Das Mätteliseppi. Eine Erzählung von Heinrich Federer: ELTeC Ausgabe Federer, Heinrich (1865-1935) ELTeC conversion Automatic Script 565 132322

2021-12-14

Transcription UB Basel Scan UB Basel Das Mätteliseppi. Eine Erzählung von Heinrich Federer Federer, Heinrich G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung Berlin 1916

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G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung Berlin 1916 45 ATινÇα)Alle Rechte, insbesondere das der Äbersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Copyright by G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung in Berlin 1916. Einbandzeichnung von Wilh. Muck. Druck von Fischer & Wittig in Leipzig. R Das Mätteliseppi Ar einem Samstag im frühesten März ritt der fünfjährige Aloisli Spichtiger, den Stecken zwischen den Beinen, mit Hü und Hoi als David oder Tell oder sonst ein unbändiger Held hinter dem Dorf Saldern einen Feldweg hinunter. Aber er gab in allem Galopp doch ein bißchen acht, daß er nicht zu arg in die vielen Lachen stampfe und seine verhockten und vergilbten, aber siebenmal sauber geflickten Höslein XE Wie gut ihm auch das Rauschen der Schneeschmelze vom steilen Berg durchs Dorf und in die Wiesen hinunter gefiel: dort der orgelnde Bach geradeswegs durch die Häuserlichtung zum See stürzend, aber hier fast noch schöner die hunderttausend Ninnsale über Stoppeln und Weg mit süßer und zarter Kindergeschwätzigkeit brünnelnd; dennoch durch all dieses Getropf' und Gespritz'und Geklatsch' hörte er eine kleine, zähe Stimme und sah er eine ernste, magere Hand warnen: Paß auf,Alois, deine Hosen! And diese allgegenwärtige Gewalt seiner Mutter war so stark, daß der Übermut von all den musizierenden Wassern und der noch größere Mutwille seines eigenen Seelengeigleins wie durch einen Dämpfer leiser gestimmt wurde. Alois galoppierte wohl noch, aber wie ein Feldherr, der auf diplomatischen Anstand hält und einer kaiserlichen Musterung untersteht.Er mied also die gefährlichsten Tümpel, um dafür um so lustiger in die kleinen Pfützen zu stampfen.

Der Saldernerberg glänzte wie ein großes Kind in Saft und Fröhlichkeit, aber häuptlings noch in einer alten Schneekappe. Auch die Dorfdächer leuchteten vor duftiger Lenzfeuchtigkeit zwischen dürren Pappeln und

Federer, Das Mätteliseppi.Birnendolden hervor. Die kleine, überziegelte Turmkuppel lachte geradezu und glich dem Gemeindeschreiber Illach auffällig, wenn er mit seinem sonnenverbrannten Kahlkopf übers Pult weg die Sporteln des Monats zusammenrechnet. Oben an den Hängen funkelten die Tannen, jedes Gras schien ein Spiegelein, und unten der See, an den Dorfmatten groß und still vorüberschwankend, ging jetzt im Schein der bleichen, noch so weißen Abendsonne wie Silber in Gluten auf. Es war das erstemal im neuen Jahr, daß diese Erde ringsum Augen und Lippen zu einem entschlossenen: Es werde Frühling! öffnete.

Alois fühlte sich in diesem allgemeinen Theater des Vorfrühlings wie ein kleiner Bruder des Wassers, des Schnees, der unruhigen Vögel. Er spielte mit, ohne seine Rolle zu wissen, glänzte mit dem See und rauschte mit dem Bergbach und ahnte und bebte das Unsagbare,das aus der schwangern Erde trieb, in wunderbaren Schauern mit.

Er hatte heimlich die Stube, dann das Gärtlein,dann die Wiese verlassen und war in kindlichem Entdeckerdrang über das nächste Sträßchen hinweg auf un bekannte Felder hinausgeeilt, zum erstenmal ganz und gar allein. Dorfhäuser sah er schon keine mehr, den See tiefer gesunken, die Matten verschoben, Wege voll unbekannten Richtungen, Brücken über neue, starke Bergwasser und ab und zu ein einsames Hüttlein,dessen Fenster ihn ganz sonderbar ansahen wie die Augen eines Fremdlings. Ein Märchen dünkte ihn das alles. Es jagte und grauste und verzauberte ihn.Er mußte einfach weiter, noch viel weiter.9 Aber wie er so mit kleinen heftigen Schritten und unter steten köstlichen Schrecken vorwärtstrieb und den Haselstecken dabei schirmend vorstreckte, ward das Sträß·chen ungewöhnlich eng und nahm eine so freche und unbarmherzige Schleife irgendwo hoch an den Berg hinauf, daß der Junge verdutzt stillestand und nachglotzte. Ging denn das so weit? Zuerst über die steilen Ränfte und dann wie verhert in einen Wald und graddurch oben ins wildeste Gefels hinaus, wo noch Lawinenfetzen liegen und sich die schaumweißen Bäche einen Augenblick verstecken, um dann gleich unten aus einer Höhle hervorzuschnellen und wie Schafböcke mit zerraufter Wolle weiter in die Tiefe zu tollen, alles wie im Schwindel mit sich reißend.

Plötzlich meckerte es neben Alois. Eine junge Ziege stand über dem Hag so nahe sie konnte an ihn heran und schnupperte am Stecklein und schaute den Knaben mit glänzenden, aber irren und öden Augen an. Wie eine Frage stand etwas Banges in ihrem Blick. Sie wußte wohl auch nicht, wohin sie sollte. Wo geht der Weg? Weißt du's? Es ist unheimlich da allein!

Jetzt kam dem Springinsfeld auf einmal die ganze Ungeheuerlichkeit seines Abenteuers zum Bewußtsein.Wo war er? Wohin trieb er? Ins Wüste, Grenzenlose, wo es keinen guten Menschen mehr gibt und man unfehlbar verloren geht ... wo Menschenfresser ihre Riesentatzen aus den Grotten nach ihm strecken oder wo eine Schlange mit grüner Krone und grünen Augen und einem grünen Tropfen Gift im Zahn ihm unversehens ins Knie springt ... der Werwolf, der Greif,

1*der Blaubart, der Siebenmeilenstiefler, der Orach', der schwarze Hund ... der ...

Wahrhaft, da bellt es hinter der Hüttleintüre, ein zottiger Kopf schießt an die Luke, die Ziege schreckt zusammen ... Zurück, ehe es zu spät ist!

Alois riß sich jählings herum, daß ihm das Haar wie ein blondes Fähnlein um die Ohren flog, und rannte blindlings davon. Im Sausen seines losen Röck-leins und im Summen seiner heillosen Angst hörte er nichts und sah er nichts, als wie die arme Ziege im Rücken sich plötzlich in ein gehörntes und geschupptes Antier verwandelte und hinter ihm in einer Wolke von Schwefel einherfauchte, bellend wie ein Hund, und ihm jetzt, jetzt, schwapp, den Kopf hintenüber abbisse.

Aber die Ziege an der Hecke blieb ein gewöhnliches Zicklein, das ihm traurig nachsah und zwischen seinen zwei engen Hörnern gar nicht begriff, warum der Bub es nicht wie alle andern am Haar gezupft und ein wenig geneckt hatte.

Als der Hasenfuß endlich in die unterste Wiese geriet, an deren tiefstem Zipfel das braune Schindeldach seiner Mutter aus dem Geäst der Obstbäume bescheidentlich hervorguckte, gewann er ein bißchen seine Fassung zurück, stand still, ließ die schmale Brust verschnaufen und fühlte, je öfter er zurückblickte, daß er glorreich gerettet und gesichert sei. Da nahm er denn seinen Stecken zwischen die Beine und ritt mit Feierlichkeit und in einer Art Pariser Einzugsmarsch das letzte Stück hinunter. Er spreizte die kurzen Lippen dazu auseinander, daß man die aufeinander gebissenen Zähne sah, und flötete durch die Lücke der zwei großen mittlern Schaufeln feine, silberne Töne. Sein mageres Gesicht war heiß gerötet, die grauen Augen brannten und das lange, unfeine Haar klebte feucht an Stirne und Ohren. So galoppierte er nach Hause, als auf einmal eine tiefe, trockene Stimme rief: „He, kleiner Balg, paß doch auf!“ Zugleich fühlte er sich am Ellbogen gewaltig gepackt und wie mit einem Hammerschlag fest auf den Fleck gerammt.

Ein altes, kleines, breites Weib mit einem mächtigen Kopf stand vor ihm. Auf dem harten Schädel trug es ein scharf aus der Stirne gekämmtes, spärliches,flachsgelbes Haar, so daß man die Flächen und Kanten dieses Amazonenhauptes so deutlich wahrnahm wie eine Felsbildung, an der nur wenig Gras herumschmarotzt.Hinten war das Haar nach der Landestracht für ledige Weibsleut' mit weißen Bändern verzopft und in ein straffes Krönlein gewunden, wodurch alsdann eine Haarnadel in Form eines silbernen Doppellöffels gesteckt ward, so daß nach rechts und nach links ein gleiches Metallschäufelchen herausblitzte. Die kleinen, wassergrauen Augen zeigten ein schwarzes Pünktlein in der Mitte, das flink und doch wie festgenagelt schien und auch alles, was es ansah, gleicherweise festnagelte. Wie von einer feinen, kleinen Arbeit Tag und Nacht oder wie von stetem Lesen in Büchern winzigen Druckes waren diese Jungfernaugen gleichsam von einem dünnen Blutäderchen umrändert. Das wirkte nicht müde oder hitzig, im Gegenteil. Aber ein Schimmer von Flachs oder kühlem Mond oder sonst etwas Gelbem breitete sich über das ganze Antlitz aus, wohl nicht nur wegen den flächsernen Wimpern und Brauenbögen, oder weil auch so ein flächsernes Schnäuzchen wie ein gelbes Bürstlein auf der Oberlippe blühte und am Kinn, das schwer wie eine Pfundbirne herunterhing, sich in kleinen Borsten wie Inselchen strohgelb fortsetzte. Nein, das ganze Gesicht, obwohl bleich, als genösse es immer Zimmerluft, atmete nichts als Nuhe, kühle Sicherheit und gefestete Feierlichkett wie nur der Mond am Himmel noch. Steif und solid war dieses Antlitz in die Länge und Breite gehauen, und die schwere Nase mit den großen Schnupftabaklöchern saß darin wie ein Panzerturm mit sehwarzen Kanonenluken. Der Mund war gefältelt und verschrumpft und ließ nur ein paar lange Vorderzähne sehen. Aber das störte den Eindruck der Festigkeit nicht. Man dachte vielmehr, daß schon große Stürme über diese Festung gegangen seien und Breschen gerissen hätten, aber glorreich überwunden wurden.

So grob und alt und unheimlich diese Jungfernburg daher auch alles in allem aussah, sie wirkte doch nicht häßlich, und man konnte nicht anders, als voll Respekt den Hut lüpfen und sagen: „Grüß' Euch Gott,starkes Mätteliseppil Aber tut mir, bitte, nichts!“

Aloisli indessen war barhaupt und zu verwirrt, um so einen Gruß herauszustottern. Er wäre vielleicht aus Angst vor dem sonderbaren Weib in die Knie gesunken,wenn es nicht ein Büblein seines Alters neben sich gehabt hätte, etwas größer und schlanker freilich und jedenfalls, so glaubte Alois beim ersten Blick, viel tüchtiger als er.

Denn dieser Junge war über und über mit kurzen,hellen Krausen bekränzt, während dem Alois das Haar steckensteif auseinanderstand. Und jener schaute ihn sogleich ohne Verwunderung kalt und mächtig an, wie ein Stern ein Kometlein etwa anschaut, während Aloislis Augen sogleich um den flotten Kameraden herum voll Neugier betteln gingen. Dazu prahlte der Fremde mit gebräunten Backen und einer kleinen, spöttischen Nase,und boshaft und frech standen ihm die roten Ohren wie kleine Vogelflügel weitab. Der war gewiß ein Wag-hals. Die Augen hatten eine gewaltige Bläue und waren beinahe rund wie die obern Kirchenfenster. Es mußte schon gefährlich sein, mit diesem Jungen Rößli und Soldatli zu spielen. Wenn er den schmalen, schön und weit in die Backen geschwungenen Mund öffnete,so zuckte zwischen vielen kleinen spitzigen Zähnen die Zunge wie ein rotes Schlänglein aus Kieselsteinen hervor.„Schau, was du für ein Dreckbub bist!“ störte die trockene, mannestiefe Stimme der Jungfer den Aloisli aus der Verzauberung auf. Sie schob den steifen, unendlich breiten Rock etwas vor. Er war von Kot bespritzt bis hoch zur Naht hinauf, die gleich unter den Armen des alten Weibes herumlief und den Oberkörper kurz und scharf wie mit einem Messer abschnitt.

„Du Lottersbub,“ schimpfte die Jungfer weiter, „und den Gottfried hast du auch beschmutzt. Ich soll dich doch wohl gleich einmal tüchtig an den Ohren nehmen! Du siehst mir so recht nach einem Vagabunden aus! Ja wahrhaftig, du bist der Mutter davongelaufen und weiß Gott wo herumgestrolcht.“

„Ich tu's ja nicht mehr,“ flehte jetzt Aloisli und schützte mit beiden Händen das bedrohte Ohr. „Laß mich los! Ich muß heim, ich ... ich spring' sogleich heim ... spring' nie mehr fort ...“

Das ist schnell gesagt und schneller vergessen. Ein wenig muß ich doch nachhelfen. Da ... und da ...und noch einmal ... so!“ Dabei rollte das alte Mädchen dem Buben das Ohr übereinander, wie man Teig zusammenlegt, zerrte es dann in meisterlichem Schwung rechts hinunter, links hinauf und im Bogen herum, daß Alois meinte, man reiße ihm den Kopf ab, und wenigstens noch einmal im Leben recht heillos aufschreien wollte. Aber da sah er, wie der kleine Gottfried die Augen groß und lustig über seinem zuckenden Gesichtlein spazieren ließ, ein bißchen die Zunge zeigte und seinen unbarmherzigen Spaß an der hübschen Komödie hatte. Arplötzlich erstarb der Schrei in der kleinen Gurgel. Aber herdenweise hüpften die Kindertränen über das stumme und wie versiegelte Gesichtlein hinunter.

„Nicht wegen der Drecklerei,“ lenkte die Jungfer jetzt ein und ließ Alois los, „die kann man leicht abreiben, wenn sie trocken ist, ... nicht früher, Gottfried,hörst dul ... nein, aber für das freche Davonlaufen und für das noch frechere Heimstolzieren hast du das!Und jetzt sei brav und gib mir die Hand und denk'daran!“

In den kühlen Jungfernaugen wurden die beiden Kleckslein auf einmal wärmer und heller. Etwas Gütiges wie von einer Mutter besonnte leise das harte Antlitz.Und im selben Augenblick begriff Alois, daß das keine Here, sondern eher eine wohlmeinende Zauberin, eine gute alte Fee sein könnte. Er reichte willig das unsaubere Händchen und wollte hurtig davonrennen.J

„Halt, auch dem Friedel gib die Hand. Wir gehen als gute Kameraden auseinander.“

Ohne Verzug steckte Alois beide Tatzen in die Hosensäcke. Gottfried streckte seine lederbraune Hand freilich ein wenig vor, aber nicht entgegenkommend,sondern gebieterisch, als müßte Alois sie wie ein Almosen nehmen.

„Was, du machst den Trotzkopf? Ei, sieh mal das Bürschchen an! Das wird ja immer besser!“

„Ich mag nicht ... nein, nein, er hat mich nicht gern ... er hat mir die Zunge ...“

„So hab' ich gemacht, Mätteliseppi, so ...“und mit einem Gesicht wie Samt und einer Stimme fein und süß wie Seide stand Friedel vor das Weib und ließ die rote Katzenzunge harmlos über die Oberlippe fahren, als schleckte er etwas Zuckeriges ab.

„Laß das!“ brummte unzufrieden die Jungfer.„Gib du ihm jetzt die Hand! Sol! Das ist recht! ...Und nun, kleiner Vagabund, lüg' mir die Mutter nicht an, sonst komm' ich selber und erzähl' ihr alles.“

Rüstig packte die Greisin den Friedel wieder an der Hand, raffte mit der anderen ihren breiten Rock zusammen, daß es rauschte wie ein Panzer, und stieg dann behend und voll gesundem Atem das Holperweglein, gerade wo es am steilsten ist, zur nächsten Straße empor. Der dünnbeinige Junge rannte freilich tapfer mit.

Alois blickte nach ein paar Schritten zurück. Hopeia,da hatte die Alte schon den zweiten Ranft erklommen und verschwand großartig hinter den Straßenbüschen.

Wer ist das? Wer ist das? dachte der Bub. Wohnt es auf einem Berg oder in einem hohlen Baum? Ist es auf der Welt einfach nur, um die unfolgsamen Kinder zu beobachten, und geht und erzählt dem Herrgott:der Alois Spichtiger, o, den hab' ich müssen am Ohr nehmen?

Aber warum sagt es unserem lieben Herrgott nicht auch: „Und der Friedel hat die Zunge gestreckt. Aber ich hab' ihm noch keine Maulschelle gegeben.“ Hoio,wo ist der bose Klaus? ... Lieber Gott, ruf ihn, daß er geht und dem Kerlchen ein Tüchtiges haut! ...

Als Alois schlau und leis die Stubentür öffnete, sah er die Mutter schreiben. Er setzte sich aufs Ofenbänklein und wartete, bis sie eine Seite heruntergekritzelt hätte und dann anfinge, ihn auszufragen. Aber die Mutter fuhr, ohne ihr Kind zu sehen und zu hören, Seite um Seite weiter. Ihr mageres, strenges Gesicht mit dem kohlschwarzen, glatt gekämmten Haar darüber beugte sich nur wenig. Stl machte sie etwas müde gegen den Ofen hin, als Alois mit der Katze, die schläfrig auf den Platten lag, etwas roh zu spielen begann. Dann ging ihre Feder hurtig und sicher weiter, gerade so präzis, wie wenn sie den Kindern lange Strümpfe strickte.Der Katze hatte das lose Spielen zuerst gefallen.Aber als die Neckerei an Schwanz und Schnauzzipfeln ihr unbehaglich wurde, teilte sie zwei, drei ausgezeichnete Hiebe aus und flog in wenigen melodischen Sätzen über den Estrich und zum offenen Fenster in den frischen Abend hinaus.

Jetzt suchte Alois wie so oft sich mit den blauen Schilderungen auf den weißen Ofensteinen eine kurz ·weilige Stunde zu schaffen. Es kitzelte ihn zu sehen,ob da nirgends eine Ziege wie die heutige oder eine alte Jungfer oder ein so boshaftes Bürschchen wie dieser Gottfried zu begrüßen und nach Verdienst zu behandeln sei. Wohl gab es da viele hohe Frauen der Bibel. Aber keine paßte. Eine tanzte hochauf und eine andere floh in die Wüste und noch eine trat aus einem Zelt bei Mond und schlafendem Heer und trug ein tropfendes Schwert in der Rechten. Endlich war da noch ein Bild. Das verstand er am wenigsten.Aber das Weib hier glich ein wenig dem Mätteliseppi.Es spreizte auch so eine kleine Figur nach rechts und links und trug eine große hübsche Nase. An einem großen Platze stand es und mit ihm sah man Männer und Frauen mit großen Schleudersteinen, und ein anderes Weib mitten drin wartete, daß man nach ihm werfe und es töte. Aber warum steinigten die Männer nicht und warum hielten die Frauen inne? Da mußte irgendwo eine Figur fehlen auf der halb verblichenen Tafel. War das Weib schuldig? Oder wußte es,daß man ihm nichts anhaben konnte? Oder ...oder ... ach, Aloisli sah nichts mehr bestimmt.Dämmerung wob durch die Stube und durch sein müdes Gehirnlein. Er hatte heute zu viel erlebt und schlief ein und schlief so gut, daß er nicht merkte, wie die Katze wieder an ihn schlich und sich wohlig um seine Füße kringelte und wie die Mutter ihm ein Kissen unter den Kopf schob.

Erst als sie ihn bei vollem Zunachten zu Bette brachte, ward er wieder wach und merkte, daß die Mutter einen Kummer habe. Denn nach dem üblichen A

4 Nachtgebet sagte sie: So, jetzt halte mir aber die Hände fest zusammen! Wir müssen noch für den Vater beten,daß er bald zurückkommen kann.“

„Warum kann er denn nicht zurückkommen, jetzt,auf den Glockenschlag?“ fragte der Junge schön und artig in seiner Unwissenheit.

„Er ist zu weit in die Welt hinausgegangen ...immer weiter und weiter ... bis er keinen rechten Menschen und keinen rechten Weg mehr finden konnte. Und jetzt ist es schwer für Vater, eine gute Straße heim zu finden.“„Ist denn kein Hund wo, der ihn anbellt und ihm Angst macht: er solle zurück?“

„Was faselst du da?“

„Oder ein Ziegenbock ... so mit Horn und Schweif ...“

„Träumt dir wieder einmal bei offenem Aug'?“

„Oder kann ihn nicht eine starke Fee am Ohr schütteln und ihm stramm befehlen, daß er heimgeht, sofort ...?“

„Alois, Alois, du hast wohl Fieber ... bete jetzt:Vater unser, der du bist im Himmel ...“

Die Mutter saß noch lange neben dem schlafenden Knaben und dachte, in einer unbewußten Spur der Fragen Aloislis weitergehend, ob denn wirklich der arme,unselige, irrefahrende Vater, ihres Lebens Lieb' und Leid, jenes Hündchen nicht mehr bellen höre, das unsereinen sonst von morgens bis abends verfolgt und jedesmal in die Fersen beißt, so oft wir übeltun. Ist sein Gewissen schon so zahm und zahnlos geworden?Aber dann gibt es ja wirklich noch einen Herrgott, der auch den verkehrtesten Menschen am Ohr nehmen und in eine gesunde Ordnung kommandieren kann. „O Gott,“betete sie, „laß mir keines meiner Kinder dem Vater nacharten und ins Irre rennen! Pack' sie fest am Ohr, mit aller himmlischen Grobheit, wenn sie abseits spielen. Die Lina ist ein braves Kind, da sorg' ich wenig, und die Hanna noch ein toller Balg. Aber der Bub, der Bub ist mir heut ausgerissen. Es schwirren ihm die Käfer nur so im Kopf herum. Er hat mir völlig das Zeug und den Schnitt zum Vaganten. Ich will ihm morgen einmal ordentlich den Schopf schütteln,daß er nüchtern wird.“

Alsdann segnete sie den kleinen unruhigen Bettrutscher mit Weihwasser und legte ihr reinliches Haupt mit einem halb sehnsüchtig, halb tadelnden, ihrem fernen Gemahl zuschwebenden Gedanken aufs Kissen. Sie wiederholte im Geiste den langen Brief, mit dem sie ihm Hand und Herz und den kleinen Rest des Frauenvermögens versöhnlich reichte, noch einmal Zeile für Zeile,fand keine Silbe zu ändern und schlief ruhig ein, nachdem sie sich so in ihrer tapfern Art mit unserem lieben Herrgott verständigt und gleichsam in Geschäfts-Gemeinschaft gesetzt hatte.

2 lois, Lina und Hanna liebten sich herzlich und zankten A sich darum auch herzhaft. Besonders die beiden älteren Geschwister hatten manchen Span. Lina war viel schlauer, Alois weit gewalttätiger, sie behend und spitz, er ungestüm und schwerschnaufig, und so ergaben sich Scharmützel wie zwischen Katze und Hund.

Lina war in der vierten Klasse und rechnete schon mit Dezimalen. Alois verstand erst mit Not die gewöhnlichen Brüche. Das gab ihr ein heilloses Übergewicht.

Eines Abends, da es draußen heftig in die Wiesenbäume regnete, saßen sich die beiden Geschwister am kleinen Tische gegenüber.

„Hör' auf, laut zu rechnen!“ forderte der neunjährige Bursche herrisch. „Du brauchst nicht jede Zahl zu buchstabieren. Das tun nur Narren.“

„Stört dich das etwa beim Geschichtenlesen, he? ...Wenn es mir doch einmal so leichter geht ...“

„Natürlich stört es mich. Ich sag' hör' auf!“

„Sieben ... vier ... sechs ... neun ... Komma...acht ... drei ...“ flüsterte die Schwester mit boshafter Beharrlichkeit. „Alois ... wenn du rechnest, hör'ich auf! Aber du liesest Geschichten ... siehst du ...Faulpelz!“

„Was? Geschichten? ... Schweizergeschichte!“

„Aber so weit hinten seid ihr noch gar nicht im Buch. Ihr lernt jetzt erst von den Pfahlbauten und etwas von den Helvetiern und dem Diviko. Das hat mir Gemeindeschreibers Klaus selber gesagt.“

„Das weiß ich alles schon lange,“ prahlte Alois und runzelte die farblose Stirne. „Ich bin bald mit dem Buch fertig. Ich weiß einen ganzen Haufen, was ich noch gar nicht wissen muß ...“

„Einen ganzen Haufen weißt du nicht, was du mußt, zum Beispiel die Heurechnungen, he, und gerade die habt ihr doch jetzt ...“

„Ach, Heurechnungen! So ein Plunder, wo ich jetzt bei Barbarossa bin und bei Richard Löwenherz! Aber was versteht so ein Zopf von solchen großen Dingen,bah!“

„Drei ... sechs ... fünf... Komma... mal Null ...Komma ...“

In diesem Augenblick strich Alois der Schwester mit dem Schwamm über die Schiefertafel, daß die zierlichen Zahlen in einem See ertranken. Das spitze Mädchen schoß in einer wahren Rosenröte von Jugendzorn vom Sitz auf, griff eilends nach dem Lineal und lief dem Bruder um den Tisch herum nach. Die Sessel stürzten und der Tisch wackelte und der alte Boden krachte unter den vier heftigen Kinderschuhen.

Da ging die Türe zur Nebenkammer auf und ein untersetzter Mann mit einem edlen, blassen, ungewöhnlichen Gesicht und prachtvoll langen schwarzen Bart stürmte herein. Die schmale Adlernase bebte und alle langen schwarzen Haare wehten wie eine Roßmähne vor Erregung.

„Was ist denn das schon wieder für ein verdammter Radau? Keine halbe Stunde kann ich ruhig arbeiten,“rief er mit einem schönen, weichen Bariton und hieb rechts und links mit einer etwas kurzen, aber feinen Künstlerhand den Kindern an die Kopfe. Aber die Schläge waren kraftlos. Im Vergleich zu einer mütterlichen Ohrfeige spürte man sie kaum.

„Macht euch sofort aus dem Staub, ihr ... ihr ...“er suchte ein tüchtiges Schimpfwort, aber fand keines.Der Zorn schwand dabei rasch und eine bleiche, milde Müdigkeit breitete sich wieder über das breite Marmorgesicht aus.

Die Schwester huschte zur Türe, während der gewölbte Rücken des Vaters wieder in der Kammer verschwand.

„Die Mutter, die Mutter ... und sonst noch jemand!“ schrie Lina und floh von der Stubentüre zum Tische zurück, wo sich Bruder und Schwester rasch in ihre Siebensachen vertieften und so gut es ging Fleiß und Anschuld heuchelten.

Frau Verena Spichtiger öffnete die Türe sehr weit.Man hörte lebhaft im dunklen Hausflur reden und sah kurze, stämmige Arme sich tapfer aus einer engverschnürten Brust hervorschwenken. Ein altes Mädchen, fast so breit wie hoch, trat schwerfüßig herein und seine Augen und sein Haar leuchteten rötlich wie Flachs.Sogleich erkannte Alois das Mätteliseppi.

„Die Spieluhr, Frau Spichtiger, ist mir so lieb und treu wie mein eigen Herz. Wir sind beide alt,aber orgeln noch gern ein wenig,“ brummte die Jungfer.

„Er hat sich den ganzen Nachmittag damit ins Zimmer eingesperrt. Vielleicht ist schon alles perfekt,“antwortete die Mutter mit unsicherer Stimme.

„Will's Gott! ... meine Lehrkinder haben den größten Spaß, wenn ich ihnen nach dem Unterricht das Pfeifenwerk aufziehe. Danach lernen sie wieder viel lieber. So sind sie einmal... Wo geht es da zur Kammer? Grüß' euch Gott, Kinder ... he, bleibet,bleibet nur ... und lernt brav! ...“

„Da hinein! ... Und redet Ihr mit ihm, nicht wahr, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen ...Wenn es auch dann noch nichts nützt...“

„Laßt mich nur machen, gute Frau!“ versetzte die Alte mit herzhaftem Baß und klopfte mächtig an Vaters Türe. Ohne weiteres trat sie dort ein. Nach wenigem Hin- und Gegenreden hörte man das Kreischen einer Kette und das Rumpeln schwerer Steingewichte. Der hübsche Orgelpfeifen-Choral: „Harre meine Seele“ begann tröstlich zu flöten, aber riß schon nach drei Takten ab. Wieder schraubte und rasselte und rückte etwas herum, aber diesmal gab es nur noch zwei, drei häßliche Töne.

„Aber, aber,“ tadelte die Jungfer unwirsch, „nun steht die Sache ja schlimmer als vorher. Ihr hättet nicht gleich das ganze Werk auseinandernehmen sollen,wenn Ihr's doch nicht mehr ordentlich einrichten konntet.Jetzt ist die ganze Maschine verpfuscht!“

Der Mann mit dem samtenen Bariton zuckte nervös die Schultern. Er trug eine verblaßte, blaue, vorne offene Samtjacke. Das war ja das Schönste gewesen für ihn:das Geheimnis des Werkes zu lüften und in sein Getriebe zu gucken. Dann mußte man den Schaden wie ein deutliches, garstiges Insekt fast von selbst entdecken,und hernach würde die alte Standuhr schöner musizieren als in ihrer sündenlosen Jugend ... Aber, es fehlte dies, es fehlte das, es haperte überall an der Mechanik, und die Rädlein und Übersetzungen lotterten auseinander. Der Doktor

Federer, Das Mätteliseppi.

2

9 Paul Spichtiger fingerte kecklich hinein und ohne es recht zu merken, starb ihm die Seele des Werkes unter den Händen.

„Ihr habt mir ganz bestimmt gesagt, Ihr verständet das Gehäuse, Ihr wollet es handkehrum im Reinen haben.Was mach' ich jetzt mit dem Trödel, hm, sagt einmal?“

„Jungfer Josepha, so sah es auch aus. Habt Ihr noch nie einen schönen Apfel aufgeschnitten und innen alles wurmstichig gefunden?“

„Das ist nicht das gleiche. So ein Apfel lügt wie besessen. Er ist ein Heuchler. Aber mein Orgelchen war aufrichtig. Es hat gehustet und geschnauft und gerasselt und ohne Umstände gesagt: Helft mir! Ich bin krank!“

„Sagt nur, unheilbar krank. Niemand kann es Euch gesund machen. 's ist alles elend und morsch da drinnen, die reine Schwindsucht. So was erträgt keinen Doktor mehr.“ Vater Spichtiger fuhr mit der flachen Hand den Bart hinunter und lächelte ein wenig. Das bildliche Gespräch sagte ihm zu.

„Ach was, von Krankheit zu reden!“ widerstand das Mätteliseppi und zog die flächsernen Brauen in die Höhe. „Das ist Holz und man kann davonschneiden und dazunageln, was nötig ist. Aber ich hab' Euch gleich anfangs nicht recht getraut ... Ihr könnt das einfach nicht. Haringegen Euere Frau behauptete:„Doch er kann's ... Nun, geschehen ist geschehen.Probier' ich's eben noch beim Samichlauser Kaplan oben am Kerenberg. Wollt Ihr mir das Zeug hübsch zusammenpacken?“

Herr Spichtiger nickte höflich.„Aber, ein Wort, lieber Herr Künstler,“ und angriffsfroh rückte die Jungfer dem Manne bis an die Westenknöpfe heran, „das Uhrenmachen ist doch nicht Euer Beruf. Und dies da auch nicht!“ Das Mätteliseppi zeigte auf ein kleines Modell von einem Brunnen,wo Wasserröhrlein auf und niederliefen und durch eine verschmitzte Anordnung sich in auf und abwiegenden Schalen entleeren oder auffüllen sollten, so daß es ohne Ende sprudeln und ein kleines Räderwerk mit Zeigern und Ziffern bewegen müßte, das zu oberst vom Brunnenstock wie ein urweltliches Menschengesicht niedersah. Es war eine Art des unmöglichen Perpetuum mobile, eine der vielen geistreichen Gauklereien, mit denen der unrastige Mann sich über Zeit und Langeweile und noch Schlimmeres hinwegzutäuschen suchte.

„Wenn es einmal spielt und klingt!“ antwortete Paul prophetisch mehr zu sich als zur Jungfer und sah schwärmerisch über das Modell hinweg in irgendein fernes, gewaltiges, hauptstädtisches Geplätscher von Wassern und schwebenden Schalen und triefenden Locken des Brunnengottes ... sein Name darunter ... ringsum das feierliche Getöse der Residenz!

„Es klingt und spielt noch weniger als mein Pfeifenhaus... Es ist Plunder! Glaubt mir!“ bestimmte das alte Weib und klopfte dem Künstler mit eckigem Zeigefinger auf die Brust. „Ihr seid ein Holzschnitzer, ein Bildhauer, ein Maler ... da habt Ihr doch, weiß Gott,genug auf dem Buckel. Haut uns die Grabsteine, malt uns die Verstorbenen und ein Vergißmeinnicht und einen starken goldenen Bibelsatz drauf ... gebt unseren Jungen Unterricht, wie man eine Wiese, einen Apfel

2*Z baum, ein neues Bauernhaus zeichnet! Oder pinselt uns einen frommen Helgen in die Kirche ... da werdet Ihr nie fertig, wenn Ihr mit Lust einmal beginnet ...“

Mißgestimmt und gelangweilt, wie über ein altes,falsches Lied, wandte sich Paul Spichtiger ab.

„Ihr greifet zu hoch, drum packt Ihr auch nichts als Nebel!“

In der Stube vor der offenen Kammer hörten Mutter und Kinder der Predigt zu. Diesen schauderte leise und barmherzig das reine Seelchen zusammen, weil jemand so mit dem Vater reden durfte. Die Mutter aber schluckte jeden Satz voll Genugtuung und nickte leise,obwohl auch ihre glatten Schläfen sich in unbezwinglicher Scham röteten.

„Darauf denket Ihr immer, Paul Spichtiger, in einer Großstadt etwas so Merkwürdiges zu schnitzeln und so einen Lärm mit Euerem Hammer zu machen,daß alle Zeitungen dreißig Wochen nur von Euch reden.Aber das ist alles so ein Nebel und Schwindel. Das könnt Ihr nicht!... Überhaupt: Großstadt, ah bah,...das ist nichts als kleines Herz und kleiner Glaube.Unsere Berge, da habt Ihr Großstadt! Da gibt es noch Größe und gute Luft und Kraft und Gläubigkeit!“

Paul schüttelte den Kopf wie über ein Narrengeschwätz. Nur halb hörte er zu.

„Ihr seid nichts als Unruhe, habt nirgends Sitzleder.Vor lauter Unfried' habt Ihr ja Euer Fach nie fertig studiert auf den Schulen. Siebenmal finget Ihr wieder etwas Neues an. Und immer wieder ist es Euch nach drei Morgen verleidet ... Da habt Ihr ja einen Engel angefangen,“ rumpelte das Mädchen seine Strafrede weiter, „und ich mein', so ein Flügel und so ein Kruselhaar und das Näschen auch müßt' alljedem gefallen,auch unserm Herrgott am Altar... Aber, potz Tausend,wo ist denn das andere? Da steckt's noch drin im Stein.Schafft's denn heraus, vorwärts marsch!“

Spichtiger sah unwillkürlich dem kommandierenden Finger nach. Da hockte wirklich ein verhauener Marmorklotz auf einem Gestell in der Ecke. Eine unsägliche Verdrossenheit überkam ihn augenblicklich. Nicht bloß dieser Engel, alles, was er bisher gemacht hatte, war ein Bruchstück, war unfertig und nur halbbeseelt in der Last des Steines stecken geblieben. Warum? Du lieber Himmel, welcher große Rätsellöser wüßte das?

Es braust ein Wind in ihm, ja, ein ewiger Windzug. Der läßt ihn auf keinem noch so lieben Stuhle sitzen, bei keiner noch so treuen Seele ausharren und an keiner noch so begeisterten Arbeit zu Ende kommen.Er hat keine Bekannten und Verwandten, eigentlich auch weder Frau noch Kind, es sei denn dieses seltsame Volk von Ideen im Kopfe seine Familie, alle schönhäuptig, mit unvergleichlichen Stirnen und zauberischen Versen auf den Lippen und mit Augen, die ihn erfrieren und brennen ließen zu einer Zeit. Er hätte das ganze Armenhäuslertum Erde wegschmeißen und auf ewig bei jenen Geistern träumen und genießen mögen.Was war doch die Schule für eine Sklaverei, welche Prosa das Arbeiten, wie blöde und krüppelig all die Menschheit, die ihn Grabsteine zu verzieren oder Engel zu modeln zwingt! Mehr noch, wie schmutzig ist aller Stoff! Aber wäre er auch rein und geistig und voll melodischen Flusses, wie hemmten ihn dabei doch immer lärmenden Kinder, sowie er auf Hohes denken ginge, und das verrückte Geld!...Er hat keines, er kann keines schaffen und muß doch immer vieles verbrauchen. Warum regnet es nicht jeden Montag Gold und Silber? Das müßte es doch. Wenig-stens für die Künstler seines vergeistigten Schlages.

Nein, nein, das Leben ist auch nur so ein Bruchstück. Er kann, er will es nicht glatthobeln wie der Schreiner ein langweiliges Möbel, so einen Kasten mit genau vier Schubladen und jeder dummen Kleinigkeit an ihrem Platze. Bei Gott, das ist so was für diese Ordnungsjungfer da.

Gewiß, seine Frau, die er ganz gut draußen in der Stube horchen und töricht hoffen fühlt, nachdem sie ihm das Mätteliseppi auf den Hals geladen hat, sie ist brav und lieb trotz allem und kann ihm leid tun. Aber warum hat sie ihn mit ihrer Liebe getäuscht? Wenn sie ihn liebt, soll sie auch sein Bruchstückdasein lieben, seine Unruhe, sein Leben im Wind und voll Wind. Nicht mit Kindern dürfte sie ihn langweilen, die auch lieb,heilig lieb sind, aber nun einmal nicht in seine Straßen passen. Verena sollte nicht eine Stube haben wollen,sondern lieber mit ihm vor den Schwellen wohnen. Sie sollte nicht von Brot und Hosentuch und Hausmiete mit ihm reden, sondern von dem, was man nicht sieht und nicht greift; sollte mit ihm in einem Garten sitzen,gleichviel wo, und träumen helfen von einer nahen,süßen Göttlichkeit der Kunst. Sie jedoch näht und strickt und schält Erdäpfel. Sie gibt Anterricht im Schneidern und flickt fremde Kleider, um den Haushalt zu retten.Ihre Hände waren so weich wie Hirschleder am Hoch zeitstag. Pfui, wie sind sie grob und braun geworden und ganz verstochen. Das ist ein Abscheu. Die Armel!Warum flieht sie nicht mit ihm? Ja, warum kerkerte sie ihn selber am liebsten auch noch ein? ... O sie kennt sehr gut das Schuhwerk und den Hosensack des Lebens,aber nicht seine güldene, geheimnisvolle Krone. Wieviel schöner ist Hunger und Betteln und ein herbes Landstreichen durch die Freiheit als mit einem kleinen Gehirnchen in der blanken und warmen Ordnung sitzen!Fort, fort ... weit fort aus diesen Gefängnissen, in die er sich, ein wilder, freier Vogel, wieder solange und elend hat eingittern lassen.

Er stieß im Übermaß dieser Einsicht das Mätteli-seppi, wie es mit breiter, dörflicher Sicherheit und in die Hüften gestemmten Armen vor ihm stand, rückfichtslos zur Seite und rannte zur Kammer hinaus. Aber die behende Jungfer erhaschte ihn noch zeitig am Armel seines langen, blauen Samtkittels.

„Ihr werdet doch nicht vor einem alten Mädchen den Finkenstrich nehmen! Gebt mir eine Antwort!Was ist's mit dem angefangenen Engel?“ ... Die tiefe Sechzigerin stand tapfer wie ein Sperr- und Stauwerk vor der Schwelle, zwischen dem Vater und den aufgeschreckten Kindern. „Und noch viel ernster frag ich Euch im Namen Gottes, was ist's mit diesen angefangenen Engeln hier?“ Die Jungfer tupfte nach Alois und Lina. „Von Eurer Frau will ich nicht einmal reden. Aber, sakkerlot, soll denn der Alois ein Spitzbube werden ... ein Vagabund? Er spinnt und dagabundiert auch schon zur Probe. Hab's selbst gesehen. Und wollt Ihr so das ganze Leben verstümpern,bis Euch unser Herrgott selbst als einen unnützen Scherben von sich wirft?“

„Bemuttere du deine Buben und Mädchen, alte Gans, mit solchen Katechismusfragen ... aber, bei Gott,nicht mich!“ schrie Vater Spichtiger und zerrte sich wütend los. Ohne Hut und ohne Gruß lief er zur Türe hinaus und die Stiegen hinunter.

Als Alois hernach dem leise und stetig brummenden Mätteliseppi die Uhr heimtragen half, sah er durch die Glastüre des „VBären“ seinen Vater lebhaft mit der kurzen, weißen Hand ein lautes Gespräch unter ein paar Faulenzern und Tagedieben begleiten und dazu so stark aus einem hohen Glas Rotwein trinken, daß der große Bart und das volle schwarze Haupthaar dabei wie ein Wald im heißen Föhn erzitterten.

