dieses nahe Frenndes- verhältnitz, sie hatte für alle Zeit keinen höher« Wunsch, als eS zu bewahren. Aber wie? Wenn nun auf dcS Freundes Wege eine neue Blume ausblühn, sollte? Der blosse Gedanke trieb ihr das Blut hcitz in die Wangen. Fort! Für immer weg und gleich! TaS war die einzige Rettung für sie. Sie wollte sich's ausdeuten wie? wann? wohin? Tann verlor sie den Faden und alle die brennenden Bilder des Tages stiegen wieder aus vor ihr und zogen an ihren ruhelosen Augen vorüber. Sie ward zuerst in die nächste Wirklichkeit zurückgerufen durch ein leiseS Klopfen an ihrer Thüre. Panline trat ein. Als Olga ausschaute, erblickte sie vor sich die erlöschende Lampe, es war Tag. Jetzt fühlte sie eine schaurige Kälte ihren ganzen Körper schütteln. Panline sah daS Fenster offen stehn, die rauchende Lampe aus dem Tisch, Olgas Anzug, Alles wie.am Abend vorher, da sie das Zimmer verlassen hatte. Ta stand auch das unberührte Bett.
104 Sie that einen lauten Schreckensrus, das Fräulein habe die ganze Nacht durch da gesessen und beim offnen Fenster! So war es gewesen. Erst jetzt empfand Olga die Wirkung dieser Nacht, nach einem Tage, wie der vorhergehende für sie gewesen war. Sie zitterte am ganzen Körper, ihr Kopf war wie Blei. Sie legte sich nieder, ihre Gedanken waren ermattet, nur Ruhe begehrte sie.
Aus diesen Morgen folgten für Olga Tage und Wochen, von denen sie keine andere Erinnerung hatte als die eines erstickend beängstigenden Gefühls, das ihr lange nachher noch quälend nachging. Sie hörte an ihrem Bette sagen: „ Typhus Tann sah sie, wie man sie bereit machte, um sie zu begraben. Sie wollte aufschreien, sie sei noch am Leben, aber ihre Stimme hatte keinen Ton, die Kraft zu schreien gebrach ihr. Dieser qualvolle Zustand mußte öfter wiedergekehrt sein.
Ihre erste klare Erinnerung war, daß sie eines Tages die Augen aufschlug und Pauline weinend an ihrem Bette sitzen sah.
„Warum weinst du, Pauline?" fragte sie, aber es ging ihr mühsam, die Worte zusammenzubringen. Pauline ging sofort aus ihren Thränen in Frohlocken über. Nun sei das Fräulein gerettet, rief sie aus; diesen Morgen habe der Arzt gesagt, wenn heute nicht eine große Veränderung eintrete, so müsse die Kranke sterben. Nun sei die Veränderung ja da, seit Wochen habe das Fräulein nie gesprochen wie eben jetzt. Und was Pauline jsür Angst um sie ausgestanden.
105 sollte die Kranke wissen, sie habe auch oft solchen Schrecken gehabt. Da in der Ecke habe die Kranke immer Einen stehen gesehn, den habe sie Nick genannt und ihn oft so flehentlich gebeten, er solle doch nicht mehr erzählen. Und dort am Fenster habe die Kranke wiederholt gerufen, da stehe die zitternde Frau und nun packe die Dogge sie an und sie schreie auf, und dann habe das Fräulein schrecklich aufgeschrien.
„ Erzähl mir dies nicht, Pauline", konnte Olgä noch leise sagen; dann schwand ihr das Bewußtsein wieder. Tann kam der Tag, da Olga zum ersten Mal wieder in ihrem Sessel am Fenster saß und um sich schaute. Draußen lag Schnee aus den Dächern. Alles um sie her sah sie fremd an, ihr war, als sähe sie Alles zum ersten Mal in der Wirklichkeit. Sie kannte die Dinge, aber so, als hätte sie alle einmal im Traum gesehn. Am alten Clam-Gallas- Palastc drüben standen die Steinfiguren finster blickend, wie sie sie einmal gesehn haben mußte vor langer Zeit. Sie suchte die Gedanken zu sammeln, die ihr damit zusammenhingen. Die Monate November, Dezember und bis in den Januar hinein, hatte Olga am Typhus daniedergelegen, immer zwischen Tod und Leben schwebend. Jetzt, in den letzten Tagen des Januar, hatte sie endlich ihr Lager verlassen können, um die ersten, halb warmen Sonnenstrahlen an ihrem Fenster zu genießen.
Der Arzt hatte jede leiseste Aufregung streng verboten.
106 Pauline erzählte kein Wort mehr von den Tagen der Krankheit. Nach Borschrift hielt sie alle Nachfragenden fern, sprach mich ihrer Herrin nie davon.
Als der Februar zu Ende ging und die Tonne anfing mit Kraft die Erde zu erwärmen, setzte sich der väterlich besorgte Arzt eines Tages neben Llga hin und erklärte ihr, feine Thätigkeit sei nun zu Ende bei ihr, jetzt müsse die Natur sich weiter helfen und ein guter kräftiger Sonnenschein sie unterstützen. Er ricth Llga, Prag so bald als möglich zu verlassen und für einige Monate nach Tüd-Frankreich zu gehn, im Sommer eine erfrischende Badekur zu machen, um dann im Herbst neubelebt wiederzukehren und Aller Herzen zu erfreuen. So schloss der freundliche Berather seine letzte Verordnung.
Ja, fort von Prag! Längst hatte Olga ihren Plan gemacht während der langen,
müßigen Stunden der Genesung. Jetzt stand ihr Nichts mehr im Wege, die Krankheit
hatte ihre Bande am Theater gelost, sie war längst ersetzt worden. Bon einer
Erholungsreise und einem Monate 'dauernden Aufenthalt in Süd-Frankreich konnte
für sie keine Rede sein. Ihr kleines Besitzthum war durch den Aufenthalt in
Tresden rmd die lange Krankheit so weit aufgebraucht, daß ihr eben noch ein Rest
zu der Reise und dem Ansang eines erst neu zu gestaltenden Daseins blieb. Nach
Frankreich wollte sie gehn, dahin, wo Niemand sie kannte,^ und wo sie sich einen
neuen Weg zu bahnen hoffte. Sie ließ Pauline in der Stille
Die ersten Märztage waren mild und sonnig. Olga saß im Wagen mit Pauline und suhr nach dem abgelegenen Bahnhof. Noch einmal sah sie die grünen Wellen der Moldau langsam dahinrollen, noch einmal schaute sie nach dem Hradschin hinauf. Er blickte finster, und wie zum Himmel klagend, ragten alle die dunkeln Thürme empor. Wie hatte sich Alles so verändert! Da ging der Weg unter der Baum- allee hin und dort stand die Bank. O fort, nur sort, für immer!
Jetzt lag die Stadt hinter ihr. Tas Stationsgebäude ! war erreicht. In diesem Augenblick entdeckte Olga, daß sie ! ihre sämmtlichen Papiere, wohl verwahrt, in ihrer Wohnung zurückgelassen hatte. Pauline meinte, wenn das Fräulein im Wagen schnell zurückkehrte, konnte sie derweilen Alles in Ordnung bringen und die Zeit möchte noch zu dem be- i stimmten Zuge reichen. Olga erklärte, um keinen Preis kehre sie nach Prag zurück; Pauline möchte es thun, für die Besorgung der Sachen würde wohl Jemand zu finden sein. ; Pauline lief, sich danach umzuschn, kehrte auch bald mit der ! gesuchten Hülfe zurück. Ein Schrecken durchsuhr Olga, sie wollte abwehren, zu spät, schon stand der Gerufene am Wagen, es war Nick.
108 „Gnaden, noch in Prag?" sagte er mit sichtlicher Befriedigung über das Wicdersehn, seine Mütze tief herunter haltend.
Pantine fuhr nach ihrer Botschaft. Olga begab sich in einen Wartesaal; Nick besorgte seine Aufträge. Lange bevor Pauline zurückgekehrt sein konnte, war der Zug abgefahren. Jetzt trat Nick an die Thüre des Saals und zeigte dem Fräulein ehrerbietig an, daß Alles besorgt sei, der folgende Zug aber erst nach einigen Stunden abfahren werde. Trotz der Scheu, die Olga vor dem seltsamen Menschen hatte, dessen Worte und Erscheinung so schaurig in ihre Fieber- nächte hineingespielt hatten, empfand sie doch zu gleicher Zeit ein ihr selbst unerklärliches Mitgefühl für ihn. Jetzt schaute er mit seinen schwarzblitzenden, melancholischen Augen so theilnehmend zu ihr herüber, daß es sie bewegte, als müßte sie zu ihm reden, als hätte auch er Theilnahme nöthig. Wohl mochte die Empfänglichkeit für alle Eindrücke noch krankhaft bei ihr gesteigert sein.
„Gnaden müssen leidend sein", sagte jetzt Nick mit gedämpfter Stimme, als
verstände er, wie empfindlich Olga jeder laute Ton berührte. „Sollten Gnaden
zwischen den Zügen nicht nach der Stadt zurückzukehren wünschen, so möchten
Gnaden wohl ein wenig in's Freie gehn. Draußen steht die Sonne schön am Himmel,
aber hier drinnen sieht man Nichts davon. Da steht ein Pavillon auf der Höhe,
nicht weit von hier, sollte ich nicht Gnaden den Weg dahin zeigen?"
„Sind wir bald oben?" fragte sie.
„Noch ein paar hundert Schritte und Gnaden können den Fluß sehn und einmal noch die Karlsbrücke."
„Nun sagen sie mir doch Eines", sagte Olga, indem sie ihren Gang fortsetzte, „hat die Geschichte, die Sie mir auf jener Brücke erzählt haben, ein besonderes Interesse für Sie oder sollte Alles, das sich in Ihrer Vaterstadt begeben haben soll, den starken Eindruck auf Sie ausüben?"
„Gnaden müssen wissen", entgegnete Nick mit komischer Würde, „Geschichte ist
mein Fach. Alle Geschichte hat für mich ein großes Interesse, ich lebe von
Geschichte. Aber eS geschieht ja, daß Eins oder das Andere tiefer eingeht und
Noch einmal Nick erzählen hören! Olga erschrak, aber sie hatte es selbst herbeigeführt.