Es ward dem Kerlchen davon wirr und neblig im konnte, in sein Geschichtsbuch zurück. Die Zinnen Jerusalems glänzten,Saladin tauchte hoheitsvoll auf und von weitem kündigte sich schon wie morgendlicher Sonnenglanz die Tiara des dritten Innozentius zu Rom an. Alois vergaß alles um sich, beinahe sogar das uötigste und dürftigste Schnäuflein aus seiner magern und eingefallenen Brust zu ziehen.

Ach, wenn der Vater anders wäre, so würde er ihm morgen sagen: Zeichne mir den Kaiser Barbarossa,aber im Panzer und sieben Zacken an der Krone! Und daneben zeichne mir den Papst, den schönen, jungen welschen Mann, aber im Purpurmantel und zwölf Zacken an der Krone! Und wenn du sagst, der Kaiser ist der größere, so sage ich, wisch' alle zwölf Zacken dem Papst wieder aus, aber er bleibt doch der größere!

Tief in der Nacht erwachte Alois in seinem großen Bette von einem wüsten Poltern und Hin und Herschelten. Der Vater stürmte herein und verriegelte die Türe. Draußen hörte man die Mutter sich mit bittern Worten entfernen.

Lieber Gott, wie oft war Alois aus den prächtigsten Träumen erwacht, weil der Vater im Rausche durch die Wohnung rumpelte und der Mutter drohte, zu schießen oder vom Fenster zu springen oder mindestens davonzulaufen, wenn sie nicht sogleich mäuschenstill schweige. Und die Mutter umfing den Gatten halb im Zorn und halb in Liebe und konnte immer noch nicht aufhören zu predigen und zu weinen und den Sünder zu ärgern, bis er im Dufte des genossenen Weines und vom Blei eines verlorenen Tages beschwert trotz allem neben dem Büblein einschlief.

Alois kniff die Augen zu, als sein Vater sich neben ihn ins breite Zweierbett legte. Er hatte es als Kleiner oft mit ihm geteilt. Aber nun gehörte es ihm weitaus die meiste Zeit allein, da der Vater weiß der Abendstern wo seine Nächte durchs lange Jahr verschlief.

Scheu hielt er sich abseits, hart an die Wand gerückt, und merkte bald am regelmäßigen, schnarchenden Atem, daß der Vater schon wohlig schlief. Ach warum war er nicht im Elternzimmer drüben? Wie konnte er die gute Mutter allein lassen? Sie tat sicherlich kein Auge zu. AUnd dennoch konnte Alois den Vater weder hassen, noch auch nur fürchten. Eine besondere, heimliche Liebe zur Kindesliebe hinzu und wohl noch größer als diese, übernahm ihn für den schönen, bärtigen, hochgeschickten und doch so leidenden Mann. Er rückte näher, stützte sich auf die Händchen und schaute dem Vater beim Schein der Kerze ins Gesicht. Gab es einen feinern Kopf? Nur der Christus von Carlo Dolei an der Wand sah noch edler aus. Welch ein Bart,welch eine große, weiße Stirne und darüber so groß-artig verschüttelt eine dicke, schwarze Wolke von seidigem Haar! Wie zart und doch so tapfer gebogen war die Nase, ein kühner Adlerschnabel, und wie köstlich dünkte ihn Vaters Mund. O dieser Mund! Der mütterliche war so dünn und streng und wortarm. Aber dieser volle, rote Mund, wie hatte er aus dem dunklen Bart geglüht, wenn Vater beim Dämmerlicht des Abends ihm, dem wonneschauernden Büblein, Märchen und Sagen erzählte, von großen Spektakeln der Geschichte berichtete oder ein wunderreiches Theater schilderte aus den Zeiten seiner Münchner Jahre. Eine Welt, von der die Mutter nichts wußte, hatte der Vater da aufgeriegelt. Selten freilich, denn wie kurz und rar war er daheim. Aber was waren diese Stündlein für Ewigkeiten! Alois vergaß ganze Jahre der Dürre vor einem Tag solchen Reichtums. Niemals hatte er so erzählen hören: vom großen Italiener, der eine neue Menschheit aus dem Marmor schlug und doch viel einsamer als der erste Adam war; und vom großen Engländer, der siebenmal mehr Himmel und Erde sah als alle anderen Kameraden zusammen und von dem doch nichts als eine vierzeilige Grabschrift etwas weiß; und dann, mitten in einer Erzählung von einem erhabenen griechischen Kirchenlehrer oder einem unbesieglichen Papst zu Rom, die noch wie letzte Säulen stehen, wenn der Weltsturm alles in Scherben geschlagen hat und ganz allein auf ihrem Schaft Himmel und Erde zusammenhalten, bis ein neues braves Jünglingsgeschlecht mannbar geworden ist:mitten in so einer berauschenden Minute konnte der Vater aufspringen ... nur schnell zu einem Gläschen in den „Bären“ ... und vielleicht fünf, sechs Monate nicht mehr heimkommen ... Wie seltsam!

Aber, aber, wer weiß, sein Vater war vielleicht auch so etwas Einsames, sah auch viel mehr als andere Menschen und konnte darum nicht in einem solchen Dorf und unter solchen Mätteliseppis wohnen. Und Alois erinnerte sich plötzlich, wie ihn einst ja selbst so ein sonderbarer Drang aus dem Dorfe hinaus zum Berge emporjagte. Er wußte, er konnte nicht anders.Und seitdem oft am großen See oder an einem tapfer marschierenden und ins Ferne musizierenden Bach oder an einer über die Berge fahrenden Wolke, ja, sogar an einem Fetzlein Papier, das er in den Wind warf und verwegen übers Hausdach davonflattern sah ins Hohe hinaus, spreizte es ihm das Herz und die kleinen Beine nach einer großen, unsäglichen Wanderschaft auseinander. Und er war doch nur ein elendes Bübchen.Wie muß es da erst seinem mächtigen Vater wind und weh in allen hiesigen Ecklein werden. O er kann auch nicht anders, er muß wie ein Wind Gottes kommen und gehen.Alois blickte scheu zur Türe, ob es die Mutter wirklich nicht sehen könne, beugte sich dann vorsichtig über den schnarchenden Vater und drückte ihm einen stillen, feinen Kuß auf den offenen Mund. Und ob40 wohl ihn der Geruch von Tabak und Wein und das tiefe Schnarchen heftig anwiderten, legte er das neunjährige Köpflein zwischen Brust und Arm des Vaters,im schönen Glauben, diesmal wenigstens, dies eine Mal in der Hut seines Vaters, einzig und allein seines Vaters zu schlafen.

Aber zum zweitenmal ward er aus seinem Kinderschlaf aufgeschreckt. Ein furchtbarer Schrei gellte noch in seinem Ohr fort. Um des Himmels willen! Der Vater krümmte sich mit verdrehten Augen über den Kissen und verhielt mit beiden Händen die linke Seite.Ein Herzkrampf hatte ihn gepackt. Totenbleich sprang Alois über den entsetzlichen Mann hinweg zur Türe,riegelte auf und holte die Mutter: „Der Vater stirbt!“

„Kognak, um alles einen Schluck Kognak!“ röchelte Paul Spichtiger, eine wahre Todesangst auf den verzerrten Mienen. Frau Verena hielt das Fläschchen schon bereit. Still und besonnen rieb sie dem Gatten die Brust mit Kampfer ein, wischte den kalten Schweiß vom Gesicht, flößte ihm wieder ein Tröpfchen Kognak ein und legte dann heiße Umschläge aufs Herz. Sie redete fast nichts und schien überaus langsam und bequemlich zu hantieren. Aber in Wirklichkeit ging alles rasch. Dem Bub, der im Hemde auf einem Stuhl dem Vorgang fröstelnd zusah, dünkte es, er habe noch nie einen solchen Riesenschatten gesehen, wie seine Mutter jetzt einen über das Zimmer warf, so daß oft das ganze Bett mit dem Vater darin verschwand. Sehr klein kam ihm der Vater jetzt vor und alle seine Bewunderung eilte der ernsten Mutter entgegen. O wenn er nur sie jetzt küssen könnte! Aber er würde sich nicht getrauen, so erhaben wirkte sie da vor ihm. Wie eine Heilige! Wohl, sie hatte keine Lippen voll Sagen und Träume; aber sie besaß eine Hand, die nie nahm, aber immer gab; nie nach Hilfe suchte, aber immer Hilfe reichte.

Alois konnte kein Auge von seiner Mutter wenden.Schon zweimal hatte sie ihm befohlen, sich in der Stube aufs Sofa zu legen. Aber der Junge wollte zuschauen und wenigstens so seine ungeschickte Verehrung für sie bezeigen. Nun zum dritten Male sagte Verena kein Wort mehr, sondern hob den Jungen hoch auf in die Arme und trug ihn hinüber aufs Kanapee. Aus ihrem Bett holte sie Kissen und Wolldecke und hüllte ihn sorglich wie ein Wickelkind ein. Als sie dann zum Vater hinüber wollte, nahm Alois sie fest am Ärmel und blickte ihr sehnsüchtig ins Gesicht.

„Was willst du noch?“ fragte die Frau. „Mach'eilig!“

Alois schreckte zusammen. Er nahm allen Mut seines schwachen Wesens zusammen und spitzte die Lippen zu einem Kinderkuß der Mutter durstig entgegen.

„Willst du trinken? Da!“ Verena reichte ihm ein Glas Wasser. Gehorsam trank Alois es bis auf den Boden aus.„So jetzt schlaf ein und stör' mich nicht mehr!“Damit entfernte sich die liebe, über alles liebe Frau und ungesättigt schlief Aloisli schließlich vor lauter Müdigkeit ein.

Binnen einer Stunde hatte sich der Vater erholt und fühlte sich wohler als zuvor. Seine kleinen schwarzen 59 Augen glänzten vor Lebensmut. Er umarmte und küßte seine Frau, die leise abwehrte, immer wieder in überquellender Dankbarkeit. Sie mußte neben ihn sitzen.Er wollte sie nicht mehr aus den Armen lassen. Mit unaufhaltsamer Beredsamkeit erzählte er ihr, während sie ihre Zweifel zu bändigen suchte, was Liebes er ihr nun fortdann tun wolle. Vor allem einen Staats-brunnen werde er in der Stadt bauen. Er sei sozusagen schon dafür vom Ausschuß bestimmt und der Plan stehe auch perfekt in seinem Kopfe. Geschweift müsse der herrliche Trog sein, mit bekränzten Bauchungen auf drei Seiten. Aber die Hauptsache war das Bildnis auf dem kurzen Sockel. Es werde eine Madonna oder auch eine schöne irdische Frau darstellen...ganz wie du, Herzfrauchen! ... die ihrem hübschen Knäblein die Milch reicht. Zu ihren Füßen aber sollten noch viele, viele Kinder durstig aufschauen und man sollte aus der steinernen Schilderung überzeugend erfahren, daß eine Mutter, wie die Spenderin da, einer ganzen Welt mit ihrer Barmherzigkeit den Durst stillen kann. Und der Brunnen, ja, ja, der sollte Verenabrunnen heißen. Denn Verena ist der schönste Name und Verena, das ist die beste Frau auf Erden ... das singt ... das ... Verena ...

Als Alois am Morgen erwachte, war der Vater nicht mehr in der Kammer. Auch sonst nirgendwo im Hause. Der Wind, der sein Lebensfähnlein nach Nord und Süd regierte, dieser heillose Unruhewind,hatte ihn wieder in die weiten Straßen hinausgetrieben.

3 Sebur ist eines jener Dörfer auf Erden, wo jeder Ziegel von Selbstbewußtsein leuchtet und jedes Haustor Freiheit predigt. Aber wenn erst der junge,stolze Friedel Herri die Beine über die Schwelle seines alten Elternhauses unter dem nobel geschweiften Giebeldach verspreizt, dann gibt es nichts, was herrischer sagt:Ich und damit genug!

Diejenigen freilich, die nur geflicktes Geschirr in der Küche und rissige Tannenmöbel in der Stube und zwei Paar Hosen haben, diese ärmlichen Leute leiden unter dem Selbstgefühl des Dorfes. Sie sind sein Schatten und müssen die im Lichte Stehenden um so heller zeichnen.Sie gleichen den demütigen Tälern. Je tiefer sie sich bücken müssen, um so höher ist der Stolz und Glanz der Gipfel.

Da und dort fließt ein Tropfen alten Herrenblutes durchs Volk. Aber diese Erlesenen sind an einer Hand abzuzählen. Das lebendige Gewicht des Landes bildet das Bauerntum, rings ob dem Dorf in wohlhabenden Gehsften hausend, etwas rauh, zugeknöpft und den Stolz seiner hundertiährigen Erde geizig wahrend, oder im Dorfe mit bürgerlicher Flinkheit und etwa einem Amtlein oder Geschäftchen vermischt, alsdann zugänglicher,V freudiger, aber auch schon etwas blasser und lauer im Erdgeschmack.

Hier gab es nun hundert Abstufungen vom Goldstück zum roten Rappen und vom weichen Filzhut zum billigsten Barchent oder Stroh. Die Grenze zwischen Besitz und Armut, so ein präzises Plätzchen, wo selbst der Schein von Vermögen aufhört und das nackte Bedürfnis und Almosen anfängt, war schwer zu bezeichnen.Das half einer hübschen Anzahl Armer einen guten Rest von Sonne und Ansehen zu behaupten oder am Wohlsein der Reichern sein schlaues Teilchen zu schmarotzen. Die ganz Hablosen aber wußten nichts anderes seit Menschengedenken, als daß man lebt wie der Vogel vom Suchen zum Finden und vom Ast vorweg in den Schnabel. So arm war doch kein Bürger, daß er nicht ein Hüttlein und einen Fleck Garten und etwa einen Zwetschenbaum besaß, sei es auch nur auf billige Jahresmiete hin.

Die Spichtiger freilich hatten nicht einmal ein eigenes Kirschzweiglein oder eine eigene Vogelscheuche. Sie waren ja nur Beisässe, nicht Kinder der Gemeinde.Aber dem Talent des Vaters wäre es ein Fingerspaß gewesen, soviel Geld und Ehre im Dorfe zu erwerben,daß seine Familie einen eigenen Boden und in der großen, säulenreichen Kirche ein eigenes Bänklein hätte kaufen können. „Aber,“ sagte er einmal unter dem Schwindel des Weines, „ich suche meine Bank in der Ansterblichkeit und rechts und links wird kein Salderner neben mich sitzen dürfen, nicht einmal ein Ratsherr im schwarzen Mantel, nicht einmal der großartige und welttüchtige Landammann Horat!“

Von dieser Bank spürte Alois einstweilen nichts.Sehr fein fühlte er dagegen heraus, daß er hier ein Fremdling sei und ihm von Berg und See und Tal nichts gehöre, wenigstens nicht so, wie man es vom Baum pflückt oder aus dem Boden gräbt. Das tat ihm aber sehr wenig leid. Er war ein kleiner Dichter.Er träumte. Er sah und hörte ganz anders und bildete sich so, absichtslos aber notwendig, ein Eigentum aus Dorf und Gebirge, wie es in keinem Gemeinderodel verzeichnet, aber vielleicht wertvoller als eine große Hypothek auf der Kantonsbank war. Andere besaßen Stein und Holz und Erde, er aber die Seele des Dorfes.

Wie groß und deutlich sah er es!

Am Fuße einer jähen Bergkette, nur ein, zwei Steinwürfe vom langen See sitzt es ungeheuer selbstverständlich in den Obstwiesen. Zu oberst herrscht die stattliche Kirche mit einem Wald von schwarzen Säulen und einem erstaunlichen heiligen Landsmann im Altar.Daneben, breit gelagert, mit langen Fensterzeilen, blickt der Gasthof Zum Stier ins Dorf nieder und läßt einen unaufhörlichen Geruch von Roggenbrot und rosinengespickten Wecken die ganze Dorfstraße hinunterduften.Zwischen zwei Reihen von artigen Giebelhäusern zieht der Weg breit zur Kantonsstraße hinunter. Aber die Gebäude weichen weit genug auseinander, daß der steil vom Berg fallende Bach hier zwischen zwei grünen Grasstreifen mit all seinen Launen zum See hinuntermarschieren kann.

Unten an der großen Landstraße beim Gasthaus Zum Schimmel steigt das Dorf rechts ins etwas schattigere und geringere Unterdorf ab, wo man die schnellsten Zungen hört und die meisten Kinder sieht. Eine andere Häuserfamilie geht links ob dem Gasthof dem Bach entlang fast bis zu den ersten Felsen. Das ist das derbere Oberdorf, wo die Buben dicke hänfene Hosen und tiefe Hosensäcke und darin eine gewaltige Faust haben, um zur rechten Zeit dreinzuhauen.

Federer, Das Mätteltseppi.

3 Aber der Kern und Stolz des Dorfes wohnt und regiert zwischen Stier und Schimmel, im Schatten der beiden tapfern und von jedem Saldernmenschen so geliebten Tiere.

Daneben liegen viele Häuser in den nächsten saftigen Wiesen herum und sind durch holperige Feldweglein mit dem Dorf verbunden. Ein solches ganz bescheidenes Giebelhüttlein mit einer Küche, die offen unter dem rauchigen Schindeldach liegt, einem Hühnersteglein in die obern Kammern hinauf und einer gedeckten Laube gegen das Obstland und die Berge im Süd, ward von Frau Spichtiger und ihren drei Würmlein bewohnt.Die Miete kostete hundert alte Schweizerfränklein. Wie wenig, dachte Alois, für soviel Aussicht aus fünf Fenstern und für die vielen dunkeln Winkel von unsagbarer Traulichkeit!

Das Dorf Saldern ist stolz auf sich selber. Darum lehnt es sich nicht an den stattlichen Berg, sondern begnügt sich mit seinem Schatten morgens und abends.Aber es ist doch nicht eitel. Darum bleibt es vom See gerade so weit weg, daß es sich nicht beständig im Spiegel betrachten muß. Es weiß auch ohne das, wie tüchtig es ist. Noch sechs andere Dörfer gibt es im Ländchen, eines unten, eines oben am geschweiften Seebild, zwei höher im Gebirge hinten, eines beweglich und begehrlich schon am Zipfel des Landes und endlich ein siebentes sehr glänzend und fast übermütig in halber Hohe zwischen der Talung und den Bergketten. Diese sieben Dörfer bilden zusammen eine kleine Republik von Geschwistern. Jedes Jahr, am letzten Sonntag im April, wenn der letzte Schnee ins heiße Tal hinuntergleißt, daß es blendet und blitzt wie von Höhenfeuern,kommen die sieben Brüder auf einem uralten, mit Ahnenblut gesegneten, feierlichen Platz zusammen und bestimmen mit hochgereckter oder tiefgesenkter Hand selbst das Gesetz und die Gesetzesdiener ihres bürgerlichen Lebens.Sie bessern dann ihren uralten Staatswagen aus, bestellen neuerdings den Postillon und ordnen an, wie schnell man fahren darf und was für eine Taxe man den Fahrenden in der Mittelkutsche und welche im vornehmern Oberstüblein auferlegen soll. Und die gemütlichen Rößlein mit dem republikanisch klingenden Geschell werden frisch gebürstet und gestriegelt und bekommen zum gewohnten Hafer heute noch ein paar Zückerchen, damit sie die ziemlich undankbare Kutsche ein weiteres Jahr in anständigem Schritt erhalten.An Galopp oder auch nur an scharfen Trab denkt niemand als vielleicht so ein grüner Luftibus, der nicht weiß, wie rauh die Straße, wie schwerfällig der Wagen, wie unwirksam die Peitsche, vor allem wie kritisch das Trüpplein der Reisenden in der Karosse ist.Alois Spichtiger hockte gern über dem Dorf vor einer der vielen, ewig flüsternden Haselstauden im Gras,über sich wie mächtige Großväter die grauen Gipfel,unter sich den gemütlichen Vogelnestfrieden und Vogelnestzank des Dorfes, aus dem dann auch wirklich ein stetes leises Geklatsch, man wußte nicht recht vom Bach oder von andern nassen Mäulern heraufdrang. Aber diese Geschwätzigkeit dämpfte unter den Dorfwiesen der See, so wie er zwischen geruhigen Bergen seinen Spiegel und sein Stillschweigen ausbreitete und der ganzen ge

3**8 1*schlossenen Landschaft einen Zug von Innerlichkeit und leiser Feier gab.

Hatte sich Alois an dieser engen Glückseligkeit erquickt, so zappelten seine grauen, äußerst unruhigen Augen dem blauenden Ausgang des Ländchens im Nordwest zu, wo die braven Berge sich zu Hügeln demütigten und nachdem sie einmal den Selbstmord begonnen hatten, in einer weitern nebligen Ferne völlig ertranken. Von dort sah man auch bei föhniger Luft einen herrlichen Tropfen vom großen See hereinschimmern, der Dampfschiffe trug und an einer wirklichen und starken alten Stadt endigte. Mit ihm streckte gleichsam die große Welt, die man hier im Gebirge nicht kennt,den kleinen Finger herein und grüßte Alois so seltsam,daß ihm das Herz vor Angst und Sehnsucht zitterte.Dennoch, er wollte hier im Winkel bleiben. Er fürchtete diesen kleinen Finger, der ihn schon halb beherte.Wie gewaltig würde erst die ganze Faust sein. Sie würde ihn niederwürgen wie seine lieben Berge dort oder wie seinen armen Vater, nur noch flinker und ganz spurlos.

Eines Abends kauerte Alois mit Louis und Josef Tonoli an der Mündung des Baches in den leise von den jenseitigen Bergen beschatteten See. Hier war es fast noch schöner als oben am Berg. Man grub kleine Wasserläufe aus dem Hauptbett, einen Arm hier, einen dort, schuf Umwege, kleine Fälle und niedliche Aufenthalte in Weiherchen, bis endlich der kindliche Tropfen sich mit der großen Mutter im See vereinigte.

Während die zwei Nachbarsbuben rüstig im Kot weiterschaufelten, lag Alois faul hart an der Seeflut.

Das war von allem das Schönste, den Stimmen zuzuhören, die unter dem Spiegel so dumpfsüß und doch so grüblerisch orgelten oder die gar vom jenseitigen Waldufer wie Geister herüberriefen. All diese Natur, war sie nicht bald gütig wie eine Mutter, bald von heiliger Wunderlichkeit wie eine ältere Freundin, bald aber auch unheimlich und geradezu gefährlich wie eine schöne große Hexe ? Alois träumte und verspann, was er aus Märchen und Geschichten wußte, mit dem, was er hier wie ein kleiner Seher gewahrte. Ja, durchaus, die Berge mit ihren Wolkenhimmeln waren schlafende Riesen, vielleicht darunter die drei Tellen, die einst in schwarzer Stunde zur Glorie des Vaterlandes aufwachen würden. Jetzt freilich hört Alois nur die Sennen hoch aus den Nebeln den Kühen zujodeln und später, wenn das Siebengestirn mit seinen goldenen Rädern über den Geißberg fährt,den dunklen Betruf ins Tal niederpsalmieren. Sie aber, die Berge, halten die Augen geschlossen wohl noch für ein paar Jahrtausende. Denn solche Riesen haben einen langen Schlaf.

„He da, Schlafklappe,“ rief der fette, rundköpfige,blonde Louis und stand verächtlich vor den Träumer hin, „willst du uns wohl helfen oder nicht? Da hat es Steine genug zum Mauern!“ Joseph aber, ein Jahr jünger, mager und mit einem Paar hitzigen Augen, packte den Faulenzer gleich vorne am langen Haar und befahl: „Marsch! An den Graben! Sonst darfst du morgen kein Schiffchen den Kanal hinunterführen.“

„Ach, Kanal, Schiffchen! Was sind das für Dummheiten! Sitzt doch lieber zu mir und schaut einmal ordentlich übers Wasser und drüben an den Gipfeln hinauf! Wißt ihr, was die gelbe Wolke dort zum Berg sagt, wenn sie ihm begegnet? Wißt ihr's?“

Der lange, knochige Joseph mit seinem fast weißen und widersetzlichen Haar und den stechendgrauen Augen im mageren, langen Gesieht blickte in den westlichen Himmel hinauf, neugierig, was das für ein Gruß wäre zwischen Himmel und Erde. Aber der feiste Louis spuckte kaltblütig ins Wasser hinaus und sagte mit langsamer Stimme: „Bist du ein Narr! Nichts sagen sie sich! Ich war schon zweimal dort. Es ist der Sehrenkopf und dahinter die Planalp. Und wenn eine Wolke bis ins Gras fällt, so wirst du bachnaß und frierst und läufst aus dem Nebel in die Hütte, wo's Feuer brennt und trocknest dich gern dran, so weiß ich's ganz genau!“

Alois wehrte unwillig mit beiden Händen ab und schrie: „Etwas anderes, etwas anderes! Liegt einmal aufs Ohr, so! Näher, näher, ganz ans Wasser! Jetzt schaut über den See! Er geht euch übers Auge, o wie weit ... wie breit ... Das Meer ist nicht größer!Wißt ihr, wie tief der See ist? Man kann ihn nicht messen,“ triumphierte der Junge. Wie im Fieber leuchteten seine Augen.

„Viermal wie unser Kirchturm!“ antwortete Joseph heftig.

„O du Narr! So ein Tümpel! Schau' doch das mächtige Wasser an! Was das zudeckt! Vielleicht, wer weiß, geht es tief bis ins Fegefeuer und tröpfelt den armen Seelen ein wenig in die heillose Hitze hinunter!O es gibt Sachen, sag' ich euch, Sachen ...!“

„Im Schulbuch steht es,“ erwiderte Louis und sein runder, kurzgeschorener Kopf leuchtete vor Kühle und Bestimmtheit; „hundertsiebenzehn Meter mißt der See,zwischen dem Zollhaus und der Gisler Aa, wo er am tiefsten ist, und gar nichts anderes!“

„Glaubt ihr, der Schullehrer sei hinuntergegangen und hab' das alles so messen können? Unser Schullehrer, der sogleich, wenn es nur leis regnet, schreit:„Buben, einen Regenschirm, einen Regenschirm!‘ Er fürchtet das Wasser. Er kann gewiß nicht schwimmen.Hopla, und so einer rechnet auf der Schultafel aus,wie tief der See ist. O wie lustig! Der alte See lacht, was er kann. Er lacht bis in den Hosensack hinunter. O, sagt er und lacht noch einmal, da hinab langt mir keiner von euch! Und ein Schulmeister am allerwenigsten!“

Joseph lachte und nahm Alois herzlich an der Hand.Er, der grobe, ungestüme, unfolgsame Bub, der zu Tod ungern lernte, stimmte allem zu, was den Lehrer verkleinern konnte.

„Was gibt es denn für Tausendszeug im Hosensack da unten?“ fragte Louis und machte entsetzlich gleichgültige Augen. „Der Joseph und ich schwimmen besser als du. Tauchen kannst du schon gar nicht mit deinem Schnauf. Aber wir zwei tauchen unter. Und der Joseph noch tiefer als ich, das ist wahr. Sag' du, hast du dem Alois nicht Muscheln heraufgebracht?“

„Muscheln und Seerosenstengel, ja,“ versicherte Joseph, „etwas anderes als das gibt es nicht da unten.“„Ja, Steine noch dazu übergenug und Farrenkraut und Dreck und alte Pfannendeckel,“ flickte Louis hinzu.„Etwa wie zu unterst in der Tasse des Mätteliseppi der Kaffeesatz liegt.“

„Also ist alles gelogen, was du mir von den Schlangen da unten und von den Kronen und Diamanten und von den Seejungfern mit silbernen Fischschwänzchen erzählt hast?“ polterte Joseph heraus und packte den Alois schon wieder am Schopf. „Wie du lügst!Wart', jetzt kriegst du mal was ...“ Wild riß er ihn mit dem Kopf in den Sand und wollte das Knie auf ihn setzen. Seine grauen Augen brannten. Er war jetzt, wie immer in solchen Augenblicken, von großartiger, aber grausamer Ehrlichkeit. Nie log er. Nie übertrieb er. Dabei trug er ein knabenhaftes Selbstbewußtsein wie ein junges, strenges Krönlein auf der Stirne. Heißblütig, so daß ihm von irgendeinem Widerwort schon die Adern an den Schläfen schwärzlich aufschwollen und die Lippen bluteten, konnte er wie ein Schwert im Augenblick aufblitzen, besonders wenn ihm unrecht geschah. Wehe dann dem Opfer,das er biß.

„Laß ihn los!“ gebot Louis gutmütig. „Er hat einmal andere Augen als wir. Anlügen tut er uns nicht.“„Lügst du wirklich nicht?“ herrschte Joseph den Unterjochten an und ließ ihn locker.

„Die Wahrheit sag' ich,“ schrie Alois so erregt,daß ihm der Mund schäumte und zwang sich stracks empor. „Aber ihr lügt, so oft ihr den Kopf schüttelt und nein sagt! Wartet nur, der See und der Berg und Donner und Blitz werden euch schon einmal Respekt lehren.“ Bei diesen Worten stand Alois bleich und zornig vor den Kameraden im Sand, wie ein junger Prophet, und es war etwas an ihm, was die nüchternen Buben einschüchterte. „Nie mehr erzähl' ich euch meine Geschichten. Ich geh' zum von Aar und zum Klaus Illacher, und dem Gottfried Herri ruf' ich sogar. Dann könnt ihr meinetwegen dahocken und warten bis zur Nacht. Meinst du, dummer Joseph, ich lass'mich mir nichts dir nichts nur immer so an Haar und Ohren reißen. Bin ich etwa dein Sklav'? Heim geh'ich sogleich ...“ zürnte Alois und redete sich immer tiefer in Schmerz, Grimm und nasse Augen hinein.

Auf der Stelle änderte sich das Schauspiel. Der Tyrann Joseph zog mit beiden Armen den vor Aufregung zitternden Freund zu sich nieder und strich ihm die zerzauste Stelle glatt und tätschelte ihm den zuckenden Mund zu. Worte fand sein Stolz nicht, aber Blicke voll feuriger Versöhnlichkeit.

Louis hingegen rückte sachte an die andere Seite Aloislis und bemerkte mit einem seelenruhigen Lächeln im breiten, klugen Antlitz: „Wie du jetzt aufbrausest!Bist du denn schon ein Pfarrer oder unser Herrgott selber, daß man dir jedes Sterbenswörtlein heilig glauben muß! And sag' einmal, haben wir dir nicht immer still zugehört, wenn du Geschichtlein machtest! Der Friedel Herri, hoi, der hört dir mit keinem Ohr zu. Der fährt lieber mit dem Knecht auf dem Wagen und macht klipf klapf! mit der Geißel durchs ganze Dorf. Und der von Aar paßt nicht auf und bringt die Meitli mit,dieser Meitlischmecker! Jetzt, fang' gleich ein Märchen an, und schau', wie wir zuhören.“

„Sogleich, sogleich,“ bat Joseph.Alois kämpfte hart mit sich. Groß war seine Erbitterung, aber noch größer die Versuchung, diese nüchternen Kerle mit ihren blöden Zweifeln wieder einmal zu bändigen.

„Eil' dich, he, Alois!“ forderte Josef.

„Ich muß mich erst ein bißchen besinnen, wartet.“

Die Brüder harrten geduldig. So gern sie an Aloisens Phantasien zupften und rissen, doch immer wieder ließen sie sich in diese fremdartigen Gewebe für eine Weile einspinnen. Denn da gab es Sachen, für die es wert war, die Ohren zu spitzen und Husten und Niesen zu verhalten. So leicht kriegen sie das nicht umsonst wieder: Häuser, glashell aus Luft und Wasser gebaut; Lindwürmer mit gezacktem Schweif und Flügeln wie klirrendes Eisen; Herren, die mit Krone, Mantel und Schwert durch die Menschheit lärmen und, wo sie nur hinstampfen, ein Loch ins Brett der Welt schlagen,daß die nachtrippelnde Welt zu Tausenden darin zu Tode stürzt. Das war doch allermindestens unterhaltlicher,als kegeln oder Blindekuh spielen. Aber holla, da gab es auch Brücken für die Maurersbuben Louis und Joseph, zu bauen von Gipfel zu Gipfel aus dünnen,aber zähen Goldseilen und mit schwebenden Silberteppichen belegt, und es gab grüne wunderbare Fläsch-chen, in die das Feuer und der Knall von einem ganzen Himmelsgewitter verpfropft war. Damit konnte man sieben gehörnte Teufel auf einmal in Staub und Asche sprengen.

Die Buben ballten dann die Fäuste und sperrten die rauhen, nackten Füße Ferse an Ferse gegeneinander vor Eifer, sich in einer solchen Welt etwas Erxkleckliches zu ermauern und fertig zu bauen. Das Greifbare und Handliche, was immer in Aloisens Berichten lag ...denn der kleine Plauderer griff mit beiden Händen vorab ins Faßliche, ehe er ins Unerfaßliche gelangte ... diese blendend vorgetäuschten Möglichkeiten reizten besonders den frechen Josef, wild ins Garn zu langen und so einen besonders dicken Goldfaden zu spinnen. Der klügere und gelassenere Louis aber gähnte erst einigemal und beschnitt heimlich die Sagen an ihren längsten Ohren,fand aber stets einen guten Zipfel, womit etwas Richtiges anzufangen war. Die Wahrheit in diesen Dichtungen gefiel dem jungen Tonoli so, wie dem Alois das Erdichtete in diesen Wahrheiten.

Er sann mit gerunzelter Stirne nach, was er jetzt fabeln wolle. Aller Zorn war schon verraucht. Er mußte erzählen, fast so dringend wie essen und atmen.Und er wußte nicht, was ihm jetzt lieber war, die süße heilige Natur da ringsum oder der gescheite, faule Louis oder der hitzige Joseph. Ach, sie gehörten hierher zusammen, wie zwei Augen und ein guter Mund in ein liebes Gesicht gehören. Das eine schläfrige Auge war Louis, das lodernde andere Joseph, und stellte die Natur mit ihrem stillen Reichtum und ihrer innerlichen Musik den Mund in diesem Antlitz dar, so war Alois selber das kleine findige Näschen und das noch viel findigere Gehirnchen dahinter, das alles und hundertmal mehr herausschnüffelte, was mit Augen zu sehen und von Lippen zu hören war.

„Ich schlafe, wenn's jetzt nicht losgeht,“ brummte Louis.

„Dein Vater ist doch wieder daheim,“ polterte Joseph grob hinein. „Er hat dir gewiß wieder viel erzählt.Was tut er sonst? Trinken und erzählen ... äh ...“flickte er rasch hinein, als Alois den Kopf senkte, „das sagt man nur so. Ich weiß nichts. Ich hab' deinen Vater noch nie gesehen.“

Der kleine Spichtiger ward mit einem Schlag schamrot und ganz verzagt. Das war sein großes Knabenleid: er durfte nicht von seinem Vater reden. Schon der Name Vater allein, der allen andern Buben so stattlich vom Munde fährt, daß sie dabei schöner und um einen Schuh schlanker werden, tat ihm weh, und er konnte ihn außerhalb der Stube nicht aussprechen.Wenn Friedel Herri sagte: „Mein Vater hat einen Falben gelauft und reitet als Major darauf vor allen Soldaten ...“ und wenn Joseph Tonoli meinte: „Morgen steckt mein Vater das Tännlein auf das neue Waisenhaus; ihr dürft Ziegel über die Leiter hinauf-reichen und danach zahlt euch mein Vater Most und Wurst ...“ oder wenn der ärmliche Theodul Beiz nur demütig bemerlte: „Gestern hat mein Vater dort oben,seht, zwischen den Hahnenfelsen, das Wildheu geschnitten, einen Wagen voll, und darf es behalten, hat der Gemeinderat Herri gesagt, für unsere zwei Geißen ...“o was war das für ein Stolz und Glanz, und wie niedrig und schmutzig klang daneben, was Alois sagen konnte: „Mein Vater denkt an allerlei, was wir nicht verstehen; er sitzt am Tisch beim Glas und erzählt und erzählt, aber es geschieht nichts aus seiner Hand, nicht einmal eine Armvoll Wildheu ...“ o, vom Vater konnte er nicht reden.

Da schlug es vom Kirchturm über die Obstbäume seewärts langsam ein paar alte, weiche Glockennoten.Man sah das vergoldete Kreuz von der kleinen Kuppel her über alles abendliche Laub weg noch hoch in der letzten Sonne blitzen. Sieben Uhr! zählte Louis ...Oder will es läuten? bemerkte Joseph. Fast tönt es so?Sieben Ahr kann es noch nicht sein, widerstritt Alois.Der Zeiger geht vor. Ihr wißt, es war ein starker Föhn bis Vesperzeit. Dann zerrt es den großen Zeiger immer ein bißchen mit. Vielleicht ist es erst halb sieben. Um sieben muß ich daheim sein.

„Also erzähle!“ kommandierte Joseph. Jede Minute, die da verschwatzt wurde, tat ihm leid.

„Ich meine,“ brachte Alois vor, „in unserer Kirche muß es in der Nacht schaurig sein. Die schwarzen Säulen und die vielen leeren Bänke und alles voll Schatten und die Pfarrergräber unterm Boden!“

„Aber es brennt ja das ewige Licht vor dem Altar,was ist da zu fürchten?“ sagte Louis ruhig.

„O das ist nur ein kleiner Fleck und alles andere ist schwarz. Und die Fledermäuse aus dem Dachstuhl herunter ?“

„Wo die Fledermäuse lustig sind, hab' auch ich keine Angst,“ tröstete sich Louis.

„Ich würde in den Ratsherrenstuhl hinaufgehen oder mich in ein Beichthäuschen verstecken und dann einschlafen, bis der Sigrist mich am Morgen mit seinen großen Schlüsseln weckt. Das tät' ich,“ schwor Joseph heftig.

„Aber um Mitternacht würdest du erwachen. Ganz sicher, beim zwölften Schlag wärest du wach wie ein Spatz und sperrtest die Augen kugelrund auf.“„Ist das eine Geschichte, Alois, he?“ fragte Louis mürrisch.

„Warum würde ich wach? Das sagst du mir sofort!“ begehrte Joseph zornig.

„Ist doch der Benignazi einmal im Abendrosenkranz zuhinterst im Winkel eingeschlafen. Er hatte einen halben Rausch. Niemand merkte etwas. Der Sigrist verriegelte die vier Türen von außen. Aber um die Zwölfe ist der Bursch erwacht. Über dem Dach hat es gedonnert: eins, zwei, drei ... elf, zwölf! Da ist's gleich lebendig geworden. Fünf oder sechs Gräber sind wie Kistendeckel aufgesprungen. Aus jedem schloff ein Geistlicher im violetten Meßgewand und das Birett auf dem magern Kopf und den Kelch in der Hand. Alle knieten in die Chorstühle. Es waren Pfarrer und Kapläne aus einer alten, bösen Zeit und hatten eine schmutzige Hand, vielleicht vom Glas oder vom Geld oder von der Jagdflinte, ich weiß es nicht. Aber einer von ihnen hatte schon eine hellere Hand und ein anderer war schon fast schneeweiß. Dieser da ging mit DD ihm. Das sind Buben, die schlecht zur Messe gedient haben. Sie redeten ein elendes Latein oder stahlen Wein aus den Meßzgläschen oder spielten Karten während der Predigt in der Sakristei. Aber der Geistliche ging die Stiegen hinauf zum Altartisch und las die heilige Messe langsam, langsam und wunderbar schön.Und in den Chorstühlen die hochwürdigen Herren riefen Amen und Deo gratias und Et cum spiritu tuo mit leisen Stimmen, wie aus dem Nebel oder aus dem Wasser herauf, hat der Benignazi gesagt.“„And dann und dann und dann?“ eiferte Joseph und seine Stahlaugen sprühten Funken der Neugier und abenteuerlichen Lust.

„Bei der Opferung hatte der Pfarrer nur noch kleine Flecklein an den Händen, bei der Wandlung,wo er die Hostie und den Kelch in die Höhe hob,waren sie taubenweiß, aber bei der Kommunion, da leuchteten die zwei gesalbten Finger, der Daumen und der Zeigefinger, wie Lichter.

„And hie und da hielt einer der Geistlichen im Gestühl seine Hände gegen das Licht, um zu achten, ob sie reiner geworden. Die und die schüttelten traurig den Kopf. Es war halt noch nicht reife Zeit für sie. Aber der und der nickte glücklich und versuchte zu lächeln, wie Totenköpfe lächeln können, und wußte wegen der bleichen Hand, daß auch er bald die Erlösungsmesse lesen dürfe ...Und daß ich nicht vergesse, die vielen andern Gräber durch den Gang bis zur hintern Türe, die blieben still und dunkel. Die da drinnen gelegen, brauchten schon lang keine Messe mehr. Die spazierten zwischen Engeln und Goldwölklein von Jesus zu Maria und von Maria zum heiligen Joseph hin und her mit Musik und Weihrauch und ich glaub' mit Flügeln nicht nur an beiden Achseln, sondern auch an den Füßen.“

„An den Füßen?“ zweifelte Louis und verzog das kühle Gesicht ein wenig.

„Pst!“ drohte Joseph. „Bring' ihn nicht aus dem Zeug!“

„Aber noch etwas ganz Wichtiges habe ich ausgelassen. Seht, so ums erste Dominius vobiscum!herum hörte der Nazi vor den drei Kirchentüren klopfen,*X ganz leise, wie von zitternden und frierenden Menschen,und dann immer mehr wohl mit hundert Fingern. Aber beim Evangelium fing es an zu bitten und betteln mit ganz dürren, trockenen Stimmen. Und vor dem Sanktus,eiho, da wimmerte es entsetzlich zu allen Schlüssellöchern und Türspalten herein. Sogar zu den Venstergittern hinauf kletterte es und rief in die Kirche hinunter:‚Lasset uns ein; wir haben kein Licht und keine Wärme,um Gottes Gnaden willen, lasset uns ein! Das waren die armen Seelen, die rings um die Kirche auf dem Friedhof schlafen und doch keine Ruhe haben. Und jetzt passet auf: vor der heiligen Wandlung ging ein Schimmer, wie ein Sonnenfaden durchs Schlüsselloch und gleich danach kniete eine lächelnde arme Seele im Mittelgang auf dem nackten Stein. Und beim Pater noster schlüpften zwei andere herein und gerade noch zeitig vor der Kommunion beim letzten Agnus Dei hüpften noch drei solche Schimmerchen ins Schiff und knieten neben die andern, im ganzen ein halbes Dutzend,auf die Platten. Zu den Geistlichen im Chor durften sie nicht. Denn das sind Hochwürdige auch jetzt noch und Gesalbte des Herrn, sagte der Nazi. Hingegen nach der Kommunion des Pfarrers am Altar sind doch zwei arme Seelen bis zur ersten Stufe gerutscht, auf den beinernen Knien. Es hat geklappert wie beim Kegeln ... sagte der Nazi; aber das ist ein wüstes Schwätzen. Es klotterte und krachte eben wie wenn du eine Beige Holz umwirfst. Alles ist spindeldürr und ausgebrannt. Und nun, bei meiner ewigen Seligkeit,kehrt sich der Priester oben um und gibt den letzten Segen: Benedici oder wie ... Pater et Filius et ...ach, wie nur? Ihr wißt ja wie, ich darf's nicht verderben ... macht das Kreuz über alle und segnet und segnet mit Händen wie Sonnen ... und ich sag' euch,da antworteten hunderttausend Stimmen, nicht bloß die in der Kirche oder vor den Pforten, nein, Millionen arme Geister, die noch nicht den Frieden haben, aber die jetzt mit diesem Benedici ... oder wie doch ... anfangs davon so ein schimmerndes Fädlein kriegten, antworteten:Deo gratias ... das heißt: Gott sei Dank und noch einmal Dank und vergelt's Gott!... Da war es aber auch ganz deutlich, wie die vielen dunkeln Hände ein Bröslein heller wurden und die helleren schon fast weiß.Haringegen wo die zwei armen Seelen vorm Altar gekniet hatten und oben am Meßtisch, wo der Priester das Johannisevangeli gebetet hatte, da war nichts anderes mehr zu sehen als drei feine, duftige Wölklein,wißt, solche, wie man sie nach einem schwarzen Hagelwetter ob dem Stuckliberg wie Engelchen im neuen Himmel ...“

„Im neuen Himmel,“ kritisierte Louis unerwärmt,„der Himmel ist alt wie kein Haus und kein Berg im Kanton.“

„Schweig' du!“ zürnte Alois. „Ist er nicht nagelneu, wenn er vorher grau und kohlschwarz und von Blitz und Donner verkracht war? Und da kommt's wieder heiter und blau, wie gar nie zuvor? Ich sag'nochmals: im neuen Himmel.“

„Ganz recht, Alois, nur weiter!“ lobte Josef, den Arm gütig um Aloisens mageres Hälschen schlingend.

„Diese drei Wölklein flogen zum Gewölb, glashell,lustig, wie Rosen im Geruch und voll von einer heiligen

Federer, Das Mätteliseppi.Stimme, etwa wie von Vogelgezwitscher oder von Kinderlachen oder von noch schönerer Musik ...“

„Wie die Silberpfeifen, die letzten, kleinen an der Orgel, weißt,“ half Joseph.

„Recht hast du, gerade so ... Die Geistlichen aber und die andern Seelen schauten den Wölklein nach, bis sie verdufteten, und machten solche Heimwehaugen wie etwa die Apostel, als unser Heiland auf dem Berg ...dem ... dem ...“

„Dem Tabor ...“ belehrte Louis ganz sachlich.

„Dem Tabor plötzlich in die Luft fuhr, hoch hinauf,so daß sie meinten, sie müßten Zeit und Ewigkeit allein unten auf der Erde bleiben. Doch nein, das dachten diese armen Seelen nicht. Aber wie lange geht es noch, ach, wie lange noch, bis auch wir taubenhoch zum Himmel fliegen ...?“

„Aber ich hätte geglaubt, daß nicht diese andern,sondern zuerst die Herren im Chorstuhl erlöst würden,“nörgelte Louis. „Was würde der Pfarrer zu diesem ...diesem ... Spuk sagen?“„Der Pfarrhelfer hat uns doch im Anterricht deutlich erklärt, daß auch die Priester arme, schwache Menschen sind. Aber wenn sie fehlen, ist's eine dickere Sünde und unser Herrgott straft sie noch einmal so hart.Denket an den Judas! And selber Sankt Petrus, da er noch bloß Simon hieß, hat dreimal heillos gelogen.Drum ist er doch der erste heiligste Papst geworden. O ich möchte auch Papst werden ... oder doch Bischof!Ganz gewiß werde ich Geistlicher!“

„Das hast du schon oft gesagt. Aber du bist immer krank. Da machen sie dich nur zum Kaplan!“ entgegnete widerhaarig Louis.

„Und liest ein Kaplan nicht die Messe wie der Bischof und steht auf der Kanzel und sitzt im Beichtstuhl und segnet ...! Das war gewiß nur ein einfacher Kaplan, den der Nazi nächtens am Altar sah. Aber was war das für ein Segen! Es hat geblitzt, einfach geblitzt aus allen fünf Fingern, hat der Nazi nachher gesagt. Und die dunkeln Geister sind heller geworden und alles hat geschrien: Deo gratias! und auf dem Friedhof ist's ruhig worden und drei konnten gen Himmel fahren. O so ein Segen. Und am Ablißtag), wenn wir trompeten und schießen und die Fahnen bis zum Boden senken und das ganze Dorf auf der Straße kniet, weil der Geistliche segnet, ist das nicht wie ein Wunder? Sogar der Wind schweigt und die Spatzen pfeifen nicht und die Bäume rühren kein Blatt, so hat alles Respekt. O Sepp und Louis, so will ich einst segnen und ihr kniet vor mir und saget auch: Deo gratias.“„Aber du mußt lange Zeit studieren und brauchst viel Geld. Wo nehmen?“ marterte Louis weiter, die blauen phlegmatischen Augen seelenruhig auf das stürmische Gesichtlein Aloisens gerichtet.

„Mein Vater ist wieder daheim und studiert an einer großen Arbeit für die Stadt,“ antwortete Alois mit schnellem Mut und vergaß dabei seine alte Scham.„Zuerst macht er sie ganz klein, daß sie auf dem Tisch Platz hat. Dann baut er sie groß auf einen Platz in

) Ablaßtag, Fronleichnamsfest.der Stadt, ich glaub' vor eine Kirche mit zwei Türmen.Das gibt Haufen Geld. Dann kann ich leicht studieren.And der Vater ist froh, wenn ich Geistlicher werde. Er studierte auch Pfarrer und hat Latein gelernt und kann euch die Messe auswendig und so schön wie der Pfarrhelfer beten oder laut singen, wie ihr wollt. Aber da hat er sich den Daumen und Zeigefinger an der rechten Hand mit einer Pistole zerschossen. An einem Studentenfest beim Schießet! Und da war's halt aus mit der Messe. Denn gerade die zwei Finger muß einer heil und ganz haben, will er die Hostie anrühren und das heiligste Sakrament austeilen.“

Stillschweigen herrschte. Vater Spichtiger stieg ein wenig in Louis' Achtung. Nicht weil er Latein verstand, aber weil er schon als Bub mit Pistolen hantiert hatte. Angeschickt freilich muß er sie in die Hand genommen haben... gerade in die rechte Faust fehlen...und Daumen und Zeigefinger kaputt! ... Alois ist auch ein wenig unbeholfen. Werd' er nur Kaplan! Das ist das Gescheiteste, was er tun kann. Ob ich dann gleich tief zur Erde knie, wie er die Hand ausstreckt,gar wenn es auf den Weg geregnet hat, das will ich mir erst noch reiflich überlegen.

„Gut, du wirst Geistlicher!“ unterbrach Joseph, der nie ruhige, die Stille, und warf zugleich einen Stein in den eingeschlafenen See, „dann baue ich dir umsonst den Pfarrhof oder wenigstens ein Gartenhäuschen.Dann aber,“ fügte er mit kindlicher Arglosigkeit hinzu,„darfst du auch nicht wettern und schimpfen, wenn ich bei dir beichte, daß ich den und diesen gestochen und gehauen habe.“„Ich meinesteils beichte nie bei dir, Alois,“ entschied Louis ganz bestimmt.

„Warum nicht?“ fuhr Alois entrüstet auf.

„Ich würde immer denken, du seiest noch so ein Bub wie heut, dem ich Ohrfeigen gegeben habe und den der Joseph unters Knie genommen hat. Nein, nein ...“

„Aber, Louis, dann bin ich doch nicht mehr der Aloisli. Ganz ein anderer, ein neuer Mensch bin ich,ein ... ein ... ha ...“ übersprudelte er sich, „dann nehm' ich euch unters Knie, aber ganz anders ...“

„Ich hab' gemeint, segnen müssest du!“

„Du hast recht,“ erwiderte Alois milder. „Aber weißt du das vom Leo zu Rom? Die Hunnen sind auf die Stadt geritten, schwarz, wild, flink, wie ein Hagel. Alle Küng!) und Herzög' sind in den Wald gesprungen und jede Stadt ist zu Staub verbrannt.Und sie sind geritten wie Teufel und der Boden hat gezittert bis hinein in unsere Berg'. Aber auf eins ward's windstill. Was gibt's? Der Leo, der heilig große Bischof zu Rom, ist zur Stadt hinaus allein vor die Hunnen gegangen und mit einem großen Schritt gerade vor dem Häuptling gestanden. Der heißt Attila,Gottesgeißel. Und der Leo hat vor sich hunderttausend rote Schwerter. Die wollen alle ihn fressen und Rom dazu und die ganze Welt. Da streckt er die Hand auf,schneeweiß, ohne Büchse und Messer, einfach hochauf.Vielleicht zum Segnen, vielleicht zum Strafen. Die Heiden können es nehmen, wie sie's wollen. Nur eine Hand, Louis, denk' das. Aber auf der Stell' fallen

9 Könige.5.den wüsten Mordiolkerls die Pfeil' und Speer' zu Boden und dem General die Geißel, und sie fürchten sich und kehren um wie geschlagene Hünd'. Aber der Leo hat die Hand immer noch hoch in der Luft, bis der letzte Schuft verduftet ist. Schau', Louis, das ist so eine Hand. Segnen kann sie, aber auch machen, daß kein Säbel schneidet und die Kanonen immer schlafen oder leer bellen, wie euer dumme Ami ...“

„Das war aber ein Papst von früher, das ist schon lange her,“ gab Louis zu bedenken.

„War er etwa nicht zuerst ein kleiner Schulbub wie wir? Hat am Meer oder am Tiber gehäuselt und gedreckelt wie wir? He, sag's? And war gar nicht so stark wie der und dieser Grobian! Hat wohl auch die Ohren herhalten müssen und hat ihn manch zorniger Römerbengel unters Knie genommen. Was macht das?Hat er etwa ein Schwinger werden wollen oder ein Turner oder sonst ein Kraftmensch? Wo sind denn die Kraftmenschen stecken geblieben, he, die Louis und Joseph und Friedel, als der Hunn' ins Land gehagelt kommt? Wo haben sie die Schleuder und die Flinten versteckt? O, o, in die Kirchtürm' und Dachstühl' und Keller sind sie gekrochen wie Fliegen beim Donnerwetter ... Und so ist's immer ... wenn eine Pest durchs Land schleicht, brandschwarz wie Millionen Würmer, so lauft alles davon, der Soldat und der Ratsherr und der Lehrer und der Schwingkönig zu vorderst. Nur der Doltor bleibt stehen und der Geistliche geht euch geradeswegs in die Pest hinein und segnet und benedeit, bis das Übel verstunken ist. .. Und den Tod fürchten alle, auch die Doktoren. Aber der Geistliche springt ihm lustig entgegen und nimmt ihn wie einen Kameraden an der Hand und sagt etwa: Gut Freund, 's ist noch nicht Zeit!... Dann reist der Tod heim in sein Schattenhäuschen und wartet. Oder sagt ihm: Kannst kommen, aber mach' hübschli)und geschwind! ... Hie und da folgt der Tod nicht ordentlich. Dann nimmt ihn der Priester an den Hörnern und wirft ihn einfach ins Schiedelihaus?) unter die alten Knochen und sagt: So, so letz' dich dal“

„Wer hat dir das gesagt? Erfindest wieder,“ drängte Joseph ernstlich.

„Das hab' ich etwa in alten Büchern gelesen. Oder etwa erzählt der Sigrist davon. Ach was, es ist einfach so, vunktum!“

Auf dieses unwiderstehliche Gesätzlein wußte selbst Louis im Augenblick kein Widerwort. Er zupfte sich ärgerlich ein bißchen am dicken Ohrläppchen. Joseph streckte die langen, magern Beine bequemer über die Kiesel und harrte gespannt auf neue Dinge. Die Lippen,in die er immer zwei Oberzähne vor AUngeduld biß,bluteten ein wenig. Allein Alois schwieg oder redete vielmehr leise und andächtig mit sich selbst von dem weiter, was er vor den rauhen Ohren dieser Jungen nicht ausplaudern konnte. Denn sogleich würden sie fragen: Woher hast du das? Und gerade das weiß er ja selbst nicht. Einmal an einem totenstillen Karfreitag hat im dürren Baum hinterm Haus eine Amsel aus ihrem goldigen Schnabel eine so unerhört frische Melodie

H leise. 9 Schädelhaus, wo die ausgegrabenen Gebeine bewahrt werden.

8 herausgewirbelt, daß auch Alois staunend hinaufrief:Woher hast du das? Aber der schwarze Vogel hob den Kopf gegen das Licht und musizierte unerschöpflich weiter. AUnd einmal spielte die Salderner Blechmusik vor der Kirche ein altes Stück. Darin gab es für den Bläser der Klarinette ein hübsches Solo, wozu die andern Instrumente nur ein wenig Hintergrund malten.Aber der Spielmann Wideler kannte die Noten miserabel. Auswendig lernte er alles. AUnd so pfiff und blies er denn sein Solo mit geschlossenen Augen. Aber wie? Nicht die einfache Weise. Nein, weiß Gott von welchem Geist getragen, fing er bald an, das simple Auf und Ab zu verzieren und in die dunkle Welt der Baßtrompeten mit Trillern und hopsenden Läufen herumzuflattern wie die Johanniskäfer in samtblauer Juninacht. Und als dann die übrige Musik auch wieder mitsprach, da ward er übermütig und flog über sie hinaus, himmlisch hoch und schwang sich rechts und links in prachtvollen Notenbogen kopfüber, vorweg ganz Neues erfindend und doch wie Uraltes ins allbekannte Stück fügend. Es ward so mächtig, daß der Alois anfing die Ellbogen zu schwenken, um aufs nächste Dach oder sogar auf den Kreuzknopf des Kirchturms zu fliegen. Alles schaute und hörte nur noch auf den Holzdudler. Am Ende aber klopfte der Herr Landammann dem Mann auf die Schulter und fragte: Na, Mann Gottes, aber das steht doch nicht auf dem Papier! Woher habt Ihr das? ... Da erst tat der Mann die Augen auf und erwachte und wunderte sich baß, daß das nicht auf dem Papier stand. Alois sah, wie er rot wurde und den Kopf schüttelte. Es zitterte etwas in seiner Seele.X Er hätte dem Musikanten um den Hals fallen mögen.Seitdem fürchtete er keine Frage so wie diese blödsinnige: Woher hast du das? Das steht ja nirgends geschrieben! Muß denn das alles erst geschrieben sein?Auf Papier schwarz und weiß stehen? Ist es erst dann richtig?

Oder hatte er diesen Haß vom Vater geerbt? Wie oft hat er ihn gehört voll Bitterkeit in den Bart brummen: Wozu in Marmor und andern Dreck hauen und versudeln, was ich in mir ja schon viel schöner hab'?

Aber das ist doch nicht so. Die Amsel hat doch gesungen und der Wideler gedudelt. Sie geben, was sie haben, viel und wenig, aber alles. Jedoch der Vater,was gibt er? Behält er nicht alles? Da hapert etwas. Man darf nicht behalten. Geben muß man,alles, alles geben wie der heilige Christ, steh's auf Papier oder nicht. O wenn ich ein Bischof würde, wie der Karl Borromä, der in unsere Winterberge 'kommen ist, der zur Zeit des Schwarzen Todes von Bett zu Bett ging, der fror und hungerte mit dem Bettelmann und Tag und Nacht für seine Schäflein sorgte ...aho, das ist noch mehr als dudeln und vom Ast herunter jodeln ... das ist ...

„Los', los' ), hörst denn nichts?“ Joseph riß dem Träumer das Kinn hoch und drehte ihm den Kopf halb herum. „Jetzt aber läutet es. Das ist nicht die Stund'.“

„'s ist das Totenzeichen,“ belehrte Louis verständig.„Der Remigi an den Fohren wird gestorben sein. Er hat sich das Bein nicht absägen lassen. So dumm!y horch.Da kam der kalte Brand darüber. Schon heut morgen lief Pfarr und Sigrist ein übers andere Mal ins Haus.“

„Er war schon in den Siebzig,“ widersprach Alois.„Da kannst du nicht mehr in den Knochen herumsäbeln.Aus trocknem Holz, sagte der Sigrist, schnitzt man keine Weidenpfifli mehr.“

„So alte Leut' mögen meinetwegen leben oder sterben. Aber ich,“ schrie Joseph auf, „ich will nicht warten,bis ich kein Haar auf dem Schädel und keinen Zahn mehr im Maul hab'. Ich will sterben, wenn ich noch stark und schön bin und noch Haselnüss' aufbeißen kann.Etwa als Soldat oder als Gemsjäger oder nach einer verdammt feinen Kletterei, hoiho, fall' ich turmhoch in den Schnee ab und bin stracks tot. Oder ein Blitz trifft mich, wenn ich ein Haus gebaut habe, und gerade das Tännlein auf den Giebel steck' und schrei': Fertig!“

Louis lächelte gutmütig. Alois packte Joseph am Armel.

„Nur nicht im Bett sterben, wie die Felizitas,warten und warten, bis der Tod kommt und zuerst mager werden wie ein Geripp' und nur noch Milch trinken dürfen und sich nicht rühren und roden können,nicht einmal vor einer Fliege... Der Felizitas hab'ich's selber gesagt: Spring' aus dem Bett und in die Wiese hinaus und stirb unter einem eurer großen Nußbäum'!“

„Und wo willst du beichten und kommunizieren,Sepp?“ predigte Alois feierlich. „Da oben im Schnee,wo? wem?“

„Wenn's mich packt und hinunterwirft, bet' ich “4 schnell: Herrgott, lieber Herrgott, sei mir armem Sünder gnädig ...“

„Still! Wir wollen aufpassen, ob es zum dritten läutet!“ sagte Louis.

Die drei spitzten die Ohren. Man hörte die Totenglocke immer langsamer hin und herbaumeln. Die Schläge kamen müde, wie vereinzelte dürre Herbstblätter vom Turm her seewärts, aber entschliefen schon auf halbem Wege. Es lag eine solche Abendruhe ringsum,als wäre die Welt ausgestorben. Der Himmel war von unnatürlicher Klarheit, ohne das feinste Wölklein,die Bergspitzen starrten wie tot hinein. Die Stille über See und Land hatte etwas Unheimliches. Im westlichen Horizont sah man den abnehmenden Mond wie eine Leiche so fahl und leblos herumschwimmen.Ohne Zweifel herrschte in den obersten Lüften ein mäch-tiger Föhn, unsichtbar da unten, aber alles mit glasheller Durchsichtigkeit erfüllend und gespensterhaft naherückend. Deutlich hörte man die Bäche jenseits im Gebirge wie aus einer Ewigkeit hervorrauschen und im See ertrinken.

Die Knaben horchten dem Kirchturm entgegen. Der war völlig verstummt. Läutete er nochmals an, zum dritten Zeichen, dann war ein Mannsvolk ins große heilige Jenseits marschiert. Den Jungfern und Frauen schwang man die Glockenseile nur zweimal an und die Kinderchen unter sieben Jahren gaben sich sogar mit dem leichten, hurtigen Klingklang des Taufglöckleins zufrieden, obwohl sie die ganz gleiche Reise mit ebenso schnellen Schritten machten.

Man harrte und harrte, Louis mit gefaßter Neugier,J Alois mit bangem Herzklopfen. Joseph aber ward um so verstörter, je länger die furchtbare Stille dauerte. Er schnaubte aus der langen Nase, knirschte mit den Zähnen und schleuderte Stein um Stein ins tote Seewasser.Endlich warf er sich über den Alois längelang hin und schrie: „Die Felizitas ist tot ...“

Verdutzt blickte der arglose Spichtiger bald auf Joseph nieder, dessen sonderbare zuckende Bewegungen ihm selber wie kleine Blitze durch Arm und Bein und nur hie und da dem Alois bedeutsam zublinzelte:Merkst was?

Hatte Joseph das hübsche, schlanke, aber doch drei Jahre ältere Mädchen denn so gern gehabt? Ist das bei einem so widerhaarigen Schlingel menschenmöglich?

„Springen wir schnell ins Dorf!“ riet Alois.„Wenn wir pressieren, kommen wir noch recht zum letzten Vater unser.“

Joseph rannte voran, ohne ein Wort, mit finsterem Gesicht. Es dunkelte schon, als sie durch den Flur des kleinen Hauses zur Stiege drängten. Aus dem Spezereiladen der Hildmann duftete es wie immer mit süßer Verschwommenheit in den Gang hinaus und bis zum ersten Stock hinauf, wo etliche Leute in der Dämmerung herumstanden, alle Türen offen waren und man schon von der Stubenschwelle aus durch die vielen Scheiben gegenüber den Dorfbach hereinrauschen hörte und die hohen Fenster der Kirche jenseits langsam verglimmen sah.

In dieser Stube murmelten sechs, sieben Frauen und einige Kinder eintönig einige Vater unser und redeten dazwischen halblaut mit wichtigen Gesichtern.

Der Pfarrer war schon heimgegangen. Er hatte noch die Leiche gesegnet und der entflohenen Seele die ordentlichen Totengebete wie eine mächtige Hilfs- und Rettungskolonne über die schwindeligen Wege der Ewigkeit nachgeschickt.. An einem Fenster guckte ein langer,krauser Junge mit weitabstehenden Ohren in den Abend hinaus. Als er die Bubenschuhe über den Estrich rumpeln hörte, kehrte er den mächtigen Hinterkopf um und sah mit gewaltigen runden Augen auf die Drei.Sogleich ging er geräuschlos und hübsch auf Louis zu und nickte: Guten Abend. Dem Joseph sah er nur frostig übers Gesicht und dem Alois schenkte er kein Auge. Er war ein Vetter der verstorbenen Felizitas.„Denk', sie hat noch gesungen vor dem Sterben. Der Pfarrer sagte, das hab' er noch nie erlebt ... gesungen,A Herri zwei Pfefferminzen aus der Jacke, steckte die erste zwischen seine schwarzen kleinen Zähne und schob die andere dem Louis in den Mund. Dann zog er ihn zu sich ans Fenster und redete weiter auf ihn ein, weil Louis ungläubig lächelte und kein einziges Ja mit seinem Querkopf nickte. Joseph und Alois hielten sich fest wie gegen einen Feind an der Hand. In der Kammer nebenan hörte man ein stetes Rumpeln und Möbelrücken. Die Leiche wurde dort gewaschen, rein angezogen und aufgebahrt. Mit verhaltenem Schnäufchen verfolgten Joseph und Alois die Geräusche und ihre verflochtenen Finger bebten, so oft jemand innen an die Türklinke griff, aber dann doch noch nicht öffnete. Was werden sie sehen, wenn endlich jemand in die Stube ruft: So, ihr dürft herein, wir sind fertig! Sauber und *4 schön liegt die Leiche in den Leintüchern. Kommt und segnet sie!

„Hat die Felizitas wahrhaftig gesungen? Es ist möglich,“ dachte und flüsterte Alois allmählich dem Joseph zu, der starr und weiß wie ein Holzscheit dastand. „Sie hat von allen Meitli am schönsten gesungen. Weißt du noch das: Rosemareiä und Holder und Klee ... ich han es tuibewiß' Jungferli gseh ... Wie sie das hoch hinaufsang, daß wir's mit Pfeifen nicht mehr begleiten konnten ... und wie sie dann klatschte und den Rock herumwirbelte und rief: Heija, hopsa, obsi nach! ...Das Tausendsmeitschi! Aber nein ... zt! zt! ... so was hat sie vorhin nicht gesungen. Vielleicht ein Gloria!Oder weißt, das erste Sanktus. Das hat sie in der großen Mess'. zu Ostern immer allein gesungen ... o das war ein Ton!... Mir ging's ein wie ein Honigfaden ...“

Josepyh keuchte und hustete ein wenig und drohte mit merkwürdig verdunkelten Augen: Schweig!

In der Fensternische jedoch reckte Friedel den Kopf vor und fragte Louis: „Der Joseph, heißt es, tat immer verstohlen, als sei er der Felizitas guter Kamerad. Jetzt D Weißt du was?“

„Dummes Zeug,“ versetzte Louis nachlässig. „Hast du noch Pfefferminz'?“

„Da! ... Sie ist mit mir Geschwisterkind und ich hab' sie zum Gespan gehabt. Das wissen alle in der Schule. Ihr seid Italiener. Da soll der Sepp mit einem Tschinggenmeitschi) lieb tun, nicht mit meinem Bäsi!“

9 Italienermädchen.„Nimm's wieder, dummer Hagel!“ gab Louis zurück und spie ihm das Zuckerplätzchen vor die Füße.Sein breites Gesicht verlor jede Spur von Spaß. Er ging verächtlich vom Herrenbub weg.

„Bleib', bleib' da, 's ist nicht bös gemeint“, rief ihm der Herri mit halbem Befehl nach. Der kehrte ihm den Rücken. Da lehnte er sich hochmütig ins Fenster zurück. Sein Gesicht stand unkenntllich im schwärzesten Schatten. Aber wenn er die Augen von einer Gruppe auf die andere fahren ließ, schoß es wie Funken aus einer Gewitterwolke durch die dämmerige Stube.Jetzt krachte die Kammertüre. Alois sperrte die Augen angelweit auf. Denn weder die Totenbeterin noch der Sigrist oder am Ende die Tote selber in Kranz und Binden trat heraus, sondern, was ihm unglaublicher vorkam, mit breiten, gebückten Schultern, den Finger im Skizzenbuch und mit der andern Hand den glänzend schwarzen Bart streichelnd: sein eigener Vater, Paul Spichtiger. Mit einer gewissen Scheu sahen ihn die Leidleute an. Er aber funkelte glücklich aus seinen kleinen schwarzen Augen über das Völklein hin. winkte es herzu,und zeigte eine eben hingeworfene Skizze des toten Mädchens. Nun erst bemerkte er seinen Alois. Gütig fuhr er ihm über den struppigen Scheitel. „Die Eltern Hildmann wünschten ein Bildnis ihrer einzigen Tochter.Für die Lebende kamen sie zu spät; aber ist die Tote nicht noch schöner?“ fragte er mit stolzem, beinahe singendem Bariton.

„Wie schön, nein, aber nein, wie schön!“ lobten ein paar Frauen mit übersüßer Heftigkeit.„Ganz wie im Schlaf!“

„Von meiner Agath' selig möcht' ich's so haben,

Tausend!“

Auch Louis und Alois drückten sich heran und betrachteten die Zeichnung. In wenigen meisterlichen Strichen war das schmale Mädchengesicht leicht ins Kissen gebettet, mit großen edeln Augenhöhlen, die langbewimperten Augen leicht geschlossen, die Nase spitz aus den niedrigen Wangen springend, die langen,dünnen Lippen durch eine weiße Binde, die straff um Kinn und Stirn lief, aufeinandergepreßt. Dann sah man noch die auf der Decke liegenden Arme in weiten Hemdärmeln und mit matt und locker verflochtenen Händen.Zwischen den schönen, langen, aber furchtbar magern Fingern lief der silberdrahtige Rosenkranz, das Patingeschenk vom letzten weißen Sonntag. Das übrige verlief mit losen Strichen ins weiße Blatt hinaus.

„So gekraust hat sie aber das Haar nie gehabt,“getraute sich Louis dem Alois ins Ohr zu raunen.„Und die Ohren sieht man nicht, wo sie doch so weit aus dem Kopf standen, daß wir spaßten: Nimm dich am Ohr, sonst fliegst du davon.“

„Halt's Maul!“ sagte eine junge Stimme hinter Alois. Er spürte einen heftigen Atem im Hals und schwer stützten sich ein Paar Hände auf seine Achseln.„Was weißt du von meinem Bäsi? Krauselhaar hat sie und ganz wie auf dem Blatt da ist sie. Fein habt Ihr das gezeichnet, Herr Spichtiger. Ich werde meinem Vater sagen, daß Ihr mich auch zeichnen müßt. Kostet es viel?“

„Das wird sich ...“ begann der Künstler sehr freundlich gegen den reichen Jungen. Aber Friedel nahm ihn am Arm und rief lebhaft: „Kommt mein Gesicht hübsch heraus? Seht so! Aber nicht im Bett,auf einem Sofa will ich sitzen, die Beine übereinander und eine Flinte ... nein, auf unserem Fuchs und die Geißel in der Hand. Probiert mich einmal aus dem Gedächtnis, daß ich sehe, wie's etwa wird ... morgen ... he? ... das Haar so ...“ er wirbelte das Gelock üppig auf ... „und die Ohren ... ganz so ...seht ... als ob sie vom Kopfe wegfliegen ... das ist mir ganz gleich ..“ triumphierte der Bengel und lachte höhnisch gegen Louis.

Herrn Spichtiger mißfiel dieser Ton. Er schlug das Skizzenbuch herrisch zu und ging mit einer leichten Verbeugung zur Stube hinaus. Alois aber fühlte in seiner wandelbaren Seele leise eine gewisse Verehrung für den kecken Friedel aufsteigen. Wie gescheit und geläufig parlierte der! Und wie sicher stand er auf seinen Füßen wie ein Kaiser. Ich, ich! Mir, mir! So sang es immer um ihn und zog das schwache Du und Er des armen Aloisli in seinen Bann. Schon oft und dann gerade,wenn der Herri zürnte, drohte oder Gewalt übte, bewunderte ihn Alois wie einen Feind, den man leider nicht zum Freund machen darf.

Aber, da seh' man, kaum war der kleine Mann mit dem gewölbten Rücken im schwarzen Gang verschwunden, als Friedel verächtlich zu Boden spie und mit seiner lispelnden Stimme, die das S nie sauber herausbrachte, weil die Zunge zu lang war, vor allen Leuten tadelte: „Jetzt geht der Spichtiger in den Löwen und vertrinkt schon mein Porträt: so treibt er's!“

Federer, Das Mätteliseppi. *D Entsetzt wandte sich Alois nach dem Ratsherren buben und starrte ihn ungläubig an. Der aber lachte kaltblütig über ihn weg. Also hatte er's wahrhaft gesagt! Grell wie ein Teufel in seiner Bosheit erschien er ihm, da er jetzt das Maul in zwei scharfen Sicheln bis an die Ohren zog und Alois angrinste. Der im Vater verspottete Bub ward bleich und stumm und verlor den Atem vor Empbsrung. Er flehte mit brennenden Augen ringsum die Erwachsenen um Hilfe an. Aber niemand widersprach dem reichen, stolzen Knirbs. Da troch Alois mit dem verzagtesten und unglücklichsten Gesicht der Welt feigherzig in den aufgestülpten Rockkragen hinein wie die Schildkröte in ihre Schale. Das war seine gewohnte elende Rettung.

Aber im selben Augenblick schüttelte ihn eine derbe Hand am nämlichen Kragen in die Höhe und sagte eine großartige ruhige Knabenstimme: „Laß doch den Friedel seine Zunge heraushängen. So machen's ja die Hunde ... entweder wollen sie schlecken oder geifern ...Aber wenn er mir einmal zu dreckig kommt, der da,so kriegt er den Schuh in den Hintern, daß ihm alle Flöh' davonspringen.“ Damit zog Louis, ohne sich nach dem gezüchtigten Herri auch nur leise zu kehren,den Alois zur Totenkammer hinüber.

Der Friedel stand da, glatt und lang wie ein Tiger,die Lippen fahl und mit den kleinen Kieselzähnen daran nagend. Aus seinen unglaubhaft großen, runden Augen schwelte es grün wie Phosphor und Schwefel in die finstere Stube. Seine elastische Gestalt schwang und schwebte leise wie zu einem Katzensprung. Aber dann hielt er doch stille, betrachtete die Leute im Umkreis, erhielt irgendwo einen schiefen Blick und ging,die Hände vorm Gesicht, langsam und mit wunderbar weichen Füßen rückwärts zur Fensternische. Niemand wußte recht, wie ihm war.5

Im Leichenzimmer sah Alois durch den Dunst der Kerzen und seiner feuchten Augen zuerst nichts als das schneeweiße Bett mit einer fremden, fast noch weißern Person darin. Aber gleich ward auch eine alte, breite,tapfere Figur sichtbar, die den Rosenkranz in der Linken trug und mit den scharfen Nägeln der rechten Hand die rauchenden Dochte durch alles Geflacker bis ins flüssige Wachs hinunter herzhaft abklob. Neben ihr saß im Stuhle wie ein Kind der lange Joseph Tonoli.Er hielt immer noch mechanisch das Zypressenreis, das ihm das Mätteliseppi ins Weihwasser getunkt und zum Besprengen der Leiche geboten hatte, in der schlaffen Hand. Es tropfte ihm davon beständig in die Knie.Vorne gegen die Fensterchen stand der Vater der Felizitas.Er weinte nicht furchtbar, wie Alois bestimmt vorausgesetzt hatte. Nicht das kleinste Tränlein glitzerte an ihm. Trocken blickte er drein und strengte sein braunes Krämergesicht sogar zu einiger Heiterkeit an, aber blieb doch in einer unbeholfenen, fast spaßigen Feierlichkeit stecken.

Ganz schauerlich kam dem Alois die Leiche vor.War denn die Felizitas so hager und lang gewesen wie eine halbe Telegraphenstange, daß die Fußspitzen bis hinunter ans Bett reichten, während der Scheitel steif an die obere Lade stieß? Und wie spitzig ging das Leintuch zweimal an den großen Zehen starr in

5*die Höhe, als wären es Hölzer! Und die Nase so dünn und die Ohren wie Wachs und die Lippen bleich und bläulich, fast wie gefroren. Von dem einst so hübschen, rosenroten Mädchen, das nun wie eine halbwarme Kalkfigur so weiß und schlaff und brüchig im Bett lag, stieg ein widerlicher, säuerlicher Geruch auf wie von Schweiß und Fäulnis. Die gefalteten Hände hatten Finger so nichtig wie Späne und hingen am Arm wie an einem dünnen, elfenbeinernen Stecklein.Das alles war nur noch Fleisch und Knochen und lag da wie ein fauler, salz- und formloser Teig. Dem Bub kam das Bibelwort in den Sinn vom Lehm, den der Urvater in seine Allmachtshände genommen und daraus in der Frühe der Welt einen Leib geformt hatte. Das war nun wohl wieder dieser Lehm, aber verbraucht, und äV die Form.

O wie hatte der Vater in seinem Bilde gelogen!Er hatte die Felizitas im schönsten Schlaf und Frieden gezeichnet. Hier aber war nur der Haß und die Häßlichkeit des Todes zu sehen. Ja, an den zusammengepreßten Lippen, an den durch die Kinnladen schimmernden Zähnen und an der unter dem Haar gerunzelten Stirne sah Alois deutlich, wie das Mädchen in den letzten Wochen mußte gelitten und gegen den Tod gefochten haben. Nein, nein, das Felizitasseelchen war weg und nur ihr schmutziges Kleid lag zerknittert und zerrauft auf der Bettstatt. Jetzt mochte sie wohl lachen und silberne Tonleitern auf und ab trillern. Aber vorher, zwischen den Fäusten des Würgers, hatte sie wahrlich gestöhnt und gewimmert und um Erbarmen gewinselt. O Felizitas, schön und vogelselig drüben in blauen Ewigkeiten, aber zum Erschrecken blöd und wüst hier im Totenstüblein!

Alois hatte sich nicht nahe ans Bett getraut. Mehr und mehr wich er zur Türe zurück und wollte schon hinausschlüpfen, als ihn das Mätteliseppi am Ellbogen faßte und schalt: „Was ist das für eine Art! Spritz'doch einen Tropfen Weihwasser über die Leich' und bet'ein Vaterunser! ... Was seid ihr nur für Hasen! ...He, Seppel, schläfst denn ?“ ... Sie nahm dem jüngern Tonoli das Zweiglein aus der Hand und reichte es Alois. Zitternd schwang der Knab' es kreuzweis über die Tote und betete oder stammelte eher: „Herr,gib ihr die ewige Ruhe!“

„Und das ewige Licht leuchte ihr!“ antwortete Joseph flüsternd.

Die Buben stockten. Hatte sich nicht die Brust der Toten wie im Aufatmen bewegt? And das Linnen leicht gehoben?

„Herr, laß ... avanti ... Herr laß, ...“ kommandierte das Mätteliseppi und seine Stimme klang so alltäglich, wie an einem gewöhnlichen Abend ohne tote Felizitas und alle Furchtbarkeit dieses Zimmers.

„Herr, laß sie ruhen im Frieden,“ stotterte Alois gehorsam weiter.

„Amen!“ donnerte das Mätteliseppi... „Und so was will Geistlicher werden. Ja, schon recht, schon recht!“

„Amen,“ sagte auch Joseph, aber rührte sich nicht im Stuhle. J

Alois schämte sich. Leo der Große ... Attila ...Karl Borromä... die Pest ... hei, das war noch ein weiter Schritt. Er fühlte seine Armseligkeit bis in die Knochen. Dennoch wich er vom Bette zurück.Sicher, sicher hatten sich jetzt die Zehen unter dem Linnen höher gereckt. Hörte denn dieses Häuflein Asche noch immer alles, was man im Zimmer sprach? merkte vielleicht mit Geisterohr, was er zuhinterst dachte?Furchtsam rückte Alois bis zum Vater Hildmann am Fenster und fragte fiebrig: „Fürchtet Ihr Euch denn gar nicht ... Und der Joseph dort, was hat er? ...Was ist mit ihm?“ ... Seine Stimme hüpfte vor Angst.

Hildmann lächelte ganz schwach und legte der jungen Verzagtheit die braune, nach Zimt und Anis riechende Hand beruhigend auf die Achsel.

„Und der Pfarrer war dabei bis zum Sterben?Sagt!“

„Dafür ist er doch da!“ versetzte das Mätteliseppi,dessen lange Fuchsohren das Geflüster haarscharf verstanden hatten. Spöttisch klang seine Stimme. Komm her, Bub! Frisch! ... Da schau mal unsere artige Felizitas an ... Ist sie nicht schöner als je im Leben?Schöner als am Weißen Sonntag an der Kommunionbank? Dort weiße Anschuld, hier weiße Unschuld; dort ein Kränzlein, hier ein Kränzlein auf dem Kopfl! Dort still in Gott, hier still in Gott? ...“

Vater Hildmann schneuzte sich in die erstaunliche Kirchenstille hinein, die nach diesen Worten in der Kammer entstand. Doch Joseph ward rege, blickte auf und las heftig in Mätteliseppis wasserklaren Augen, ob es mit seinem gewaltigen Reden wohl schon fertig sei.

„Allemarsch) herzu! Gruselhans du ... die Toten beißen nicht ... aber die Lebendigen beißen ... die fürchtet mir lieber! ... Seht einmal her, Knaben! ...Glaubt man nicht, daß das liebe Kind schlafe aund werde jetzt ... jetzt ... die Augen reiben und Guten Morgen! sagen. Aber nein, nein, Felizitas, mach'das nicht! Hast jetzt Guten Morgen gesagt im Himmelreich, dem huldseligen Christkind und seiner hochgnädigen Mutter Königin. Da heißt es nie Gutnacht! Immer musiziert's: Guten Morgen, eja, guten goldigen Morgen! ... Da wär' das lieb' Ding da wohl hageldumm, auch nur noch ein einziges Mal, etwanig, wenn es unsere Kirchglocken Betzeit läuten hört, zur Erde hinunterzuschielen ...

Vater Hildmann wischte und rieb an seinem Kaffeegesicht herum. Um keinen Preis wollte er sich etwas vergeben. Der kleine Spichtiger stand auf den Fußspitzen vor Erregung. Die Sohlen bebten ihm und die Höslein und das zu solcher Stund' so vielfältig herumgeschüttelte zehniährige Herz.