Nick hatte auch schon begonnen : „Meine Mutter war ein hübsches Pragermädchen
und flink auf der Nadel und hatte gute Bestellungen bei den hohen Herrschaften
oben auf dem Hradschin, wohnte auch nicht weit weg davon, da wv's steil
hinaufgeht, Spvrner- gasse, und hatte da ihr Stübchen, wo sie allein saß und
arbeitete, denn sie war eine Waise. Aber wenn die herrschaftlichen Cavaliere
wollten freundlich mit ihr fein, so gab sie keinen Bescheid, denn sie war
sittsam und fromm, und hatte lange schon den Niklaus Nikotsch gekannt und ihm
die Treue versprochen, der war ein gewandter Bursch und war angestellt am
Theater, bei der Beleuchtung. Und so wurden sie einig und kamen zusammen und
wollten einen Haushalt gründen. Aber über kurze Zeit sagte der Niklaus, so könne
es nicht gehn, erst wolle er einmal sein Glück in Amerika versuchen, sie wollen
Beide gut haushalten und zusammenlegen, was sie ersparen, und über Jahr und Tag
komme er wieder, und dann blieben sie bei einander und hätten gute Tage für
immer. Und wie sie an dem Abend über die Brücke kamen mit einander, standen sie
still vor dem heiligen
Wer weiß, ob er nicht schon da ist, wenn du morgen erwachst! Und wenn sie ani Morgen die Arbeit zur Hand nahm, sagte sie: Sieh Nick, wenn das Stück fertig ist, dann wird der Vater schon da sein, dann gibt's aber einen Festtag! Nun lernte ich auch lesen, oben beim Vater Vincent im Kloster, und jetzt ging mir eine Freude auf. Die Mutter besaß zwei Bücher, eines hieß: .Chronik der Stadt Prag', und das andere: .Geschichte der Heiligen und Märtyrer'.
112 Das erste Buch las ich lieber; aber ich las auch das zweite wieder, wenn ich mit dem ersten dreimal durch war. So wurde ich gegen 12 Jahre alt und kam einstmals in eines der Herrenhäuser mit der Mutter Arbeit. Und die Dame war gut mit mir, sie kannte mich schon und that allerlei Fragen. Und wie sie hörte, daß mir Nichts Freude machte, als nur lesen, mußte ich ihr gleich erzählen, was in dem Buche stand, das ich gern las. Derweilen war der Herr hereingekommen und hörte zu. Dann lachte er und nahm mich beim Kops und sagte: ,Tu bist ein ganzer Kerl. Weißt du, was du thun sollst? damit wirst du dir ein gut Stück Geld machen. Geh nach dem Schwarzen Roß in der Kolowratstraße, sag, ich empfehle dich zum Fremdenführer, wenn du auch ein Kleiner seist, so wissest du mehr als mancher Große, so habe ich gesagt. Und Geschichte sollst du auch noch mehr zu lesen bekommen, weil dir s so gut anschlägt.' Und so ging er hinaus und kam wieder und hatte Bücher im Arm, zehnmal im Umfang wie das meinige war, und sagte: ,Da, alle sollst du sie lesen, alle alten Chroniken von Prag, und hast du sie alle durch, so bist du ein fertiger Mann.'
„Jetzt war mir nicht anders, als wäre ich König geworden. Eins der großen Bücher im Arm, kaum konnt' ich's schleppen, lief ich heim und auf die Mutter los. Einen Beruf habe ich, Mutter, rief ich, jetzt kommt's gut. Dann lief ich gleich nach der Kolowratstraße, über die Karlsbrücke.
113 da stand ich still vor dem heiligen Vater, denn das hatte mir die Mutter
sriih eingeschärft, wenn ich da vorbei komme, müsse ich stille stehn und ein
,Vater-Unser' beten, es gelte dem Vater in der Fremde. An dem Tag betete ich's
auch von Herzen, wie noch nie, denn ich war voller Tank und dachte: Vielleicht
hat dir der heilige Vater zu dem Glück verhelfen. Im Hotel sagte ich, wer mich
schicke, und Alles, wie ich den Auftrag hatte, und sie sagten, es sei gut, ich
solle jeden Morgen früh da sein, zu sehn, ob's Arbeit gebe. Jetzt wurde mir das
Darben nnd aller Mangel leicht, denn über dem Lesen vergas; ich Alles. Nur daß
die Mutter nie froh war und es so schlecht haben sollte, das konnte ich nicht
recht vergessen, und es drückte mir die Freude nieder, aber ich dachte, sie soll
schon noch gute Tage haben, das bringe ich mit meinen; Beruf zu Stande, und war
eifrig darin. Und wie so ein Jahr und etwas mehr vergangen war, da gehe ich
eines Morgens anf den Beruf und trete in's Hotel ein, da kommt Einer unten aus
der Schenkstube heraus, und wie er mich sieht, sagt er: , So gehörst du dem
Nick! Sag deiner Mutter, dein Vater lasse sich's drüben nicht so sauer werden,
wie sie hier. Der kommt auch nicht wieder, das kann ich ihr sagen.' Mit einem
Schlag verstand ich Alles, als hätte mir Einer die Geschichte von vorn erzählt.
Jetzt stürzte ich zur Mutter und sagte ihr, wie's sei, und ballte die Fäuste und
sagte, in meinem Leben wolle ich kein , Vater-Unser' mehr beten. Aber die Mutter
fing so Verschollen rc. 8
Und da lag die Mutter, todt, und ich hörte die Frau sagen, die unter uns wohnte und jetzt dabei stand: ,So mußte es kommen, Nichts wie Arbeit und Kummer und keinen Unterhalt.' Bis sie die Mutter wegholten, ging ich nicht vom Platz. Tann lief ich nach der Kolowratstraße, und beim heiligen Vater aus der Brücke stand ich still und rief hinauf: .Siehst du denn nicht, wie's zugeht? Beten will ich nie mehr und eine Gerechtigkeit gibt es nicht aus Erden und im Himmel nicht.'"
Hier schwieg Nick, Längst waren sie an dem offenen Gartenhaus angekommen. Olga hatte sich auf die Bank gesetzt, der milde Sonnenschein fiel durch die unbekleideten Epheugitter auf sie herein. Nick hatte, vor ihr stehend, seine Erzählung beendet. Jetzt schauten Beide schweigend vor sich hin.
„Eins möchte ich Gnaden noch vorlegen", begann Nick wieder, „das kann ich nicht
ausfinden und bleibt mir eine 8 *
Olga war überrascht. Die Frage lag brennend in Nick's Augen, die aus sie gerichtet waren. Wie gern hätte sie eine Antwort für ihn gehabt, aber in dieser Weise war die Frage bis jetzt noch nie an sie heran getreten! Sie suchte nach einem wohlthuenden Worte für ihn, sollte sie denn gar keines finden könnnen? Es mußte doch eine Antwort auf diese Frage geben.
„ Guter Freund", sagte sie endlich, „wir dürfen ja glauben, daß den innersten Bedürfnissen unserer Natur entsprochen werden muß, und das Bedürfniß nach Gerechtigkeit wurzelt tief in uns Allen."
Nick schaute traurig weg. Es war, als sagte er: Das ist keine Antwort für mich.
Olga fühlte es. Der Mensch hatte sich mit dem vollen Vertrauen an sie gewandt,
sie
Die Zeit war unversehens vorgerückt. Olga machte sich wieder auf den Weg, Nick folgte schweigend. Am Bahnhof stand die geängstete Pauline und schaute nach ihrer Herrin aus.
Olga reichte Nick die Hand zum Abschied. Ihr war, als ließe sie an ihm einen alten, nahen Bekannten zurück.
Im Wagen schaute sie einmal noch hinter sich. Einmal noch sah sie die Thürme des Hradschin sich in den blauen Himmel heben, jetzt verschwanden sie — Prag lag für immer hinter ihr.
In Dresden hatte Olga noch von ihrer Pauline sich zu trennen. Weinend klagte diese, sie wäre doch dem Fräulein zu der Erholungsreise in Frankreich noch so nöthig gewesen. Olga verneinte es mit freundlichen Worten, mußte aber versprechen, sie zu sich zu rufen, sobald sie ihrer bedürfe.
Nun saß Olga allein. Ein leises Zagen beschlich sie, nun sie auch dieses letzte,
sichtbare Band, das sie an die vergangnen Tage knüpfte, gelöst hatte. Es mußte
sein, sie mußte weiter. Sie fuhr direkt Paris zu, einem Dasein entgegen, das
noch gar keine bestimmten Linien für sie hatte und sie mit der „ Angst des
Unbekannten" erfüllte, wohl um so peinlicher, da sie zu neuen Unternehmungen
noch keine rechte Kraft in sich empfand. Wenn sie einmal wieder die alten Kräfte
gewinnen sollte, würde sie aus die Bühne zu-
Sie langte in Paris an. Noch am Bahnhof erkundigte sie sich nach einem einfachen, deutschen Kostlpuse. Ein Angestellter wußte Bescheid, er wies sie nach St. Antenne, zu der Würtembergcrin.
Als Olga nach einigen Tagen ihre Wirthin darüber befragte, wie sie sich wohl am Besten als Lehrerin der deutschen Sprache bekämet machen könnte, rieth ihr diese, den deutschen Geistlichen aufzusuchen, med gab ihr seine Adresse.
„Eh Sie aber mit Stundengeben beginnen", setzte die Frau hinzu, „müssen Sie sich ein wenig zurecht essen bei mir, so geht's nicht mit Ihnen!"
Olga ging, den deutschen Geistlichen auszusuchen, und wurde freundlich von ihm empfangen. Sie brachte ihr Anliegen vor, er ging theilnehmend darauf ein.
„Sie waren wohl Lehrerin, vielleicht schon irgendwo in
„Ich war nie Lehrerin", entgegnete Olga.
„Sie kennen ja doch wohl Ihre Sprache gründlich", fuhr er fort, „darf ich fragen, womit Sie sich bisher beschäftigt haben?"
„Ich war am Theater."
Hier wich der Pastor einige Schritte von Olga zurück. Sichtlich erschrocken schaute er sie an, dann sagte er mit Zurückhaltung: „Ich wußte nicht, wem ich meine Empfehlung versprach. Es thut mir leid, aber Sie müssen begreifen, daß meine Bekannten derart sind, daß ich ihnen nicht eine Schauspielerin als Lehrerin empfehlen darf."
„Ich bin nicht mehr Schauspielerin", bemerkte Olga leise.