„Aber die Händ' schaut mir noch an ... na, Joseph, aber jetzt ... zum letztenmal nimm dich zusammen, sonst lacht dich das ganze Dorf morgen aus ...steh' ... eh ... steh' doch ...! Und die Finger hier ...“die Jungfer betupfte die Leiche ohne Umständ' wie ein Doktor ... „ich hab' sie gewaschen mit lauem Wasser und Schmierseife ... Aber nötig war's nicht. Es klebt kein Kleckslein Sünd' daran ... Gib ihr die Hand,

) Allez! Marchez! Ein alter Provinzialismus aus den Söldnerzeiten der Urschweiz.Sepp, wenn du die Felizitas so schwer im Sinn hast ...merk' selbst, wie sie kalt ist ... und nichts mehr von Erdensach' greifen will ... nimmt nichts an und gibt nichts mehr her ... denn alles alleinig gibt und nimmt sie jetzt vom Ewigen! ... Nur fest greifen, grei

Die Luft und Stimmung im Stüblein erreichte jetzt eine Spannung wie vor einem Blitz und Donnerknall.Und so was entlud sich auch unverweilt. Ein heiserer Schrei fuhr durchs Zimmer: „Sie lebt ja noch ...sie will aufstehen ... sie hat mir gesagt, vor dem Sterben ... wolle sie mir ... noch sagen ... ade! ...ad ...“ Joseph schüttelte sich, um noch etwas hervorzubringen. Aber alles ward nun verworren, ohne Silbe und Sinn. Mit blutenden Lippen und triefend von Schweiß fiel der lange Bursche dem alten Mädchen in die Arme. Er zuckte und zappelte ein paarmal mit dem ganzen Körper wie ein Fisch und klirrte mit den Zähnen wie mit Glasscherben, dann trat in großen Blasen Schaum über den Mund, die Stirne schwoll blau an und der junge, wilde Dulder glitt besinnungslos aus den Armen des Mätteliseppi in den Stuhl.Louis hielt den überhängenden Kopf in beiden Händen sanft auf und sagte zu dem zudrängenden Knäuel von Leuten mit seiner milden, klugen Betonung: „Flink ein Glas Essig, es geht leicht vorüber ... er hat den Anfall schon mehr als ein Jahr nie mehr gehabt.“

Wer nun den Essig brachte und dem Joseph die Schläfen rieb und, zur Verwunderung aller, ihm in Mund und Nase seinen starken Atem hauchte, daß man das blaue Dämpflein sah, das war Friedel Herri. Ge schickt und leis und so flink tat er das, daß keine der vielen zutunlichen Frauenhände ein Restlein Arbeit bekam. Und immer wieder blies er dem Armen auf Aug'und Nase und Mund und kräuselte ihm die Halsgrube und sagte mit lispelndem S, aber mit freudiger Eile:„Das wirkt über hundert Doktoren! Meine Mutter macht es so. Ihr wißt ja, unsere Hilde zu Haus hat das Übel auch ... Alois, gib mir das Tüchlein ...dort untern Stuhl ist's gefallen ...“ zehn Arme langten danach, „so ... so ... er wird schon rot an den Backen ... gebt acht, handkehrum kommt er zu sich und weiß von allem kein Tüpfelchen mehr ...“„Brav, Friedel! Ganz brav, Friedel ... das sieht dir gleich ...“ lobte das Mätteliseppi. „Unterweil könnten wir andern aber etwas Gescheiteres tun als Maulaffen feilhalten. Fangen wir den ersten Totenpsalter an ... es sind unser ja ... drei ... sechs ...acht ... beinah ein Dutzend. Also denn: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.Ehre sei ...“ And sogleich durchsummte jene vielstimmige Musik des Rosenkranzes das Zimmer, die kein Mensch vergißt, auch wenn er fern den Dorfern, ihren süßen Abenden und heimeligen Stubengebeten, schon ein halbes Jahrhundert lang durch die kalte, herz und himmellose Prosa der Freigeisterei marschierte, die großen Augen der Wissenschaft anbetete und den Stcoff,seinen Bruder und Gott, auf den geheimnislosen Mund küßte. Es muß nur ein Gesetz seines Grübelns versagen, eine Zahl, ein Nerv, ein Atom widersprechen,es muß nur ein liebes Stücklein Geld oder Mensch oder Schulglaube fallit gehen, ... denn die Wissenschaft ist gläubiger als die gläubigste ODummheit! ... und der getäuschte Salomon abends am Gesimse sitzen und in das mysterienlose Ameisengewimmel der Hauptstraße schauen, tausendzielig und doch ohne Ziel ... da fängt vielleicht ein schüchternes Glöcklein im Dachreiter des aufgehobenen Kapuzinerstifts zu bimmeln an oder hoch oben unterm Rathausdach fliegt das letzte Schwälblein ins Nest und hart darunter in der Mansarde blitzt ein Nachtlicht auf und geht ein Schätten wie eine kindertragende Mutter am Fenster vorbei zur Wiege: ei,was ist das, was dämmert da fern aus feuchten Provinzwiesen und schlafenden Dörfern auf und trippelt näher wie ein kleines, zartes Orchesterlein und stellt sich vor Salomon auf und geigt und zymbelt und zupft wundersame Saiten und singt mit altbekannten Zungen:„Ehre dem Vater und Sohn und Heiligen Geist ...Vater unser, der du bist im Himmel ... Gegrüßt seist du Maria, voll der Gnaden ... o Kindheit, o Glaube, o Weihrauch und Altäre, o unüberwindliches Jenseits, o helles Rufen und helles Antworten aus Ewigkeiten!“

Am Morgen liest er nüchtern im wohlgebürsteten Professorenfrack die Papierschnitzel der Wissenschaft wieder vom Boden auf und ordnet sie neu und lacht über die gestrige Sentimentalität. Aber darum war er doch ein Besiegter und wird es noch oft sein und am schwersten, wenn er sich im letzten Atem über den Schragen streckt wie die selige Felizitas Hild-mann.So psalmodierte es nun urweltlich schön von Türe zu Fenster über die Tote und über die paar unehrerbietigen Fliegen hin, die das Mätteliseppi geduldig immer wieder von der Leiche scheuchte. Es war zu hören wie das Rauschen vieler Frühlingswasser oder wie das Gebrause honigholender Bienen in der Mittagsonne oder auch wie im Herbst hoch über dem Kirchdach ein Schwalbengeschwader davonrauscht, ein bißchen Abschiedsweh, aber noch viel mehr Lust nach der Sonne des Südens im Schnabel. Unter all diesen Vögeln pfiff ein frecher, schöner Spatz am lautesten. Der wollte nicht fortfliegen, sondern wohlig in der Erdwärme von Saldern bleiben. Er pfiff so munter, daß Joseph Tonoli erwachte und sogleich wie ein Kind alle anzulächeln begann. Friedel aber lachte und betete spatzenfroh weiter.

In Aloisens Kopf ging es wie Wind und Sonne durcheinander. Er konnte sich all dies Durch und Gegeneinander nicht mehr zusammenreimen, entwischte beim dritten oder vierten Ave geräuschlos zur Stube hinaus und tastete sich die enge Holztreppe hinunter.Durch die offene Ladentüre sah er die Mutter der Felizitas an der Messingwage ein Pfund Zucker geruhig abwägen. Es war gelber Kandelzucker und ein Kristallbrocken davon zu viel in die Tüte gefallen. Sorglich nahm sie das Stück mit zwei Fingerspitzen heraus, um nichts zu verlieren. Dazu redete sie etwas von fünfunddreißig Rappen ... aber von übermorgen an werde es siebenunddreißig heißen ...

Wie kann man ... wie kann man so? regte sich Alois auf und sprang in die nächtige Straße hinaus,die der Bach mit seinem lauten Singsang jetzt völlig beherrschte. Der Junge ließ die Häuserreihen im Rücken,schlug sich hastig in die Gäßchen und von da in eine breite schlafende Wiese, deren Feldweg ihn am kürzesten heimführte. Immer noch marterte er sich mit dem Bildnis der Toten herum, wälzte es im Gehirnchen hin und her und ward bei der Arbeit stets unsicherer. Wer lügt nun? fragte er sich. Der Vater jedenfalls auf seinem Zeichnungsblatt. O grübelte Alois weiter und fuhr sich mit leidender Gebärde über das Herz, o, ich glaube, immer lügt er. Er lügt mich an mit seinen Geschichten ... er lügt die Mutter an mit seinem großen Schwätzen und Versprechen ... die ganze Gemeinde mit seinem Träumen und Prahlen: Wenn ihr es wüßtet! ... Wenn ihr sähet, was ich sehe! ... Einmal werdet ihr noch staunen und den Hut ganz anders vor mir ziehen ... wartet nur! ... Auswendig wußte der Sohn diese väterlichen Prophezeiungen. Pfui, wie ekelten sie ihn gerade jetzt an!

Aber log auch das Mätteliseppi? Wie eine Kirchensäule stand es im Volk von Saldern und genoß ein überweibliches Ansehen. Nein, das log nicht. Ich habe freilich alles ganz anders angesehen, entschuldigte sich der Junge. Sonst dünkte mich jegliches schöner als es ist, tadelt die Mutter. Aber am Ende habe ich jetzt doch von allen Leuten ganz allein so gesehen, wie das Ding da, der Tod ... das Sterben ... die Leiche ... wirklich und wahrhaft ist. Wie ein Blitz fuhr ihm dieses Selbstbewußtsein durch den Kopf. Oft mitten im Phantasieren kam es vor, daß so ein klarer Blitz ein Loch ins Traumgewebe schlug und er durch dieses Loch auf einmal mit unerhörter Nüchternheit sah, was da fehlte, betrog und am Ende wirklich nur ein gemeines Drecklein war.Die Schatten der Bäume lagen in unsicherer Größe über dem Gras. Der schwache, sinkende Mond im Westen nur noch ein mageres Sichelchen, gab einige Helligkeit. Da und dort schienen Menschen zu stehen und mit den Armen zu winken oder zu drohen. Aber es waren nur Hagstecken und Stauden. Alois beschleunigte seine Schritte. Hinter ihm schleppte und schleifte etwas nach ... dann klang es gar wie wandelnde Knochen, tripp, tripp, tapp, tapph... Ein verzweifelter Schreck stieg ihm bis zum Hals ... er wollte schreien ...aber da war schon kein Entrinnen mehr. Es hielt ihn am Genick.

„Was rennst denn so verflucht? Ich will auch heim!“

O dem Himmel Dank, es war der Friedel Herri.Er warf den Arm über den Nacken des Kleinen und ließ ihn nach Gewohnheit ein wenig sein Gewicht fühlen. Aber Alois hätte aufjauchzen mögen, so federleicht ward ihm.

„Alles, was ich mal so hinsag', nimmst du gleich als bare Münz'!“ plauderte Friedel mit gewandter,lieblicher Stimme weiter. „Kann man denn nicht auch spaßen? Mir schießt es immer wie eine Kugel heraus.Da kann ich's doch nicht wieder zurücknehmen ... Die Felizitas,“ sprang er auf etwas anderes leichthin über,als wäre das erste völlig geordnet, „das arme Bäsi tut mir heillos leid ... Der Seppel war doch großartig ... ich mag ihn nicht ... aber ich kann nichts dafür ... er ist ein famoser Kerl, nicht, he? Warst du noch dabei, wie er erwacht ist? Wie ein umgekehrter Handschuh war er, hat gelacht und gesagt: Mir ist wohl! Der Felizitas auchl ... und er hat ihr die Hand gedrückt ... Wie er das gemeint hat, weiß ich nicht ...“

Alois riß sich los, um ins Seitenweglein zu biegen.Fern glomm das Stubenfenster seiner Mutter im Lampenlicht.

„Nichts da, du kommst noch mit mir,“ herrschte ihn Friedel an. „Der Vater haut mich durch, wenn ich allein komm'. Du hilfst mir! Wir mußten doch bei der Felizitas warten und spritzen und beten. Das sag'du nur ganz frech!“

Widerwillig und doch widerstandslos ließ sich Alois die paar Schritte zum stattlichen Haus Friedels ziehen,welches halb einem Bauern, halb einem Herrn glich,jedenfalls mit Kraft und Macht wie ein Trumpf mitten in der eigenen Obstflur stand. „Pst!“ machte der Herri, als sie an einer braungeschnitzten Türe im Gang vorbeigingen, „meine Mutter hat Kopfweh.“ In der Küche stand die Magd am Herd. Rechts an der Wand glühte eine gewaltige Kupferpfanne rot wie die Sonne und ihr folgten wie Nebensonnen kleinere Kupferpfännlein. Links aber hingen die saubersten Messing-kessel, der erste groß und goldgelb wie der Vollmond und die folgenden wie Möndlein, die hinter dem Glanz des Vaters ehrerbietig mit einem eigenen kleinern Glänzlein folgen. Es roch warm und duftig nach Mehlsuppe und gebackenen Zwiebeln durch die weite Küche. Auf dem schweren Tisch in der Mitte stand ein blanker weißer Teller und daneben ein rotgetupftes Glas mit Silberdeckel und mit klarem Apfelmost gefüllt, sowie ein grüner Teller mit Käse und Brot.„Wo ist der Vater?“ fragte Friedel die Magd beinahe demütig.

„Er wird dich schon lehren, um neun Uhr heimstrolchen,“versetzte das alte Weib und schöpfte den Teller randvoll mit der herrlichen braunen Brühe. „Da iß! And was soll der Spichtigerbub hier?“

„Was sagt Ihr, schon die Neune!“ schoß Alois entsetzt auf. „Ich dacht', ein wenig vor die Achte!“Er setzte den Hut auf und wollte davonrennen.

„Trink' zuerst meine Suppe, du hast gewiß Hunger!“gebot Friedel und drückte den Spichtiger auf die Stabelle. „Sie ist gut,“ lobte er nach drei Schlücken,schleckte den Löffel ab und reichte ihn dem Alois. Ich ess' vom Käs' und Brot währenddem. Magst auch?Da!“ Er schmiß ihm ein prächtiges Stück fetten, feingelöcherten Käse in die Suppe.

„Nimm nur schnell,“ ermunterte die Magd.

Rasch löffelte Alois die Suppe aus. Sie schmeckte wie keine sonntägliche daheim. Es ward ihm ganz gemütlich dabei.

„Tu mir Bescheid!“ forderte Friedel und reichte ihm das Glas. „Nur zu, fest! Wir haben noch genug Most. Daheim kriegst doch keinen.“

Wie köstlich lebte man in diesem Hause. Da möchte ich wohl auch nur pfeifen und Schnurren im Kopf haben und recht oft den Kopf hochtragen. Wer tät'das nicht! Gut ist der Friedel. Ich denk' ihm dran.

Mit solchen Gedanken leerte Alois den Teller und aß Schnitz auf Schnitz vom zugeworfenen Käse. Es ward gegeben ohne Stolz und genommen ohne Scham,hin und her, mit der herrlichen Freiheit zehnjähriger Kinder.*7 4 Plötzlich stand ein Mädchen an der Türe in bloßen Strümpfen. Alois kannte die Hilde gut. Sie brachte seiner Mutter vielmal Garn und Tuch zu einer hübschen Näharbeit oder Strickerei. Aufs letzte Haar glich das hübsche Kind dem Bruder. Dennoch erkannte man auf den ersten Blick ein ganz anderes Geschöpflein in ihm. Vielleicht weil es, ähnlich seinen großen, ruhigen Zopfen, etwas merkwürdig Stilles und Einfältiges im Gesicht zur Schau trug, so daß man ihm nichts als Friede zutrauen mochte. In der Schule stand es in der hintersten Reihe, so schwer begriff sein runder Kraus kopf die Weisheit von Griffel und Feder. Aber außerhalb der Schule fanden die Gespanen es wohl lang sam, aber geschickt und beharrlich in allem jugendlichen Gewerk.

„Grüß' Gott, Alois,“ sagte sie hübsch; dann leise und betrübter: „Friedel, du sollst sogleich die Schuhe abziehen und in die hintere Stube zum Vater gehen...soll ich mitkommen?“

„Jetzt geht's los!“ sagte der kleine Herri und trank beherzt den Most aus. „So gehn wir halt! Man stirbt nicht gleich von einem Donnerwetter.“

Alois fühlte, daß er hier nichts mehr zu bedeuten habe, bedankte sich warm und schlich aus dem Haus.Der Leichtsinn Friedels gab ihm nach allem Gütigen und Schönen einen kalten Stich ins Herz. Er wußte,daß auch ihn die Mutter scharf abkanzeln werde. Aber er sah nicht die kleinste Silbe einer Entschuldigung vor.Gegen seine Mutter gab es kein Widerwort. Die hatte immer recht. Er wird geduldig das Gericht über sich ergehen lassen, wird schweigen, und wenn Frau Verena sagt: Zur Strafe gehst du jetzt hungrig ins Bett ... wird er bekennen: Mutter, ich möchte ja gern; aber ich hab' leider schon zu Nacht gegessen ...

„Bub' ... Alois ... Stockfisch ... hörst denn nichts? ... da, sollst den Korb mitnehmen ... es sind Erdäpfel drin, ein Schock Eier, ein paar Rauchwürst'und etwas Käse ... He, was staunst? Bist gar etwa zu vornehm? Da gibt's keine Flausen, sput' dich!“

Die gute Magd verschwand. Den Alois aber überlief es heiß. Jetzt, das war Almosen! Aufs Mal spürte er es: wie gering und arm war er doch! Almosen heimtragen! Und wenn's der Friedel morgen in der Schul' an die große Glocke hängt!... Der Korb wog schwer; aber nicht die Erdäpfel darin, sondern eine Art von Bettlerscham machte ihn dem Bürschchen so zur Last. O könnte er ihn davonschmeißen! Käme doch ein Bettler des Weges, daß er ihm sagen könnte: Da nimm! Du bist noch ärmer!

So trat er in den Schatten seines alten Häuschens. Da fing es wahrhaftig nochmals vom Dorfe her zu läuten an.

Die Männerglocke! Nun ist auch der Jeremi gestorben, sagte sich Alois. Was ist doch das für ein Tag heute! Er blieb ein Weilchen im Klang der mächtig und tröstlich daherwallenden Glocke stehen und sah fröstelnd in den kühlen, bläulichen Nachthimmel hinauf, ob er nicht die Fittiche eines greisen Engels den Fittichen eines jungen eilig nachfackeln sehe, um im gleichen Toraufgang mit Felizitas an den Schlüsseln Sankt Peters und an den heiligen Gardisten und Nittern vorbei zum All-Ewigen zu gelangen.

Federer, Das Mätteliseppi.

4 ODe frühherbstliche Föhn, dieser unheimlich schillernde,charakterlose Kerl wälzte nach Mitternacht alles Gewölke, das seit Urzeiten in den Rumpelkammern des Weltalls sich mochte versponnen haben, in ein paar Stößen über das schlafende Dorf mit seinen zwei kleinen Totenlichtlein, und am Morgen rauschte ein grauer und unendlich standhafter Regen mit dem wohlbekannten,tausendsaitigen Harfenschlag von allen Dächern herunter.Noch um Mittag war es dunkel wie in der ersten Dämmerung.

Paul Spichtiger ließ den bilderreichen Ofen einheizen und setzte sich behaglich in den alten Lederstuhl, ein dickes Buch in der Hand. Solche Tage gefielen ihm.Man konnte schlafen, träumen, und niemals schmeckte der Wein besser als in diesem ahnungsvollen Halbdunkel.Da durfte auch der ärgste Zelot des Schweißes nicht das Maul aufreißen und predigen: Faulpeter du, rühr'die Knochen und schaff' was! Denn die ganze Welt,Sonne und blaue Himmelsaugen, Wald und Dorf und See, in den allgemeinen düstern Regenmantel gehüllt,nickten auch in Schlummer ein. Man sah keinen Menschen über die glänzenden Straßentümpel eilen, es seien denn die paar Leichenbeterinnen, die sich tagüber bei der Felizitas ablösten, kein Hund bellte und von den viel zu vielen Salderner Katzen, alle graugetigerte mit schrägen Augenschlitzen, sah man nichts als hinter verregneten Scheiben aus einem Fensterkissen zwischen Fuchsia und Geranium das schnurrige Näschen hervorgucken.

Frau Verena freilich feierte auch bei diesem faulen Sudelwetter nicht. Sie saß wie beim besten Sonnenschein drei Schritte vom Fenster, um durch keinen Spektakel von draußen in ihrer Emsigkeit behindert zu werden,und ließ ihre alte Nähmaschine lustig durch die Stube parlieren. Die letzten Säume schöner, langer, weißer Nachthemden für Friedel Herri flossen nur so unter der Nadel weg. Daneben blickte sie immer wieder verstohlen mit verhaltener Unruhe nach Paul und Alois.Jede Bewegung des Knaben zum Vater verdunkelte,iede vom Vater weg erhellte ihre Augen. O daß er mir nur den Bub nicht anrührt! flehten ihre stummen Blicke. Sie zuckte schmerzhaft zusammen, so oft es dennoch geschah. War es Eifersucht? War es Angst vor einer Ansteckung?

Alois sah bleich und angegriffen aus. Er hatte,wie so oft nach großen Aufregungen, in der Nacht an Atemnot gelitten. Aber dem gewohnten schweren Anfall mit Krämpfen bis zum Ersticken war die Mutter noch zeitig mit einem kleinen, grünen Tropfenfläschchen zuvorgekommen. Doch durfte der Kleine fast nichts essen, noch trinken, konnte kaum flüstern und hatte darum auch gar nicht mit Lina und Hanna zur Schule gehen können. Von der giftigen Arznei und vielleicht mehr noch vom vergangenen Abend war es ihm noch seltsam dumpf im Kopfe. Er saß mit hängenden Finken) am A atmen. Sehnsüchtig wartete er auf die Märchen des Vaters. Oder wird er sich ans Klavier setzen, ein

Stubenschuhe, geflochten aus wollenen Tuchresten und mit Watte gefüttert.altes Tafelungeheuer mit Sahnlücken und ausgesungener Stimme, aber für Alois die leibhafte Poesie, wird er die Augen schließen und über die Tasten fahren, daß es klingt, wie wenn unser Herrgott in den Tannen und Eichen des Urwalds fingert? Nein, er hat das Buch vom Jeremias Gotthelf in der Hand. Er wird aus seiner gewaltigen und lustigen Kurzweil was vorlesen oder frei übers Blatt weg erzählen.

Der dunkle Mann schüttelte aber auch einen Zauber aus seinem Bart, das wußte Frau Verena wohl, der ihren Knaben unwiderstehlich fing. Er konnte erzählen wie ein Orgelspiel. Dann ging von seinen Lippen eine Pracht und süße Unterhaltsamkeit der Rede, daß auch gesteifte Ohren sich daran berauschten. Mitten in die Feierlichkeit knallte plötzlich ein salziger Spaß. Man erwachte und lachte, und weiter wob das wundersame Spiel.Verena hatte in den ersten Frühlingslüften ihrer Ehe mit dem zehn Jahre jüngern Manne dieser Musik nicht ungern zugehört. Sie ahnte fernfern, was Paul mit seiner Phantasie für ihre Nüchternheit bedeuten könnte. Wenn er die Gnade hätte, seltenerweise mit ihr ein Weilchen seewärts oder am Gebirgsschatten hinauf zu spazieren und ruhig das schöne Denken und Versenken seiner Seele zu zeigen und von dem zu künden, was zwischen ihm und der Gottesnatur allum für ein geheimnisvoller Nero hin und her zuckte, da dünkte sie der See ein Viertelstündchen lang blauer als sonst, der Berg menschlicher, die Bäume lebendiger und beinahe von Geschwistergemüt und Geschwistergeplauder erfüllt. Aber schon nach diesem ersten Viertel stündchen verhärtete sich ihre enge Stirne wie ein Stein.Denn das Zeug ward im Nu zu hoch und wirr und widersprach dem, was sie, die sachliche Frau, nach jeder klaren Seite des Lebens hörte und sah. Sie schlug sich vor den Kopf und schalt: „Schon wieder so ein dummes Räuschchen, o ich Einfalt!“ und kehrte mit einem kleinen Kater und einem großen Vorsatz, von diesem ungesunden Wein nie mehr zu trinken und auch Alois jeden Schluck zu wehren, zu ihrer Nähnadel und zu ihrem säuberlichen Haushaltungsbuch zurück. Wenn nun Alois nahe zum Vater hockte und seine Kinderaugen in einer Flamme und Schwärmerei mit denen des Vaters brannten, dann sann sie eilig nach einem Mittel, diese Feuersbrunst zu löschen, zum mindesten das junge grüne Scheit aus dem väterlichen Holzstoß zu retten. Es ward ihr nicht nur ungemütlich, nein geradezu schauerlich zu sehen, wie Alois die feuchten Finger an den Knien abrieb und horchte und horchte,ach, und sicher das so reine, simple Bild der Welt doppelt und dreifach durcheinander verhaspelt fand.Jetzt wollte Paul sicher wieder was erdichten. Er wartete nur, bis das Geklapper der Maschine leiser würde. Schon drei und viermal hatte er ungeduldig hinübergewinkt: Ist's bald fertig? O freilich, sie hat die Säume gleich zu Ende. Aber wozu soll er jetzt wieder von unwahrem Theaterspuk erzählen? Etwa wie Cäsar im weißen Schlepphemd als Geist zu tiefst in der Nacht vor den jungen Mörder Brutus im Gezelt hintritt oder wie der dicke Prinz den Totenkopf vom Friedhof aufliest und toll und voll drauflosspekuliert!Oder der andere Fürst, der lange, magere, am Gastmahl mit seinem saubern Weib, wie er jetzt den Mittelstuhl leer und handkehrum den ermordeten König darin und wieder Polster und Lehnen leer sieht ... oder wie dem Barbarossa der rote Bart durch die Marmorhöhle wächst wie ein flammender Wald! ... oder wie der Harfner Blondel seinen Herrn von Schloß zu Schloß mit immer gleicher Melodie aufsucht!... Leben wir denn heute noch in solchen Zeiten? Torenbuben sind es, die sich soweit zurückschwindeln, wo man die Naht zwischen Lug und Wahrheit nicht mehr erkennen und auftrennen kann. Den alten Fetzen Wahrheit, gut, man könnte ihn allenfalls zum Flicken und Strümpfestopfen vielleicht noch heute brauchen. Wolle ist es jedenfalls nicht. Das andere aber sind Lumpen für die NRumpelkammer. Auch das grause Zeug von Gottfried Keller,wozu ist es nütze? Jawohl, die Frau Regula! Aber da hat Paul halbe Seiten unterschlagen und dafür das sonderbare finstere Gelächter aus den sonderbaren und finstern Dorfgeschichten möglichst breit herausgestrichen. Jetzt blättert er im Gotthelf herum. Sie kennt das dicke Buch mit den katzengrauen Deckeln sehr gut. Den Mann aus Lützelflüh ließe sie ja gern gelten.Da ist alles eß- und trinkbar, wie Brot und Habersuppe, mit einer guten Tracht Salz. Alle Achtung vor diesen tapfern Knechten und Mägden, den hartstirnigen Bäuerinnen und spitzigen Rechnerinnen. Hut ab vor diesen Schnitztrögen mit gedörrtem Obst, vor all dem prachtvollen Sparen und ins Papier Wickeln des erschwitzten Zweibätzlers und vor dem weitern Kratzen und Markten, bis er zum schweren Taler ausgewachsen ist!

Aber wie kann Paul solches lesen und nicht überrot werden? Er liest es denn auch gar nicht richtig. Ein anderer Gotthelf wird aus seinem Deklamieren. Wo er schnell wie ein boses Gewissen über die Zeilen hinweg-hudelt, da gerade würde sie sehr langsam und überdacht lesen und jede Silbe wie gute Butter verstreichen. Hingegen wo er in fetter Behaglichkeit Satz um Satz betont, würde sie wie mit einem Kehrichtbesen schnell ins Spinnweb fahren und wegwischen. Paul betont grundfalsch und schmatzt und lacht, wo sie die Stirne krauen müßte. Der unschuldige dumme Bub jedoch hört ganz auf seinen Takt und seine Melodie: von schweren Tisch-gedecken und vollen Truhen, von Geldkatzen, aus denen man unerschöpflich die Goldfüchse holt, von Kirchweihen mit Jodel und Tanz und schwimmenden Fässern und von den rauschenden Röcken der Hofbäuerinnen und dem groben Übermut und Ansinn der reichen Bauernjunker ... und so lirum larum weiter.

Nein, auch davon soll er jetzt nicht lesen. Die Hemden sind fertig. Verena müßte jetzt nur noch ein stolzes F und H mit rotem Faden in den ZSipfel sticken.Glaub's wohl, das wäre gerade die rechte Theaterstille für Pauls Komödie. Aber daraus wird nichts. Die Lina zeichnet den Namen nach der Schule noch viel schwungvoller. Ihre grauen Augen sind feiner als Nadeln.Hingegen der Friedel Herri ist ein vornehmes Herrchen. Dem darf sie billig einen doppelten und soll es sein sogar einen dreifachen Gang um Ärmel und Säume sticheln, vielleicht sogar im Mäander Y. Bezahlt ist sie y Bekanntes Ornament.mit dem gestrigen Korb weit übers Maß. Also frisch drauflos!

Und sogleich mit unerhörter Geschwätzigkeit klappert das spitzige Zähnlein der Maschine wie von einer gezähmten Klapperschlange hemdauf, hemdnieder. Das feine Ratsherrenlinnen rinnt darunter weg wie Schnee und verbreitet einen fremden, kostbaren Glanz durch die arme und dunkle Stube.

Bricht einmal der Faden oder muß eine volle Spule eingesetzt werden, so wirft sich Vater Spichtiger rasch in die Pause und liest einen großen Satz. „Das, ja das, ist zum Beispiel prachtvoll, Aloisli, hör' mal!l“ ...Aber dann fährt Verena mit verdoppeltem Geklapper in die Phrase hinein. Das Trittbrett schnellt auf und ab, die Räder schwirren, die Nadel schwatzt mit atemloser Hitze, und so vermag eine einfältige Biene das genialste Gebrumm der Drohne in Grund und Boden zu ersticken.

Erst beim Vesperbrot glückte Paul endlich das Wort.Es ward so düster vom Regen im Stüblein, daß man den Tisch ans Fenster rückte. Dem Spichtiger aber ward heller als sonst zumute. Denn er hatte statt der Kaffeetasse einen halben Liter roten Veltliner vor sich und rauchte dazu eine schwere Brifsago. „Macht es dir wirklich nichts?“ fragte er Alois und blies bereits den den Stengel an. „Nein, Vater, gewiß nicht,“ erwiderte der Junge und rückte den Stuhl näher zur Mutter, um den verhaßten Qualm minder in die Nase zu kriegen.

Frau Spichtiger wußte sehr wohl, daß der Rauch auf Alois wie Gift wirkte. Aber sie wehrte nicht ab.Der Tabak war ihr größter Helfer im Streit um den Buben. Er jagte den Knaben immer wieder vom Vater weg und der Mutter in die Arme, der Mutter, die so untadelig dem rußigen Vulkan gegenübersaß und über Alois einen wahren Wohlgeruch von Sauberkeit und Ordnung verbreitete.

„Ich gehe also morgen in die Stadt, weck' mich in aller Herrgottsfrühe!“ sagte Paul zum soundsovielten Male und verfolgte zufrieden die blauen Kringel, die mit phantastischen Gesichtern zur Diele schwebten, dort in trüben Dunst zerflossen und wie nichts anderes seinem Leben und Trachten glichen. „Die Herren der Kommission sind mit meinem Plane einverstanden. Du wirst Augen machen, wenn ich das Fries fertig habe, hoch am Rathaus, vor den zweitausend Goldinger Maulaffen!“

Verena trank ihre Tasse aus und schluckte rasch noch,was in die Untertasse geschwemmt war, in einem geizigen Schlücklein den Hals hinunter. Wie mager war dieser Hals und wie stand der Knochen erbarmungslos vor,den die Salderner den Adamsapfel schimpfen. Sie nahm noch eine Krume Brot in die Hand und wollte flink zur Maschine hinüber.

„Wark' noch ... ruh' erst ein wenig! ... freust dich denn gar nicht? Ich darf doch erzählen, was ich über den Fenstern wie eine Prozession herumführe, denk' es recht aus, am Rathaus des Kantons! Ja? ... darf ich? ... Frauchen, nur einmal nicken mit dem hübschen Näschen! Ja?“

Geduldig setzte sich Verena wieder in den Stuhl und legte die Hände ungeschickt in den Schoß. Dieses Nichtstun war für sie die mühevollste und grausamste Arbeit, die es im Leben gab.„Was, Vater, was?“ fragte Alois gierig.

Zuerst wollte ich die Jahreszeiten schildern. Aber das kann am Ende jeder. Dann kam mir die Idee, den Tag von Stans) zu geben, zweigeteilt ... hier,“ Paul streckte den Arm rechts ins Dunkel, wo Frau Verena mit dem besten Willen nur einen Weichselstock und einen halbwollenen Regenschirm an die Wand gelehnt sah,„hier den Streit der Tagherren, wie sie mit grimmigen Schuhen auf zerrissenen Verträgen herumstampfen ...dort,“ er langte links hinaus, wo eine Kommode und darauf in einer Glasglocke ein wächsernes Püpplein,Engel, Fee oder Menschenwürmchen mit Glaskugelaugen in die Stube stierte, „dort die Versöhnung durch den Einsiedler vom Ranft, Erschütterung, Händeschütteln,Danksagen ... Aber so was haben sie schon am alten Rathaus gehabt und ziemlich ... ja, man kann sagen ...ganz ordentlich. Nein, etwas Neues muß her!“

„Ich hab' gemeint einen Brunnen vor der Stadtkirch' drunten am Vierländersee,“ wandte Alois aufmerk.sam ein. Des Rauches wegen öffnete er den Mund so wenig als möglich.

„Von diesem Fries hab' ich auch nichts gewußt,“half die Mutter mit. „Einen Brunnen sagtest du immer.“„Ach, ihr Kinder,“ lächelte Paul überlegen. „Bis ich's reif im Kopf und sicher genug in der Hand hab',sag' ich doch lieber nichts. Aber das ist nun doch viel,viel großartiger, dieser Fries im Hauptort unseres

Die berühmte Tagsatzung der acht alten Orte,22. Dez. 1481.Ländchens, am vordersten Staatshaus, hoch und frei an der Stirne. Kein Mensch kann es übersehen. Blinde müssen daran glauben. Und, Frauchen zum Trost, jeden Abend kann ich heimko ... das heißt, doch jedenfalls am Samstag heimkommen. Nur ein Stündchen Weg!Ist das nicht hübsch? ... Nun ja, der Brunnen läuft mir darum nicht fort. Den hab' ich so gut wie in der Rocktasche. Und auch da ist eigentlich alles fertig, der ganze Vogel, bis ans Fliegen.“

„AUnd das ist die Hauptsache,“ dachte Verena, „das Fliegen; sonst ist's kein Vogel.“

Dieser Brunnen, eja dieser Brunnen rauschte nun schon jahrelang mit weiß Gott wie vielen Röhren durch Pauls Phantasie. Aber der Fries war etwas Neues.Und Goldingen liegt wirklich kaum eine Stunde von Saldern mit regierender Selbstverständlichkeit mitten im Kanton. Eine Fabel so frech und nah am Ohr der Wahrheit, nein, dazu war auch Paul zu gescheit. Der Landammann des Kantons, der ein Salderner und zugleich das Oberhaupt seines Dorfes war und als Freund der Armen und edler Gonner jeden Talents von seinem Hügel aus eine wohltätige Gewalt nach allen Winden ausübte, der hatte vielleicht gesprächsweise zwei Silben von einer Ausschmückung des Rathauses fallen lassen ... aber auf unbestimmte Zeit und ohne Verpflichtung und einstweilen durchaus auf gutes Absehen hin, was Paul Tüchtiges vorzeigen werde. Und nun kommt der Wein und der Tabak und die Gemütlichkeit des Stübleins mitten im sündflutlichen Regen und eine alte, verwegene Einbildungskraft dazu, und siehe, der Spichtiger richtet Gerüste auf, klettert die schwindelige Leiter empor und modelt und meißelt da oben zwischen Himmel und Erde vor dem neugierigen Ameisenhaufen Menschheit ein steinernes Wunder hervor ... ach, so ein Luftibus ist er!

„Was ich denn da dem Rathaus ins Gesicht schreibe . .. wie? Ratet einmal! ... oder lasset es lieber! Ihr könnt es nicht finden. Ich schaffe die Einwanderung von Gesetz und Ordnung ins barbarische Urland ... verstehe wohl,“ predigte Paul in die gerunzelte Stirne der Frau hinein, die er sogleich entziffert hatte, „ich meine nicht die Ordnung im Kleinen, diese Ameisen und Bienenlangeweile, so eine Schulmeistertüpflerei und . .. und ... und ... so ein schneidermäßiges Stutzen der Persönlichkeit bis auf die letzte Schwungfeder ... nicht das, böses, böses Frauchen!Ich gehe ins Weltgeschichtliche. Die Ordnung in ihrer historischen Großzügigkeit her, ohne Fransen und Schnürchen! Es werden längs der Wand Völker bunt und eifrig dahinziehen und mit so klaren Symbolen reden,daß der Salomon so gut wie der Herr Ignotus,will sagen Meister Unwissend, es einnimmt und schluckt wie klaren Wein. Nur ein bißchen will ich verraten: da treten zottige Riesen auf im Bärxrenfell,Steinschleuderer, Herrenfüße auf dem Rücken von Hörigen, Hirnschalen des Feindes ungeschickt zu Trinkgefäßen gedrechselt, und so weiter und so weiter. Aber bedenkt: Kein Feuer, nirgends ein Fünklein Feuer!Alle frieren sie und kämpfen um die Sonne und besitzen leider, wie alles, was friert und am vielen Schatten leidet, keine brauchbaren Gedanken. Da kommt nun einer, ein göttlicher Erfinder, und zaubert das Feuer,diese himmlische Notwendigleit hervor. Das ist der große Augenblick. Ich weiß noch nicht genau, wie ich das vorbringe. Es ist das Schwerste von allem.Man kann da lange umsonst grübeln. Auf dem schwankenden Brett oben, mitten im Spritzen und Flitzen der Steinbrocken muß es mir kommen. ˖ Den Engel der guten Eingebung kannst du nicht per Post und Brief bestellen. Er fliegt dir auf die Schulter,wenn du's am wenigsten denkst. 's ist Inspiration:das Feuer erfinden so gut, wie dieses Mirakel darstellen.Alles Große ist Inspiration. Alles Kleine ist Arithmetik. wahrhaftig!

Herrlich saß er da im Angesicht seines Buben und strahlte, als hätte er höchsteigen das Feuer jung und aus erster Hand in die dunkeln Dörfer Saldern, Goldingen und wie sie alle getauft sind, hinuntergebracht.Aber der guten Frau Verena, die klärlich wußte, was jede Zündhölzchenschachtel und jede Reiswelle kostet und wie schwer es ist, bei schlechter Luft den Herd anzufeuern, und daß hier keine Inspiration, sondern zuletzt immer nur ihr guter Blasbalg hilft, dieser kritischen Zuhörerin kam der Erzähler vielmehr vor wie getaucht in die dämonischen Gluten der Künstlerverrücktheit.

„Dann tritt ein Seher auf, weiß niemand woher,der plötzlich eine Saite über ein Brett spannt und klimpert. Zuerst ist's wertloses Gestammel, aber nach und nach zieht es Gefühle gleich Funken aus dem Instrument, wehe und wohlige, daß auch andern, die gleichgültig zuhören wollen, wehe und wohl wird, und sie der Musik wie Hündlein ihren Meistern nachlaufen müssen ... And ein anderer findet Schiefer und Griffel und es zuckt ihm durch die Hand, bis er das Lange lang und das Eckige eckig und das Runde rund und zuletzt einen Mond und einen Berg und einen Menschen malt und bald geläufig die große Sprache der Zeichen und Farben spricht. Und so geht es weiter. Es kommen Zaum und Zügel für Rosse und Ruten und Schulbänke für junge Menschen; es kommt das weise Reden und das noch weisere Zuhören und das allerweiseste Stillschweigen darauf; es kommt die unbegreifliche und nun schon begriffene Zahl mit all ihrem Märchenspuk; es kommt das Abwägen zum erstenmal auf gleichen Schalen mit gerechtem Pfundstein; o ihr Lieben, es kommt das tapfere Mein und das ehrliche Sein und das blut; und atemopfernde Dein, Dein!...Und schon winken fern Türme einer babylonischen Stadt,Bogen der Justitia, Säulen der Stoa, Brunnen der Brüderlichkeit und zuletzt die vollendete und klassische Kuppel des Christentums...“

Paul vergaß, wo er war. Er bildete mit der kleinen,weißen, freilich an Daumen und Zeigefinger gestutzten Hand in der Luft alles, was er sprach, sogleich mit hinreißender Linienkraft. Seine schwarzen Buschäuglein lachten in ernster Seligkeit. Etwas Gütiges wie von einem Kinde strahlte aus seinem Antlitz. Er glaubte,nein, er sah, was er weissagte. Es war einer jener genialen Augenblicke, die ihn schon als Knaben wie junge Götter besucht hatten, etwa, wenn er seinem Vater,dem Bäckermeister am Bodensee, einen Klumpen Teig aus dem Trog stibitzte und in einem Winkel der Dachkammer dann die erstaunlichsten Gesichter mit jedem Fingerdruck in endloser Verwandlung hervorknetete, ganz wie ein kleiner Herrgott. Dann kamen sie in der Münchener Akademie wieder, diese Stündchen heiliger Versunkenheit, wenn der Professor begeisternd lehrte, überzeugend vormachte, oder wenn er, der zugleich ein berühmter Meister war, den Vorhang gar von der jüngsten Schöpfung zog und nun schwieg, großartig schwieg,während auf seiner Skulptur hundert entzückte Augen wie auf einer saftigen Frühlingsweide den Hunger ihrer Seelen stillten. Und dann die Kunstgeschichte, ihre gewaltigen Häupter, oft mit einem Leben tief und arm in der Gosse, aber mit Spachtel und Hammer den Olymp erschütternd, dieser Rembrandt und Franz Hals, dieser Correggio und Michelangelo, dieser geniale Bandit Cellini und dieser Tausendsassa Bernini. Wie glühte man von ihrer Glut, und wie sicher wußte Paul, daß er ihnen glich und sie duzen durfte! Und nach der Vorlesung, im Hofbräuhaus, beim Bier und den roten Rettichen, wie loderte die Flamme des Genies weiter durch die Nacht bis zur schwankenden und tastenden Heimkehr in seine hundsgemeine Bude. Das waren Jahre! Oder nein, es waren Stunden wie Blitze. Aber was zwischenhinein fiel, dieses lange Dunkel des Phlegmas, des trägen Genießens und Zeitverschleuderns, der Kräftezersplitterung für alles und nichts, der Träumerei und Schwelgerei aus dem Pröbeln ins Alleskönnen oder aus der Halbheit ins hochmütige Verachten der Fleißigen und Ganzen, diese Kater sodann ganze Wochen hindurch, dieses trübsinnige IndenRegen-Starren am Ammersee oder dieses Auf- und- abLaufen an der Isar und schließlich dieses Ertränken der alten Kater in neuen Räuschen und neuen Katern ... ach, das ist vergessen,wie man die Finsternis so schnell vergißt und nur noch vom Mond und den Sternen und von der seligen Sonne über seinem Haupte weiß ... Wo ist er jetzt,der große Paul? Etwa in einer Schindelhausstube mit krummen Dielen und Böden, am verlorenen Wiesenzipfel eines verlorenen Dorfes? Nein, er hämmert hoch oben an Kirchenfronten und Palastfassaden, er redet mit den Genien und tut aus einem goldenen Becher dem Pheidias und Praxiteles Bescheid. Es ist zwar nur ein grobes Mostglas, das er ergreift, und ein furchtbar verlogener Veltliner, den er schluckt. Aber einerlei. Sein Traum ist stärker als so eine blödsinnige,gehirnlose Wirklichkeit.

Er neigt und beugt das langbärtige schöne Haupt gegen den Tisch. Will er schlafen? Furchtsam betrachtet Alois den merkwürdigen Vater. Dann soll ihm die Mutter doch ein Kissen unterlegen und wir wollen nicht husten und nicht einmal flüstern, daß er dort bleiben kann, wo seine Seele so glücklich ist.

„Aber!“ wandte jetzt Frau Verena trocken ein.Dieses Aber fiel in die Stille wie ein Stein in totes Wasser.

„Was aber?“ lallte Paul aus seinen sieben Seligkeiten heraus.

„Aber wenn das alles ... das von der Volkerwanderung oder wie ... nicht ausgeführt wird ... wie so vieles, vieles, Pauli ... aber... aber ... dann ...“

Das wiederholte knochige und kalte Wort riß den Vater endlich völlig aus den Armen Apolls hinunter in den zerflickten Lederstuhl der Spichtigerstube.

„Wie, nicht ausgeführt wird?“ sprach Paul gekränkt nach. „Geh' ich denn morgen nicht in die Stadt, um Karton und das richtige Modellierwachs zu kaufen und die Gipser zu dingen. Und übermorgen fang' ich die Vorlage an, hier in der Stube. Richt' mir den Küchentisch her und putz' den Topf und die Porzellanschalen gut aus und stell' mir das Werkzeug bereit ...“

„Aber wenn dann doch nicht ...“ zweifelte die Frau nochmals.

„Mutter!“ flehte Alois mit barmherzigem Gesichtlein. „Er macht's ja, nimm ihm den Mut nicht,“ hätte er gerne hinzugefügt.

„Es wird!“ schwor Paul. Er setzte das Wort nieder wie eine Säule. Da bist du, da bleibst du.Dann sog er die letzten Tropfen Wein vom Glas und sagte langsam und ins leere Geschirr hineinsinnend:„Und auch wenn es nicht ausgeführt würde, was wäre verloren? Eine Rose, kein Gärtner sieht sie, kein Maler pinselt sie ab, kein Hirt pflückt sie, kein Feinschmecker riecht sie, sis blüht und blüht nur für sich und den Himmel ringsum, und sie welkt und stirbt und niemand hat es gewußt als sie und der Himmel ... wie? ...war sie nun weniger Rose? Mehr Rose war sie, behaupt' ich ... Oder eine Kirsche, kein Finger zupft sie,kein Vogel pickt sie, sie wird rot, dunkel, samtreif, sie verdorrt und ihr Stein fällt zur Erde und gebärt vielleicht wieder so einen unberührten Baum mit solchen Beeren, die nur für sich leben ... sind sie darum weniger Kirschen? O mehr, erst recht Kirschen! Und so ist's mit den schönsten Blüten der Kunst ... wenn eine Idee ...“

Frau Verena folgte nicht weiter. Papst und Kaiser

Federer, Das Mätteliseppi. *hätten ihr nicht ausreden können, daß die Kirschen zum Essen wachsen, freilich nicht für die Spatzenschnäbel, die unverschämten, sondern für uns Menschenleute. Gut ist Kirschenmus und besser noch, aber teurer der Kirschenschleh. Am köstlichsten jedoch sind die eingemachten,ganzen Kirschen mit Stiel und Blatt, die man im Schnee des Neujahrstages blutrot aus dem Glase häkelt und zu einem guten Gebäck ißt. Einst hatte sie's so...einst ...„Vater,“ bemerkte jetzt Alois in einem unbemeisterten Anfall von Mutterwitz, „aber wenn es so steht mit der Kirsche, dann wohl auch mit der Traube ... das wird die beste am Rebstock sein, die niemand abschneidet ...und ... und ... Vater ... der beste Wein, den niemand trinken kann ...“

„Hansdampf du, ... die Traube... der Wein...das ist nicht das gleiche,“ sagte Paul ärgerlich und stand auf. „Schon gar nicht das gleichel Na, wo hast du solche Grillen her?“ Argwöhnisch blickte er zur Frau hinüber. „Immer verderbt ihr mir den guten Augenblick. Und da soll ich arbeiten, verdienen, Frau und Kind erhalten ... oh ...“

Er lief zum Kleiderkasten und zog einen vergilbten Reisesack hervor.

Inzwischen waren die Mädchen aus der Schule gekommen. Man hatte gehört, wie sie leise die knarrende alte Türe des Hauses aufzuschließen wußten, denn Frau Verena haßte grobe Geräusche aufs heftigste, wie sie den triefenden Regenschirm in der Laube9 auf

NReine offene, aber gedeckte Holzterrasse entlang den Hauswänden.spannten, die Schuhe sorglich vor der Stube abrieben und dann weichfüßig eintraten, um ihr Täßchen Kaffee und ihre Schnitte Brot zu genießen. Hanna machte wie immer ein verwegen frohes Gesicht. Es war wie Elfenbein, so milchig gelb, aber glühte mit zwei roten Backen und zwei großen, braunen, scherzhaften Augen wie mit vier immerbrennenden Kerzlein. Neben der magern und ernsten Lina, die schon ins herb Jungfräuliche schoß, war der dicke Fant nichts als überkugelnder, runder Übermut. Ich muß der Felizitas den Kranz vortragen, den großen, weißen Kranz aus lauter Ilgen),flüsterte sie über den Tisch und strich wie eine drollige Spielkatze ihren zerzausten Krauskopf an Mutters Ellbogen.

Indessen wühlte Paul in der Kommode herum.„Wozu Wäsche?“ fragte Verena erschrocken und zog ihm eine Schublade nach der andern vor der Nase zu.„Du übernachtest doch nicht in der Stadt. Was hast du schon wieder im Sinn?“ Sie faßte ihn flehend am AÄrmel.„Aber die Skizzen muß ich mitnehmen und ein Hemd, wenn ich etwa schwitze,“ brummte Paul. „Laß mich doch, du ewig Langweilige!“ Er schüttelte Verena ab und ging in die Stubenkammer. Man hörte, wie er die Türe zuriegelte.

Frau Spichtiger wies der Lina ein Hemd an und begann selber mit düstern Augen und schwerer Stirne auf das andere ein schwungvolles F zu zeichnen. Aber von Stich zu Stich verlor ihre Nadel an Mut. Nach

Lilien.72 dem ersten Aufschwung fiel der Buchstabe beinahe wie ein Segel ohne Wind und Mast zusammen. Das F der Lina jedoch wölbte sich wie ein Banner und setzte einen strammen Schaft zu Boden.

„Mutter,“ sagte die Tochter jetzt, „lasset doch Hanna das Geschirr hinaustragen ... Aber zerbrich nur nicht gleich alles miteinander,“ rief sie der lustigen Schwester nach, die klirrend zur Türe hinaushüpfte.

„So, jetzt kann man reden,“ sagte sie wichtig, sobald das Schwatzmäulchen aus der Stube war. „Schaut Mutter, der Vater geht morgen in die Stadt und kommt nicht mehr heim. Das merke ich leicht.“

Verena nickte weder ja, noch nein. Aber sie machte mit Bedacht eine Miene, als wisse sie zum voraus, was ihre superklluge Tochter auskramen wolle.

„Nun weiß ich was,“ fuhr Lina leise und bestimmt fort, ohne mit der Nadel innezuhalten, „lasset den Alois mitgehen, Mutter! Der Vater hat es ihm schon oft versprochen. Dann muß er ihn doch wieder heimbringen. Der Alois ist ein großer Furchthans und hängt und zerrt am Vater und läßt nicht nach, bis sie zusammen wieder da sind ... Aber dieses F ist der kitzligste von allen Buchstaben,“ flickte sie wunderbar rasch hinzu, als der Riegel knarrte und Paul mit halb gepacktem Sack verdrießlich in die Stube hinaus-sprang.

„So hilf mir doch,“ bat er voll rührender Ungeschicklichkeit, ‚du weißt ja, daß ich einmal nicht packen kann.“ Wie ein Kind stand er da.

„Den Plunder brauchst du auch gar nicht,“ regierte Frau Verena und zog einen Wisch Leibchen und Hemden heraus. „Etwas viel Besseres geb' ich dir mit.Da, den Alois. Zeig' ihm mal die große Welt, von der du ihm den Kopf voll gesungen hast. Tu' ihm 's Fenster auf. Vielleicht fliegt der Vogel gern genug wieder herein!“

„In die Stadt, o in die Stadt,“ schluchzte Alois vor Glück und riß den Vater begeistert an der Hand. „Darf ich? Ja, ja, ich darf!“ And er fühlte kein Restlein von Asthma mehr. Den Globus marschierte er jetzt um und um.

Herr Spichtiger sah verwirrt auf den Jungen. Ein Gefühl von Unbequemlichkeit beschlich ihn. Aber so wie Alois an ihm hinaufsah, mit Augen voll Gläubigkeit an endlose Wunder, da rührte es den Vater. In diesen jungen, grauen Pupillen widerglänzten seine eigenen Träume, die Türme und ZSinnen seiner Stadt,das goldene Tor seines Glückes, der endliche Lorbeer seiner Kunst. In all der grauen, exalten Stube sah er nirgends ein Schimmerchen davon. Nur hier im Bubenauge loderte es verwandt mit seinem Feuer von Glauben ohne Fragen und von Begeisterung, die keine Beweise forderte. O ja, sein Bub glaubte an ihn.Paul fuhr ihm voll zitternder Zärtlichkeit durchs Haar. Dann hielt er ihn mit beiden Händen an den Schläfen, küßte die Stirne und sagte unter langem Aug in Aug · Versenken: „Alois, du hast ein Gesicht,ein Gesicht ... das mich freut. Ja, ja, wir gehen zusammen in die Stadt! Frau, das versteht sich von selbst.Der Junge muß mal etwas Welt sehen. Hier guckt keine Seele über ihren kleinen Schatten hinaus!“

4

Am dunklen Morgen schon um vier Uhr ging Frau Verena zweimal mit der Lampe von der Milchpfanne weg zum Bett, um Alois zu wecken, und brachte es doch erst das drittemal über sich, das Kind aus seinem Frieden aufzustören und in den Trubel hinausziehen zu lassen. Sie half ihm in die Hosen und Schuhe wie einem Dreijährigen, fütterte ihn mit guten Räten und bewaffnete sein kleines Herz mit den tapfersten Gelöbnissen, keinen Wein zu trinken, nie den Vater von der Hand zu lassen, immer auf die Uhren zu hören und wenn es Viere geschlagen hat, zu drängen und zu zwingen, daß sie um die Fünfe ins letzte Schiff steigen koönnen. „Du, du,“ sagte sie und legte etwas wie ein Amt auf seine Schulter, „du bringst mir den Vater heim,dir geb' ich ihn mit und du gibst ihn mir am Abend zurück. Willst du? Ganz sicher? Gut! Sonst wäre es ja gescheiter, du bliebest daheim. Auf Ehr' und Seligkeit, Bub, zeig, daß du was kannst, zeig's der Mutter!Bist du jetzt fest? Kann ich den Vater wecken? ...So trink die Milch recht heiß ...“

Aloisi machte eine so tapfere Bewegung mit der Hand: Geh nur, verlaß dich auf mich, ich fühle mich wie ein Riese! Und dann trank er so laut und lustig seine Tasse aus, daß Verena nicht mehr zögerte, auch Paul zum Aufstehen zu mahnen. Denn die Leutchen mußten eine zweistündige flache Talstrecke hinauswandern,wenn sie den Dampfer erreichen wollten, der schon um die Sieben aus dem letzten Sipfel des Vierländersees der großen, bunten Stadt draußen in der Welt entgegenschaufelte.

Das Dorf schlief noch hinter vielen kleinen schwitzenden Scheiben, als Vater und Sohn in den nassen und fast noch schwarzen Morgen hinausschritten. Es ging bald am See entlang, unter Nußbäumen, die vom gestrigen Regen noch tropften, und dann nach einem totenstillen Halbstündchen, wo niemand sprach als die raschen Beine der zwei Wanderer, durch den Hauptort Goldingen. Obwohl die Häuser anfingen bleich in den Tag zu schauen, schienen die Türen noch strenger verriegelt und die Fenster noch dichter verhängt und das Schnarchen der hochmütigen Residenzler noch viel fauler als in Saldern. Nur das Glöcklein der Kapuziner, dieser schlafbrechenden, braunen Kuttenmänner,scholl glashell über den Dächern, und nun sah man auch hin und wieder Gestalten aus den Gäßchen gegen das Kloster in die Wiesen hinausstreichen, lautlos wie Schatten an der Wand. Vater Spichtiger trieb zu rascherem Gehen. Keinen Blick schenkte er dem Rathaus. Der alte geschweifte Bau tat aber auch seinerseits nicht, als ob er seinen Bildhauer kenne.

Erst draußen in den Riedern, wo die Aa durchs Rohricht glitzerte, mäßigte Paul den Schritt, knüpfte den langen, etwas schäbigen Rock auf und blies einen kräftigen Atem von sich. „Jetzt wird es freier,“ sagte er.Alois meinte, das gelte vom Wetter und nickte. Es ward ja immer morgendlicher. Wie verregnete, langweilige Fahnen hingen ein paar Nebel noch aus den Schluchten des Gebirges. Aber mehr und mehr wurden sie lichter, lösten sich von Fels und Wipfel und zerrannen, indem auch der Himmel aus einem einsilbigen Grau unhörbar in ein leis verschleiertes Blau überging.Es hatte in den Höhen geschneit. Weiß wie Neujahrsschnee blinkte es von den Gräten und Scheiteln und verstaubte dann wie Zucker in den oberen Alpen. Die Sonne wanderte noch hinter den östlichen Bergen, aber reinigte doch schon den Himmel von allen Ansauberkeiten des Zwielichts. Aus der Erde dampfte die Wärme in seidenen Nebelchen die silberne Morgenkühle empor. Die Äcker mit ihren Kürbissen, gelb wie Riesen-pomeranzen, den hängenden Bohnen und dem reifen,braungrauen Kartoffelkraut, das gelbe Ried, die nahen waldigen Hänge, die ganze nachtfeuchte Natur schimmerte geheimnisvoll dem Tag entgegen, der aus den Himmeln mit ein paar verstohlenen Schwalbenpfiffen zur Erde niederkam. Es war wie eine alte, stille Schönheit, was da war und ward. Auch der See blitzte nach so wildem, wüstem Regen nicht grell auf, sondern nahm aus den farblosen Buchten erst gegen die Mitte zu eine leise, höfliche Helligkeit an, etwa wie ein gelassener Mann nach Meinungsverschiedenheiten sich wieder langsam aufheitert, doch eine gewisse würdige Zurück.haltung wahrt und jedenfalls die ersten Stunden nicht zu laut und zu schnell mitlachen wird.

Man schritt dem nordwestlichen Landeszipfel zu,wohin aus diesen Alpen alle Wasser, zuerst in den Vierländersee und dann ins endlose Land hinabfließen. Rechts und links reckte noch je ein einziger, steingrauer Gewaltsberg sich gen Himmel. Was nachher kam, ward niedriger und ging mit immer kleineren Buckeln und Wellen zuletzt spurlos wie eine Schafherde im Horizont unter. Die zwei Berge aber glichen Hirten, die es schläfert und darum gar nicht kümmert, wenn ihre Böcke und Lämmlein sich in die Fremde verlaufen. Oder es sind die Großväter der Welt und sitzen riesenhaft in ihrem Felsgestühl und hüllen sich in die alten Steinmäntel und wissen: das Zeug hält hunderttausend Jahre.Wozu also sich aufregen? Sie, die schärfer als das schärfste Glas in die Welt hinausschauen, haben ihre Seele doch nie dort hinausgeschickt, sondern halten sie in ihren Alpentälern wie in den Falten ihres Kleides warm und sicher und sagen dem Wanderer, der wie eine unruhige Ameise tief unten an ihnen vorbei in die Welt hinausfüßelt, nicht: ja, marschier'l ... oder: nein,bleib hocken! ... sondern lächeln nur ein wenig über diesen komischen Ameisenfürwitz und Ameisenfleiß, der kribbelt und krabbelt, im Nahen sich langweilen und im Fernen sich abrackern muß, einfach weil er nicht sich selbst genug ist, wie sie, die Einsamen.

„Aber die zwei Kleckse da unten,“ näselte der Pilatus mit gigantischer Faulenzerei zum Stanserhorn hinüber und öffnete kaum seine ungeheuren Zahnlucken, „siehst du, wie die mal wieder pressieren ...Gevatter, ein Rätsel: Werden sie wiederkehren ...?“

Und das Stanserhorn besann sich eine halbe Stunde und näselte dann noch fauler zurück: „Der Alte ... ja!“

„Ich sag' der Junge!“

„Was gilt's? Einen Steinhagel oder eine Schwemme übers Land oder ...“

„Der erste freche Schnee ins Obst ... wer aewinnt!“

„Es sei!“

Die Riesen schoben ihre Kinnladen zusammen und verstummten.

8 „Was ist das?“ fragte Alois und schmiegte sich erschreckkt an den Vater. „Da oben ... hat's gedonnert?“

„Es wird ein Fels gekollert sein oder eine Rüfe ging am Pilatushaupt los. Wenn das ein Haar rührt,fängt der ganze Berg zu wackeln an.“

Immer noch war es früh und einsam und noch warfen die Wanderer keinen Schatten auf die bleiche Straße. Sie zog sich mit feierlichen Pappelreihen so gerade und weit in den Norden hinab, daß einem das Auge von der ungeheuern Langeweile hätte wehtun können. Aber den Buben, der die unverbrauchte Luft allum wie eine Arznei empfand, dünkte jeder Schritt und jeder Baum ein anderer. Er zog neben seinem Vater hurtig aus wie ein trabendes Füllen neben dem großschrittigen Pferd.

Auf einmal sah man weit vorne etwas Dunkles.Es war ein Mensch, klein, breit, mit geschwungenen Armen geduldig vorwärtsrudernd. Fast gleichzeitig hörte man im Rücken das Rollen eines Wagens. Die Straße erwachte.Nach wenigen Minuten hatten die beiden Reisenden den Vorläufer eingeholt. Kaum zu glauben: das Mätteliseppil! Einen großbeerigen, schwarzen Nosenkranz in der Hand schritt es, ohne zu grüßen oder auch nur auf die Seite zu schielen, mit breiten Füßen vorwärts. Vater Spichtiger ging unwillkürlich leiser und schneller und hart am Straßenbord, als fürchte er, sich an dieser alten Nessel zu brennen. Im selben Hui fuhr auch der Wagen heran, rasselnd und plappernd von hunderterlei hochgebeigtem und schlecht geschnürtem Kram.Eine lange, verwitterte und dennoch wetterfeste Frau kutschierte mit fliegendem grauem Stirnhaar und soldatischem Dreinblicken den zweispännigen Wagen. Neben ihr saß ein Jüngling von zwanzig Jahren. Er hielt immer ein wenig den Mund offen. Nichts als kleine Kinderzähne sah man darin. Aber aus seinen hellgrauen kleinen Augen schossen Blicke von Gescheitheit und Herzenskühle, daß man beinahe erschrak. Seine Achseln standen schief und knochig vor.

„Was, Seppi, Ihr schon auf den Beinen,“ krähte es scharf vom Bock herunter. „Und so weit in die Straße hinaus, he!“

„Für die armen Seelen ist es nie zu früh.“

Die Fuhrmannsfrau hielt an. Es war die Botin Trunz, die einen ansehnlichen Zwischenhandel vom Dorf zur Stadt vermittelte und jeden Dienstag und Samstag mit ihren zwei Rößlein unterwegs war. Auf dem Leiterwagen stand ein Berg leerer Säcke und Schachteln und Kisten aufeinander, dann kamen Fäßchen und Blechgeschirre, ein Vogelkäsig, Schaufeln, Pickel, Ärte,Strohkörbe und anderes buntes Gerümpel.

„Ja so, Ihr geht zur MariäCTodKapelle,“Frau Trunz zeigte mit der magern Hand an die nahe Berglehne, wo ein bekreuztes Helmchen aus den Büschen winkte. „Für die Felizitas ... die Totenmesse ...“„Das versteht sich! Bis zur Beerdigung auf die Neune bin ich wieder daheim. Den großen Ablaß darf man nicht versäumen.“ Das Mätteliseppi brummte dies beinahe grob hin und schien nicht willens, sich länger aufhalten zu lassen.„Aber so zu pressieren, Seppi ... welch ein heiliger Eifer ... ja Ihr ...“

„Und Ihr?“ Geringschätzig verzog die Jungfer ihren breiten Mund und ließ einen zerbrochenen Zahn drohend hervorspielen. „Und Ihr? Bevor die erste Betglocke läutet, fahrt Ihr schon im Teufelsgalopp mit Sack und Pack zu unserer Frau Welt und ihren Eitelleiten hinaus und kramt und marktet, daß Gott erbarm'. Ich muß mich schämen. Schon habt Ihr mich ja überholt. Alles für nichts ... und nichts für alles ...“

„Redet kein Blech, Jungfer Seppi, muß der Mensch nicht auch gelebt haben? Wollt Ihr nicht Eure Kässchnitte am Abend und Euern Kaffee dazu und Garn und Zwirn an Euern Webstuhl, und Euren Schüblig)am Sonntag zum Z'mittag? He, etwa nicht?“

„Paperlapa, hört mir auf,“ wetterte das Mätteliseppi und pflanzte sich jetzt gern oder ungern, breit und die Hände in die Hüften gestemmt, zum Kampfe vor den Wagen auf. „Wenn Ihr es damit gut sein ließet! Das ist noch lange nicht Babel. Aber diese neuen Schlitze an den Jacken, die Donnersstöckleinschuhe,die Narrenhüt' und all der Firlefanz, das ist Babylon und Ninive zusammen. Na, meiner Seel', es wär' wohl besser, ich ließe die heilige Messe für Eure hoffärtige Person als für das blanke und zufriedene Jungfräulein lesen, das wir heut in Saldern beerdigen.“

„Komisch seid Ihr. Bin ich etwa zum Tanzen angezogen? Seht!“ Frau Trunz wies mit trockenem Lachen auf ihre grobe Dorftracht.y eine beliebte St. Galler Wurst.„Glaub's wohl, wir zwei sind zu alt dazu. Den andern hängt Ihr's an. Und um lumpiges Geld tut Ihr's. O, Ihr habt's einmal schwer auf dem Gewissen ...daß Ihr's nur wisset!“ ... Was erst beinahe wie Scherz geklungen, war jetzt bitteres Schelten geworden. Aber Franziska Trunz zog keine Runzel tiefer und ihr Balz schien sich sogar mit boshaftem Gefallen an der Predigt dieses heiligen Widerparts zu unterhalten.

„Das ist Euer altes bekanntes Geplärre, Seppi, laßt mich in Ruh' damit!“ rief die Franzi vom Wagen herab. „Erwerb ist Erwerbl Andere haben einen andern,das Boten ist meiner, und schwer genug, sag' ich Euch,im ZJänner, wo man Frostbeulen bis ans Knie hinauf kriegt, und in den Hundstagen, wo einem die Sinne vor Hitz' vergehen. In den Luxus lang' ich dabei wahrhaft nicht ohne Not. Tät ich's aber nicht hin und wieder mit Maß, so tät's ein anderer tagaus,tagein und über alle Schnüre. Dann habt Ihr die Bescherung. Danken solltet Ihr mir, daß ich's noch ein Dutzend Jahr' mit den Kleppern da aushalte.Nachher werdet Ihr Augen machen, hoi, bei allem Goldpapier und Geschleck, was dann kommt. An mich denken werdet Ihr dann ... Jetzt lasset nur eine Messe lesen ...nicht für mich, aber für die, welche nach mir boten ...verstanden, Seppi, ... hüp! hoiho!“ Sie hob die Geißel hoch. „He, Balzli, brems' ein wenig, 's geht abwärts ...“Aber der lange, schiefe Bub drehte die Handhabe nicht zurück, sondern blickte besserwissend auf den breiten,scharfgescheitelten Schädel der Jungfer nieder. „Dreiundzwanzig Zentner Kartoffeln,“ sagte er dann langsam buchstabierend und zog ein Taschenbüchlein unter dem Kittel hervor, „müssen wir für Saldern bestellen ...nachher noch mehr ... weil uns fast aller Wuchs im Feld verwässert und verfault ist ... und item sechs Zentner Kastanien, geschälte ... das sind zehn gehülste,denkt! ... und item Gerste und Mais vier Säck' ...dann drei Ballen Zwilch und drei besseren Barchent und eine Rolle Taffet aus dem städtischen Tuchamt ...siehst, Mätteliseppi ... und hier,“ er deutete auf das viele Werkgeräte, „das muß alles in die Zeiner Flick anstalt. Da machen sie alles wie neu, und dreimal flinker und billiger als unsere Leut'. Ja, ja, das ist so ...“ stotterte er sauber fertig.

„Halt doch du das Maul!“ fuhr das Mätteliseppi grimmig drein. „Was weißt du von der Sach'! Doch ja, so was liegt dir bequemer als der Canisit). Da bliebest immer beim zweiten Wort stecken. Aber den Katechismus hier im Geschäftlein und Profitchen scheinst mir gut auswendig zu lernen. AUnd eineweg sag' ich:Bringt sie ein Korn Gutes, bringt sie Säcke voll Schlechtes zu uns, diese vermaledeite ... Gott verzeih mir das Wort! ... Stadtgroßhanserei!“

„Nun also,“ mischte sich die Franzi wieder drein,„etwas anderes! Wo's Profitchen Blut und Leben heißt!Schaut, die Felizitas wär' noch heut ein lachend Menschenbild, wenn man sie dem Professer in die Stadt gegeben hätt'. Er hat sie operieren wollen. Tu's, tu's doch,

) Das Religionsbüchlein, nach seinem ersten Verfasser,dem heiligen Petrus Canisius, im Volksmund der Arkantone immer noch Canisi genannt.sagt' ich zum Hildmann ... aber der Geizkragen oder Furchthannes oder ...“

„Das ist bei Gott hintendrein ein leichtes Schwätzen,“spottete flink das Mätteliseppi. „Die Sach' ist die:unser Herrgott hat das Kind für sich gewollt, ganz einfach! Da können Euch zehn Professoren herummessern. Zum Lachen!“

„Und der Enzibub, he ... und 's Babi Wild ...sie laufen wieder, sie sehen wieder ...“

Jetzt erschrak die steife Jungfer. Das ist wahr. Er war am Erblinden und sie am Lahmwerden und Erstarren wie ein Scheit. Aber haben nicht zu allen Zeiten auch falsche Propheten Wunder gewirkt? Weg damit ... 's ist Trug und Versuchung von unten. Sie schüttelte ihr bebändertes Zopfkrönlein und wollte weg.

„And ich ... und ich,“ buchstabierte Balzli Trunz mit seinen Kinderzähnen und sprang hurtig vom Bock und hielt die Jungfer am Ärmel. Die Mutter hatte ihn gestupft. Das Mätteliseppi sollte heute eine alte Suppe ausessen, die es sich längst mit Schimpfen und Wettern über ihren Botenberuf eingebrockt hatte. So hübsch allein, mitten im frischen Werk, bekam man die Amazone Gottes, wie der Gemeindeschreiber das Seppi einst in Fastnachtsversen besungen hatte, nicht mehr in die Finger. Es hatte den Krieg ja selbst eröffnet. Jetzt soll es mal gebodigt werden, dieses alte Mädchen aus dem Alten Testament.

„War ich nicht stumm ... und auch beinahe taub dazu?“ forderte der Züngling die Jungfer heraus.

„Und hocktest noch heut wie ein Löffel da,“ krähte die Franziska schön und weise vom Bock nieder, „und könntest Ställe ausmisten und hmm hmm machen, wenn unsere Fötzelbuben dich zum Narren halten ... Ja schͤn! Wenn ich dich nicht aufgeladen und in die Stadt gefahren hätte wie ein armes, störriges Kälblein ... denn du hast gefaustet und geschäumt wie unsinnig ... Aber der Professor Ott hat dich mit seiner Kunst und Kraft eins, zwei, drei zahm gemacht und dir eine Lust und einen Trieb eingeimpft zum Lernen,daß dir die Sprache tropfenweise auf die Zunge kam, ja,die Sprache und ich sag', damit auch der Verstand ...denn er war vorher blitzdumm, Seppi, wie Ihr ja selber im Unterricht gemerkt habt ... Und daß du dann anfingest zu lesen und zu schreiben und famos zu rechnen und dich jetzt allein durchs Leben schaffen kannst, wenn ich tot bin, mit freien Ellbogen ... das alles hat der Professer gegeben. Profitchen habt Ihr gesagt, Seppi,Profitchen.“ Die Alte beugte sich tief vom Wagen nieder. „So wisset, nicht einen roten Rappen hat er genommen ... und war dazu nicht einmal von unserem seligen Glauben ... Haringegen im gebenedeiten Dorf Saldern kostet jeder Milchzahn einen Franken beim Doktor und jeder Flick und Fleck am kleinen Finger sechzig, siebzig Rappen ...“

Balzli nickte zu jedem Satz. Schief und verwachsen stand er vor dem Mätteliseppi, aber ungeheuer sicher, und seine hellgrauen Augen blitzten vor Pfiffigkeit. Und es klang überaus schön und deutlich, wie er mit seinem langsamen, ärmlichen Instrument den Satz herausstach: „Ich lese und schreibe in beiden Schriften und rechne Zinseszins und verstehe die Zeitungen und hab' schon selber etwas in den Kalender geschrieben, weißt du, dein Märlein vom Käsbalzli!“

Er klappte den Mund auf und zu und lachte schlau und fuhr sich übers hübsch gescheitelte und gesalbte Haar,der magere, ungerade Bengel, und ein Stolz und ein Appetit zu erleben und zu werben floß förmlich wie Ofenwärme aus ihm. Trotz seiner übeln Figur war er jetzt bezwingend schön anzuschauen. Besonders seine niedrige und schon gerümpfte Krämerstirne leuchtete vor Klarheit. Diese Stirne sagte: Gebt acht, ich rechne Euch noch Konto und Konti, daß Ihr staunen werdet!

„Spring auf,“ befahl ihm jetzt die Mutter, „wir vergaffen alle die Zeit. Bis das Zeug da an der Schifflände eingeschrieben und verfrachtet ist, bleibt uns kein Schnauf übrig. Ihr, Seppe, nichts für ungut!Aber so ist's. Kommt einmal mit und guckt Euch die Stadt selber an. Ich zahl' das Billett. Jetzt aber geht nur und tut auch uns ein Vaterunser zulieb, dieweil wir Leut' auf der Straß' eben doch nie so sicher sind wie Ihr Stubenhocker. Hüühohüp, Liese! Leisi!“

Sie knallte gebieterisch mit der Geißel und fuhr glatt und kerzengerade mitten durch die Straße davon.

Das Muäͤtteliseppi stand sprachlos und grimmig auf seinem Fleck. Unverwandt hatte es so dem Bub ins Maul und zur Alten hinauf in die Schnupfernase schauen müssen, ohne auch nur eines ihrer Wörtlein bändigen zu können. Wie gelähmt sah es dem rollenden Zweigespann nach.

Und doch und immer doch: die Stadt ist ein Fluch.Das sitzt und bleibt. Aber doch hat sie den Bub da gesegnet! Wie soll ich's reimen? And ein offenbarer

Federer, Das Mätteliseppi. 8 Heid' ist der Professor und tut doch wie ein Heiland am Knab'! ... Das Franziweib hat recht, derweil gibt es im Dorf graue Rappenspalter soviel wie Mäuse.Wegen einem fälligen Näpel) sind die imstande, eine ganze Familie auf die Gasse zu werfen. Sie kennt solche. Und dennoch, lieber dem Unhold im Christendorf als so einem Tugendbold unter den Stadtheiden trauen! Lieber zehn Grobiane als ein einziger süßer Giftmischer. Vor Grobianen warnt unser Christus nicht,aber vor den Feinen, den Höflichen, den Glatten, den Wöolfen im Schafspelz ...

Diese biblische Erinnerung gab dem erschütterten Mädchen das Gleichgewicht wieder. „Ich habe recht,“brummte es mit halber Genugtuung und wollte zum Weglein in die Wiese steuern, als es nun erst die beiden Spichtiger bemerkte. Denn der Künstler war stehengeblieben und hatte aufmerksam wie im Theater den Kampf der zwei Mächte verfolgt. Gewaltig sah er sie gegenüberstehen. Frau Welt hoch auf dem Kutscherbock und Frau Aszese tief unten in der Straße. Ihre dunklen Figuren mit den langsamen großen Händen mitten in der stillen und lautern Kühle des Morgens, einsam zwischen Bergen und toten Pappeln, auf einer öden Straße: das hatte etwas AUngeheuerliches an sich und schien beinahe so, als wären nur diese zwei Gewaltweiber auf der Welt und kämpften ums Gras der Erde und ums Blau des Himmels.

„Aha,“ rief die Jungfer, „noch zwei Weltkinder!Gehst du denn nicht mit der Leiche, Alois?“

9

Napoleon, der goldene Zwanzigfränkler.„Ich darf mit dem Vater in die Stadt,“ antwortete der Kleine schüchtern und zog den Hut wie vor einem Pfarrer ab. Seine Stimme triumphierte nicht mehr.Der Gedanke an die Tote dämpfte sogleich seinen Jubel.Er schämte sich heimlich.

Das Muätteliseppi horchte kaum hin. Es fuhr mit seinen kalten Mondlichtaugen prüfend über Vater und Sohn und sagte dann gebieterisch: „Laßt mir den Knab', Herr Spichtiger. Er kann mir den Rosenkranz respondieren. Und nachher bring' ich ihn heim zur Mutter.“

Paul zuckte nervös auf. Die alte Schachtel traut ihm nicht. Sie schnuppert Unrat. Das macht ihn wild.

„Was geht Euch mein Bub an?“ fuhr er auf.„Jawohl, in die Stadt führ' ich ihn, eine andere Luft geb' ich ihm, ein anderes Leben zeig' ich ihm ...“

„Eine andere Torheit!“ kam es trocken zurück.

„Jungfer Josepha!“

„Ach, Büebli,“ sagte das Mätteliseppi rücksichtslos, als sei alles Luft, was da herumgeredet werde,„komm doch mit mir! Wirst nur staubig und todmüd da draußen. Kriegst den Schnauf nicht mehr. Und mußt doch allein heim, ganz allein, hörst!“

„Jetzt ist's genug, tolles Geschöpf ... Alois, vorwärts.“

„Ah bah ... regt Euch doch nicht auf ... Ihr kommt nicht heim ... das wißt Ihr selber am besten ...Dort,“ sie wies zum fernen Botenwagen, „auf dem Karren wird der Junge heute beim Zunachten ohne Vater zurückkehren. So ist's. Ich kenn' Euch zu gut.Komm also, Alois, 's ist besser so ... komm! Dort

8*

16 in der Gnadenkapell' am Wald ist's kühl und still und voll Tannenduft, und die Mutter Gottes lächelt vom Thron und hat Freud' und dankt es dir himmlisch,daß du sie allem Stadtwunder vorziehst ... und die Felizitas ... ich mein' ihr Singen zwischen dem Amselpfeifen zu hören ... sie ...“

Dem Alois war wie zwischen zwei Winden. Der eine zog vorwärts, der andere zurück. Und er mittendrin fühlte sich ohne Kraft und mußte sich einfach mit dem stärkern Stoß treiben lassen. Sah er Vaters schwarzfunkelnde AÄuglein an, so prickelte es ihm durch alle Nerven nach dem süßen Abenteuer der Stadt. Hörte er dann die altdörfliche Stimme des Mätteliseppi, so überkam ihn schon etwas wie Heimweh nach dem Dorf,der Mutter, den sichern und warmen Winkeln des Daheims. Jetzt aber umfing er die Handgelenke des Vaters voll Angst und sagte: „Es ist nicht wahr, es ist nicht wahr, Mätteliseppil ... Gelt, Vater, wir fahren mit dem Fünfuhrschiff heim ... sag' jal ... sonst lauf' ich jetzt grad schon zur Mutter heim!“ Und er riß wie in einem Fieber den Vater ein paar Schritte rückwärts.

„Bub,“ donnerte jetzt Paul im tiefsten Bariton,„willst du wohl deinem Vater glauben! Hab' ich dich nicht der Mutter aus der Hand genommen und versprochen, heut abend, so wie du da bist, wieder zurück zugeben? Und muß ich etwa nicht schon wegen der Arbeit heim? Was tu' ich länger in der Stadt? In drei Stunden ist meine Sache im Reinen ... Aber Blödsinn,mich da vor einem alten Mädchen zu exküsieren, das sich wie ein halber Papst gebärdet und eben doch nichts mehr und nichts weniger als eine verdrehte Dorfschachtel ist . . . Betet Ihr nur Euern Psalter und noch zwei dazu, aber nicht für die Stadt, sondern für Saldern,daß unser Herrgott eine Art in seine schmale Gerechtigkeit schmettere und ihm etwas von der Liebe und Herzweite der Stadt gebe ... das betet!“

Als seien Gotteslästerungen gefallen, bekreuzte sich die Jungfer und wehrte mit vorgestreckten Händen ab,Paul möge nicht so weiter reden.

„Du sollst das Münster sehen mit dem herrlichen Leonziusaltar,“ versprach der Spichtiger und zerrte Alois mit einem siegreichen Lächeln die Straße so heftig vorwärts, daß der Knabe umsonst versuchte, wenigstens noch höflich nach dem Mätteliseppi zu grüßen. „Und um die Viere sollst du das Salve Regina der Stiftsherren und der Hofgeißen hören ... weißt, das sind die Chorbuben, die jodeln dir an den Säulen hinauf wie unsere Schafbuben in den Saldernerfelsen ... und vielleicht sehen wir den Bischof in dem obersten Chorstuhl, ganz sicher jedenfalls die Chorherren im Hermelin ...das ist großartig ... das ist ganz extra für dich ...“

Säulen, Chorherren, Psalmen, Bischof mit Stab und Inful im Thron ... Dem Alois schoß das Blut zu Häupten.

„Und damit du auch die Felizitas nicht vergissest,so kaufen wir einen mächtigen Kranz,“ fabelte Paul mit innerster Gläubigkeit fort; „den legst du ihr noch heut aufs Grab. Einen Kranz von lauter Rosen und Ilgen.“

„Rosen ... Ilgen? Vater, die sind ja schon lange vorbei.“ß

28 Stolz versetzte der Vater: „Die Stadt hat immer Rosen und immer Lilien.“

„Wie das?“ staunte Alois zweiflerisch.

„Du wirst noch andere Wunder erleben! Auch Trauben das ganze Jahr und Feigen, grün vom Ast.“Dem kleinen Dörfler ging das Verständnis aus.