„Ah so, aber Sie hängen irgendwie wohl noch mit dem Theater zusammen", meinte der Pastor.
„In keiner Weise, wünsche es auch nicht mehr", entgegnete Olga.
„Ah so", bemerkte nochmals der Pastor, und seine Stimme hatte wieder etwas mehr
Zntraulichkeit angenommen. Tas bleiche Angesicht der Bittenden mochte ihm noch
besser als ihre Worte sagen, daß sie der Hülfe bedürfe. Er versprach, sein
Möglichstes für sie zu thun, indem er ihre Adresse einschrieb. Zur Erinnerung an
ihren Besuch bei ihm,
So hatte ihr äußeres Lebe» doch eine Gestalt gewonnen, wie jämmerlich sie auch
war, aber das Leben in ihrem Innern? Alles, was sie Großes, Edles, ihren Geist
Erhebendes gekannt hatte, lag wie in Trümmern vor ihr. Keines dieser Güter hatte
Stand gehalten in den Tagen der Schmerzen und Krankheit, keines hatte sie
weggehoben, noch hob es sie jetzt hinweg über inneres und äußeres Elend. Keines
bot
Wie hatte sie die Worte des freudigen Erwachens zu thatkräftigem Leben geliebt
und oft aus tiefer Seele nachgerufen: „Alles kann der Edle leisten, Der versteht
und raschk ergreift."
Noch glaubte sie an ihr Wort; aber wo war diese reine Menschlichkeit ? Sie fragte mit Sehnsucht nach solcher sühnenden Reinheit, denn die Gebrechen ihres eignen Wesens lagen schwer auf ihr. Im Durchsuchen ihrer Bücher trafen ihre Blicke auf das kleine Buch, das der deutsche Geistliche ihr geschenkt hatte. Es war ein neues Testament. Sie kannte das Buch wohl von früher her, da sie noch vom Vaterhause aus des Sonntags nach der alten Kirche hinüber wanderte, und von der Zeit ihres Religionsunterrichtes her, der sie zwar unberührt gelassen hatte; aber es hingen mit dem Buche alle Erinnerungen zusammen an frohe Jugend- tage. Sie nahm es in die Hand, der Inhalt stand ihr nur in sehr verwischtem Andenken.
Olga las und las, und wurde immer erstaunter. Dieses Buch hatte sie nie gekannt.
Wie ein Wunder war ihr, was
« Wliftcs Capitel.
So weit hatte Hetty Olga's Geschichte durch ihre eignen Aufzeichnungen und Martinen» mündliche Nachhülfe verfolgen können. Hetty war so erfüllt davon, daß sie keine andern Gedanken mehr hatte, auch kaum Martine zu ihrem letzten Besuch erwarten konnte, den sie recht zeitig zu machen versprochen hatte, um zu Ende zu erzählen. Kaum öffnete sie auch die Thüre, als ihr Hetty entgegenrief: „Es ist zu traurig! Wie kann man sich Olga so im Elend denken?"
„Nicht wahr", stimmte Martine eifrig ein. „Und mußt du nun nicht auch wünschen, wie ich damals that, daß nur dieser Menschenverderber seinen Lohn bekommen möchte? "
„Solltest du Herrn v. D. meinen, Martine?" fragte Hetty etwas verwundert.
„Nun, gewiß, er war eigentlich doch an Allem schuld", entgegnete Martine.
„Sagtest du auch so zu Olga?" fragte Hetty nachsinnend.
126 „Ja, ich thai's, und nach mehr mußte mir heraus. Ich sagte: Wenn ich doch nur im Leben noch mit dem zusammenkäme, daß ich ihm recht sagen könnte, was ich von ihm denke."
„Was sagte Olga dazu?"
„Da sagte sie noch Nichts, aber wart nur, es kommt noch viel."
Hetty wollte ja gern noch viel wissen, Alles, was nur von Olga zu vernehmen war:
wie sie sprach, wie sie aussah, wie sie war in ihrem ganzen Wesen. „So, wie du
sie nie gesehn und nie gekannt hast", sagte Martine. „Es war, als sei Nichts
mehr an ihr als eine Seele, die schaute so still und mild Alles an, als könnte
ihr auch das Leid nicht mehr weh thun. Aber wenn ich sie ansah, das bleiche
Gesicht, so schmal und eingefallen und in diesem Tachwinkel eingesperrt, wo
keine Sonne zukam, dann mußte ich immer wieder in Weinen ansbrechen und in
inständiges Bitten, daß sie doch mit mir komme und nicht mehr da bleibe, so
unglücklich und verlassen könne ich sie nicht wissen. Dann schaute sie mich so
ruhig an imd wollte mich auch ruhig haben; ich weiß auch jedes Wort noch, das
sie aussprach. Einmal sagte sie: ,Jch bin nicht mehr unglücklich, Martine, und
verlassen bin ich auch nicht mehr, wie ich es war. Blich hält die sichere Hand,
die im Leben nie mehr läßt, was sie ergriffen hat und die auch im Tode noch
festhalten kann. Wenn ich gesund werden und noch leben soll, so kann ich
128 meine Worte seien nicht zu stark. O es war Alles so bitter. Aber das Bitterste von Allem war mir, zu erfahren, wie gering ich bin!'
„Olga hatte sich damals ganz matt geredet, sie konnte so wenig ertragen. Wir schwiegen lange still, dann sagte sie mit dem alten, lieben Ton ihrer Stimme: .Sieh, Martine, seit du gekommen bist in der alten Freundlichkeit, habe ich viele Pläne gemacht. Ich hatte mirs selbst so ausgedacht, wenn ich leben sollte und wieder wohl werden, dann möchte ich nirgends auf Erden so gerne hingehu, wie zu dir, ich wusste, du würdest mich aufnehmen. Tann wünschte ich, junge Mädchen zu mir zu nehmen, sie zu erziehn. Ich möchte so gern ihnen den Weg zeigen zum Ideal, das sie suchen, und dabei oft so sehr in die Irre gehen. Mir brennt das Herz für solche junge Seelen. Ich weist so gut, wie sie streben und ringen und das Höchste meinen, und so weit den Weg verfehlen können. Denke ich daran, dann steigt mir warm der Wunsch auf, zu genesen und zu leben, und du wolltest mich bei dir haben, Martine?' Wie war mir da zu Muth! Ich fastte ihre beiden Hände und rief: .Versprich mir's, Olga! Versprich mir s fest! Auf den Frühling, da wirst du reisen können, dann kommst du!' Da lächelte sie nur so still und sagte: .Ich verspreche gern zu reisen, wohin der liebe Gott will.'
Einmal sagte sie: .Einer ist, wenn ich doch dem noch sagen könnte, wo der Weg
zum Frieden liegt und zu der
„.Sieh Martine', sagte sie nun, .seit du mir gesagt, daß dein Bruder den Rhein hinauf mit dir reisen will, hatte ich immer schon einen Wunsch in mir gehegt, dem kommst du so gut entgegen. Wolltest du mir zu Liebe Herrn v. D. aufsuchen und ihm noch einen Gruß von mir bringen? Ich konnte ihm damals in Prag kein Lebewohl sagen, und schreiben konnte ich auch nicht und kann ich nicht, aber ich möchte ihm doch einen Gruß noch schicken, es wird ja der letzte sein.'
Verschollen rc. 9
„Unser Aufenthalt ging dem Ende zu. In den letzten Tagen war Olga so liebevoll,
wie ich dir nicht sagen kann. Sie sprach gern von der alten Zeit und fragte
Allen nach, die sie gekannt hatte. Viele Namen wußte sie nicht mehr recht. Dir
und Nannh frug sie besonders nach, ich mußte Alles erzählen, was ich von Euch
wußte. Am letzten Abend, wie wir noch da saßen und auf die Kamine
hinausschantcn, sagte sie: , O Martine, weißt du noch von jenen Pappeln am See?
Lb die wohl noch dastehn, und der alte Weidcn- baum ? Da möchte ich einmal noch
hin und mit Euch dort sitzen auf dem Mäuerchen und dem Seerauschcn zuhören und
nach den Bergen schauen, nach den schönen Bergen!'
„Paß auf, Martine", fiel hier Hetty ein, „wahrhaftig ich glaube, jetzt geht's bei dir los."
Martine wurde ein wenig böse.
„Man möchte dir noch so Ergreifendes erzählen, Hetty, jmmer könntest du noch spaßen zwischenein", sagte sie vorwurfsvoll.
Hetty war schon wieder zum Ernst gesammelt. Das Ergreifende war ihr zwar in diesem Falle noch nicht entgegengetreten, sie wollte aber zu gern weiter hören.
„Nein, nein", sagte sie beschwichtigend, „fahr nur ja fort, Martine, ich bin mit der wärmsten Theilnahme dabei."
Martine fuhr wieder fort: „Ja, Hetty, da stand ich! Und wenn du mir alle Güter
der Welt versprochen hättest, ich hätte kein Wort hervorgebracht, und so stand
ich da und sagte keine Silbe, und
„Jetzt sagte der seine Herr vor mir mit so gewinnender Stimme: , Treten Sie
naher, Fräulein, was ist denn ihr Begehren ?' lind was meinst du? Noch stand ich
wie fest gewurzelt und sand kein einziges Wort. Da faßte mich auf einmal Herr v,
T. bei beiden Händen und sagte lächelnd: ,Bin ich denn so fürchterlich, liebes
Kind, daß Sie gar nicht zu sprechen wagen? Setzen Sie sich hiehcr zu mir; was
wünschen Sie denn von mir?' Jetzt kam mir der Muth. Was war das für eine
Vertrauen erweckende Stimme! Da saß ich nun neben Herrn v, D., und er schaute
mich an mit Augen so tief und durchdringend, aber so viel Güte und Wohlwollen
lag in den. Blick! Alles, was ich erst hatte sagen wollen, war rein weg, wie
ausgelöscht; für den, der da neben mir saß, konnten auch meine Reden nie gepaßt
haben, das war unmöglich. Aber ich hatte ja einen Gruß abzugeben, der war für
ihn, das fühlte ich, ich gab ihn ab. Als ich Llga's Namen nannte, stand Herr v.