„Wie eine Zauberin hat die Stadt immer Frübling und immer Herbst, aber auch Schnee und Sommer,alles beisammen wie im Märchen. 's wird heiß zu Mittag. Wir wollen Eis essen.“

„Eis?“

Lauf, lauf, es geht noch eine hübsche Weile bis zum Schiff. Ich sag' dir, die Stadt ist ein Engel, so groß und licht und frei denkt man in ihr; aber die Dörfer sind kleine, arme Teufel, so eng und schwarz und sklavisch treibt man es da. Der Engel ist freilich viel stärker und bricht zuletzt auch dem härtesten und hintersten Dorfteufel die Hörner. Aber alles braucht Zeit... Ha,siehst du ... siehst du ... dort! ... vornel Über den Bäumen ... ja so ... jetzt machst du andere Augen!“

In der Tat, es war wunderbar. Über den Pappelspitzen, wo der Bub durch den bläulichen Dunst den Himmel vermutet hatte, ging ein gewaltiger silberner Streifen auf, eine Wasserfläche mit verdämmernden Ufern,versinkenden Hügeln, geheimnisvoll in den nordischen Himmel hinausschwankend, ohne Endel Was noch dahinter war, das konnten schöne Wolken sein oder die melodischen Wellen eines fremden Landes oder ein See und noch ein See. Zedenfalls, das war die Welt,jenes sonderbare, ungeheure Wesen, halb Erde, halb Menschheit, von dem der Vater immer so laut, die Mutter immer so leise sprach. Wie eine Sage lag es noch fern, aber trat nun näher und ward immer sicherer Wirklichkeit. Mätteliseppi, Felizitas, Mutter Verena, Dorfheimlichkeit, die Kameraden und das Hildchen Herri, alles war vergessen. Der Knabe zog den Vater, der Vater den Knaben vorwärts. Die Straße rann unter ihren Füßen weg, die Ufer wurden klarer,das Wasser rauschte schon, man roch seinen kühlen Fischatem, und jetzt, jetzt, räderte mit brausender Majestät das Dampfboot in die Staader Bucht, durchaus wie ein fürstliches Haus. Aber es schien im Zorn und machte auch alles Wasser ringsum wild und schneeweiß vor Schaum. Aus seinen Lungen ging ein Schnauben wie von einem Riesen, während der Kamin wie eine ungeheure Nase Gewölke auf Gewölke hervorschnob.Indessen zeigte sein Gesicht eine freundliche Farbe und viele blaufenstrige Guckaugen; seine Segeltücher lachten in der Sonne und an der Brust glänzte in schwerem Gold das heilige Wort Helvetia. O so ist ja mein liebes Vaterland, zornig und stark und doch gut! Hinein,hinein! ie schön, o wie unglaublich schön: der erste Schritt W auf dem schwankenden Riemenboden, der erste köstliche Geruch von Teer, Kohle, Ol und der erste Blick auf die Maschine, dieses gehorsame Ungeheuer, das in metallischem Schwunge die eisernen Ellbogen unter einer dumpfen Sklavenmelodie auf- und niederrang! Und hernach die Kajüte mit den roten Samtsofas längs der ovalen Wände, über die der Widerschein der Wellen in weißen und grauen Flocken wie eine Schafherde davonrannte; dann die festgenagelten Tischchen, der See bis an die runden Fenster, die engen Treppen auf und nieder und das Verdeck, die breit gehenden Matrosen und der Steuermann oben am Rad, der Kapitän in goldbortiger Mütze und ein Kellner im Frack, der sehr bald daherschwebte, lautlos wie ein Geist, und hoch in der flachen Hand ein Brett mit einer Weinflasche,drei Kelchen und kleinen weißen Brötchen zum Vater trug, die allerschönsten Knickse im Hals. Dann das Zittern all der Stangen und Seile, das Gleißen der gewichsten Böden, die knatternden Zelttücher, die bequemen Rohrsessel und der entsetzliche Pfiff dann und wann aus einem kleinen Nasenloch des Schiffes. Aber dann vor allem diese Sicht über den Spiegel hinaus, der gefurcht und gekämmt und gescheitelt erschien wie schimmernd graues Greisenhaar wohl eines uralten Wassergottes. Fische juckten in der Sonne auf und der feuchte Wind blies dem Buben erfrischend durchs Haar. Nie hätte Alois gedacht, daß es so was Prächtiges auf Erden gäbe.Der Vater aß und trank mit dem Kapitän und einem fremden Herrn und ließ seinen Jungen frei gewähren. So zappelte denn Alois auf und ab, an der Franzi Trunz vorbei, die über ihrem Warenhaufen sitzend eingenickt war wie ein altes Huhn über den Eiern,bis er schließlich am Bug des Schiffes stehen blieb, wo Anker, Schiffsglocke und eine heillose Kette lagen und der Wind scharf um die Backen blies. Unter dem Schiffsschnabel am Bug zerriß das Wasser vorweg und histerte wie Seide und ging in silbernen Fransen weit auseinander. Das Beste von allem aber war doch dieses: wie da ganz nahe die letzten Höhen mit Wald,Fels und Häuschen und einem geduldigen Straßenband vorbeiglitten, wie der See immer breiter und blauer wurde und Segelschiffe und Fischerbarken an Alois blitzschnell wegglitten und fröhlich logen, sie und niemand anders rase so davon, der Dampfer jedenfalls nicht. Fernes Land und neue Gewässer gingen auf, mit andern Farben als die dunkle Bergheimat im Nücken, lustiger, weicher,goldiger und wahrhaft unbegrenzt. Wie groß ist doch die Schweiz! Wie weit marschieren die Eidgenossen!Hochmütig bläht Alois die Lippen auf. Von den Alpen stiegen sie nieder und aus der Ebene wanderten sie da hinauf, und hier am See fand man sich und steckte das erste Banner auf und sagte: Wir sind die Eidgenossenschaft. Ach, daß doch keine Musik auf dem Schiff ist und das Rütlilied trompetet! Ein Matrose pfeift so einfältig immer das gleiche, etwas Untänziges und doch soll's Tanz sein, und die andern tabaken!Hier auf unserm Heldensee! And freilich, das tut am wehesten: auch bder Vater raucht und schluckt vom Glas und lacht laut wie zu Hause nie, und schaut kein einziges Mal über die Flasche in diese Schweizer-glorie hinaus.

Dem Jungen überlaufen die Augen vor Wunder und er will zum Vater springen und ihn zwingen, sich mitzuwundern und mitzujubeln. Da, alle Wetter, gibt es denn wirklich noch Schöneres? blitzt es in einer halbrunden Bucht tausendfältig auf: die zahllosen Fenster, die Augen der Stadt! Auch ein verlorenes Summen von Glocken kam übers Wasser daher. Ein violetter Dunst lag über etwas Weißem, Rotem, Gelbem, Braunem, was aber nach und nach in tausend herrlichen Häusern auseinanderging und sich mit Kuppeln und Türmen alt und neu in die Luft hob. Grüne Alleen liefen an der Flut hin und es zappelte da von einem schwarzen lebendigen Vielerlei der Wagen, Pferde und Fußgänger. Mächtige Dampfer kamen oder schaufelten gleichgültig weg, ein ganzes Geschwader von kleinen Kähnen tummelte sich fliegenfrech um sie herum, Rauchgewölke da und dort wirbelte über den Dächern auf,als brenne die Stadt an sieben Orten, und es pfiff und rumorte rechts und links vom Lande gegen das Zentrum eine hurtige, feuerspeiende Eisenbahn. Aber üüber allem lag Licht und Lachen. Das war das Land des Glückes. O wie begreiflich, daß der Vater immer und immer wieder Heimweh hierher hatte!

Nun glitt man sachte ans Land. Schon schwindelten dem Kleinen die Ohren von der unendlichen Musik am Ufer, als ihn der Vater rückwärts kehrte gegen den See und schelmisch sagte: „Na, nun such'doch einmal, wo du daheim bist!“ *

Ah, da lag es fern und klein gedrückt, das Land seiner Berge, weit hinten im Schatten einer alten,schlafversunkenen Welt. Nichts war zu unterscheiden.A und Braun mit andern Höhen in einen einzigen tiefen Gebirgshintergrund. Aber man dachte auch gar nicht an sie und bemerkte sie nicht, weil hinter diesen Voralpen,im letzten Süden, unsere alte, berühmte Schweizergarde gen Himmel stand, in silbernen Panzern und goldenen Helmen, der Höchstkommandierende, General Finsteraarhorn und seine Heldentochter, die Jungfrau, die Adjutanten Mönch, Schreckhorn und Eiger, dann die braven Hauptleute und Gardisten bis hinunter zu den Korporälen Well und Wetterhorn. Wie sie da Wacht standen gegen Mitternacht hinauf und gegen Mittag hinunter, nicht lustig, nicht traurig, mit jener ehernen Gelassenheit, die schon alles tausendmal hat kommen und gehen sehen, nur sie sind geblieben!

„Wo ist Saldern?“ spottete Paul gutmütig.

Wo ist es doch? studierte Alois in die Ferne zurück. Die große Kirche und der Pfarrer und Mutter Verena und der stolze Friedel und sein mächtiges Gehöfte mit all den Nuß- und Kirschbäumen und das Mätteliseppi, stattlicher als der stattlichste Baum und die Begräbnis der Felizitas mit dumpfen Glocken und süßem Weihrauch, wo ist diese alte, alleinige, selbstbewußte Welt? ... Versunken und vergessen!

„Glaub' mir, die Welt ist nur eine große Stube,“erklärte der Vater und trieb den Bub über das Schiffs-brücklein, „und die Berge dahinten sind nur so ein Schrank an der Wand mit etwas Silberschmuck zu oberst und mit Tälern wie mit hundert und hundert Schubladen durchbaut. Und irgendwo in einer solchen Lade ist noch eine kleinere und in der wieder eine kleinere,ganz tief in einer verlorenen Ecke und das ist dann eben unser Kantönlein. Nun erst hinter allerlei altem,verlottertem und vergilbtem Zeug im letzten Winkel liegt Saldern, dein hochheiliges und riesengroßes Saldern ...Puh, schüttle dich, daß der Moder aus deiner Jacke fliegt! Wir gehen jetzt mitten in den Saal hinaus.Da ... paß auf! Paß doch auf!“

Das ist gut sagen: paß auf! wenn einem alles auf die Füße steht und man rechts und links wie verrückt herumgeschupft wird. Es brüllt und lacht und schnattert,daß einem die Ohren schmerzen. Keinen Atemlang darf man stillstehen, sonst wird man über den Haufen gerannt. Gott, so viele Menschen, wo schießen die alle aus dem Boden und wie können sie alle sitzen und essen und schlafen, ohne einander heillos zu plagen und zu drücken und den Platz zu nehmen?

Was Alois in den nächsten Stunden erlebte an Rumoren, Hantieren, Glänzen, wobei er kein Zipfelchen Anfang oder Ende sah und nirgends einen Zusammenhang erkannte, das ging wie ein Gewitter von Farben und Tönen und sonderbaren Bewegungen durch seinen Kopf und blieb auch später nur wie ein jäh verbrauster Traum in seiner Erinnerung haften. Seltsame Glockentöne schwirrten durch die Luft, die Menge schrie wie ein See, er sah kleine rote Luftballone, wunderbare Soldätchenspiele, Malkasten und Bücher von märchenhaftem Duft, Musikanten, Straßenspritzen. Dann lief alles auseinander. Eine Trommel wirbelte, junge Soldaten schritten vorbei, tram, tram, tram, die Gewehrläufe glänzten, die Käppi funkelten, die Gesichter waren braun wie Leder und die strammen Beine sah man im aufgewirbelten Straßenstaub gewaltig auf und nieder gehen. Da waren auch die Salderner Soldaten dabei,der Battist Müller, der Pius Rohrer, der Meinrad Schäli und der Leutnant Theodor Britschgi. Aber Alois sah, so scharf er die Köpfe musterte, keinen Bekannten. So ein Tropfen Saldern geht unter im Städtmeer.

Jetzt wirbelte nochmals eine Trommel und mit Pfeifen und Fahnen trat ein zweiter Militärzug aus der Gasse. Gottes Wunder, waren das nicht Knaben?Und trugen Uniform und Säbel und führten ein Kanönchen! And rasselnd liefen Leutenäntchen mit Milchgesichtern neben dem Zug und machten furchtbare Augen,als ging's gegen die Russen und Türken zusammen.Trumm ... trum ... tru ... Im Nu waren sie weg,wie verschluckt vom Riesenmaul der Stadt. Es seien Kadetten, die an diesem Samstag auf die Allmende ziehen, dort kampieren und sich ein Treffen liefern. Ob in Blut und Pulver und für was, einen fremden Kaiser oder General oder gegen eine noch größere Stadt wie etwa Paris oder London, das beschäftigte Aloisli ungeheuer.

Herren mit kalten weißen Westen und kalten Gesichter und kalten Reden gingen mit seinem Vater.Alois geriet in dunkle Wirtsstuben, auf Altanen über einem breiten blendendgrünen Fluß. Da gab es allerlei unbekanntes Zeug zu trinken. Der Kleine nippte nur.Er hatte einen Ekel vor allem, was nach Bier oder Wein roch. Dann ging es wieder durch offene Hallen,

6 wo die Marktstände sich bogen vom Reichtum der Waren.Es klimperte unsäglich schön aus Zeltbuden. Mit langem Schnauz brüllte ein Mensch in flammender Seide davor von Löwen und Tigern und Luchsen. O das möchte er sehen! Aber der Vater stürmte weiter, selber wie ein Löwe. Nichts als Läden. Wer kauft denn alles?Und nichts als herumlaufendes Volk. Ist denn hier immer Sonntag? Seltsam sind die Kinder. Ganz allein laufen sie herum, ohne Angst und gleichen schon Erwachsenen im Gesicht. Sie haben so sichere Manieren und wundern sich über gar nichts. Aufrecht stehen die Buben wie Soldaten und nehmen große, elastische und doch so unhörbare Schritte. Nur der Friedel Herri in Saldern marschiert auch so. Die Mädchen sind alle heillos groß und lassen die Zöpfe mit roten Maschen über den Rücken gaukeln. Schön sind sie und spitzen so hübsche Mündlein! Von prächtigen Fenstern blicken Damen hinunter mit ganz marmorweißen Gesichtern und schwarzen Spitzenkleidern. Oben am verschnörkelten und vergoldeten Balkon eines Herrenhauses stand ein Jüngling. Den vergißt Alois nicht. Das Haus hatte einen runden Turm am Eck; das junge Herrlein aber trug eine grüne Studentenmütze, lachte mit großen samtdunkeln Augen und schüttelte das braune Kraushaar.Das Antlitz war gelb und weiß wie Elfenbein. Er war schöner als alle Menschen, die das Dorfbüblein bisher gesehen hatte, nur mißfielen ihm die wulstigen Negerlippen. Ein prachtvoller Windhund mit Haaren wie graue Seide stand mit den Vorderpfoten auf die Lehne und schmiegte den spitzen Kopf an den Jüngling.Der aber achtete gar nicht auf das schöne Tier, sondern zündete eine Zigarette an und schleuderte das Zuündhölzchen hochmütig über die Köpfe hinunter. War das ein Königssohn ... oder gar schon ein regierender Mensch? Wie er spöttisch hinuntersah! Sicher hatte er Alois gesehen, seinen Dorfkittel, seine Ungeschicklichkeit. Jetzt verschwand er vom Altan. Wird er herunterkommen, mit dem Hund und mit zwei, drei Soldaten und ihn fragen: Woher? ... wer hat dir erlaubt,so dreckig vor meine Fenster zu kommen? ... Warum hast du den Hut vor mir nicht abgezogen? Verneige dich! ... Alois zittert und fühlt schon, wie der Hund an ihm schnuppert ... Marsch, in mein Gefängnis,dort, im Turm, hinter dem kleinen Gitter, wo die Tauben sitzen. Die schieß' ich dir vor'm Gesicht weg.'s ist kurzweilig für uns zwei. Gehst mir nie, nie mehr heim!

„Vater! Vater!“

Wahrhaftig, ein großer Hund, doch nicht jenes vornehme Windspiel, sondern ein unsauberer Bernhardiner,der ein Milchwägelchen zog und von Jungen getrieben wurde, roch an seinen Hosen.

„Was stehst eben still und gaffst in die Luft ...weiter, weiter ... stoß nur auch ein wenig!“ gebot der Vater.

In einer besonders engen Straße voll Menschen und schattigen Fenstern rechts und links sah Alois auf einmal einen wohlbekannten Wagen mit zwei Rossen im Gewoge auftauchen. Oben im selbstgewobenen rauhen Tuch saß Frau Trunz seelenruhig und krähte ein seltenes Hüst und Hott und knallte einmal mit der Geißel, grüßte auch und nickte in die Masse und

92 schwamm so wie der leibhaftige Dorffrieden mitten durch den verrückten Gassentrubel. Vor einem Warenhaus mit sicherlich sieben, acht Türen, hielt sie an und lud Gepäcke ab und nahm anderes auf, immer den Sackträgern kommandierend, wo dies, wo jenes seinen Platz habe, die Stimme immer trocken wie eine Krähe,aber auch so gleichgültig und dauerhaft. Dann schnürte sie einen Lederbeutel auf, warf Banknoten und Fünffränkler und einiges katzenhaft schöne Gold auf einen Teller, nickte, zog den Riemen wieder fest, stieg auf den Bock und verschwand majestätisch mitten in einem großen, bewegten Volksplatz. Dem Alois war, er müsse schreien: Frau Franzi, Frau Franzi.. Sein Dorf erwachte wieder ... nein, es war nicht tot, schlief nicht einmal, es lebte tapfer neben dieser Gewaltsstadt und wagte sein Stimmlein in ihr unermeßliches Gelärm zu werfen. Leisleis fing es an zu klingeln: Komm zu mir heim, Alois! Komm nur wieder zu mir heim!

„Vater, wann gehen wir zum Schiff? Ist's nicht bald Zeit?“ bat Alois schon recht abgehetzt, als der Spichtiger mit einigen Herren in einem Restaurant laut und hitzig plauderte, aber das feurigste Wort mit langsamen, würdigen Handbewegungen begleitete, als rede er die schwerste Wahrheit und dränge darum auch gar nicht. Paul überhörte den Knaben, warf ein Silber auf den Tisch und gebot: „Noch eine Flasche, Fräulein!“

„Vater!“ drängte der Sohn bange.

„Verdammtes Gejammer! Fängt es schon an? Dacht'ich's doch,“ schimpfte Paul. Dann neigte er sich zum Bub hinab und flüsterte: „Siehst du nicht, wie wichtig es ist, daß ich mit diesen Herren gut fertig werde? Laß mir Zeit, Alois!“

Geduldig ergab sich Alois drein. Wenn es ja sein mußte!

Er betrachtete jetzt sorgfältig das Restaurant. Was für Leute kamen da herein, warfen sich mit so selbstverständlichen Gesichtern in einen Sessel, rissen eine Zeitung vom Nagel, schlugen ein Bein übers andere,leerten dann schon aufstehend ein Glas Bier, beschauten sich in einem der vielen Spiegel und sprangen wieder auf die Straße. Vier dicke Männer jaßten an einem Schiefertisch schon eine Stunde mitten im Fliegengesumm dieses Saales und hatten noch nichts gesprochen als einsilbig: Stöck! Nell! Bur! Fünf ...! Die Luft war dunkel und wirr vom Tabakrauch. Draußen toste die Stadt an den Glastüren vorüber, Alois schwindelte es leise. Er merkte weder Durst noch Hunger, nur Müdigkeit.

Jetzt ging sein Vater mit drei Herren an einen andern Tisch und zeichnete ihnen etwas über eine alte Zeitung vor. Er schaute bald schüchtern, bald frech den Zuhörern ins Gesicht. Der Kellnerin flog ein zweiter Fünffränkler zu. Eine Flasche Macon!

Schmerzlich sah Alois der großen Münze nach, bis sie in der Ledertasche der Jungfer verschwand. Er wußte nicht recht, wie ihm ward, aber ihm schien, er höre die Nähnadel der Mutter, das Surren des Rades,ein unterdrücktes Seufzen.

Die Kellnerin tänzelte gleichgültig, als wäre es Geld wie anderes Geld, ans Büfett im Hintergrund. Sie wiegte eitel ihre Hüften und hatte eine süße, wie Seide

Federer, Das Mätteliseppi. 9

4 knisternde Stimme, die das S genau so lispelte wie der Friedel Herri in Saldern. Mit ihrem schwarzen Rock und ihrer weißen Schürze hüpfte sie elastisch zwischen Tischen und Bänken dahin, acht, neun Henkelkrüge in den Händen, immer drauflos parlierend, Noten wechselnd,Münzen einsackend und fürs Trinkgeld gar schelmisch knicksend, dann wieder in ihrer muntern Zweifärbigkeit hinter einer Glastüre verschwindend.

„Am Montag, das ist übermorgen, kommt der Chef,unser alter Bernhard! Dann bereden wir das weiter.'s ist nicht übel. Aber er hat das Wort. Prosit Herr Bildhauer!“ So klang es vom Tischchen herüber.

„Ist das nicht der kleine Spichtiger? Der Alfredli oder wie?“ Die Kellnerin beugte sich zum Büblein nieder und lachte es scherzhaft an.

„Der Aloisli.“

„Und ich bin 's Roseli Herri. Kennst mich denn nicht mehr?“

„Vom Dorf?“ fragte Alois mehr mit den Augen als mit der Stimme, so verdutzt war er. Ein Mädchen aus seinem Dorf schwänzelte und fuchtelte hier so keck herum wie im Kirchgäßlein zwischen Bach und Friedhof.

Ja, warum nicht! Den Friedel kennst doch?“fragte das heitere Ding und zog spöttisch die Mundwinkel herab; „wir sind Geschwisterkinder, aber frag' nur nicht, was für welche! ... Gleich, gleich!“ sang sie einem Herrn entgegen und verschwand spurlos mit einem letzten Geflatter der weißen Schürze. Doch bald blitzte sie wieder im Halbdunkel der Stühle und Menschenköpfe wie ein Schiff mit hellem Segel auf und gondelte blitzschnell und sicher in den Tiefen und Untiefen dieser heiklen Gewässer herum.

Dem Alois schellte das Stimmchen der Jungfer noch lange im Ohr nach und durch dieses Stimmchen kam er dem Mädchen endlich auf die Spur. Denn Gesichter vergaß er leicht; wie aber eine Zunge klang,das blieb haften. Ja, Friedels und Roselis Väter waren Brüder, aber der letztere starb früh und die leicht sinnige Mutter war von Jahr zu Jahr mit ihrem Büschel Kinder um soviel ärmer geworden als ihr Schwager, der Ratsherr, im Reichtum gestiegen war. Als schließlich die Frau ihre jungen Schnäbel nicht mehr füttern konnte, ließ sie die ältern in alle Welt hinausflattern und der frechste und witzigste hatte sich gleich in die Stadt und zwar mitten in ihr schönstes Restaurant eingenistet. Wo er jetzt eine freie Minute erhaschte,flog der Vogel auf Alois wie auf ein Giebelchen der Heimat zu.

„Mir scheint, du steckst heut nicht in den rechten Strümpfen,“ hob das kleine Jungfräulein wieder an.Sie strich ihm einen Schleifen Haar hinters Ohr und sah ihm mit warmer Aufmerksamkeit auf die Lippen.„Wo fehlt es denn? Ist dir nicht wohl?“

„Ist dir denn wohl?“ fragte der Junge einfältig.Und er fügte ernst hinzu: „Hier? ... sag' du!“

„Hundewohl!“ gab sie zurück und rundete ihre Bäcklein schelmisch wie zu einem Pfiff. „Ich komme, ich komme ...“ Wieder zwitscherte sie davon.

Alois erschrak über ihre heillose Antwort. Redet man so in der Stadt? Ja, ja, nicht umsonst schütteln sie im Dorf den Kopf, wenn sie vom Roseli Herri

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32 klatschen, die grauen Tanten und ehrbaren alten Schachteln, und fahren mit dem Finger wie Anklägerinnen gegen den Norden, wo die Stadt wie eine große Hure in Gold und Seide liegt.

„Wisset, es liegt in diesem weißen Marmor zu viel Weichlichkeit,“ erklärte am andern Tischchen sein Vater mit der alten, zauberischen Aberredungsstimme,die immer wieder betörte, ihn selber zuerst und hernach einen um den andern, „schwarz muß er sein, durchaus schwarz. Wenn dann auch Züge und Gebärden im Finstern verschwinden wie zur Abendzeit, ehe man die Laternen anzündet, ein Menschenzug durch die Straßen,gut! Eben gerade Dämmerung will ich haben. So war ja die Zeit. Ohne Laternen! Es war geradezu Nacht. And erst allmählich, wenn der Kulturmorgen dämmert, nehme ich die Gruppe in zwiefärbigem Grau ...“ Paul schlürfte innig sein Glas aus. Auch die andern tranken und lauschten dann wieder, halb von den Phantasien, halb vom Wein benommen, in einer stillen, verehrungsvollen Behaglichkeit.

„Denn eine dämmerige Zeit beginnt jetzt ... mit diesem Funkensuchen gen Osten, diesem Nebelzerreißen,diesen morgenrötlichen Ahnungen, diesem ...“

„Du darfst mich ganz gewiß anschauen,“ spöttelte jetzt eine viel nähere und losere Stimme dem Knaben ins Ohr. „Ich bin noch kein Heide ... oder?“ Das schmucke Roseli stand schon wieder da. Zutraulich legte es eine Hand mit zwei gleißenden Fingerringen auf Aloislis Achsel. „Ich geh' zur Mess' am Sonntag und am Freitag ess' ich kein Fleisch, wenn ich auch nur einen Zipfel Fastenspeise krieg' ...“„Aber gebeichtet?“ entschlüpfte es Alois mit einem Tone, den er wie ein kleiner Pfarrer sich ohne Wissen oon der Kirche her angewöhnt hatte. „Gebeichtet,Roseli?“

„Bei den Kapuzinern zu Ostern ... Hochwürden,genügt das?“

Aloisli wußte nichts mehr zu erwidern.

„Aber schau', man ist hier nicht so duckig wie daheim, man lacht ganz laut und macht nicht gleich so heilig: pstl pst! Man darf sich noch lustig in die Augen schauen und spaßen ... Aber freilich, du machst Augen,Herrje! Hast noch allen Schatten vom Dorf im Gesicht,vom Friedhof und vom Totenbeinhaus ... o du! Da nimm! Du hast einfach einen leeren Magen. Dann sieht man alles schwarz und übel. Hier, trink die Milch und den Kaffee recht heiß und iß mir die Schnitten,alle drei, verstanden! Ich komme wieder ...“ Die gute Dirn' huschte weg, da mehrere Gäste mit der Münze ans Glas klöpfelten und aufstanden. Der Saal entleerte sich beinahe.

Der kleine Spichtiger hatte in der Tat heute nur immer ein bißchen getrunken. Der Vater dachte nur an seinen Durst, nicht an Bübleins Hunger. Und Alois verspürte auch keinen Hunger, weil ihm schon zu elend im Magen war. Zetzt aber beim frischen Milch-kaffee, den Eierringeln und den Schnitten mit Schinken und Butter durchlegt, fühlte er sich gleich wieder gehoben. Kraft und Freude zu was immer kehrten in sein Herz zurück. Dieses gute Roseli! Fast ein Engel ...wie ... wie ... Felizitas! ... Nein, o Gott, nein ...Erschreckt hob Alois die Hand, als wolle er eine Sünde abwehren. Das wollt' ich nicht denken, gewiß nicht.

„Verklärungszeit ... also nehmen wir weißen Marmorl! ... alles Licht ... die derben Formen zerrinnen ... Vergeistigung der Materie ... Auflösung des Koörperlichen in Ekstase ...“

Dem Vater ist wohl, dachte Alois bei diesem ihm viel zu hohen Hymnus. Er mochte es ihm wohl gönnen.Aber jetzt, da es dem Bub anfing gemütlich zu werden, erhoben sich die Männer. Paul winkte, Alois mußte mit, ohne daß er der Kellnerin noch danken konnte. Denn da war eben ein herrlicher Bursche hereinstolziert, wo hatte er ihn nur schon gesehen? Voll Hast bediente ihn das Roseli und so, wie er es herrisch lustig ansah und ansprach, schien er den hübschen Wildfang geradezu zu bannen. Die Jungfer kam nicht mehr vom Fleck und sah kein einziges Mal nach Alois zurück. Das tat ihm weh. Was hat sie nur? dachte er und ging, unklare Rätsel im Herzen, mit dem Vater und seinen Gespanen über den großen Platz, um einen Brunnen herum, der sechsfach Wasser aus langen, geschnäbelten Röhren spie und auf dessen vielstufigem Unterbau die Buben Fangis machten. Sie lachten viel heller und kühner als die dumpfen Saldernerjungens.Paul schritt am andern Ende des Platzes einer Wirtshaustüre zu, die drei Stufen tiefer als die Straße nach Aloislis Bedünken in einen Keller führte. Über der Türe trugen zwei gipserne Männer eine riesenhafte,nachtblaue Traube an einer Stange. Gleich fiel es dem bibelfesten Bürschchen ein: die kananitischen Boten, die das fromme Volk Gottes verführen wollten. Und Alois zögerte und hielt den Vater am Ärmel zurück und flehte leise: „Gehn wir da nicht hinein, Vater, hör', da nicht!“

„Ich muß,“ versetzte Paul und sehlug die Türe mit dem Stiefel auf.

„Dann laß mich draußen! Am Brunnen wart'ich ... gelt, Vater?“ Unheimlich kam ihm die Türe vor.Schon recht!“ Die rundliche, weiße, wohlgepflegte Hand des Vaters winkte zufrieden noch einmal aus dem Dunkel der Pinte herauf.

Niedergedrückt schlich Alois dem Brunnen zu und stieg langsam und zaghaft bis ans weite, meergrüne Becken hinauf. Da lehnte er sich an einen Steinknauf der Brüstung und folgte mit scheuer, wachsender Verehrung dem Spiel der Knaben und Mäödchen, wie sie es so kecklich trieben, die Hosenbeine viel gewaltiger zum Sprung spannten und die Zöpfe viel höher fliegen ließen als die Saldernerkinder und sich auch gar nicht schonten,wenn sie aneinander gerieten. Dabei regierten alle gleich mit, nicht wie in Saldern, wo in seiner Klasse der Friedel Herri oder über alle Schule der lange, glatte Hans von Aar befiehlt, und sich mehr oder weniger alle,die ärmern Dörfler voran, wie geduldige Esel fügen.Hier neckten die Kleinen die Großen und die in zerrissenen Kleidern duckten sich gar nicht vor denen in schönen, kurzen, blauen Hosen. Überhaupt diesen Sonntagsstaat bei den einen und diese Zerlumptheit bei den andern begriff Alois nicht. Sie redeten auch anders als in Saldern, schneller, spitzer, klingender, fast wie vom Buch.Und großartig scholl es ab und zu: Versteht sich am Rand ... pyramidaler Unsinn ... hast 'ne Ahnung vom Porzellan ... spuck dir in den Bart ... und so weiter. Kostbare Leutchen!

Bald merkte die lose Bande, daß der Dorfjunge sie nicht bloß scharf beobachtete, sondern sie verstanden flink, daß es mit herzlicher Bewunderung und fast mit Untertänigkeit geschah. Das reizte ihren schauspielerischen Ehrgeiz. Sie spielten nun schon frecher und bei jedem blassen Lächeln Aloislis verdoppelten sie ihre Hopser und schüttelten die Röcke stürmischer und knufften sich wilder, bis der behendeste der Schlingel vom Gesimse zum Brunnenstock sprang, über das Becken hinüber, das gefährlich breit und tief umlief. Er setzte sich zwischen den NRöohren auf einer schlüpfrigen Kante fest und verhielt ein Weilchen bald rechts, bald links den Wasserschnabel, bis er einen Strahl fast so derb wie einen Flintenschuß in die Kameraden jagen konnte. Die lachten und schoben einander vor die Gefahr und wollten ihr näher kommen und den Kerl wegreißen oder doch vom Trog aus bespritzen. Obwohl sie dabei pudelnaß wurden, mühten sie sich doch heroisch ab, bis zwei große Mädchen endlich ans Wasser gelangten und alle Hände voll dem Tyrannen an den Kopf schmissen. Aber auch zwei Buben war es geglückt, im Rücken des Feindes aufs Gesimse zu klimmen und in einem waghalsigen Sprung zwei andere Röhren zu besetzen. Nun spritzten die drei wütend gegeneinander, das Wasser floß über die Stiegen hinunter, der Tumult wurde höllisch.

Alois blieb an seinem Ecklein. Niemand netzte ihn absichtlich. Ihm zuliebe gab man ja dieses Theater.Aber er wurde doch unausweichlich von ganzen Schwaden getroffen. Dennoch wich er nicht vom Fleck. Eine knabenhafte Ritterlichkeit sagte ihm, er müsse aushalten.Auch scheute er, der Seebub, das Wasser nicht im mindesten. Und so lächelte er bald hier einem Treffer zu, schüttelte bedauernd den Kopf über einen Fehlschuß dort, flehte auch manchmal den behenden Zentrumsmann stumm an, wenn er gerade ein Opfer bearbeitete, doch etwas weniger grausam zu sein, und wurde in diesem erfrischenden Gewitter selbst munterer. Er sah wohl,aber dachte sich nichts dabei, daß auch die großen Leute auf dem Platze ihre Spritzer bekamen, daß man immer lauter heraufschimpfte und faustete, aber daß all dies Dräuen wieder in einem wahren Wolkenbruch vom Brunnen her unterging. Durch alles Rauschen und Regnen bemerkte er auch deutlich, wie sich Menschenhaufen sammelten, wie etliche winkten, Fenster und Türen ringsum aufgingen und neugierige Köpfe hervortauchten. Aber Alois war schon vom Schwindel erfaßt.Je toller, je schöner dünkte ihn das Gefecht. Er suchte durch die Wasserschleier den magern Teufelskerl in der Mitte, den die Kameraden den langen Hannibal nannten und der die Welt am großartigsten segnete. Er wollte schon bitten: Langer Hannibal, darf ich mitkriegen? Das Wasser tut mir absolut nichts! ... als plötzlich durch einen neuen Regenschauer Arme und Fäuste langten,das Klatschen einiger Ohrfeigen erscholl, fernes Gelächter der Entflohenen höhnte und im Nu nur noch Alois an seinem steinernen Knauf stand, Männer und Marktweiber und einen handfesten Polizisten vor sich.

Im Anblick der blauen Hosen und roten Schnüre und des Säbels am Gurt wollte dem Kleinen das Herz stillstehen.„So, den haben wir,“ grölte es irgendwo aus der blauen Uniform heraus. „He, kleiner Bengel, jetzt kommst mal ein bißchen mit mir!“ Alois fühlte sich am Ohre gepackt und in diesem Moment, wie durch einen geheimnisvollen und doch sehr natürlichen Streich des Gehirns, sah er sich vom Hause entlaufen, vor das Mätteliseppi gestellt und genau so am Ohre gerissen.Und wie ein Blitz leuchtete der Vergleich durch seinen Kopf: Wieder fortgelaufen, wieder Vagabund ... da haben sie dich!

Tropfend und schaudernd stand er da, sah die fremden Leute um sich und den Henker und durch eine Luke von Köpfen die Traubenmänner und die Türe darunter,fern, fern und verschlossen. Dahinter war sein Vater.Er wollte um Hilfe schreien. Vater? etwa Vater? ...Ohne es selber zu verstehen, wieso, reckte er den Hals und brüllte mit der ganzen Kraft seiner Angst heraus:„Mätteliseppil ... Mät ..t ..t ..el ..i..sep.. pil“

Dieser gewaltige und unerhörte Name flog wie ein Trompetenschrei über den Platz zu den vielen Fenstern und Türen und traf besonders ein Ohr in diesem Augenblick mit unwiderstehlicher Wucht.

Das Roseli nämlich war auch vor die Türe des großen Restaurants getreten. Jener Student mit der grünen Mütze, dem gelben, hochmütigen Gesicht und den fremdländisch geschnittenen, finsterlachenden Augen stand bei ihr. Der überreife Bub legte die Hand auf Roselis Schulter und flüsterte ihm aus seinen wulstigen Lippen etwas Schelmisches zu. Die Kellnerin fächelte die Schürze auf und nieder, hob schnippisch das Näschen in die Höhe, aber sagte nicht ja, noch nein, noch ade.Da neigte sich der vornehme Bösewicht noch tiefer über das Jungfräulein herab, daß seine feuchten Lippen fast ihr Ohrläppchen berührten, und süßgiftig musizierte es in das eitle Mädchen hinein: daß er abends spät nochmals komme, jetzt einen Kuß, aber später noch mehr wolle ... unbedingt ... er wolle einfach ... Und er strahlte in Macht und Sicherheit vor ihr wie ein dämonisches Gestirn, und geblendet und verwirrt fühlte ganz deutlich eine hohe, unschuldige Knabenstimme bis zu ihr hinschrie: „Mätteliseppi!“

Mätteliseppi ... Altjungfernstube daheim ... singen der Webstuhl ... Kinderbänke, Katechismus, trauliches Gesumme der ungebrochenen Knabenstimmen und des noch viel hellern Mädchenchorus, Betglockenläuten ...Mätteliseppi, bitte noch ein Geschichtlein! ... lustiges Heimgehen im Christmonatschnee, Lampenlichter schon hinter allen kissengefütterten Fenstern, irgendwo ein übers Eis rollender Schlitten oder eine Holzfuhre, die Kinder mit blauem Atem in die heiße Stube gestürzt, zu Käs und dampfenden Kartoffeln, während am Ofen ein alter Knecht das Mundörgeli melancholisch zwischen den borstigen Lippen auf und nieder summen läßt ... o Zeiten ohne Reue! O Stirnen ohne Wissen, o Herzen ohne Schatten ... o Mätteliseppil O Daheimbleiben!

„Weg, weg, sag' ich,“ zischte die Jungfer wild und riß sich vom Burschen los. Flugs schoß sie in die gelockerten Menschenhaufen hinein zum Brunnen, puffte den Polizeimann famos am Ellbogen und gebot:„Schmeidinger, das Kind laßt Ihr aber mir ... 's ist Landskraft ...!“IJ „Roseli Herri!“ jauchzte der Knabe mit unendlicher Erlssungsfreude auf und umkrampfte die Jungfer mit beiden Armen so verzweifelt, als könne sie ihn allein vor dem Ertrinken in diesem unergründlichen Stadtmeer bewahren.

„Der hat ja nur zugeschaut ... ist heut vom Dorf kommen und geht in ein paar Minuten wieder heim.He, Schmeidinger, Ihr seid mir ein Schöner! Die Cheibenstadtschlingel laßt Ihr laufen und so eine Unschuld vom Dorf, die packt Ihr ... ja, ja ... unsere heilige Polizei! ...“

„Unschuld vom Dorf, das ist gut, heja,“ lachte der Blaue breit und tupfte der Jungfer auf die prallen,nackten Arme. „So sieh doch, Rosi, wie er naß ist.“

„Drum muß ich ihm das Tschöpplein)) trocknen,“ gab sie schneidig zurück. Kommt Ihr nur auch und schwemmt Euch mit einem Magenbitter die Galle weg!“

„Das macht nichts, das Nasse, Roseli; aber komm zum Vater! ... Ich will heim, heim will ich!“ schrie der Junge hinauf.

So gingen denn die Kellnerin, der Polizist und ein paar Gaffer hintendrein zur kananitischen „Traube.„Geh du allein,“ sagte das Mädchen artig und hielt die andern von der Schwelle ab, als sie die Scham am blassen Knaben wie ein Fieber aufsteigen sah. „Ich halt' derweil Wach' hier! Aber mach' schnell!“

Paul saß allein am Tischchen, den Kopf in einer großen Zeitung. Der Tabakqualm flutete daraus wie aus einem Schornstein hervor. Dennoch schien der

CIe.Raucher halb zu schlummern. Mehrmals mußte ihn der Sohn stupfen, bis er sich aus seiner Abgeschiedenheit herausrollte und den Alois erkannte. Ein mißliebiger Zug entstellte sogleich das schöne Bartgesicht. „Laß,laß!“ rief er mit schwerer Zunge und streckte die Hände vor, so weit er konnte.

„Wir müssen heim,“ weinte Alois. „Es ist Zeit.Die Mutter wartet ... Vater! ... hör'!“

„Zwei dreißig, nein fünf dreißig ... da, lies mal,ich seh's nicht scharf!! Paul hielt dem Jungen mit alkoholischem Zittern die Uhr vor die Nase.

„Schon über drei, Vater! Komm, wir laufen schnell weg ... ich fürcht' mich hier ... das ist alles ein Pack ... komm!“

„Ein Affenpack! Aber ich krieg' es schon noch dran laß mich nur fertig studieren!“

„Sie halten uns alle zum Narren, die Stadtleut',tun uns zuleid, was sie können, Vater!“ jammerte Alois seine junge Erfahrung mit kindlichem Spürsinn in den Ärger des Vaters mischend. „Komm auf der Stell'!“„Wir wollen doch sehen, wer stärker ist!“ spann Paul fort. „So steht's, so hab' ich's erschaut und firxiert,so muß es kommen! ... AUnd wenn mir diese Gimpel den Marmor nicht und nicht einmal das Wachs geben wollen, so knet' ich's aus Erde ... aus dem ersten besten Lehm, wie unser Herrgott den ersten Menschen schuf! ... Kind, Kind, laß mich schlafen ... ich brauch' ein Stündchen Ruhe ... dann kannst' mich wecken und aufs Schiff holen ... Nicht einmal das Wachs, diese Löffel! ... Ah bah, da les' ich, wie der .alte Watts an seinem Roß arbeitet ... Und er ist ein Genie. Und will doch nichts herauskommen! Pfuscht er denn oder fehlt's am Schrot? Oder steigen ihm die Philister auch auf den Buckel? Das lies mal ...“Er ließ die Zeitung zu Boden fallen und stützte das Kinn mit überquerem Bart auf den Tisch, von Wein und Schlaf völlig betäubt. „Laß mich! Weg! ...Spring mit den Buben!“ zürnte er auf das flehentliche Zupfen des Knaben. „Geh zu Bachs! ... Ach ja,Mutter hat gesagt, sollst Bachs grüßen. Geh, 's ist alle Zeit.“ Er stand auf, raffte eine aufrechte Figur und eine strenge Miene zusammen und wies mit der Hand zur Gasse hinaus. Dann ging er ohne Hut und Stock und Reisetasche dem Türchen im dunkelsten Hintergrund zu. Ohne Schwanken, schön und rasch, lief er und brummelte rückwärts: „Also hol' mich um die Fünfe ... ich geh' in mein Zimmer hinauf ...“

Es war gut, daß Roseli Herri endlich vom Platz hereinschaute und den schwindeligen Knaben am Arm ins Freie schleppte. Dem Alois ging alles drunter und drüber. Die Häuser wickelten sich zusammen und rollten sich auf wie Soldaten, die turnen, und grinsten mit eisgrauen Scheiben auf ihn herab. Ihn fror, ihn brannte. Die Augendeckel fielen ihm schwer herunter.Endlich ging es durch eine lange, eintönige, farblose Straße mit hohen, verwaschenen Häusern, die sich glichen wie ein Mauerquader dem andern. Weniges ärmliches Volk war zu sehen. Das Roseli zog den Bub dann eine ganze Leiter von Stiegen empor und läutete an der obersten, niedrigsten Türe. „So,“ sagte sie tröstlich,„da sind Bachs, wohin du noch mußt! Bleib hier und warte schön! Man holt dich da zum Schiff ab ...“„Und der Vater!“

„Sei kein Babeli! Tut's der Vater nicht, so kommt der Trunz mit seinem Wagen und kutschiert dich mitten ins Dampfschiff hinein. Hui, ich hör' was kommen.Die sollen mich nicht sehen. Schnell, was hab' ich verdient? Ein Küßchen? Gut, so gib flink eins. Dummer Bub! Was hast du für ein kaltes Mäulchen, wie ein Fisch! ...“ Im Augenblick fühlte er die Lippen der Jungfer weich wie ein Schwämmlein in seinem verhetzten Gesicht, wie ein Schwämmlein, wenn es auf der Schiefertafel eine Rose, die er ungeschickt hingegriffelt hat, auswisecht.

Erschreckt und puterrot stand er plötzlich vor der geöffneten Türe und vor einer magern Frau, die, rechts und links ein Kind am Rock, ihn fragend ansah, indessen er das Dirnlein schon weit unten über die Stiegen huschen hörte.