T. auf und ging eine Zeit lang im Zimmer hin und her. Tann stellte er sich vor
mich hin und fragte ganz eindringlich: .Aber wo, wo ist sie hingekommen?' Ich
sagte ihm, wo sie sei, und wie ich sie gefunden, daß sie wohnt und lebt, nicht
wie es für Olga fein sollte. Jetzt ging er wieder im Zimmer herum, und im Gehn
sagte er fast nnhörbar, aber ganz erregt: ,Taß sie den
Martine war in ihre Heimath zurückgekehrt mit dem Versprechen, Hetty Alles mitzutheilen, was sie von Olga hören würde. Der Winter verging, der sonnige Frühling kam — sollte er Olga bringen? Martine war keine gute Correspondentin. Von Zeit zu Zeit kamen ihre spärlichen Worte, sie sagten immer dasselbe: Noch sei Olga zu angegriffen, die Reise zu unternehmen. Noch denke sie, „sei kein Weitergehn, aber bald, bald" — so lauteten Olga's eigne Worte, wie Martine schrieb.
Schon war der Mai gekommen. Die lauen Lüfte zogen durch das Land, und Blumen und Wiesen schimmerten im Sonnengold. Da trat eines Morgens in Hetty's Stube Martine ein, nicht rasch und wohlgemuth nach ihrer Weise. Sie setzte sich hin und weinte so bitterlich, daß Hetty Alles wußte. Sie ergriff Martinens Hand. „So wird sie nicht mehr zu uns kommen, Olga ist nicht mehr da."
So war es. Als Martine sich ein wenig gefaßt hatte, erzählte sie, Olga habe ihr
vor kurzer Zeit noch einige Worte geschrieben, Worte voll lauter Tank und Liebe.
Erst
Hetty begleitete Martine, die gleich wieder nach Hause zurückkehren wollte. Als sie die Brücke überschritten hatten, sagte Hetty: „Komm noch die kurze Strecke weit, heute müssen wir noch einmal hin."
Martine folgte willig. Sie traten von der Straße ab und gingen die schmalen
Wiesenwege hin, dem See entlang bis dahin, wo noch die hohen Pappeln standen,
und unten am Wasser die alte Weide ihre Zweige neigte. Sie setzten sich auf das
Mäuerchen, an dieselbe Stelle, wo sie einmal gesessen vor langer Zeit. Sie
konnten Beide kein Wort
Fast drei Jahre waren vergangen, da trat einmal wieder Martine in ihrem alten Eifer bei Hetty ein. Kaum hatte sie zur ersten Begrüßung Zeit. Sie hielt Hetty zwei Briefe entgegen. „Lies, Hetty, lies!" rief sie drängend. Tcr eine Brief war schon vorn Frühjahr, der zweite aus den letzten Tagen datirt. Ter erste lautete wie folgt: „Dresden, den 22. Lctober 18 . .
„Werthes Fräulein!
„Wenn Sie diesen Brief lesen, werden Sie erstaunen. Vielleicht haben Sie schon
den Franyois Beillot vergessen, aber er hat Sie nicht vergessen. Sie haben ihm
viele Güte erwiesen. Er wird Ihnen immer danken und Sie verehren. Ich habe
unterdessen sehr gut deutsch gelernt, wie Sie sehn. Ich schreibe heute an Sie,
um eine große Gefälligkeit zu erhalten von Ihnen. Ich will Ihnen erzählen, wie
sich Alles mit mir begeben hat. Bei dem kranken Fräulein ging es mir sehr gut,
denn sie war ein Engel und ich mußte weinen, als sie todt war. Sie gab mir viele
gute Lehren. Tann ging es mir sehr schlecht. Ich arbeitete in vielen Geschäften
„Am andern Tag verreisten wir und so kamen wir nach Dresden. Da hatten wir ein
sehr schönes Logis. Da sagte Monsieur, nun müsse ich auch lesen und schreiben
lernen in Deutsch. Jetzt ließ mir Monsieur Unterricht geben in der deutschen
Sprache. Nun war für mich ein gutes Leben angegangen. Hunger — nie! Böse Worte —
keines! Abgelegte Kleider von Monsieur — Alles mein! Geschäfte — wenig und
angenehm. Gage fix. Für Extradienst — Extra- trinkgeld. Sie können nicht
begreifen, wie gut ein Bedienter sich befindet bei Monsieur. So lebten wir
glücklich zwei und ein halbes Jahr. Wir machten viele große Reifen und blieben
auch oft viele Wochen in den großen Städten. Und Monsieur genoß viel Verehrung.
Da habe ich auch sehr viele Bildung empfangen. Aber jetzt ist Monsieur oft
unwohl. Tann ist er still und sitzt traurig und er spricht lange nicht. Ich
dachte viel nach darüber, was ihm Freude bereiten würde. So kam es mir in den
Sinn und ich sagte es Monsieur. Wenn er ein Buch hätte, das dem kranken Fräulein
gehörte, so hätte er Freude. Da stehn schöne Geschichten darin. Denn das
Fräulein sah froh aus, wenn sie darin las und sie war sehr krank. Monsieur
fragte mich, wie das Buch heiße. Ich wußte es nicht, denn es war ganz deutsch.
Monsieur sagte Nichts mehr. Aber drei Tage nachher sagte Monsieur: ,Fran?ois,
schaff das Buch her! Du bist ja ein gescheidter Kerl, du wirst einen Weg
finden.' Ich
Herrn v. D.'s Adresse war beigelegt.
Hetty hatte sich während des Lesens mehrmals des Lachens nicht enthalten können. Der Hauptpunkt des Brieses brachte sie freilich bald wieder in ernstere Stimmung.
„Was thatest du dann?" fragte sie, das Schreiben in Martinens Hand zurücklegend.
„Was hättest du gethan?" fragte Martine dagegen.
Hetty gab keine Antwort.
„Ich will dir sagen, wie ich's machte", fuhr Martine fort.
„Ich fragte mich: Was würde Olga freuen? Gewiß, daß Herr v. D. das Buch lesen
und kennen möchte. Wenn ich nun nur den Titel des Buches schicke, so würde Herr
v. T. wohl denken, das kenne er schon lange, und würde
„Tas ist gerade, was ich dachte und was ich wünschte, daß du gethan haben möchtest", sagte Hetty erfreut.
Sie nahm begierig den zweiten Brief in die Hand. Er lautete: „Paris, den 28. September 18 . .
„Werthes Fräulein!
„Ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß das Buch nicht zurückkommt. Ich bin Ihnen
viel Tank schuldig, daß Sie das Buch geschickt haben. Jetzt will ich Ihnen
berichten, wie Alles sich begeben hat. Als ich das Buch Monsieur brachte, machte
er es auf und las den Titel. Monsieur lachte ein wenig und sagte: ,Franyvis,
Schlankopf, du hast gewußt, wie das Buch heißt!' Ich sagte: ,?arols ä'llonusnr,
Llonsisur, ich weiß es jetzt noch nicht.' Monsieur sah hinein und las hie und da
auf den Blättern herum, wie zu einer Uebersicht. Und Monsieur sagte Nichts mehr
von dem Buch. Aber es lag auf seinem Tisch am Bett. Aber Monsieur
„Nun steckte es Monsieur in die Seitentasche und sagte: .Das Buch geht mit!'
Monsieur nahm Abschied von mir und stieg in den Wagen. Jetzt sagte er:
.Franyois, du schreibst einen Brief.' Und in den Brief müsse ich schreiben,
Monsieur sehe das Buch an als ein Geschenk von dem Fräulein, das er wohl kenne.
Das kann aber nicht sein, denn ich kann nicht ausfinden, wie Monsieur Sie kennen
könnte. Und Monsieur möchte gern dem Fräulein seinen Dank dafür sagen. Jetzt bin
ich in Paris. Es geht mir sehr gut. Ich habe hier schon Arbeit gefunden in einem
Geschäft und gute Bezahlung. Denn ich habe viel Bildung genossen, die hilft mir.
Ich bleibe hier, bis Monsieur zurückkommt und
Als nach Jahren Hetty durch Paris reiste, suchte sie aus dem alten Fricdhof
umher nach einem Grabe, welches nah an der Mauer liegen mußte. Ein schwarzes
Kreuz sollte daraufstehn, das einen wohlbekannten Namen trug. Der Gärtner, der
sie beobachtet und wohl als eine Fremde erkannt hatte, rief ihr zu, sie müsse
weiter hinaufsteigen, dort unten bei der Mauer finde sie nur geringe Gräber, die
schönen Monumente seien alle auf der Höhe. Aber Hetty war soeben an die gesuchte
Stelle gekommen. Auf dem einfachen Kreuze vor ihr stand der Name „Olga".
Blaßrothe, durchsichtige Rosen blühten aus dem Grabhügel, und grüne Epheuranken
schlangen sich an dem Kreuz empor. Hetty pflückte von den Blättern und Blumen,
um sie zu trocknen Verschollen!c. 10
Auf ihrem Kreuze steht das Wort, das Olga so gern in den Herzen Anderer lebendig gewußt hätte, wie es in dem ihrigen lebendig geworden war: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben."
Es waren einige Jahre vergangen seit dieser Zeit, als Hellt) eine kranke Freundin nach einem besuchten Badeort, unweit der böhmischen Grenze, zu begleiten hatte. Die letzten Wochen des regnerischen Sommers waren hell und günstig zur Erholung, und viel schneller, als man hatte annehmen können, wurde die Kranke kräftig und wohl und kam dadurch in eine besonders frohe Stimmung.
„Helly", rief sie eines Morgens der Hereintretenden entgegen, „nun können wir reisen! Aber bevor wir von cinandergehn, du nach Süden, ich nach Norden, möchte ich noch irgend wohin mit dir, wohin es dich zieht, und da noch einige schöne Tage mit dir zubringen. Wie gefiele dir Dresden?
„Gehn wir nach Prag", entgegnete Hellt) unverweilt. Die Freundin war's zufrieden. Wenige Tage nachher reisten die Beiden ab und langten am späten Abend in Prag an.
„Wir haben ja ganz vergessen, uns nach den Gasthöfen zu erkundigen", sagte
ängstlich die Freundin, als sie in die
„Ich weiß Bescheid", beruhigte sie Hetty, „wir steigen im .Schwarzen Roß' ab."
Ein Fiaker brachte die Reisenden sofort dahin.
Tie Genesende fühlte sich mehr von der Reise angegriffen, als sie vorausgesehn hatte. Am folgenden Morgen, anstatt sich zu der verabredeten Fahrt durch die Stadt bereit zu machen, bat sie Hetty, diese allein zu unternehmen, da sie weder Lust noch Muth dazu hätte; der Tag sollte aber nicht verloren gehn, da die Zeit zu dem Aufenthalt kurz zugemessen war.