„Ja, was denn? Gottes Wunder, der Aloisli Spichtiger, nicht? Na, das ist ein Hauptspaß ... und mutterseelenallein!“

„Der Vater holt mich um die Fünfe aufs Schiff!Guten Tag, Frau Bach! Einen schönen Gruß von der Mutter ... und wie geht es Euch?... Kann ich hier warten?“

„Komm nur! Wie mich das freut! Denkt die Verena soviel an mich? 's war immer eine treue Seel'. Gott,aber bist du gewachsen! Schade, daß mein Mann erst um Sieben aus der Fabrik kommt... Na sag', was magst denn? Gar nichts? Bist so müd' schon? Hast wohl nichts als geleckt und geschleckt von der Stadt,“sagte sie bittersüß, „o wir Salderner! Alle sind wir gleich!“

Sie setzte ihn auf einen häßlichen Stuhl in einer häßlichen, öden Stube. Durch die Fenster ohne Vorhänge sah man nichts als Wände rechts und links und vorne und zwischen den Dachtraufen nur eine ganz kleine Gnade Himmels. Aber dieser Himmel war noch grauer als die Hausmauern und schien drückend nahe. Er war wohl eher auch noch Erde oder doch das Kamin der Erde, ihr Rauch, Ruß und Unrat. Eine ungeheure Trostlosigkeit überkam den Knaben.

Die einzige Zutraulichkeit des Zimmers war ein grober Kirschbaumtisch, ganz gewiß aus einer Saldernerstube hierhergepilgert, und darauf rauchte eine Kanne mit Kaffee und ein brauner Krug mit Milch. Eine blühend getupfte Riesentasse war noch halb von Milch und Brocken voll. Und zum zweiten Male tat der Zauber des Kaffees seine Wunder. Während Alois aus einer kleinen Tasse trank und sich mit jedem Schluck sein Gehirnchen sammelte und ordnete und beruhigte,sah er zugleich der noch jungen, aber ältlich und leidend aussehenden Frau zu, wie sie bald dem Schreihals links, bald dem Schreihals rechts einen Brocken in den Mund schob. Die Kinder aßen und tranken und starrten den Alois unverwandt an. Es waren kaum zweijährige Zwillinge, die weder recht marschieren, noch ordentlich schwatzen konnten, aber wenn sie auf ihren Stühlchen saßen, sich allmächtig gebärdeten und so frech stammelten, als wüßten sie aus allen Sprachen das Beste. Alois verstand keine Silbe vom ganzen Kauderwelsch, und dennoch schrien sie ihn immer wieder an und fragten ihn aus.

Nach und nach hatte Frau Bach es schlau herausbekommen, daß der Spichtiger in den Wirtshäusern lag und man den Knaben allein nach Hause schaffen müsse. Sie ließ sich aber nichts anmerken und gab auch sich selber den verstellenden Schein, als ob es ihr in der Stadt, in die sie sich vor sechs Jahren mit einem Gießer geheiratet hatte, weiß Gott wie trefflich gefiele. In Saldern freilich wußten alle, wie sie das Heimweh nach dem Dorf marterte. „Im Dorf ist und bleibt man arm,“ schalt sie. „Aber hier verdient mein Mann einen starken Batzen und wir legen jeden Samstag, heut wieder, ein Silber auf die Seite. Wer kann das in Saldern? Etwa die alte Rosla Herri? Hahaha!“Eine Reihe plombierter Zähne glitzerten ihr aus dem Munde. „Guck' her, da ist schon ein Sparheft für den Karli und eins für den Klausil ... lies es nur,“verlangte sie stolz. „Zweihundertsiebenundsechzig Franken dreißig Rappen und hier sogar dreihundertneunundsechzig Franken fünfundvierzig Rappen. Mußt wissen, der Klausi hat eine gute Gottei) ... das Mätteliseppi!“

Alois reckte sich empor. Lieber Himmel, also auch hier im bevölkerten Arbeitsviertel, hoch unterm Dach einer Arbeiterkaserne, ist das Mätteliseppi daheim!Allgegenwärtig wie unseres lieben Gottes Schutzengel!

Die Frau fuhr fort ihr Leben und ihr Glück zu verteidigen und ihr schattiges Gesicht mit grellen Hahaha und den funkelnden Plomben aufzuheitern. Sie y Patin.Federer, Das Mätteliseppi.

10 richtete sich eindringlich an Aloisli. Er schien ihr klug genug, das ganze Dorf Saldern vorzustellen, und dahin ging ihre eifrige Rede ja eigentlich. Als aber der Knabe unruhig wurde und immer aufs neue fragte, wie spät es denn sei, da holte sie ihm die Soldatenspiele der Kinder her und staunte, wie der Bub sich gleich auf den Boden setzte, die Zwillinge zu sich rief und mit den invaliden Reiter- und Fußtruppen im Nu eine helle Gruppierung vornahm, leidenschaftliche Schlachten anordnete und alles Kinderweh dabei vergaß. Frau Bach hätte den Zeiger nicht verstohlen einen Viertel zurückkrebsen lassen müssen. Alois dachte an keine Zeit mehr.

Nun wurde aber sie selber unruhig. Es ging auf die Fünfe. Wenn man den Bub nicht abholt! Welch ein Geschrei erhübe er! Sie aber wäre im Grunde ihres Herzens froh. Er redet noch so saldernisch, erinnert sie dutzendmal an liebe Eigenheiten der Heimat,und er könnte ihr abends so mächtig viel vom Dorf auskramen! Er würde auf dem Sofa schlafen und sie würde ihn in ihre Wolldecke wickeln und meinen, die Heimat zu beherbergen. Aus seinem Kittel roch sie die Nußbäume der Kirchwiese. Da liegt sein Filzhut.Er hat ein Haselzweiglein aufgesteckt. Halb well ist's geworden und das Nüßlein schon herausgefallen. Behutsam und fast hinterrücks nimmt sie's aus dem Band und legt es in ihr Schlafzimmer aufs Nachttischchen.

Da reißt es an der Klingel. Der junge Trunz stottert an der Türe etwas von „sogleich an die Schifflände fahren, sogleich!“

Frau Bach schiebt das Büblein vorwärts. „Der Vater wird morgen nachtrampeln,“ tröstet sie, „glaub's nur! Grüß' mir die Mutter und die Nußbäume und den Dorfbach ... gelt! ... und meinem Alten sag', ich lach' und sei wohl... hast du's doch selbst gesehen! ...Da, steck“ so einen Soldaten und noch einen in den Sack! Den da auf dem hohen Roß.“

Alois schob die Blechmännlein hastig in die Tasche.Da fühlte er etwas Hartes und zog einen Zweifränkler heraus.

„Was ist das?“ fragte er blöd. „Habt Ihr etwa?“

Nein, diese Frau jedenfalls nicht ... mit ihrem Sparbüchlein! Das Stück war vom RNoseli.

„Was ist damit? Gehört's nicht dir?“ fragte die Bach.

„Das Roseli Herri hat mir den Zweifränkler in den Sack getan, ganz gewiß!“

„Die? Das? ... Was? Schmeiß ihn weg, schmeiß ihn sogleich weg! Das ist schmutziges Geld!“ sehrie die Frau und schlug dem Bürschchen auf die Finger,daß das Silber über die Treppe kollerte.

„Was denkt Ihr denn eigentlich?“ rügte Balzli mit langsamem, scharfem Silbenstechen. „Das ist alles Geld, ganz gleiches Geldl Und das Geld ist unschuldigl ... Und der Aloisli kann doch nicht über den See fliegen ...“ Er nahm den Zweifränkler für den Jungen in den Sack. Blitzschnell berechnete er: Für den Aloisli erschwindle ich ein Kinderbillet, macht siebenzig Nappen.Dreißig Rappen für Brot und Käse in Staad. Bleibt für mein Wägelchen noch ein Franken, nicht zu viel,nicht zu wenig, 's geht gerade eben aus.

Schon über die Straße, die jetzt wieder Sonne,

10*schöne, gelbe Vespersonne hatte, wäre Alois eingeschlafen,wenn der Wagen nicht so holperte und er nicht immer noch nach dem Vater ausblicken müßte. Immer noch wirbelte und rollte und dudelte die Stadt wie eine ungeheure Drehorgel bis an den Wagen heran. Am Kai sah er Frau Trunz mit unsäglichem Kram an der Brücke stehen und hin und herkommandieren, daß alles sorglich ins Schiff verstaut würde. Während er sie eilig am Rock faßte und dann mit unendlichem Heimweh ins ferne Dämmern der Berge schaute und nichts, gar nichts mehr von der Stadt wollte als den lieben, armen Vater, wobei er die starke Krämerin bitterlich am Gewand schüttelte und schrie: „Franzi, wo ist der Vater! Hol' mir den Vater! ...“ strich sie ihm beruhigend über den zerrauften Flachs seiner Haare: „'s kommt alles recht, Alois, Geduld, 's kommt alles recht!“und leierte dann mit ihrer durchdringenden Krähenstimme weiter in die Packträger hinein: „Fünf Kilo Nägel hier,Nummer sieben ... vier Säcke Rüben, Nummer acht ... fünf Töpfe Kunsthonig zu je drei Kilo, Nummer neun... zwei Körbe für Berters, Nummer zehn...neun Ballen Baumwolle für Hadler, Nummer elf ...Baumwolle ... Baumwolle ...“

Der Knabe schlief. Er merkte nichts mehr vom Schiffgeschaufel über den See und nichts vom Roß-getrappel in die Berge hinein. Er hörte nicht, wie der Pilatus erdbebenhaft zum Stanserhorn hinüberlachte,weil er die Wette gewonnen hatte und den ersten Winter ins noch so sorglos lustige Tal hinunterschicken durfte.Als ihm endlich die Mutter Jacke und Hosen aufknöpfte,öffnete er wohl einmal wie aus einer Ohnmacht die Lider, aber ließ sein armes Seelchen sofort wieder in den frommen Schlaf zurücksinken.

„In die Schule, Alois, aufl! 's ist hohe Zeit!“ rief Verena morgens.

Da setzte sich der Knabe gradauf, wieder ganz allein im großen Bett, und sagte, er habe im Traume eine entsetzliche Reise in die Stadt Paris oder London gemacht und er sei nun heillos froh, daß er das nur geträumt habe und noch immer da in seinem Bett und im Dorf Saldern, bei Mutter und Va...

Jetzt stutzte er, griff an die Stirne, ward krebsrot und warf sich schreiend der Mutter an den Hals. „Ich bin ja nicht schuld, glaub's doch, ich bin nicht schuld...“

„So schrei' doch nicht so, Alois,“ tröstete die Frau allmächtig. „Sieh, ich lache ja. Ich lache, daß wenig-stens ein Vogel wieder zu mir zurückgeflogen ist. Den lass' ich aber nicht mehr los.“ Und sie umfing und umgitterte ihn mit allen zehn Fingern, als wollte sie ihn so auf ewig in den Käfig ihrer Mutterliebe und Muttersorge einsperren.

6 iele Monde wanderten über Saldern. Die kleine V Familie gewöhnte sich wieder daran, ohne Vater zu leben, und die Kinder vermieden es scheu, von ihm zu reden. Aber manchmal beugte sich Alois doch im Hemdlein über das Fensterbrett und ersuchte den Mond sehr höflich und bestimmt, sich doch einmal ordentlich auf der Erdkugel umzuschauen und ihm ein Zeichen zu geben, wo der Vater jetzt unter dem gleichen gelben Licht marschiere, in einer Wüste etwa oder durch eine ungeheure Stadt oder neben einem Bach ein schroffes Bergtal hinauf? Ob er jetzt schlafe oder male oder leider mit dem Weinglas an einem schlimmen Tische sitze?Überhaupt wie es ihm gehe und ob er noch an sie daheim denke? Ob ihm jetzt jenes Herrliche gelungen sei oder ob ihm die Leute immer noch Bengel und Grobheiten in den Weg schmeißen? Daß er doch mal nur eine kleine Zeile schreibel Alle warten daheim am runden Tisch.

Aber über die stürmischen Fragen so eines Wichtes kugelte der Mond mit seiner alten goldenen Gleichgültigkeit hinweg.

Spät am Samstag vor der Alplerkilbi) beugte sich Alois denn auch in die halblichte Nacht hinaus und schwärmte nach dem Vater, der ihm in der Ferne gleich wieder groß und lieb und voll Duldermut erschien, als die Schwester Lina vom nächsten Fenster her ihm scharf zuzischelte: „Warum gehst du nicht ins Bett? Wenn dich die Mutter sieht!“

9 Kirchweih der Älpler -Genossenschaften.„Und du?“

„Ich häkle noch ... siehst du, einen Sofaüberzug,von dem die Mutter nichts wissen darf. Jeden Abend drei Rosetten. Ganz gut seh' ich's, und das Licht da kostet nichts.“

„And mir ist der Schnauf im Hals so dünn, ich mußte an die Luft. Jetzt geht's besser. Ich denk all-dieweil an den Vater. Pst!l hübschli), die Mutter hat noch Licht in der Stube.“

Nach einigem Stillschweigen fing Alois wieder an:„Du, sag' einmal, da hinten über den Birnenästen der Bergsattel, das ist doch der Brünig? And von dorther über den Schnee sind Vater und Mutter gekommen.Ich trug noch nicht einmal Hosen. Ist es so?“

„Natürlich.“

„Und da drüben haben wir so viele Verwandte,Bäsi und Bäsibuben?“

„Eia, Mutter hat ganz jung einen Berner geheiratet.Der ist bald gestorben. Da hat sie noch einmal geheiratet.“

„Zts! Warum auch?“ tadelte Alois.

„Was verstehst du davon? Schlüpf' lieber ins Bett, sonst hat es dich wieder am Zipfel! Ich hör dich bis zu mir pfeifen. Dann hast du die Kilbil!“

„Dummes Zeug, zeig' mir lieber die Photographien herüber, die vom Berner und die von unserem Vater!Sie hängen alle beide ob deinem Bett.“s ist gescheiter, du kriechst in die Federn.“

„Lina, ich kann nicht schlafen. Ich hab' gemeint, der leree.Vater rufe: ‚Verena, Verenal‘ dort unter dem Baum hervor. Wenn er dort im Schatten steckte! Fürchtest du dich nicht ?“

„Dumm schwatzest du wieder einmal! Da!“ Das Mädchen langte ihm die zwei alten Bildchen herüber und häkelte gewaltig an der Rosette weiter.

Alois betrachtete die beiden Männer. Der eine hatte ein gemütliches Gesicht, zufriedene Augen und einen mit Behagen geschlossenen Mund. Er saß breit und fett auf einem geschnitzelten Stuhl. Der Knabe konnte nicht begreifen, daß dieser Mann seiner jungen Mutter gefallen hatte. Er war nichts als Ruhe, Ordnung und Behäbigkeit. Kein Glütlein von Jugend funkte hervor. Alois kehrte das Bild gegen den Mond,aber es blieb glanzlos und ältlich.

„Ts, ts!“ machte der Junge kopfschüttelnd und mißbilligend.„Da ist gar nicht is, ts!‘ zu machen,“ belehrte Lina.„Herr Mistel war ein braver und tüchtiger Mann.Aber das, er konnte Mutters Vater sein, soviel älter war er.“ And das gescheite Mädchen verschluckte, was es aus vergilbten Briefen in Mutters Schublade genascht hatte: daß die junge Frau immer genügsam und zufrieden bei ihm war, aber auch nicht ein Tüpfelchen mehr.

Wie anders gefiel dem Knaben der lockenwehende junge Spichtiger! Mager und blaß und dunkelhaarig stand er da, die kleine zarte Hand auf die Marmorbüste einer Griechin legend, die Adlernase schmal, die Augen klein, tintenschwarz und schwärmerisch, zwei weiche Brauenbüschel darüber und erst einen übermütigen Bubenflaum auf der Lippe. So etwas Bübisches und Mannliches floß im Bild zusammen. Er hatte einen schönen Rock mit breitem Samtkragen umgetan und blickte mit der mutwilligen, weltbesitzenden Laune eines Genies und Habenichts über alle Schwere weg. Feuer lohte aus ihm wie aus einem Mars oder Helios. Wie mußte es erhaben gewesen sein, als dieser funkelnde Jüngling vor die junge Witwe trat und gebot: „Weib,komm und heirate mich!“

„O welch ein Mann war der Vater!“ entfuhr es Alois.

„Aber zu jung!“ gab Lina hart zurück.

„Wieso?“ fragte der Bruder entrüstet. „Auch die Mutter war ja jung.“

„Dreißig hatte sie doch; aber er noch nicht zwanzig.Zehn Jahre jünger, denk! So heiratet man doch nicht.“

„Und zwanzig jünger, was macht's?“

Jetzt wurde Lina gesprächiger: „Die Mutter war eine schöne, stille Frau, hat mir die Großmutter in Brienz oft erzählt. Man meinte, sie sei noch ein Mädchen, so blank und glatt war ihr Gesicht. Und doch hatte sie schon eine Ehe hinter sich. Verstehst du?Und er ...“„Der Vater!“

„War noch fast ein Student und kannte keinen guten Menschen und wollte seine Kunst anfangen. Da sah er die Mutter und malte sie. Und da gefiel sie ihm jeden Tag besser. Weil sie so ruhig und er so unruhig war und sie so klar und er so durcheinander,das gefiel ihm gerade, sagte die Großmutter. Genau so sagte sie's, zwei- und dreimal, bis ich's recht verstand.Aber auch der Mutter gefiel das Ungleiche. Und sie war noch nie recht im Feuer gewesen, da ward ihr alles neu ... die Großmutter hat es mir so vorgesagt, begreifst du's? Ein wenig versteht man's ja!“

Alois nickte feierlich. Er sah nichts, aber ahnte alles mit dem unbewußten, heiligen Tastsinn des Kindes.

„And er konnte so reden, du weißt, so fast wie predigen und singen ... und er musizierte auch aus dem Kopfe und malte und schnitzelte und schwor dazu und sie glaubte ihm alles und hat nicht mehr von ihm weg können, und die Schwäger und Vettern haben gestaunt und gesagt, Verena sei aus einem Gletscher ein Vulkan geworden ... haargenau das sind Großmutters Worte,auswendig weiß ich's ... und so haben Vater und Mutter wie Blinde geheiratet und sich erst erkannt, als sie beisammen in der Stube saßen und schon am ersten Tag übereinander erschrocken sind und Streit bekommen haben und darum zuletzt wieder auseinander mußten ...“

Lina seufzte ein bißchen und sah unzufrieden gen Himmel, wo der Mond sich nur schwächlich gegen die Wolken verteidigte und den halben Glanz verlor. So wurde das Häkeln schwierig.

„Ach Gott, wer ist denn jetzt schuld?“ fragte Alois beklommen.„Ich nicht, o ich gar nicht!“ sagte ihm das herrliche Antlitz der Photographie. „Ich wollte alles schön,alles gut, alles lieb haben.“

„Ist die Mutter schuld?“ fragte der Bub wider-strebend und blickte zaghaft zum Stubenfenster hinunter,das einen strengen Lampenschein von Nachtarbeit in die sonnabendliche Ruhe der Matten und Berge hinaus-sandte.„Schäm' dich, so zu reden!“ tadelte das Mädchen.

„Aber zu wem gehbören wir eigentlich? ... Zur Mutter?“ Er mußte es heraussprudeln, obwohl ihm dabei dumpf und heiß wurde. „Zur Mutter ... oder ...zum Vater?“ Zur Mutter, sagte sein elender armer Leib; zum Vater, sagte sein hungriger Bubengeist.

„Wer gibt uns zu essen?“ antwortete die Schwester einfach.

Ja, ohne das Licht dort am Fenster und ohne die Frau und ihre arbeitenden Wunderhände dahinter, wo wäre Alois? Wer gäbe ihm Hemd und Hosen und Brot und Kaffee und sogar ein Schniffelchen Käse?Und die Schulbücher? Wer stände nachts bei seinen Erstickungsanfällen am Bett, so still und beherzt wie die Tapferkeit selber, und schichtete ihm die Kissen hoch und betete ihm die Psalmen so lieblichcherb vor? Was wäre er ohne diese Mutter? Ein verschupftes Waislein oder ein Armenhäusler!

Und dennoch wäre es auch schön, mit dem Vater in fremde Länder zu pilgern und an seinen Erzählungen zu hangen und ihm den Gips herzutragen und die Leiter aufzustellen ... wenn er einmal... ach, ja, wenn er endlich einmal ...

„Horch ... hat es nicht wieder gerufen: ‚Verena“?“

Lina paßte jetzt auch auf. Sie spitzte gleichsam ihre grauen Augen und stach wie mit eisernen Nadeln in den hintersten Baumschatten hinein. Aber da war nichts als Dunkel und gleichmäßige Stille. So leise tat die Natur, daß man von der Goldinger Kirche über den See und die Wiesen hinauf wohl eine Wegstunde weit hammerhell die drei Viertel auf Elf schlagen hörte. Und wenn am unruhigen Himmel zwei noch so leichte, weißliche Wolken zusammenstießen, meinte Alois es vor lauter Stille plustern zu hören, als strichen zwei Taubengefieder aneinander vorbei.

„Es ist nichts,“ bemerkte Lina. „Du schläfst schon halb. Geh jetzt ins Bett! Um Elfe kommt die Mutter hinauf.“ Das bündige Jüngferchen schloß ihr Fenster.

Zögernd gehorchte Alois. Sein Hals war brennend trocken und er hörte nun selbst, wie sein Atem rasselte.Ein fieberhafter Durst versengte ihn beinahe. Nur einen Schluck Wasser! Das kann doch nichts schaden. Und obwohl es hundertmal geschadet hatte, tat er einen vorsichtigen Zug aus der Flasche und noch einen, dann aber, unfähig weiter an sich zu halten, ließ er es gierig hereinschwemmen und schluchzte leis vor Wonnegefühl.

Einige Minuten später erlosch auch die Stubenlampe, und der Mond, von keinem Störenfried mehr gehemmt, spann wie eine goldene Spinne seinen mystischen Schleier ums dunkle Haus.

Unter dem Apfelbaum aber schwankte der Schatten Pauls hervor.

Er hatte die Kinderstimmen gehört und ihre Gesichter im Mondschein erkannt und er sah in der Stube eine Figur wie ein leichtes Wölklein hin und herfahren und schließlich mit beiden magern Armen zum Fenster hinauslangen ... wie? Etwa nach ihm in die Ferne hinaus? Ach nein, nur die Laden zu schließen, frostig und dunkel vor ihm zu verschließen. Seine Verena,seine Familie! Die er lieben möchte weiß Gott wie stark, wenn er nicht verdammt wäre, sich und seine Wildheit noch viel mehr zu lieben. Hie und da kam es doch wie ein Feuer über ihn, seine Frau zu küssen,diese stille, saubere, ordnungsharte, schnell, schnell einmal zu küssen und dann wieder fort! Diesmal aber war er weither gelaufen, mit erborgten Batzen, verschwitzten Kleidern und die Schuhe durchlöchert, von einem besondern Heimweh nach Ruhe und einem sichern Ofenplätzchen geplagt. Wochenlang war er marschiert, einmal am harten Tag, einmal in der herzlichen Nacht, verregnet, bettelnd, von allen Seiten grob angelärmt und von Hunden verbellt. Endlich stand er schlotternd vor dem Ziel, aber er erschrak vor dem letzten Schritt. Denn diese Kinder dort von seinem Fleisch und Bein sahen mit so strengen Gesichtern zu ihm heraus. Oder wollten sie ihn nicht kennen? Oder sie schauten zum Mond und den Bergen darunter und lächelten kalt und dachten an ganz anderes als an ihn. Und wie unbarmherzig hatte Verena die Ladenriegel gestoßen, so rasch, als ob Gefahr vor einem Ungeheuer wäre. Sie wollten ihn nicht. Das ganze Haus machte ein abweisendes Gesicht und der Kamin, der oft so freundlich rauchte, glotzte ihn an ohne Wärme und Odem. Warum auch sollten sie ihn wollen? Wie stank sein Gewand vom Vagabundieren.War es nicht fast der Geruch eines wilden Tieres, ja,ja, ganz recht, eines Ungeheuers? Wie verwildert sah er aus! Wie leer waren seine Säcke! Was konnte er bringen? Die alten Schwüre, dazubleiben und endlich ein geduldiger kleiner Schaffer zu werden? Ach du lieber Himmel, während er das versprach, merkte er schon, daß er es nicht halten konnte.

Und dennoch, auch der ewige Wind sucht dann und wann einen Schlupf zum Ruhen und Atemschöpfen.VAuch der wildeste Vogel sitzt einmal in einem Wipfel und träumt von einem Nest. Und er, den seine unselige Natur über alle Straßen geißelt, auch er möchte heute abend seinen verstrubelten Kopf wieder einmal abseits vom Lärm in weiche Frauenhände bergen, möchte das Du von Gemahlin und Kindern und das Ticken der alten Stubenuhr wieder hören und in solcher Musik und Traulichkeit einen Löffel warmer, eigener Suppe essen und das Gefühl wenigstens eines ruhigen und ungehetzten Tages verkosten. Das hatte ihn hergetrieben.Als er näher rückte, war er nur noch nachts gereist und hatte sich am Tage in Heuspeichern und Streuschobern fast wie ein Verbrecher versteckt. Jetzt vor der Erfüllung entfiel ihm der Mut. Wohl lockte ihn jeder Balken und Ziegel anzuklopfen und drinnen der Frau zu Füßen zu fallen und die Kinder zu küssen. Aber wollten die? AUnd zugleich, wie er jetzt das alte Haus länger ansah und es in seiner alten, engen, müden Gewohnheit wieder erkannte, fühlte er auch schon seine Langeweile voraus. O ja, wenn er ein wenig ausgeruht und die Frau liebkost und die Neugier der Kinder geschmeckt hatte, wenn Verena den Rock geflickt,neue Strümpfe gegeben und den Geldsäckel frisch gefüllt hatte ... denn immer noch hatte sie irgendwo heimliches Silber! ... dann aus dem Wipfel, Vogel! Aus dem Loch, Wind! Aus der Gefangenschaft, Pauli!

Jetzt erlosch das Lichtstümpflein in der Elternkammer.Jetzt schlafen sie. O frommes Nest!

Soll er doch klopfen? Anmöglich dünkt es ihn.Die eisblaue Kälte der Nacht, das durchdringende Mondlicht, die entsetzliche Stille der Felder, die halbnackte,arme Natur des letzten Herbstes vom frierenden See bis zu den frierenden Bergzinnen hinauf, all das macht ihn nüchtern wie nie. Für einen Augenblick fällt jegliche Schwindelei von ihm. Er denkt klar und einfach und sieht alles, wie es ist. Und so steht es: ich will mich ins Haus lügen und will mich wieder hinauslügen...ich weiß es ... Lüge und nichts als Lüge ist mein Paß.

Aber Paul hat Hunger. And dieser Hunger ist größer als alle Scham. Er muß durchaus hinein. Wenn er wieder einmal recht gegessen und sich in einem ordentlichen Bett gestreckt hat und absitzen darf, so lang er will, und die Beine in die Flur spreizen, so weit er kann, ohne daß man ihn wegschupft und schimpft, wer weiß, vielleicht behagt es ihm dann diesmal doch, vielleicht zaubert es ihn fest, vielleicht in dieser kleinen Hütte glückt ihm, was er bisher in keinem Weltglanz vollbringen konnte. Ei, ei, diese Hütte, so schwarz,schindelbedeckt, krumm und zerflickt ... ei, Pauli, sind das nicht die Geburtshäuser der Genies gewesen? Kamen nicht aus solchen Baracken die großen Ideen? Wer weiß! Ach Gott, mich zieht es nun einmal hinein.Es ist Schicksal. Ich muß ... sagt er sich.

Als Paul an die äußere Holztreppe gelangte, wartete er noch eine Minute. Wäre doch nicht Mond! Er wagte es leichter. Aber dieses scharfe, kritische Licht.Ah bah, ich bin doch immer der Vater, der Hausherr,das Familienhaupt, vorwärts!

Er reißt am eisernen Schloßring. Aber im gleichen Nu schlägt eine Faust an die Wand im Haus und eine verzweifelte und ganz zerrissene Stimme schreit:„Mutter ... schnell ... Mutter ... ersticke..“

Der Vater steht wie gebannt. Dielen krachen, Türen schreien, rasche, nackte Schritte, ein Licht glimmt bei Alois auf, die Fenster schmettern aus den Haften und ein furchtbares Keuchen strömt ins Freie, fast wie das Schnauben eines jungen, vom Halsreif gewürgten Tigers durch die Gitter des Käfigs heraus. Alles, was sich nun in der Stubenkammer zuträgt, hört der Vater so peinlich klar, als stände er mitten drin.

„Was hast du wieder gebosget)?“ fragt Verena mit strafendem und doch gütigem Tone und türmt dem Alois die Kissen im Rücken. Der Knabe sitzt vornübergebeugt, die Fäuste in die Decke gestemmt, Augen und Nasenlöcher verzweifelt aufgerissen, das Gesicht in Purpur, die Haare triefend von Angstschweiß, und sein Atem pfeift und singt und füllt das ganze Zimmer.Er kann nicht reden. Er weist nur mit einem Blick um Verzeihung zum Fläschchen auf dem Pult. Die Mutter nickt: Geschehen ist geschehen! und sucht ihm zwischen zwei knappen Schnäufchen ein Silberlöffelchen voll von dem wasserhellen starken Gift in den Mund zu gießen. Es ist eine Mischung von konzentriertem Jod und Kali und Äther.

Aber das hilft jetzt nichts. Der Krampf ist zu stark.Das Bett ächzt unter den luftsehnappenden Stößen des jungen Lebens. Alois wird dunkel, fast blau im Gesicht, die Adern sind nur noch wie dünne schwarze Fäden sichtbar, denn alles Blut staut sich um Kopf und Herz. Er kann ab und zu einen Schrei ausstoßen wie:„Luft! Luft... Mutter... beten!... die Psalmen!...“

) übel getan.Das Zimmer tost wie von einem Orkan und doch ist es nur ein klein mager Büblein, dort in der Ecke vergraben, das so lärmt.

Den Vater unter dem Fenster graust und ekelt es.Er war eine sonderbar empfindsame und doch harte Natur. Ihn schwindelte schon in drei Meter unbeschützter Höhe. Sah er Blut, so ward ihm übel, und mußte er Kranke ansehen, so meinte er gleich den Tod zu schmecken. Immer war er aus dem Hause geslohen,wenn sein Sohn die Anfälle bekam. Aber aus der Türe, aus dem Sinne.

Wie nun Frau Verena half und tröstete und der Junge aufstöhnte und brandete wie ein Meer und das Spichtigerhaus der alte, unerträgliche Jammerkasten schien,da überlief den Vater eine eiskalte Gänsehaut. Er blickte scheu um sich, schüttelte den Rücken vor Frösteln und strich hastig die Wiese hinauf und davon.

Nach und nach ging das Trompeten und Schmettern Aloisens in ein leises, dünnes, giftiges Pfeifen über.Der Atem verschloff. Den Bub verließen die Kräfte.Er spürte, daß der Schleim wie ein Stein an der Kehle saß. Gerade an dem wunderbaren Türlein, wo die Luft herein und heraus muß, stak er wie ein Querriegel fest. Das Ersticken stand vor Alois. Er schloß vor Schwäche die Augen und sah sich tief hinten in einem schwarzen Tunnel. Aber dieser unterirdische Gang rollte sich nach dem Ausgang wie eine Tüte zusammen und nur noch fern und klein wie ein Nadelstich sah er die Mündung ins Freie. Dieses Sternlein Licht war am Erlöschen. Jetz, jetzt blinkt es noch einmal auf, dann wird's dunkel. Er sieht und hört nichts

Federer, Das Mätteliseppi. 11 mehr. Lebendig begraben! O Gott und Vater der Lüfte, ich sterbe!

Fast noch grausamer war das Zuschauen. Man konnte nicht helfen. Der Erstickende duldete keine Berührung, kein Nahestehen, keine Bewegung. Das Geringste mußte ihn töten.

Still stand die Mutter unten am Bett in ihren leichten Unterkleidern, vor der Nachtluft erbebend, und zum hundertsten und tausendstenmal sah sie das Bubengesicht blau werden und die Augen verschwellen und hörte ihn nur noch wie aus einer Verschüttung ganz leis und fern wie ein Vögelchen piepsen: „Luft! Luft!“Dann hielt der Atem an und im jungen Körper ward es beinahe stille. Doch nein, es geht vorbei. Das weiß sie. Diese Anfälle sind nur grauenhafte Witze des Todes. Aber man stirbt nicht. Man steht am Rand, die Ewigkeit gähnt auf, es schwindelt einen,man neigt mit leeren Händen vornüber, schwankt, greift in die Unendlichkeit ... und fällt noch einmal auf den sichern grünen Ranft des Diesseits zurück.

O dieses Katzenspiel, das das Asthma mit dem Mäuslein Leben treibt! Frei gibt es Alois doch nicht und einmal beißt es ihn doch zu Tode.

Und wieder fragt sich die Mutter, indem sie alle Energie und Nüchternheit ihrer Seele aufbietet, ob es nicht doch besser wäre, der Bub stürbe gerade jetzt, wo es schon am äußersten ist und nur noch ein Schüpfchen)braucht, vor ihren Augen, als daß er nur so ein halber Mensch und zu nichts brauchbar durch die armen Tage y schwacher Stoß.hinkt. Zum Handwerk, wer will ihn dingen? Er fiele mit dem ersten Artstreich auch zu Boden. Aber auch zum Studieren ist er unnütz. Der Staat will keinen Krüppel und die Kirche keinen Bresthaften. Verena aber kann ihm für keinen roten Rappen Unabhängigkeit hinterlassen. Abhängig wird er sein Lebtag bleiben mit diesem Asthma wie ein Gras von jedem Wind,jedem Schuhtritt. Reiche allein dürfen Sieche sein.Arme nicht! Verena kann dem Bub nur die Schutzlosigkeit und Not der Waisen vererben.

Es ist himmelschreiend, aber sie muß es doch denken:wenn das Kind da sogleich stürbe, wäre eine Liebe, aber auch eine Last weniger und sie koönnte selbst einst ruhiger in die Grube fahren. Sie wüßte wenigstens, daß man den Knaben nicht mehr plagen kann, daß er sein ruhig und leidlos Friedhofplätzchen noch vor ihr gefunden hat.Nun mag das rohe Leben nur immer mit Hüst und Hott darüberstampfen, was tut uns das?

Jetzt mußte der Schweiß aus dem Asthmatiker brechen, in unzähligen feinen, blitzenden Regentröpflein über den ganzen Leib. Dann löst sich der Krampf nach und nach.So war es immer, so schien es auch jetzt. Eine sanfte Erschöpfung ging über das grau gewordene Martergesichtlein. Alois wagte noch kein Glied aus der stundenlangen, gefühllosen Erstarrung zu lockern. Aber seine graue Augen wurden frischer, seine Nasenflügel blähten sich und er bettelte mit heiserem Stimmlein die Mutter an, jetzt ihr Buch zu öffnen und vorzubeten.

„Aus der Tiefe rufe ich zu dir, o Herr, Herr, erhöre meine Stimme!“11*Dem Knaben war, es schluchzen Wasser aus dunkeln Gründen und darunter liegt bergtiefes Schweigen.Aber da, im tiefsten Loch, steckt er wie eine Wurzel und erstickt und schreit auf: Aus der Tiefe ...!Ach, der Herr, der jedes geplagte Käferchen hört und jedes Würmlein unterm Boden, er wird auch ihn erhören.

„Neige dein Ohr meinem Flehen!“ las die Mutter feierlich.

Und der Junge sah das ungeheure, ewige Ohr Gottes voll vom Getöse der Welten. In dieses verworrene, unermeßliche Musizieren flatterte seine Stimme leiser als eine Mücke und ward dennoch, o dennoch vernommen! Freilich:

„Wenn du achthaben wolltest auf unsere Missetaten,Herr, wer würde vor dir bestehen?“

Ich bin schuld. Ich habe kaltes Wasser getrunken und wußte doch, daß es Gift ist. Immer bin ich schuld.Bald ess' ich unreifes Obst, bald renn' und erhitz' ich mich, bald steh' ich am Durchzug oder sitz' im feuchten Gras oder wate im See. Dann kommt die Nacht und das Ersticken und ich heule um Erbarmen und verdien' es nicht. O ich Narr der Welt! Was sind doch das alles für Dummheiten!

Aber wie schön die Mutter vorbetet, so gleichmäßig,eintönig, beruhigend und sicher. Jedes Wort tut wohl.Schon spürt der Knabe ein Tröpfchen Luft, etwas wie Grasgeruch aus der feuchten Nacht herein, schon hört er ein leises Geräusch draußen, wie vom Fallen großer gelber Nußbaumblätter in die Wiesen.

Endlich wagt ihm die Mutter sachte den Schweiß von Mund und Auge zu wischen. Aber sonst rührt sie ihn nicht an.

Danke Mutter ... nun wird's ... heller ... Nie mehr kaltes Wasser ... trinken! Immer folgen ... wie ein Hündlein ... Alois bewegt sich nicht, aber streichelt mit allen tausend Händen seiner Seele das liebe Mutterbild vor ihm.

Gelassen las Verena weiter:

„Wollet nicht werden wie Roß und Mäultier, die keine Vernunft haben. Mit Zaum und Zügel zwinge,die nicht willig zu dir kommen!“

So bin ich gewesen wie ein unvernünftig' Tier...aber zum letztenmal. Ich Esel! O wie schön hätt'ich's haben können ... langsam und gemütlich durch die Matten spazieren ... oder so herrlich sicher am Fenster sitzen und Berg und Himmel studieren und wieder guten Kaffee trinken mit einem Zucker drin und wieder Bücher lesen aus Pfarrhelfer Ludowigs Bibliothek, den gespenstigen Herchenbach, den guten Christoph Schmid, den Bollanden voll Eisen und Purpur ...und noch Tüchtigeres. Was will ich mehr? O wieviel ist das, wie reich, wie genugl And schon ein wenig Latein beim selben hochwürdigen Herrn. Das gefällt mir so gut wie Orgelspiel. Was ist Schwingen und Schießen und Kegeln dagegen? And wie der blasse junge Mann mit dem braun geringelten Haar mir in die Brocken der alten Sprache so wunderbare Sprüch-lein sagt und den Frühling der Kirche malt und Papst und Kaiser in krachendem Gewitter und wieder in Kuß und Frieden zeigt, und wie der Gescheite zuletzt die weiße Hand so lustig zum Fenster und zum Dorf und löo

*zur Welt hinaus schüttelt und sagt: Da siehst, Alois,was gilt all der Erdenplunder und tut doch so wichtig und ist so ein Närrlein und Drecklein vor Gott! ...Und ich jetzt, was bin erst ich! O Mutter, welch ein schlechter Bub bin ich gewesen ... immer wieder! ...Mutter, hör', sei nicht so bös, glaub' mir, jetzt wird es anders! ...

Frau Spichtiger nickt gütig und liest weiter Psalm auf Psalm: das Volk Israel, so lieb und so falsch,Davids graues Haupt, Salomons Majestät und Zerknirschung, die Hügel Hebrons, die Schafe am Karmel, der Jordan unter Schilf und Palmen singend, Sions Türme,die Wunder des schlagenden und stets wieder heilenden Gottes ... o welch ein großartiger Weg! Alois hüpft ihn schon, die Mutter geht ihn bedächtiger und schwerer.

„Nimm mich nicht in der Mitte meiner Tage weg..“Leiser betete sie den Vers und neigte beschämt die schmale Stirn im Nachtkäpplein, weil sie so kleinmütig gewesen. Alois aber versucht zum erstenmal den Rücken zu straffen und die Beine zu strecken. Wahrhaft, denkt er, und horcht gläubig dem Versklang nach, leben muß ich noch, lange und mächtig leben, hundert Jahre wohl.Denn ich habe viel zu tun. Muß ich doch einen großartigen Nutzen in der Welt stiften! Vielleicht, daß ich auch einmal fromme Bücher schreibe! Aber vielleicht ist's besser, daß ich mich als Klausner in eine Wildnis verstecke und für die Millionen Lärmer schweige und für die Millionen, die nicht denken, denke; die nicht beten, bete; die kriechen, fliegel ... Oder nein, ich muß ja durchaus ein Pfarrer werden. Glocken will ich läuten, Kerzen anzünden, predigen und Gloria singen,in weiten Rauchmänteln Prozessionen feiern und ein Riesenkreuz mit der Monstranz über das Volk schlagen.Und ich werde in die Missionen gehen und die Heiden bekehren, durch Wald und Strom und Marter ...Aber das Asthma! Nein, nein, was großhanse ich schon wieder! Ein stilles Kaplänlein will ich werden.Das ist es. Im kleinen Studierzimmer kann ich doch mit den großen Vätern und Helden der Kirche leben so gut wie der Bischof, und mit den gewaltigen Heiligen so gut wie der Papst. Und kann ich nicht Türme und Brücken Gottes im weiten Bogen schlagen, so kann ich doch mit meinem geringern Kaplanen-Werkzeug wenigstens ein Brettlein an die Brücke nageln, daß hier und dort ein Bursche besser ans andere Ufer kommt.

Ja, das will ich. Alles andere ist Dummheit. Das hab' ich jetzt wieder gesehen, wo ich fast wie ein Schlingel in die Ewigkeit gerutscht bin. In einem andern, schönen Schritt will ich hinüber. Gott und Ewigkeit, nur das!Alles andere ist Schaum.

Und weiter psalliert Verena. Süßer wird das strenge Antlitz der Bußpsalmen und versucht in heiliger Lustigkeit schon hie und da zu lächeln ... Du waschest mich und ich werde weißer als Schnee ... Mit Jubel füllst du mein Ohr und es frohlocket mein gedemütigtes Gebein ... Zeig' mir den Pfad, den ich gehen soll, denn siehe, zu dir allein richte ich von nun an meine Seele...Ja, ja, dein guter Geist wird mich aufs rechte Land führen ... in terram rectam... Amen.