Hetty wollte Nichts davon wissen, daß die Halbkranke allein im Gasthos liegen bleiben 'sollte; diese aber bestand fest auf ihrem Wunsch und suchte unruhig nach einem Wege, wie Hetty eine Begleitung zu ihrer Fahrt durch die Stadt finden könnte.
„Dafür laß mich sorgen, wenn du es denn so haben willst", schloß Hetty die Berathung ab und machte sich zu ihrer Rundreise bereit.
Unten beim Portier erkundigte sie sich genau nach den Fremdenführern, die zu haben wären.
„Das Hotel hat deren drei zur Disposition der Dame", erklärte der Mann
gewichtig: „Einmal den lange im Dienst Stehenden, der Alles kennt und weiß und
richtig geht, wie die alte Präger Stadtuhr; 10 *
„Ich wünsche den Ersten", sagte Hetty längst entschlossen. Sie hatte nicht lange im Portier-Stlldchen gewartet, als ein schmales, bewegliches Männchen herantrat und, nachdem er einen tiefen Knix gemacht, ein paar schwarze, durchdringende Augen aus sie heftete.
„Kutsche haben, Gnaden?" fragte er unterthänig.
„Nein, wir wollen zu Fuß gehn", erwiderte Hetty und trat sofort die Wanderung
an. Ter Führer ging ihr zur Linken, ehrerbietig immer einige Schritte hinter ihr
zurückbleibend. So gingen sie durch die alten Straßen, an den dunkeln, massiven
Palästen vorüber, traten hie und da in eine uralte, prächtige Kirche ein,
wanderten dann unter den noch mit dichtem Laub bedeckten Platanen der Promenade
hin, der rastlos dahinfließenden Moldau entlang. Ta standen unter den leise
wehenden Zweigen der großen Bäume hie und da die stillen Ruhebänke, kühl und
schattig anzu- seh», und auf eine derselben, nah dem rauschenden Wasser und fast
eingeschlossen von den tief niederhängenden Zweigen der alten Platane, ließ
Hetty sich einen Augenblick nieder. Ihr Führer stellte sich in einiger
Entfernung vor sie hin
„Wenn wir nun über die Karlsbrücke »ach dem Hradschin hinübergingen? Mit der Altstadt sind wir nun wohl zu Ende, so weit wir kommen wollen", meinte Hetty.
„Es wäre noch viel zu sehn", entgegnetc der Begleiter, dem sichtlich daran lag, seine alte, schöne Stadt so eingehend als möglich zu zeigen; „doch wie Gnaden wollen. Ich würde den Vorschlag machen, hier links die Kettenbrücke zu passiren,. den Weg oben über, am alten Kloster vorbei, zum Hradschin zu machen, über unsere schöne Karlsbrücke in die Altstadt zurückzukehren; doch wie Gnaden meinen."
Tcr Vorschlag gefiel Hetty, die Wanderung wurde wieder angetreten.
Wie viel war zu sehn und zu erzählen auf den, alten Hradschin! Ter Führer
erklärte gut und einläßlich und mit so seelenvoller Theilnahme an der Sache, daß
Hetty sich in immer längere Gespräche mit ihni einließ. Er wußte um Alles; die
Geschichte seiner Stadt Prag mußte er ganz gründlich erforscht haben und bei
Hetty's gespannter Aufmerksamkeit ging ihm das Herz immer mehr auf. Nun stiegen
die Wanderer zu der Karlsbrücke nieder. Bei der Statue des heiligen Ncpomuk
angelangt, stand Hetty still und schaute
„Wenn ich dürfte, Gnaden", war die rasche Antwort.
„Ja, Sie dürfen ganz wohl, fragen Sie nur - immer", sagte Hetty. Der Führer drehte einige Male seine Mütze in den Händen herum, so wie um einen Anfang zu finden; endlich sagte er unsicher: „Ich wollte so gern — ich dachte Gnaden könnten mir vielleicht — ich habe Jemanden gekannt und Gnaden haben im Sprechen so viel Aehnlichkeit mit der Tarne, vielleicht kommen Gnaden aus derselben Gegend?"
„Sie heißen Nick, nicht wahr?" sagte Hetty, als ihr Führer wieder stockte. „Ich kenne Sie und ich weiß, nach wem Sie fragen."
Nick machte seine Augen im höchsten Erstaunen aus: „Gnaden kennen mich? Durch
sie denn? Und sie? Glücklich jetzt. Keine traurigen Augen mehr?"
Nick sagte kein Wart, er faltete nochmals seine Hände, und lange umgab eine lautlose Stille die schweigende Gestalt des steinernen Vaters.
Nick brach zuerst das Schweigen.
„Jetzt glaub' ich's, Alles glaub' ich nun", sagte er, mit so leuchtenden Augen, als sei ihm eben eine frohe Botschaft verkündet worden. Etwas verwundert fragte Hetty, was er damit meine.
„Darf ich's Gnaden erzählen?" fragte er und fuhr auf Hetty's bejahende Bewegung
fort: „Ihre traurigen Augen sind mir immer nachgegangen, sie war gut, ich habe
es gesehn, gut wie Wenige, und doch wußte sie auch Nichts von einer
Gerechtigkeit. Ich hab' es nie vergessen. Und lauge nachher sah ich sie im
Traum, da stand sie auf den Wolken und sie schaute nach mir hernieder und ihre
Augen leuchteten wie die Sterne und sie nickte mir, so, als wollte sie sagen:
,Ja, Nick, ich weiß von einer Gerechtigkeit.' Und ich wollte Hinaufrufen, aber
auf einmal war sie weg und jetzt — wie war mir s! — Auf demselben Platze stand
meine Mutter und hatte dieselben leuchtenden Augen und sie nickte mir, wie in
Freude, und ich rief laut: .Mutter, ist dir auch einmal wohl geworden?' Und
nochmals nickte sie froh, und auf den hellen Wolken verschwand sie hoch oben.
Und seit dem Tag — hier der heilige Vater
Nick hatte einen so warmen, überzeugten Ausdruck in seinen Augen, das; es Hctth ganz wohl that, ihn so zu sehn. Sie reichte ihm die Hand: „Ja, wir wollen uns freuen, daß es ihnen Beiden wohl geworden ist ; und daß ich Sie hier noch getroffen habe, sreut mich auch."
Nick drückte die dargebotene Hand in großer Bewegung, dann gingen die Beiden schweigend über die Brücke zum Schwarzen Roß zurück. Noch an demselben Abend verließ Hettt) Prag und fuhr durch die stille Nacht, von dahingegangenen, unvergeßlichen Gestalten begleitet, der Heimath zu.
Noch einmal sollte Hetth von einem Namen hören, der die vergangnen Tage wieder in ihrer Seele wach rief und manche entschlummerte Erinnerung in neuem Leben vor ihr erflehn ließ.
Sie war aus dem Süden zurückgekehrt, wo sie ihre kranke Freundin, welche sie dahin begleitet hatte, der jungen Verwandten hatte übergeben können, die als Pflegerin herbe schieden worden war. Das frische, lebensfrohe Mädchen niußte mit ihrem heitern Wesen einen wohlthuenden Einfluß auf die schweigsame Kranke ausüben, und in dem milden Sonnenlicht, auf dem unvergleichlich schönen Fleckchen Erde, mußte Heilung für manches Weh und Leiden zu finden sein.
153 So sagte sich Hetty, als sie, in die Heimath zurückgekehrt, mit ihren Gedanken die fernen Freunde suchte und verlangend nach den verheißenen Nachrichten aussah, die nun den mündlichen Verkehr ersetzen sollten. Nicht lange mußte sie vergeblich darnach ausschauen: die fröhliche Herta, die junge Verwandte der Kranken, hielt ihr Wort; ja ihre Briefe folgten schneller noch auf einander, als sie selbst versprochen hatte, doch nie zu schnell für Hetty's wachsende Theilnahme daran. So lauteten die Briefe: „Sorrent, 10. Lctober 18 . .
„Liebe Hetty!
„Tu bist zu früh abgereist von Sorrent, aus drei Gründen. Erstens: weil ich noch
nicht Alles mit Dir durch- geredct hatte, was mir im Sinne lag zu thun;
zweitens: weil Tu nicht mehr gesehn hast, wie wir nun für den Winter
eingerichtet sind, und drittens: weil du eine Bc- I kanntschast versäumt hast,
die Dir Freude gemacht hätte, die ^ Bekanntschaft des originellsten Kindes, das
mir je vor Augen gekommen ist. Tu siehst, ich habe Dir schon sehr viel zu
erzählen! Wo fang' ich nur gleich an? Ich denke bei' unserer Kranken: Cousine
Elsa ist ganz ordentlich in diesen Tagen. Wir haben in unserer netten Villa, auf
das An- > erbieten der Besitzerin hin, im oberen Stock drei Zimmer bezogen,
nämlich zwei Schlafzimmer und den anstoßenden kleinen Saal, wo ein Klavier
steht. Ta geht Elsa, wenn
„Tas kannst Tu aber jetzt mit mehr Recht singen, als wir. Ich gehe derweilen draußen auf dem Balkon herum und schaue über den Lrangenwald zu meinen Füßen weg aus die blaue Meeresfluth hinaus und nach dem alten Vesuv hinüber, der in violetten Tust gehüllt da drüben steht und sein weißes Wölkchen hinaufsteigen läßt in's dunkle Himmelblau. Nun muß ich Dir von dem Kinde erzählen! Eigentlich kennst Tu das kleine Geschöpf, nämlich dem Aenßern nach; aber von seinem sonderbaren Wesen hast Tu keine Ahnung. Erinnerst Tu dich des Tages, da wir nach dem Pinienthal gingen zusammen? Ta stand vor einem kleinen Hause auf der ersten Anhöhe, wo man links abbiegt, das Kind mit den glänzend schwarzen Haaren und den feurigen Augen. Tu wolltest damals sprechen mit ihm, aber es lief weg von Tir; ich glaube zwar, es lief Jemandem nach, es war, als habe es plötzlich Etwas erblickt, es schoß wie ein Pfeil aus die Straße hinunter.
„Gestern nun war der Abend so licht und lieblich/ das Meer ganz dunkelblau, und weithin flimmerte Alles im Sonnenlicht, Himmel und Meer und Orangenbäume und Bergabhänge, und ich lief hinaus und rief Elsa auf den Balkon hinaus, damit sie Lust bekäme, auszugehn. So kam es auch und wir gingen bis zu dem kleinen Haus aus der Anhöhe.
155 Da stand das Kind wieder an die Hecke gelehnt nnd gnckte nach der Straße hinunter, so als ob es Jemand erwarte. Mir kam in den Sinn, daß wir hier auf dem Wege nach dem Pinienthal waren und ich wäre so gern noch einmal hingegangen, aber ich befürchtete, den Weg nicht finden zu können. Ich trat zu dem Kinde heran und fragte, ob es mich nach dem Pinienthal hinführen wolle. Ganz direkt nnd ohne Besinnen antwortete es: ,dlo, non voxlio.' Ich dachte, es sei vielleicht zu spät für heute, der Weg ist doch noch weit von dort. So fragte ich: /Aber morgen kommst Tu mit mir?' ,dlo, mal/ war die Antwort. — .Llui', .niemals'.
.Warum deuu niemals'?' fragte ich weiter und war ziemlich ärgerlich. Das schien dem Kinde sehr gleichgültig zu sein; es schaute mir mit seinen feurigen Augen mitten in's Gesicht nnd wiederholte ganz bestimmt: ,LIai.'
„Ich dachte, es wolle erst sehn, was es für den Dienst bekäme; Tu weißt, die
italienischen Kinder betteln ja , Loläi', bevor sie recht reden können. Ich
hielt dem Kinde einige Saldi hin und fragte: .Kommst Tu dafür?' Es schüttelte
verneinend den Kops. Nun schüttete ich Alles, was ich an Münze bei mir hatte,
aus meine Hand aus und hielt es ihm hin. Da wandte es den Kopf weg, (und sagte
trotzig: ,Xo, wsi.' So Etwas war mir noch nicht vorgekommen. Tie Mutter war nun
herausgetreten und wollte, wie ich glaube, das Kind bearbeiten. Aber mit einem
Mal schoß es auf
Lebe wohl und gedenk unser!
Herta."
„Sorrent, 15. October 18 . .
„Liebe Hetty!
„Wir haben den Scirocco kennen gelernt, alle die Tage her regierte er im Lande.
Einmal fuhr ein Regenschauer daher, dann kam die Sonne und brannte eine halbe
Stunde lang wie Feuer auf die Orangenbäume nnd die Menschen- köpse nieder. Dann
kam ivieder der Regen und drunten peitschte der Wind die Meereswogen hoch über
die Mauern in die Gärten herein. Es war an keinen längern Ausgang zu denken, bis
gestern gegen Abend mit einem Mal der Wind umgeschlagen hatte, wie ich den
Gärtner unten sagen hörte, nun sei die Tramontuna eingezogen, und wir haben es
gewonnen für lange. Nun zog ich aus, denn meinen Gang nach dem Pinienthal hatte
ich aus den ersten schönen Tag festgesetzt. Es war zwar schon ein wenig spät
dazu, und dann weiß ich nicht, wie es zugeht, auf dieser Straße
158 Könnte ich doch dort oben wohnen Ich stände ganze Tage lang aus diesem
Balkon. Ich konnte nicht sort von der Stelle. Endlich ging ich doch. Lben bei
dem kleinen Hause angekommen, fand ich das störrige Jrenchen nicht an seiner
Hecke stehn, es war Alles still und leer. Auch hier, bei dem granen
Steinhüuschen, ist es unsäglich schön. Da sieht man über die blauen Fluthen hin,
an den Vesuv und an den leuchtenden Kranz der weihen Paläste und Häuser hinüber,
die sich um den alten Feuerspeier hinziehn von Portici bis Castellamarc. Jetzt
lag Alles im Abendlicht, weithin das Meer wie lauter Gold und der rauchende
Vesuv von einem rosigvioletten Duft umwoben. Da saß ich fest auf einem
Baumstrunk vor dem Häuschen und hatte ganz vergessen, daß ich nach dem
Pinienthal hinwollte. Irenens Mutter schreckte mich aus meinen Träumereien auf,
sie kam heraus, um Wasser zu schöpfen. Ich fragte nach dem Kinde und ob es mich
wohl noch begleiten könnte. Sie sagte mir, für heute sei es viel zu spät, in's
Thal hinaufzugehn, das Kind sei noch als Begleiterin fort, aber nach
Sonnenuntergang koinme es immer zurück. Ich wollte seine Heimkehr abwarten, um
auf den folgenden Tag die Parthie mit ihm auszumachen. Ich konnte schon sitzen
bleiben, wo ich saß, ich weiß nicht, wo es schöner sein könnte. Es dämmert
schnell hier nach Sonnenuntergang. Das Kind stand auf einmal vor mir, ich hatte
nicht gesehn, von welcher Seite es gekommen war. Die Mutter trat auch wieder
heraus
,So will ich nach dem Deserto gehn mit ihr', sagte dann auf einmal das Kind ganz
entschlossen. Haft Tu je so Etwas gehört? Das kleine Geschöpf befiehlt, wo man
hingehn soll! Ich sagte, ich werde nicht nach dem Deserto gehn, auf diesen
kahlen Berg hinauf, durchaus nicht; nach dem Pinienthal aber werde ich gehn,
unabänderlich. Nun setzte das Persönchen wieder seinen Kopf auf und behauptete,
dahin führe es mich nicht, nie! Jetzt wurde die Mutter aus einmal ganz lebendig,
ich glaube vor Neugierde, sie wollte nun durchaus wissen, warum Irene an den
einen Ort mit mir gehn wollte, und an den andern nicht. Es währte noch eine gute
Zeit, bis das Kind reden wollte, aber jetzt gab die Mutter nicht mehr nach. Sie
fragte alles Mögliche, ob es nicht nach dem Pinienthale wolle, weil es denke, es
seien
„So endete mein Gang nach dem längst ersehnten Pinienthal. Was soll denn das heißen? Ein ganz offnes Thal, offen wie eine Straße, wo Jeder hingehn kann, wo schon Tausende hingegangen sind um der eigenthümlichen Schönheit des Ortes willen, da soll man jetzt nicht hingehn, well irgend ein Signore Jnglese es nicht gern hat. Nun wollen wir doch sehn, ob ich nach dem Pinienthal komme oder nicht. Du kannst begreifen, daß ich nun durchaus dahingeht, will. Du haft auch selbst gesagt, es sei vom Schönsten, das Du kennest. Und ich will nun dahin!
„Elsa geht es gut. Die Lust hier ist ihr wohlthuend, sie hat ihre Kopfkrämpfe selten und ißt mit Appetit allerlei Meerthiere.
„Lebe wohl und sei mir herzlich gegrüßt.
Herta."
„Liebe Hetty!
„Ich habe es doch erreicht!
„Nach dem Pinienthale bin ich gekommen und den Signore Jnglese, der hier die
Thäler schließt und die Leute beherrscht, habe ich auch gesehn; ich muß Dir
Alles erzählen. Wir hatten doch die richtige Tramontnna noch nicht, wenigstens
nicht für bleibend. Du hattest Recht, mir in Deinem Briefe zu sagen, ich solle
nicht zu fest trauen; wenn der Wind so schnell wechsle, ebenso schnell kehre er
meistens dann wieder um. So war's auch diesmal. Aber gestern Morgen, als mir
früh schon die Sonne hell in's Zimmer schien, da rief ich laut aus: .Heute nach
dem Pinienthal!' Der Ruf war so anregend, daß Elsa augenblicklich aus ihrer
Stube herüber- rief: .Ich gehe mit.' Gleich nach dem zweiten Frühstück um zwölf
Uhr, zogen wir aus nach dem großen Platze, wo, wie Du weißt, die Kutscher, die
Schiffer, die Eseltreiber und allerlei Reisebegleiter mit allen möglichen
Vorschlägen und Anerbietungen einen so bedeutenden Lärm verführen, daß man froh
ist, so schnell als möglich in Sicherheit zu kommen. So machten wir auch eilig
unser Geschäft mit einem Eseltreiber ab, der ziemlich tückisch und zerlumpt
aussah. Ich bereute auch gleich unsere That, da ein hübscher, schwarzlockiger
Junge eben auf uns zu trat und uns sehr manierlich seine Dienste anbot. Er
schaute mich so ehrlich an und verschollen ic. 11
„Elsa war mitgekommen, aber ich hatte sie aus den Augen 11 *
„Nun lebe wohl und gestehe, daß ich Deinem Wunsche nachkomme und Dir viel von unserm Leben erzähle.
Herta."
„Liebe Hetty!
„Meine Parthie nach dem Deserto ist wundervoll ausgefallen. Mein erster Eindruck
von dem Jungen war ganz richtig, er ist vorzüglich als Führer und als Mensch.
Erst machte Elsa ein wenig Spektakel, als ich ihr mein Vorhaben offenbarte. Sie
wollte mich nicht allein eine so weite Tour machen lassen, es könnten mir
allerlei Unfälle zustoßen, meinte sie, und mitkommen könne sie auch nicht, es
wäre zu anstrengend für sie. Endlich nahm sie aber Vernunft an, denn sie sah,
daß ich entschlossen war, zu gehen. So allein auszuziehen, das war ein
herrliches Gefühl! Ich ging nach dem Platze hin, da stürzte mir gleich mein
Führer entgegen, er hatte schon aus mich gewartet. Mit stolzen Blicken zeigte er
mir »einen Colonello, dem er eine nagelneue Decke aufgelegt hatte, die war grau
mit rothen Streifen und sehr an- muthig sauber. So begannen wir die Reise. Ich
saß prächtig auf dem Colonello und hart neben mir her wanderte mit ungeheuren
Schritten mein Führer einher, mit dem ich vom Augenblick der Abreise an bis zu
demjenigen des Abschieds in ununterbrochener Unterhaltung blieb. Er hat mir aber
auch so Vieles erzählt, das mir merkwürdig ist und das Dir nun gleich auch
merkwürdig sein wird. Denk' doch, mein schmucker Führer, Pietro, ist ein
Stiefbruder der kleinen Irene; da mußte er mir denn zuerst seine Familien-
verhältnisse auseinandersetzen. Er hat seine Mutter verloren,
„Nun sieh doch, vor lauter Erzählungen über den Signore ist mein Brief schon so
lang geworden, und noch habe ich Tir von Allem, was ich gesehen, Nichts erzählt,
und doch sieht man von diesem hohen Deserto aus auf eine so wun- dcrrciche Welt
hinunter. Tas heißt, man könnte das Alles sehen, wenn man nicht einen Kamps zu
bestehen hätte, der nicht zu schildern ist. Tas Teserto ist eine völlig kahle
Höhe ohne jeglichen Baum oder Strauch; nur ein graues Steinhaus steht da, eine
Art Stift oder Waisenhaus, wo eine Menge dünner, bleicher, windzerzauster Buben
herumrannten, denn ein Wind streicht über diese Höhe hin, wie
„Lebe wohl und laß bald von T'ir hören.
Herta."
„Liebe Hetth!
„Eine ganz lächerliche Geschichte Hot sich zugetragen, die sollst Tu gleich
hören. Tu wirst zwar erst gor nicht glauben wollen, was Tu liesest; aber es
hilft Tir Nichts, Tu mußt, es ist eine wahre und wirkliche Begebenheit. Jetzt
höre: Gestern Abend gehe ich die Straße gegen Mussa hinaus, mau kann ja nie
ermüden, diesen Weg zu gehen. Ich biege in den Fußweg zum Pinicnthal ein und
steige hinauf bis zum Häuschen der Irene, sehe auch das Kind droben sitzen und
freue mich darüber, denn das kleine Wesen mit den Rabenhaaren und den
Flammenaugcn sehe ich immer gern; ich möchte nur wissen, was im Innern dieses
kleinen Kraters vorgeht, denn daß da allerlei Feuer sprühn, daran zweifle ich
gar nicht. Lbschon das Kind mir noch wenig Huld erzeigt hat, so. hat es mich
doch so für sich eingenommen, daß ich immer nach ihm ausschaue, wenn ich draußen
bin. Wie es mich herankommen sah, wollte es fortlaufen, ich winkte ihm aber zu
und es blieb sitzen. Wie ich oben war, setzte ich mich zu ihm auf die kleine,
zerbrochene Bank hin, und um nun ein Gespräch zu beginnen, fragte ich, wo heute
der Pietro sei. Statt aller Antwort zeigte das Kind nach dem Meer hin, wo ich
wohl einige Barken sah, aber klein wie Mücken, so daß unmöglich zu unterscheiden
war, ob sie gingen oder kamen. Ich zog mein Fernrohr hervor, Du kennst ja das
Hcrta."
„Sorrent, 15. November 18 . .
„Liebe Hetth!
„Was hat denn mit einem Mal eine solche Theilnahme am Schicksal dieses Herrn v.
D. bei Dir erweckt? Bis zu meinem letzten Briefe gabst Du kaum Antwort auf
Alles, was ich Dir von dem Signore erzählte und nun plötzlich willst Tu Alles
von Ihm wissen, was nur zu wissen ist, und viel mehr, als ich Dir sagen kann.
Hat Dich unsere Räubergeschichte so angeregt? Ich möchte wissen, was über Dich
gekommen ist! Jetzt will ich Dir aber Alles erzählen, was ich weiß, denn ich mag
gern, daß Tu zu einer lebendigen Theilnahme für unsern Signore erwacht bist, er
verdient eine solche. Du sagst in deinem Briefe, ich soll Dir schreiben, wie
Herr v. D. .jetzt' aussehe. Was heißt das? Ich denke, Du wolltest fragen, wie er
überhaupt aussehe. Edel sieht er aus und nicht wie viele Andere. Ich dachte bei
mir, wie er hier bei uns war: Der hat ein Wesen wie ein Fürst, dem
natürlicherweise seine ganze Umgebung unter-
„Lebe wohl bis dahin.
Herta."
„Liebe Hetty!
„Diesmal hast Du länger als gewöhnlich auf einen Brief warten müssen. Ich weiß
nicht, wie es kam, ich war nicht zum Schreiben aufgelegt, aber heute habe ich
Dir viel zu erzählen. Elsa ist recht unwohl gewesen, und ich saß die meiste Zeit
bei ihr zu Hause. Gestern aber lag ein so lieblich milder Sonnenschein draußen
auf den Orangenbäumen im Garten, daß man nicht zwischen den Mauern bleiben
konnte. Da es ganz windstill war, kam mir der Gedanke, eine kleine Meerfahrt zu
machen; ich dachte, es müßte Elsa wohlthun, einmal wieder die herrliche Luft
einzuathmen, und ermüden konnte sie sich ja in dieser Weise nicht. Sie war
sogleich einverstanden mit meinem Plan. Wir gingen um die Mittagszeit im milden
Sonnenschein nach der kleinen Marine hinunter, wo ich ein Schiff hatte bestellen
lassen. Als wir auf einem Vorsprung ankamen, wo man hinunter- sieht, erblickte
ich zu meinem Erstaunen, wie eben Herr v. D., gefolgt von der kleinen Irene, das
einzige Schiff bestieg, das zur Abfahrt bereit stand, also das unsrige. Das war
doch ein sonderbares Unternehmen von dem Signore, der auf seinen Spaziergängen
Niemanden treffen will. Als wir uns näherten, hörte ich, daß er mit den
Schiffern eine Differenz beizulegen hatte, sie riefen alle Viere auf einmal, so
viel sie vermochten, und gestikulierten gewaltig mit Kopf und Armen,
„Lebe wohl und sei vergnügt wie wir es sind.
Herta."
„Sorrent, 15. Tezember 18 - .
„Liebe Herty!
„Noch haben wir seit unserer Meerfahrt keinen recht sonnenhellen Tag gehabt, so
ist die verabredete Tour immer noch unterblieben. Elsa muß im Zimmer bleiben in
diesen ziemlich kühlen Tagen. Da geh' ich dann oft allein aus kleine
Entdeckungsreisen aus, meistens gegen Massa hinaus. Die letzten Rosen blühn an
den Hecken, sie sind ein wenig blaß; aber immer goldner leuchten jetzt die
Orangen aus den dunkeln Blättern hervor, bald werden sie reis sein. Ich wandere
an .Salve' vorüber, nach der Höhe der Straße hinauf und schaue um mich. Und wenn
ich Stunden und
„Der arme Pictro war ganz betroffen, als ich ihm sagte, unsere Reise könne nicht stattfinden; er schlug mir fünf oder sechs andere Parthien vor nach unbekannten Höhen und Diesen. Das Eine ist nun aufgegeben; aber mit dem Pictro mus; ich schon noch Allerlei ausführen, da bleiben noch herrliche Dinge zu thun.
„Lebe wohl und las; uns von Dir wissen.
Herta."
„Sorrent, 20. Dezember 18 . .
„Liebe Hetty!
„Ein wundervoll sonniger Tag lag gestern über Sorrent. Die längst beschlossene
Parthie nach dem Pinienthal wurde ausgeführt, und nun sollst Tu gleich davon
hören. Elsa und ich auf unserm Eseln, begleitet von Pietro, waren zuerst auf dem
Platze. Wir lagerten uns auf die bemoosten Steine an meinem erwählten Platz und
schauten um uns in die Schönheit hinaus und harrten der Kommenden. Bald hörten
wir auch ihre Tritte im Steingeröll und sahn den Signore daher kommen, hinter
ihm das Kind, mit den gewohnten Gegenständen beladen. Unter der Pinie, wo ich
sie damals gesehen hatte, blieb Irene stehen und ordnete einen Sitz zu- recht.
Herr v. T. kam uns entgegen und bewillkommte uns
„Ich war so überrascht von dieser Rede, daß mir die
„Die kleine Irene sprang dann mit einem Mal aus und stellte sich hinter ihren Signore, der sogleich aufstand und um Entschuldigung bat, daß er aufbrechen müsse, das Kind wisse, seine Zeit, heute hätte er selbst sie wohl vergessen. Wir blieben noch eine Weile schweigend sitzen, um den Fußgängern den Vorsprang zu lassen.
„Was sagst Tu zu diesem Tag im Pinienthal? Das soll nicht mein letzter Eindruck davon sein, ich komme noch einmal wieder, denn ich will diese Schönheit noch einmal in voller Fröhlichkeit schauen.
„Lebe wohl und fahre fort, so lebendigen Antheil an unsern Erlebnissen zu nehmen.
Herta."
„Sorrcnt, 10. Januar 18 . .
„Liebe Hetty!
„Tas ist das Köstliche an diesem Scirocco-Wetter, daß man doch jeden Tag, auch wenn es übel haust, ein Mal oder mehrmals hinaus kann; denn, kommt die Sonne zwischen den Schauern durch heraus, so ist sie warm, und gleich ist's trocken aus der Straße und im Augenblick bin ich wieder draußen. Wir werden noch tüchtig Sturm bekommen, sagt der Gärtner, der Wind braust auch ganz gewaltig über das Meer her und schlügt die Wellen hoch auf an der Marine.
183 Es ist schön anzusehen. Gestern Abend stand ich lange oben an der
Straffenmaner, wo man aus die Marine niedcrsieht, es brauste und wogte, und hoch
aus schlug der Gischt. Die Schiffer zogen die Barken ein, und halbnackte Buben
sprangen mit erstaunlichem Geschrei in den Schaum hinaus und dann wieder zurück.
Das können sie Stunden lang so sort treiben und ich kann zusehen, sreilich seh'
ich noch Vieles daneben und drüber hin und immer etwas Neues, jetzt hat der alte
St. Angela sogar eine Schneekrone ausgesetzt. Als ich noch dort stand, kam Irene
von oben herunter, sie hatte sichtlich wieder Zorn gegen mich im Herzen; sie bot
mir keine Hand und wollte vorbeigehen ohne Gruß. Ich hielt sie an und nahm ihre
Hand; sie schaute aus den Boden und gab mir keinen Blick. Es that mir so leid!
Ich sagte: .Komm, Irene, sieh mich an, habe ich Dir denn Etwas zu Leide gethan?'
Sie starrte auf den Boden und gab keine Antwort. Nun dachte ich, wart nur, ich
will ein Mittel gegen dein Trotzköpfchen finden! Ich sagte: ,So will ich den
Signore fragen, Irene, warum Tu aus einmal so störrisch wirst, wenn man Dir gar
Nichts gethan hat und gerne freundlich mit Tir wäre. Glaubst Tu, das gefällt dem
Signore?' Jetzt schnellte das Köpfchen in die Höhe und zwei zornfnnkelnde Augen
waren auf mich gerichtet. Tennoch war die Stimme leise, wie immer, aber doch ein
wenig zitternd vor Grimm, als Irene jetzt sagte: , Sie haben den Signore traurig
gemacht im Pinienthal. Er wird krank, wenn man ihn trau-
„Lebe wohl und freue Dich mit mir dem Frühling entgegen.
Herta."
„Sorrent, 23. Februar 18 . .
„Liebe Hetty!
„Da ist der Frühling und mit welcher Pracht ist er eingezogen! Ueberall stehen die Orangenbäume in neuen Blüthen und die ganze Luft um Sorrent ist nur ein Wohlgeruch.
190 Blumen sprossen aus allen Hecken und Ritzen hervor mit glühenden Farben, die Pinien tragen frische Kronen, aus den Weinranken strömt ein süßer Hauch, es ist ein Leuchten und Duften und Frühlingswehn zum hellen Entzücken. Ich habe Dir lange Nichts erzählt, da war Nichts zu erzählen; aber nun wird's anders kommen. Die Scirocco-Stürme liegen alle hinter uns, der März soll lauter goldne Sonnentage bringen und Blüthen und Blumen auf allen Wegen.
„Herr v. D. geht nach Capri hinüber, das thut er meistens um diese Zeit. Da
sollen ganze Bergabhänge dicht von Myrrhen überdeckt sein und wenn da Alles in
Blüthen steht, soll eine wunderliebliche, würzige Luft um jene Höhen wehn.
Gestern früh, wie ich auszog, um den Frühling zu grüßen, trat mir Herr v. D.
entgegen aus seiner Thüre ,Salve'. Er begleitete mich eine Strecke weit gegen
Massa hin, und dabei machte er mir diese Mittheilung. Wir hatten auch immer im
Sinn, Capri zu besuchen; bis jetzt aber war uns die Lust nicht gekommen, den
Plan auszuführen; nun es aber so wunderhcrrlich wird auf diesem Stück Erde und
es drüben noch besonders schön sein soll, so muß die Fahrt ausgeführt werden.
Ich sagte Herrn v. D., wir werden ihn drüben besuchen. Daraufhin trennten wir
uns, er kehrte zurück; ich aber konnte nicht satt werden, das jung erwachte Land
anzuschauen im Morgensonnenglanz. Bis Massa hinauf zog es mich, und dort auf der
Mauerterrasse über dem Meer stand ich fest gebannt, wie lange, weiß ich nicht.
Im Morgen-
Herta."
„Sorrent, 18 . März 18 . .
„Liebe Hetty!
„Gestern ist Herr v. T. hinübergereist, ivir haben der Abfahrt beigewohnt; davon
muß ich Dir erzählen. Wir wußten, daß der Dampfer von Neapel um zehn Uhr hier
anlegt und die Reisenden nach Capri aufnimmt. Elsa ist so wohl jetzt, daß sie zu
jeder Stunde ausgehen kann, und wir hatten Beide Lust, nach der Marine
hinunterzugehen, die Abreise mit anzusehen und Herrn v. D. noch einen
Abschiedsgruß zu bieten. Der Dampfer war schon in Sicht, wie wir gegen den
Strand hinunter kamen; die Barke, die Herrn v. D. zum Schiff bringen sollte,
stieß eben vom Lande, unsern Gruß konnten wir ihm nur noch zuwinken. Ich rief
noch: ,Aus Wiedersehn in Capri!' worauf er, zustimmend, mit der Hand uns auf die
freundlichste Weise zuwinkte; dann fuhr die Barke dahin. Der Dampfer stand aber
so nahe am Strand, daß wir gut sehen konnten, wie Herr v. D. hinaufstieg, dann
sich umwandte und noch einmal mit seiner Hand herüber grüßte. Pietro stand unten
am Wasser, er hatte
„Sei herzlich gegrüßt „Sorrent, 12. März 18 - - „Ach, Hetty, wie ist Alles so
anders gekommen, als ich in Freude erwartete! Heute ist der Tag, da wir nach
Eapri Verschölle» ic. 13
„Herzlichen Gruß Herta."
„Sorrent, 16. März 18 . .
„Liebe Hetty!
„Ich kann nicht mehr in Sorrent bleiben, der lachende Frühling thut mir weh. Ich
flüchte vor dein Leuchten und Jubeln draußen auf allen Wegen und sitze hier und
kann keine Freude mehr finden. Immer muß ich an die arme kleine Irene denken,
wie sie dort sitzt in ihrem Jammer, und Niemand kann sie trösten. Sie wollten
dem Kinde Nichts sagen, die Mutter meinte, es sollte es gar nie zu hören
bekommen, daß der Signore todt sei, wie mir Pietro sagte, der gestern hier
vorbei ging, so daß ich nach Irene fragen konnte. Aber Kinder hören und merken
ja Alles. Vor drei Tagen
Herta."
„Sorrent, 22. März 18 . .
„Liebe Hellt)!
„Wir sind drüben gewesen und gestern wieder hiehcr zurückgekehrt. Zwei
wolkenlose Frühlingstage haben wir auf der Insel zugebracht, aber wo war das
Kind mit den freudestrahlenden Blicken, wie ich es schon vor mir gesehen hatte?
Unterdessen innren noch mehr Frnuen und Mädchen he eingetreten , die, alle mit schweren Lnsten nus den Kopsen, die steilen Fußwege gegen Anneapri hinaufzuklettern vorhatten. Alle standen still bei uns und hörten zu. Erst wollte Niemand Etwas wissen, da seit vielen Wochen Niemand begraben worden sei: dann rief aber eines der hcrzngctrctencu Mädchen: ,Das ist der Signore Jnglese von Sorrcnt!' Endlich war ich doch auf der Spur! Ich drängte das Mädchen, mir zu sagen, was es wisse, und nun hörte ich, der Signore habe in Capri gewohnt, sei aber oben auf Anacapri begraben worden, warum, wisse es nicht, es sei nur an dem Tage oben gewesen und habe davon gehört. Aber im Paradiso, der kleinen Restauration mit dem Banmgarten, könne ich mehr erfahren, dort habe man ihn gekannt, wie es glaube. Ich wollte nun am liebsten gleich nach Anacapri hinaufsteigen; da war ja das Grab zu finden. Es führt eine schöne Straße jetzt von Capri nach Anacapri hinauf: der Junge stieg aber mit nur die Fußsteige hinan und ich war's zufrieden. Hier kamen wir nun mitten in die dichten Myrthengebiische hinein, über und über waren die ganzen Bergabhänge ringsum von Myrthen und Lorbeer bedeckt und Alles war in voller Blüthe. Ich mußte oft stille stehen und von den duftenden Zweigen pflücken; so in der Blüthe hatte sie der Geschiedene noch gesehen. Der Junge wußte, wo der Gottesacker liegt, wir gingen gleich dahin, doch schickte ich ihn nach dem Küster, daß dieser mir das Grab zeige.
198 Ich hätte nicht fehlen können, es war nur Ein frisches Grab da, es war das des fremden Sigiwrc, wie mir die alte Iran bestätigte, die an Stelle des Küsters herbeigekamw.cn war. Ich fragte, warum wähl der Herr hier aben begraben liege, da er dach unten gewohnt habe? Die Alte meinte: wcil's hier viel schöner sei, als nuten. Ich sagte: , Der da drinnen schläft, würde das wohl nicht mehr achten? Da meinte sie: .Aber seine Frau und die Kinder, wenn sie kommen. 8ua moxlis sä i bamdini? Die kommen nicht und Niemand sonst wird auf das Grab kommen, wie ich jetzt weiß. Man würde auch das Grab nicht mehr finden in kurzer Zeit, da ist Nichts, das es bezeichnet, nicht einmal eine Blume. Ich legte meinen Myrthenstranß daraus.
„Nun gingen wir nach dem Paradiso. Hier fand ich endlich eine Frau, die Bescheid
wußte um Alles und mir ordentlich alle Umstände des traurigen Ereignisses
erzählte. Herr v. D. hatte sein Zimmer unten in Eapri. An einen, der leuchtenden
Frühlingstage war er nach Anacapri hinaufgestiegen, durch dieselben
Myrthenwälder, dieselben Fußsteige hinan, die wir eben gekommen waren. In
Anacapri hat man ihn gesehen, wie er langsam dem Paradiso zuging und dort im
Banmgarten auf eine kleine hölzerne Bank unter den Olivcnbäumen niedersaß. Da
hat er einem .Kinde zugewinkt, daß es die Mutter hole. Wie sie zu ihm trat, hat
er sie gebeten, seine letzten Aufträge zu erfüllen: Auf Erden hatte er Niemanden
mehr, der nach ihm fragte,
„Als ich gestern, nach Sorrcnt zurückgekehrt, in unsere Villa eintrat, sagte mir
die Hauswirthin, Pietro sei drei Mal dagewesen während meiner Abwesenheit und
habe nach mir gefragt. Wenn sie ihm angeboten habe, seinen Auftrag an mich zu
bestellen, so habe er den Kopf geschüttelt und sei traurig weggegangen. Kaum
hatte sie mir so viel erzählt, als es klopfte, und an der Thüre stand Pietro.
Ich hieß ihn Hereintreten; er sagte aber kein Wort, bis die Hanswirthin
verschwunden war. Nun stand er erst ein wenig verlegen da, und nachdem ich ihn
zwei Mal gefragt hatte, ob er Etwas von mir wünsche, sagte er zögernd, er hätte
mich gern Etwas gefragt, und endlich kam heraus, er hätte nur gern von mir
wissen wollen, ob auch der Signore sicher kein Ketzer gewesen sei. Nun, was
sollte ich mit dieser Frage thun? Was konnte ich daraus antworten? Eigentlich
wußte ich gar nicht recht, was er meinte. Ich fragte meinerseits, wie er zu der
Frage komme. Er sagte ehrlich, so Etwas wäre ihm gar nie in den Sinn gekommen;
aber vor ein
„Taß ich das Uind hier zurücklassen muß, ist mein größtes Leid und ich muß Dich noch einmal fragen, weißt Tu keinen Rath? Taß ich selbst fortkann, ist mir wie eine Befreiung; mir liegt ein tiefer Schatten über dem ganzen sonnigen Sorreut.
Berjitollen rc. 14
Herta,"
Druck von Friedr. Andr. Pertbes in Gotba.