Aloislis Atem ist ruhig, seine Stirne heiter geworden. Auch an den Bergrändern ennet dem See scheint es morgenhaft aufzudämmern. Der Tag öffnet dort eine rosige Türspalte. Man hört aus finsterm Geäste das Glucksen erwachender Meisen, und durch das erste Morgengrauen klappern schon die Holzschuhe des Knechtes Sebast vom Herrihof, der melken geht. Deutlich schlägt die Uhr halb sechs. Wie schön ist das Erbleichen des Himmels und das Aufglimmen der Scheiben anzusehen.Wie brünnelt eine ganz neue Luft den Hals hinunter und füllt das gebrechliche Menschenschläuchlein mit einem frischen Odem und Geist! Fliegen möchte Alois jetzt,Bett und Zimmerwände und alle Enge von sich schleudern und in den hellen Morgen hinausfahren.

O Mutter, jubelt er leise, wie gut ist die Luft!

Schon pfeift es irgendwo draußen. Ist's wohl eine Amsel oder wirklich schon ein früher Knabe, der fischen geht? Oder der Friedel Herri, der kühne, der eines von Vaters Rossen aus dem Stall holt und ohne Sattel und Zaum ums Dorf herumgaloppiert? Oder der Joseph Tonoli springt mit seiner schweren italienischen Flinte auf die Allmende, um Elstern und weiß Gott auch Amseln und Stare niederzuknallen, dieser harte, bittere Junge! O Kraft, o Leben! Auch ich will hinaus.Wie schön wird die Kilbi am Nachmittag sein und Louis und Sepp warten sicher auf mich. O bis Mittag bin ich wieder ganz stramm! And wir klettern in den Längstielerbaum und häkeln das letzte Obst herunter.Von der Alplerkilbi an darf man. Hei, wer hat am ersten den Hosensack voll und wer packt die oberste Birne!Wie es saftet und kühlt! Und zu jedem Biß einen Schluck vom Eirlibrunnen, dem kalten, süßen ... o Seligkeith... Alois klappte die dürren Lippen wie ein Fisch auf und zu, als praßte er schon im verbotenen Segen, und mitten in so verwegenen Gaukeleien sank er bleich und mit gebrochenen Äuglein ins Kissen zurück und schlief ein.

Die Mutter aber nimmt die Pantoffel in die Hand und geht katzenpfotenleis und zufrieden in die Küche.Dort feuert sie den Herd an, reibt sich die Hände warm,braut einen Kaffee und trinkt sich mit zwei heißen Tassen Leben und Frische ins erfrorene Wesen. Dann nimmt sie die gestrige Strickerei wieder auf, und wie sie am summenden Pfannenwasser steif und unbeweglich im Dämmerlicht sitzt, hoch zu Häupten das rußige Haus-dach mit Schatten und Balken und einem lustigen Morgenwind darüber, und wie sie unwiderstehlich auf und nieder säbelt, möchte man glauben, sie wäre stets dagesessen, wie der Herd, wie die Balken, unverrückt,Sommer und Winter und viele Jahrhunderte schon, im einerlei Klingklang der Nadeln wie eine ewige Maschine,die Arbeit in Person.1/

70 on Mond und Schauder überrieselt war Paul V Spichtiger den Bäumen entlang in die hintere Dorfgasse geraten. Er wollte entfliehen. Aber eine unüberwindliche Sucht nach Wärme trieb ihn widerstandslos in die Häuser. Dunkel und schlafend standen sie beisammen, etwa von einem magern Herbstgärtlein umwärmt, aus dessen Buchshecken ab und zu ein Paar runder, schwefelgelber Katzenaugen glommen. Vielleicht war die Pinte zum Sternen noch offen. Wie spät mochte es sein, daß auch da sich keine Ritze Licht durch die Läden stahl?

Paul griff in die Weste, aber zog rasch und schämig die Finger wieder heraus. Immer noch die dumme Gewohnheit nach der verschleuderten Uhr zu schauen!

Aber wie auf Geheiß schnarrte jetzt über eine kleine Hauswiese aus einem offenen Fenster daher eine alte ärgerliche Wanduhr. Paul fuhr zusammen. Das war Mätteliseppis beinahe zu ebener Erde liegende Wohnung.Da, bei offenen Laden und Fenstern, schlief die rauhe Jungfer und fürchtete sich nicht. Und das war jene berühmte Uhr, die er vor Jahren auseinandergenommen hatte, aber nicht mehr zurechtbauen und mit Atem und Orgelmund beseelen konnte. Sieh da, auch jetzt orgelte sie nicht. Sie war also ein Krüppel geblieben.

Der Spichtiger konnte die Schläge nicht zählen.Dieses alte furchtbare Mädchen stand vor seiner Seele und wiederholte jene Drohung wieder, die ihn damals hatte erbleichen machen: Paßt wohl auf, daß es Euch nicht geht wie der Uhr da! Daß Ihr Euch nicht zerstückelt und zerbrockt, bis Ihr eine zerbrochene Existenz seid und keinen rechten Stundenschlag und keine Musik mehr habt. So ein Scherben, den man hinters Haus wirft!Hatte es nicht das gesagt? Ihm oder der Frau?Ihm ist so. Eine zerbrochene Uhr, eine zerbrochene Ahr,summt es um ihn herum, und keine, gar keine Musik mehr!Paul jagt weiter. O Glück, da ist ja der Mättelibrunnen. Wie er schwatzt! Viel milder und frommer als das Weib dort aus dem Alten Testament. Er beugt sich vor Hunger und Durst zur Röhre und trinkt gierig.Sei's, was es sei, wenn's nur über die Zunge läuft und die Hitze im Magen lindert!

Der Schweiß tritt ihm sofort über die Stirne. Nein,nein, Wasser hilft nicht. Er schüttelt den übertropften Bart, zieht den Rock enger, läuft schneller und gelangt jetzt in die offene Lichtung des Dorfes mit dem Bach und seinen Rasenbändern und den Straßen und Häuserzeilen rechts und links zum See hinunter. Er blickt zum Himmel auf. Wo steht die liebe goldene Wega?Ei, schon so weit aus der Kuppelmitte an die Berge verschoben. Da muß es sicher schon Mitternacht sein.

Frierend zieht Paul den Blick vom kalten Himmel auf die Erde zurück und geht über das geländerlose Bachsteglein. So kommt er vor die Kirchentreppe.Schwach blinzelt das ewige Licht durch die schmalen Bogenfenster auf die Gräber hinaus. Doch schau, die Säulen des Vorzeichens sind bekränzt und auch vor dem Portal stehen tannene Schmuckbäumchen. Was ist das? Morgen ist der zwanzigste Oktober. Sankt Karl steht erst am vierten Wintermonat und Sankt Theodul, der Traubenbischof, ist vorbei. Halt, Sankt Wendelin! Ja, so ist's, ich hab's, Wendelin, fischt Paul aus seinem alten theologischen Gedächtnis. Morgen feiert Saldern den Heiligen der Alpen, den Beschirmer der Hirten und Herden.

Paul steigt wie unbewußt die Stufen zum Portal hinauf. Alle Kirchen sind nachts geschlossen. Er weiß es sehr gut. Aber ein sonderbarer Respelt vor dem erhabenen Bau und eine heimliche, fromme Rührung ergreifen ihn und zwingen ihn, die mächtige, uralt verwischt er den feuchten, wilden Bart an die Brust, bückt sich und guckt durchs Schlüsselloch ins Heiligtum.Schweigen und Dunkel strömt ihm entgegen. Er kann nichts darin unterscheiden. „Pater noster, qui es in coelis,“ murmelt er verstohlen. Ach! ... er schlägt sich vor die Stirne und schleppt sich über die Steinplatten,worunter verschollene Priester und Ratsherren so zufrieden ruhen, ruheloser als er heraufgellommen, wieder die Treppe herunter.

Der Bach singt eintönig durchs Dorf hinab. Die Wiesenbänder und die lichten Straßen rechts und links liegen wie im Traume da und die beiden Häuserreihen,die mit ihnen seewärts zur Kantonsstraße hinunterziehen,sehen mit ihren vielen erloschenen Fenstern wie Leichen auf den Platz nieder.

Ein unerträgliches Gefühl von Elend und Einsamkeit, wie nie in der ödesten Fremde, überkam Paul in diesem seinem Dorfe. „Ein Licht, o ein Licht!“ seufzte er und spähte unwillkürlich nach dem Pfarrhof.

Auf seinen verzwickten Irrfahrten pflegte er gern die geistlichen Pfrundhäuser heimzusuchen. Er kannte so viele Hochwürdige von seinen Studien am Gymnasium und den zwei ersten theologischen Semestern her. Da zog er gewöhnlich kräftig am Schellenknopf und sagte der Jungfer Köchin ein prachtvolles Grüßlein, wie er es allein zuwege brachte, etwa: „Fräulein Herrenköchin, o nicht so schlimme Augen machen, nur nicht so schlimme Augen,Sie Gute! Ich bin der Bildhauer Paul Spichtiger und habe ja doch mit Euerem Herrn studiert ... und muß ihm allerlei erzählen ... und will Euch eine heilige Regina malen ... heißt Ihr nicht Regina? ...Vergebung, also eine heilige Katharina mit Rad und Drach' und einem ewigen Sonnenschein ums Köopflein,seht wie hierl!“ Und er zieht aus der Mappe flink einen hübschfarbigen Helgen. „Und mitten drin werd' ich Euer Näschen malen, gerade Euer Näschen ... Aber holla, jetzt tut auf! Ruft mir schleunig den hochwürdigen Freund! Hospes tibi sanctus y!“

So nistete er sich ein, half dem Pfarrer musizieren und brevieren, zeichnete oder malte ihm schnell einige Skizzen für eine kunstvolle Stola oder für das heilige Grab in der Karwoche oder für einen neuen Maialtar,schrieb ihm ein bißchen alte Pfarrchronik auf oder schnitt die würdige pfarrherrliche Silhouette. Dies da betrieb er jetzt, wo er keinen Farbenkasten mehr mit sich trug,besonders eifrig, und seine Schattenbilder sahen selten nach bloßer Ähnlichkeitstüpflerei aus, sondern ließen meist eine besonders charakteristische Stellung und vielsagende Bewegung und damit ein wirkliches Geheimnis

X des Dargestellten sehen. Ein gutes Stück seiner verborgenen Seele ward in dieser rabenschwarzen Tusche licht. Daneben saß er viel hinter dem Küchentisch und erzählte der Kathri, daß der Koch des Bischofs nie, nie einen solchen Zitronenauflauf oder solche Käseklößlein fertigbrächte, kramte rührende Erfahrungen seines Leidens und Streitens aus und wie ein Kind schmeichelte er ihr zum Z'Nüni und zum Z3'Vieri)) ein oder zwei Gläser Wein ab. Kathri bedauerte ihn zuletzt herzlich. Er ist ein armer Künstler, so ein verschupftes großes Kind,das unsere Leute nie begreifen können und das auch von seiner Familie ungeschickt behandelt wurde. Wie Wachs kann ich ihn um den Finger wickeln. Reibt er mir doch den Käse und schält mir Erdäpfel!

Paul kriegte so ein Häufchen Silber in den Sack,Tabak in die Pfeife, ein älteres, noch ganzes Hemd oder warme Socken vom Pfarrer. Die Jungfer nähte ihm die fehlenden Knöpfe an, wusch und flickte seine Unterkleider und ließ die Schuhe sohlen. Indessen aber war Paul die enge pastorale Häuslichkeit schon wie Atemnot bis ans Halszäpfchen gestiegen, und mitten in einer Renovation des Aloisiusaltars oder im Auf-frischen der vierzehn Stationen, gerade vom Simon von Cyrene weg, verschwand der unselige Mann wieder bei Nacht und Nebel in die alte Vogelfreiheit hinaus und jubelte: Das ist doch das Schönste!

Vier, fünf Monate später aber, zerzaust und verrupft, mit leerem Schnabel und frierendem Herzen, trip

) Neun und vier Ahr, bäuerliche Zeiten zu einem kleinen Imbiß.pelte der gleiche Vogel wieder unendlich gern sei's wo es sei einer engen, seligen Nestwärme zu. Doch so todgierig wie heute noch nie.

Es ist zu Ende mit seiner Kraft. Er weiß nicht,soll er aus den Häusern in einen Stall hinausflüchten,eine Kuh melken, das hat er trotz der weißen Künstlerhände gelernt, und in der Streue einige Stunden schlafen und dann vor Tag weg? Oder soll er nicht gerade hier an der Kirchhofmauer sich niederlegen? Ein Rest von jener Manneswürde, mit der er vor fünfzehn Jahren in dieses Dorf eingewandert ist und so oft gerade in der Kirche hier die Orgel meisterlich gespielt hat,ein Döchtlein dieser Selbstachtung trieb ihn um die Mauer, wo der uralte hölzerne Pfarrhof im Schatten der Kirche lag. Hatte Paul nach Licht gerufen, hatte er's geahnt, gesehen, hier funkelte wirklich eines unter dem tiefen Hausdach aus dem Fenster der Pfarrstube.Noch mehr, auch die Haustüre stand offen. Die geist-lichen Häuser hierzulande liegen sonst Tag und Nacht im Schloß. In Messing und Eiche stehen sie da, blank,knapp, reserviert, als wollten sie eine Schranke errichten zwischen der Weltlichkeit, die draußen lacht, und dem ewigen Ernst, der da drinnen atmen soll. Aber nur keine Angst! ... AUm so freundlicher winken die Scheiben mit ihren kleinen, himmlischsauberen Gläsern ins Freie, und im Rücken des Gehöftes hat es noch eine und gar auf der Gartenseite eine dritte freundliche Nebentüre, damit,wenn Flattersinn und Übermut und Grobheit vor dem verriegelten Haupttor stehenbleiben, die Demut und die Reue und die Armut und Herzenseinfalt doch immer in den Frieden des Hauses schlüpfen. Jetzt aber in so überspäter Nacht stand wahrhaftig die Vordertüre sperroffen und eine Laterne brannte im Gange. Blind-lings schob sich Paul hinein. Es roch von jungem Obst aus dem Keller und die steile Treppe hinauf fing Paul schon den ihm wohlbekannten, unsäglichen Wohlgeruch ein, den alte Bücher und Schnupftabak, frische Kirchenwäsche und mit Weihrauch gesättigte Chorhemden zusammenbrauen. Die Stufen knarrten, ein verschlafenes Hündchen knurrte leise in der Stube. Aber niemand kam nachzusehen.

Der Spichtiger trat an die offene Schwelle. Eine erquickliche Wärme floß ihm aus dem holzgetäfelten,kleinen Zimmer entgegen.

„Deo gratias!“) flüsterte er aufatmend, und ein Berg von Not fiel mit diesem Worte von seiner Seele. Dann lüpfte er den Hut und tat einen Schritt in die niedrige Stube mit den vielen Fensterchen gegen die Kirche und den Garten. Eine Hängelampe stand über dem Tisch in der Ecke. Im Lehnstuhl am weißgeplättelten Kachelofen saß der Seelsorger des Dorfes, Antonius Molin,ein großer, aufrechter, stämmiger Sechziger mit kurzem grauweißem Haar und einem mächtigen, bäuerlichen Kopf. Aber das rauhe, runzelige Gesicht ward durch jene lichten, feinen Tinten, die das Antlitz der Priester aus allen Menschengesichtern herausheben, und durch eine langgeübte, schöne Pfarrherrlichkeit über alle DerbXD und verfeinert. Eine gewisse Majestät breitete sich über die ganze Figur aus.Drohend hingen die Brauenbüschel über den Augen

) Gott sei Dank!und tiefe Risse in der Stirne verrieten, daß dieser Mann jäh aufbrausen könne. Aber die Augen selbst,so streng sie blicken wollten, vermochten eine seltsame Weichheit nicht zu verbergen. Schnell waren sie feucht,diese scheinbar trotzigen Kinderaugen.

Der Pfarrer hielt einige steife Papierkarten in der Hand und suchte gespannt das wunderliche Gekritzel darauf zu entziffern. Er hatte den langen Frack aufgeknöpft und streckte die Füße in rotblumigen Pantoffeln bequem über das Parkett auf ein Polsterkissen. Mit der Hand konnte er leicht die Tabakdose und das unendliche, blaue Schnupftuch auf der Tischecke erreichen. Daneben stand ein vom Nachtessen übriggebliebenes, halbvolles, aber wegen der späten Stunde nicht mehr berührtes Weinglas.In einem durchsichtig grünen Schleier blickte der Gekreuzigte aus der Ecke so milde, als genösse er einen Augenblick Schmerzlosigkeit, etwa weil er unter seinen Henkern einen blassen Jungen sah, der anfing zu ahnen, daß hier ein Gott am Holze hange, und das Blut an seinen grausamen Fingern abzureiben suchte. Auch die andern kunstlosen Bilder, ein heiliger Joseph still mit der Lilie an einem grünen Hag stehend, der Erzvater und Einsiedler Antonius, in einer Kluft kniend und mit Engelchen, die wie Vögelchen um ihn schwirrten, allerhand Himmlisches plaudernd, und der selige Bruder Klaus mit dem Stab und Nosenkranz langsam eine grüne Obwaldnerwiese hinunterschreitend, aber die Augen auf die grauen Berge und den darüberwandelnden und segnenden Herrgott gerichtet, alle diese Gemälde atmeten einen prachtvollen Frieden. Es spielte gemütlich durch die enge Stube eine langgeschweifte, barocke Uhr tick ...

Federer, Das Mätteliseppi. 12 tick ... tick. Das sang wie Ruhe ... Ruhe ...NRuhe! Und Paul spürte es ganz genau so, als sei er,auf dem Meer herumgehetzt und beinahe verloren, nun plötzlich auf ein sauberes kleines Inselchen, in ein stilles,windloses Wäldchen geraten, wo ein paar zahme Kaninchen herumschlüpfen und ein Brünnlein tropft und ein süßes Kind singt und ihn ein schneebärtiger, lächelnder Gastfreund in einen schmucken Speisesaal einladet. Sicher,er hatte das verlorne Paradies gefunden.

Er stand da und stand da und schüttelte sich, als werfe er allen Weltstaub und Weltgraus vor diesem heiligen Schneckenhausfrieden ab und sagte ein zweites Mal: „Deo gratias!“

Anton Molin sah noch immer nicht auf. Aber der Hund knurrte und kroch zuletzt als fetter, weiß und schwarzflaumiger Spitz unterm Ofen hervor und schnupperte boöse an Pauls Lotterschuhen. Der tat einen zweiten Schritt vor. Da sagte endlich der Pfarrer ohne Aufblicken: „Kommissari, wenn du mit deiner Predigt fertig bist, so hilf mir den famosen Katechesenbericht da lesen. Unsere Jungfer über allen Jungfern schreibt zum Exempel:

Friedel Herri ... wie ein Füllen so jähschützig und obenauf, schlägt aus, wenn man ihn nur streichelt und ist und bleibt ein Plaggeist mit sieben Hörnern für die Gespanen ... Kommandiert tausendgern, aber hält Wort wie ein alter Ritter und bringt den kleinsten Lug und Trug nicht fertig, es sei denn aus purer,regiererischer Lasterhaftigkeit. Er lernt nicht leicht, aber behält sein' Sach' auf Ewigkeit fest. Frecher Schnabel!Hockt und verspreizt sich schier unchristlich auf Geld und Namen. Muß ihm oft Respekt vor arm' und schwach Menschheit einbleuen ... Bußen: zweimal eine Viertelstunde lang auf einen Buchenknebel knien, dreimal dem Ägerli Christoph Abbitte leisten wegen Prügel und Spott obendrein, einmal die Allerheiligen-Litanei abschreiben ... sechsmal je zwei Tatzen, ditto dreimal je vier ...

„Das ist das Mätteliseppil“ entfuhr es Paul.„Guten Abend, Herr Pfarrer. Ich bin's ... der Pauli ... der Bildhauer ...“

Der Geistliche, der während des Vorlesens in seinen aufgeknöpften Frack bequem eingesunken war, schoß jetzt verwundert empor. Und im gleichen Moment sprang der gescheite Philo feindselig dem Eindringling ans Knie. „Philo!“ schmetterte der Pfarrer das Tier gebieterisch an. „Mach' dich unter den Ofen, husch!“Wort für Wort schnarrte der Priester durch die Nase,aber es dröhnte feierlich wie aus einer tiefen, nur etwas verstopften Trompete. Es war ein Näseln, aber ein ungeheures, großartiges.

Anton Molin hatte im ersten Staunen aufstehen wollen, ließ sich nun aber wieder in den Stuhl zurückfallen und betrachtete immer ruhiger und verständnisvoller den mitternächtigen Besuch. Endlich sagte er in guter Laune: „Ich habe im Ernst gemeint, unser bischöflicher Kommissari sei's. Er predigt uns morgen und memoriert da unten zwischen den Buchsbäumen im Mondschein weiß Gott wie lange.“ Gutmütig lächelte der Pfarrer bei den letzten Worten in Erinnerung an die landbekannten Exrtravaganzen des obersten Geistlichen im Kanton. Um Mitternacht, die Hände im Rücken,

12*zwischen den Gartenstauden herumrennen, Schnecken und Spinnen an die Schöße kriegen und dazu eine Ehrenpredigt auswendig deklamieren, das war doch ein krauses, absonderliches Tun.

„Der Pfarrer von Kres? Der Dichter? Der Weltüberblicker?“ fragte Paul, alles andere vergessend, und errötete vor Interesse.

„Und nun strolcht Ihr mir da zur Geisterstunde herein,“ fuhr der Pfarrer weiter und musterte den Mann von oben bis unten, indem das ganze Gesicht sich in Strafe wandelte. „Ein schöner Geist, in Dreck und Lumpen! ... Pauli, Pauli!“ er erhob sich, „was macht Ihr uns für Kummer! ... Woher kommt Ihr jetzt?Was wollt Ihr?“ Er stand richterlich vor den kleinen,geduckten Mann hin, ihn wie ein Turm überragend.

Der Spichtiger wischte sich über die Stirne, zitterte,würgte nach einer Antwort und platzte jäh heraus:„Vom Hunger komm' ich und essen, o etwas essen möcht' ich.“ Er riß den Mund mit den feuerroten Lippen auf und ein gieriger Dampf rauchte aus der Kehle. Fahlgelb war das Gesicht und schlaff vor Schwäche.Die kleinen Augen funkelten rechts und links unrastig herum und mit den Händen fuhr der Mann suchend durch die Luft nach einer Stuhllehne oder sonstwelcher Stütze. Im nächsten Augenblick mußte er zusammenbrechen.Anton Molin reckte schnell nach dem Glas Wein.„Doch nein! Kommt schnell,“ sagte er, „da greift mir in den Arm, so!“ und schleppte und schleifte den Armen zur Küche. „Hier setzt Euch! Da ist Brot! ...Langsam, langsam ... und da Käse.“ Er zog Schubladen über Schubladen aus und wühlte im Speisekasten alles durcheinander. „Aha, da ist's, gesottene Milch ...sieh mal, jetzt wärm' ich Euch ein Schüsselchen voll.“Und schon hantierte der Pfarrer ungeschickt genug mit Pfanne und Spähnen. „Wo hat die Albertine doch nur die Zündhölzchen? Gar nicht aus kenne ich mich in der Küche ... Tut's gut, Pauli, he?“

Paul aß und aß und niekte nur. Aber er hegte einen Abscheu vor Milch. Doch wagte er nicht zu widersprechen, als der Pfarrer die schwarzen Frackärmel,die ihn hinderten, immer wieder zurückschob und Hölzchen in das Herdloch beigte und drei, viermal umsonst ein Schwefelholz anzündete. Es brannte einfach nicht,rauchte nur recht giftig. „Was machen wir?“ fragte der Pfarrer schwerschnaufend. „Die Albertine mag ich nicht aus dem Schlaf klopfen. Die muß schon um vier Uhr aufstehn. Hopla ho, was ist das? Heilige Sechs,so schlau im Ecklein hinter den Krautraffen versteckt die Magd ein ganzes Nest Eier.“ Triumphierend hob Anton Molin ein Körblein aus dem Kasten. „Da komm' ich meinem Hauskreuz mal gehörig auf die Schlichel ... mögt Ihr?“

„Gebt mir, o schenkt mir doch ein Schlücklein Wein,lieber Pfarrer! ... Mir geht das Evangeli vom armen Lazarus durch den Kopf. Aber alles ist umgekehrt.Ich bin der Lazarus, jawohl, aber der Sünder, und Ihr seid der Prasser, aber der Heilige, und wenn ...“

„Schweigt, Ihr!“ schrie der Pfarrer heftig durch die Nase und zog hinter einer Beige klein gescheitetem Holz eine alte, dunkelgrüne Flasche mit einem dünnen Hals und versiegelten Pfropfen hervor. „Ich wollte sie der Bruderin nächstens ins Haus schmuggeln. Sie liegt in dem elften Kindbett' und ist ein armes, blödes Hudeli dazu. Die Albertine hat eine Schnauze wie ein Luchs, aber hier schnüffelt sie nichts auf,“ rühmte Anton Molin voll Genugtuung. „Der Bruderin steck'ich nach der Kilbi so ein Tränklein zu ... Na, willst wohl heraus!“ Der Zapfen flog. „Trinkt jetzt mit Bedacht! Wohl bekomm's! ... Aber geschenkt wird Euch nichts, Pauli. Wir reden nachher das Nötige mit-sammen ... Jetzt sättigt Euch, daß Ihr's aushaltet,wenn ich Euch die Leviten lese, Ihr ... Ihr ...“seine Stimme schwoll zornig an ... „Ihr ... wie soll ich Euch nur namsen? ... Ach Gott!“ fügte er seufzend bei und sogleich stieg die Rührung des Kindes wieder in seine umbuschten Augen, indem er dem so heillosen und naiven Esser zusah, wie er Bissen auf Bissen mit tränenden Blicken verschlang und jetzt das Glas dankbar gegen ihn erhob und mit herzlichem Tone sagte: „Auf Ihre Gesundheit, Sie guter, barmherziger Samaritan!“

„Schweigt,“ näselte der Pfarrer minder rauh, „und mißbraucht mir die Bibel nicht. Ihr freilich seid unter die Räuber gefallen. Will's Gott zum letztenmal.“„Zum letztenmal, auf Ehr' und Seligkeit, Herr Pfarrer, zum allerletztenmal,“ beteuerte Paul Spichtiger und trank vom Glas so innig wie ein Säugling von der Mutterbrust. In der Tat, das war ausgemacht,er wollte in Saldern bleiben und wenn er Holz hacken müßte.

Ein Saft und Duft von neuem Leben stieg in ihm auf. Seine schwarzen Auglein sprühten Dank, und je mehr die Ermattung wich und Wohlsein ihm durch alle Adern rieselte, um so mutiger ward er und um so goldener blühten die guten Vorsätze aus seiner Seele und forderten Sprache. Immer wieder suchte er wie ein kleines Kind beim Milchsaugen die Hand des Pfarrers, eine grobe, behaarte, weiße Hand, und fragte endlich: „Haben Sie nichts zu malen, Hochwürden? Umsonst tu' ich's.Wollt Ihr einen Bruder Klaus oder Euern Patron,den heiligen Antonius von Padua, den großen Sprecher? ... Oder den von der Thebais, den noch größern Schweiger? ... Jaso, die habt Ihr schon. Aber einen Sankt Wendelin, auf der Alp, zwischen Schneebergen,an einem unterhaltlichen Wasser ... mit einem Flockenmeer von Schafen und einer braunen, geduldigen und gescheiten Unterwaldnerkuh 4 „Ja, freilich habe ich etwas zu malen,“ unterbrach der Pfarrer den Fabler endlich entschieden, und eine fromme Spitzbübigkeit zuckte über sein breites Bauerngesicht. „Kommt nur erst in die Stube ...!“Molin war kein Gelehrter und wußte von Kunst und Literatur nur, was gerade ins Brevier und Meßbuch einschlug. Aber er hatte den klugen und praktischen Sinn seiner Bauernfamilie ins hohe Amt hinübergenommen und kam damit oft weiter als manchmal ein Birett mit vier und wär's möglich mit acht Flügeln).So eine Klugheit war ihm jetzt wie ein heiliges Kobðldchen über die gefurchte Stirne geflogen.y Das Birett, die Kopfbedeckung des Priesters in der Kirche, hat drei, aber bei den Ooktoren der Theologie vier Flügelchen.Er kannte den Spichtiger nicht von Kindesbeinen an. Erst als verheirateter Mann war Paul mit seiner Frau ins Dorf gezogen, um einen Schnitzlerkurs zu leiten und im nahen Hauptort Anterricht im Zeichnen und Malen zu geben, aber hauptsächlich um nach diesen wenigen Wochenstunden der Offentlichkeit, verbittert und verworfen von der sogenannten großen Welt, in aller Heimlichkeit dieses Dorfes für sich weiter zu künsteln, bis seiner Hand endlich das reife Ideal seiner Sehnsuchtsnächte und Tageszweifel im lautersten Marmor entwüchse. Man weiß, wie es weiterging. Auch jetzt lernte Anton Molin sein neues Schäfchen oder vielmehr Böcklein nicht geruhig kennen. Es hatte keine Rast, stieß aus, hornte,überschlug sich und lief ihm jeden Augenblick aus der Hürde. Wollte er es noch zeitig fassen, siehe,da war es schon Hals über Kopf verschwunden und er behielt nur eine Flocke rauher Wolle in den Fingern.Jetzt war endlich einmal die wilde Seele in ihrer Verzweiflung ihm in die Hände geraten. Diese knappe Gnade mußte er auf den letzten Tropfen profitieren.Stramm wollte er den Sünder diesmal am Gewissen packen und gehörig zwischen Himmel und Hölle zappeln lassen, den unbegreiflichen Unhold, der da wie ein folgsames, frommes, stilles Unterrichtskind jetzt nach der Zehrung ihm wieder im Stübchen gegenüber saß und doch das Blut von sieben Winden und Laufteufeln in sich trug.Der Seelsorger nahm das Brevier vom Tische aufs Knie herüber und sagte mit einladender Miene „Ich muß noch die Komplet) beten. Ihr lest ja Latein wie ein Bischof. Respondiert mir!“

„Mit tausend Freuden!“ Paul faltete die Hände in aufrichtiger Begeisterung. „Jube, domne, bene-dicere)!“ bat er, und das Anschuldige und Kindhafte fing an unter dem grauen Weltwust aufzublühen. In aller Verlumptheit, er war jetzt schön anzusehen. Wie eine saubere Flamme lohte seine Seele aus dem alten,versudelten Wachs hervor.

„Noctem quietam. ..“ betete langsam der Pfarrer,„et finem perfectum concedat nobis Dominus omni-potens.“

„Amen!“ antwortete Paul.

„Ja, Amen, Amen ... schnell gesagt,“ fuhr jetzt der Geistliche wie ein Donnerwetter auf. „Noctem quietam! ... Könnt Ihr wohl zählen, wie viele schlaflose Nächte Ihr Euerer braven Frau bis heut bereitet habt ... und Euerer ... Euerer ... Schwalbenseele,he, etwa nicht auch?“

Paul war erschrocken zusammengefahren. Jetzt senkte er den Kopf.

„»Et finem perfectum ... hm, hm ... was ist denn Euer Ziel? Sagt einmal!“

Kein Laut kam aus dem Strubelbart hervor.

„Was wollt Ihr eigentlich, ich bitt' Euch, mit all Euerem Strolchen und Streifen? ... Ein gutes Ende ...hier, Pauli, erwart' ich's, nicht auf hoher Kanzel oder in Gold und Seiden am Altar; hier, in dieser Stube,

) Nachtgebet der Priester. )) Herr, lass' uns segnen ...Eine ruhige Nacht und ein vollkommenes Ende gewähre uns der allmächtige Herr, Amen.zwischen den vier Wänden, da ... auf diesem Stuhl.Wir sind keine Heroen Gottes und fahren nicht im Feuerwagen gen Himmel. Zu Boden schauen, das ist's,das ziemt uns, und den Spuren des Meisters wie ein demütig' Knechtlein nachgehen, das gibt ein rechtschaffen Ende. Seht, ich tu', was ich kann, und befehl' unserem Herrn, was ich lassen muß. And der Heilige Christ wird's gnädig machen und den Türengeln sagen: Laßt den alten Krachli ein! Er hat wohl ein kleines Bündelchen, aber er ist auch ein kleines und blödes Mensch-lein gewesen! ... Aber Ihr ... Ihr stürmt über Berg und Wolken und ...“

„Dem Ideal nach hab' ich gemeint,“ schob Paul schüchtern ein.

Seifenblasen! ... sagt doch lieber, dem Schwindel nach. Da seht Euer Ideal,“ der Pfarrer wies auf die unordentliche Figur des Spichtiger, „hungrig, schmut zig, verwildert, Locher in den Schuhen ... Löcher im Rock ... und das größte Loch in Euerer Seele! Ein schönes Ideall ...“

Dem Spichtiger fiel das lange nicht mehr geschnittene und gekämmte Haar übers Gesicht herunter, so tief bog er den Hals. Er schämte sich seit Monden zum erstenmal wieder seiner Fetzen. Die wunderbare Sauberkeit der Pfarrstube spiegelte seine Lumpen doppelt grell wider.

„Ich zeig' Euch das Ideal,“ fuhr der greise Zucht-meister schonlicher fort und wies auf ein Josephsbild über der Türe. „Da steht der galiläische Schreinersmann in der Butikn), ist der Meister des Meisters über Himmel

9

Boutique: Werkstatt.und Erde und läßt nun doch nicht die Hände in solchem Glorienschein faulenzen, sondern hobelt und sägt und nagelt, vielleicht ein paar Stühle, einen Fensterrahmen,ein Speisekästlein oder die Bettladen für ein krankes Geschöpf oder einen Sarg für ein müdes Samariterweiblein und bedient so die Welt, er, der seinem allheiligen Pflegekind befehlen könnte: ‚Gib mir Roß und Wagen und Gesinde und ein alabastern Haus und zehntausend Posaunenbläser, daß ich mit ihnen durchs Land reise und allen künde, wer du bist!“ ... Neim nicht so, er schaut zu Boden, gibt, was er kann, vom Eigenen,tut den Menschen wohl mit kleinen, schlichten Sächelchen,und ich wette, Pauli, dieser Hobelmann hobelt viel schöner am Bild der Ewigkeit als ihr Großhanse, wenn ihr auch einen ganzen Berg von Marmor verschnitzelt ...O lieber Mann ... finem perfectum ... paßt gut auf:finem perfectum! ... Daß Ihr Euch über kurz oder lang da draußen ruhig hinstrecken könnt neben die andern steifen Nachbarn! Seht nur tüchtig hin!“ Und des Pfarrers gemütliche Schnupftabakfinger wurden jetzt furchtbar streng und zeigten gewaltig zum Fenstet hinaus auf den mit Steinen und Kreuzen besäten und im Mondlicht geisterhaft erhellten Friedhof.

Einige Atemzüge lang war es still in der Stube.

„Fahren wir weiter!“ begann der Priester kurz.

„Pratres, sobrii estote... et vigilate ) ...“ murmelte Paul aus einer tiefen Erschütterung hervor. Jedes Wort bebte und zitterte mit.

„Halt ... sobrii ... da haben wir den Schlüssel ...

Brüder, seid nüchtern und wachet! nüchtern, nüchtern, Pauli...“ Antonius wollte mächtig in dieses Werg greifen. Aber da sah ihn das halbvolle Glas Wein auf dem Tisch so sonderbar an. So durchaus im guten Recht und unschuldig es vom Nachtisch her noch dastand, beklemmte es jetzt doch das rauhumhäutete, aber im Grunde so zarte Taktgefühl dieses Bauernpfarrers, und er ging fast verlegen über zum Confiteor und dem so kurzen, aber so inständig und klug um Nachtruhe flehenden Hymnus. Dann wandelte man durch die Psalmen und vielleicht zur gleichen Zeit, wo im Mösslihaus eine Mutter über ihr erstickendes Kind psalmierte, gingen die gleichen, über Judäas Fluren ersonnenen Verse in der Pfarrstube zwischen dem Vater jenes Kindes und dem Pfarrer hin und her. Dort klang es wie Glocken, hier tönte es wie Frage und Antwort im Gericht.

„Filii hominum, usquequo gravi cordeꝰ ut quid diligitis vanitatem et quaeritis mendacium yꝰ“

„Halt, Pauli!“

„Ich weiß, ich weiß ja,“ lispelte der Spichtiger zerknirscht.

„Aber warum denn, wenn Ihr's wißt, flattert und hofiert Ihr noch immer nach dummen Eitelkeiten wie der Nachthudel“) dort um die Lampe? Und schwärmt all dem verlogenen Zeug nach da draußen ... das Euch doch immer narrt und ärmer macht? Wie lange wollt Ihr's noch so treiben? ... gravi corde ... allerdings,schlecht seht Ihr aus, habt eine miserable Farbe ... gebt

) Menschenkinder, wie weit noch beladenen Herzens?Warum liebt ihr die Eitelkeit und geht der Lüge nach?) Nachtfalter.mal die Hand ... drei, vier, fünf ... sechs, sieben, acht,neun ... zehn ... Euer Puls geht jämmerlich, hüpft,hinkt, wie ein falsches Pendel. Ihr habt doch seit Jahren ein Herzleiden, das wißt Ihr! Wollt Ihr Euch also im Galopp kaputt machen, an Leib und Seele kaputt?O filii hominum ... Ach, so beten wir weiter !“Paul knickte noch tiefer zusammen. Dieses Stüblein ward plötzlich ein ungeheurer Gerichtshof und der rauhe Landpfarrer da, so ungeschliffen und weltunkundig, saß wie ein Salomon vor ihm und jedes Wort schlug wie ein bitterer Treffer ein. Von allen seinen witzigen Ausflüchten und bilderreichen Entschuldigungen war ihm das letzte Hälmchen entfallen. Jede Widerrede erlosch.Die Verse klagten weiter von der Sünde der Menschen,ihrem Seufzen und Hadern. Und der Spichtiger mußte an alle verzettelte Kraft seiner Jahre denken, an soviel unnützen Schweiß und Schwindel seiner Straßen, an das große Prahlen und das kleine Betteln nachher, an sein gesamtes bisheriges Leben mit Nullen um Nullen.Wie eine Brandung schlug diese ruhelose, nichtige Vergangenheit bis an die Schwelle dieser Kammer. Die Augen überliefen Paul vor Reue. Du glückselige Stube sei gebenedeit! Hier ist Rettung. Jetzt sei's geschworen,auch er will nur noch diese kleine, aber dauerhafte Zufriedenheit des Arbeitsstübchens. O, er ist müde und zerschlagen vom Draußen. Er hat jetzt genug von jener Freiheit, von einer Hetze in die andere zu rennen.Sehr deutlich weiß er, daß seine Herzkrämpfe immer gefährlicher werden. Er. wird einmal am Schlagfluß sterben, wie seine Schwester, die Bäckersfrau, und wie sein Bruder, der bedeutende Pfarrherr von Kirchwald,15]der mitten in der Predigt stammelnd über das Kanzel-gesimse hinfiel. Pauli aber wird nicht auf einer Kanzel,in der Schönheit und Tapferkeit des Amtes zusammenbrechen. Es kann ihn der Schlag in einem Schmutz-winkel der Stadt oder auf einer einsamen Landstraße ereilen. Keinen Schritt wird er sich weiterschleppen. Wie er steht und fällt, wird er liegen und den letzten Atem von sich stoßen. Grauen übernimmt ihn. Nein, in einer Stube sterben, in einem solchen Stuhl, an einem Ofen, neben einer lieben Seele, die ihm die Hand hält und den Kopf aufs Kissen legt und tröstlich vorbetet und sagt: Dir ist verziehen.“ ... O, heim zu Frau und Kindern!

Es ging in den neunzigsten Psalm, der mit so frohen und tapfern Versen vorwärts ins Licht marschiert, über Löwen und Drachen nur so weghüpft und nichts als Morgenrot aus den Ärmeln schüttelt. Und er öffnet die feinen Kinderlippen so oft man will und singt: Allen geht es so, die sich der Ordnung meines Herrn fügen;dann haben sie keine Unordnung der Erde und des Unterirdischen zu fürchten... So ist es, sagte sich Paul und schüttelte den Bart im Übereifer. Daß ich so blind war, so dumm und ... und ... heraus damit! ... so schlecht! Vielleicht der schlechteste untern Himmell ...Aber, da hört, alles ist gutzumachen. Gottes Ahr heißt Barmherzigkeit. Geduldig sind die Zeiger, stehen noch immer auf den Stunden der Gnade. Horch, horch, was mein Pfarrer jetzt ruft: longitudinem dierum replebo eum ... nein, nicht der Mann da, unser Vater aus allen Himmeln herab psalmodiert mir zu: ein langes Leben will ich dir schenken ... ein langes Leben! ...nicht sterben, nicht am Herzschlag umfallen ... Leben,langes Leben ...„Ecce nunc benedicite!“) jodelte jetzt Paul beinahe mit erhobener Stimme und wollte in unbezwinglicher Rührung auf die Knie sinken, als mit rumpelnden Schuhen und in lautem, flinkem Selbstgespräch der kurze,fette, bucklige Kommissarius die Stiege heraufschnaubte und, einen Überzieher im Ellbogen, schon unter der Türe lärmte: „Antonius, jetzt sitzt mein Satz und ich will dir nun auch hübschli ins Ohr ... sagen“ ... Breitbeinig lief er an den Pfarrer: „Ja, was denn?Noch ein Beichtkind nach halber Nacht? ... Alle Wetter! Der Bildhauer Pauli ... hat sich nach Saldern verirrt!“

Ein Schalkslächeln huschte über das krankhaft auf-gedunsene, geistvolle Gesicht des bischöflichen Kommissarius von Euwe. Seine kleine, breite Spitznase und die zwei lustiggescheiten Augen, eines schräg und schier boshaft am andern vorbeischielend, forschten und grübelten hurtig an der verkommenen Gestalt des Künstlers herum. Lange gekräuselte Silbersträhnen fielen ihm in den buckligen Nacken, auf die breiten Achseln und über die Ohren mit den langgezupften Läppchen. Der Mund schnitt sich mit zwei wunderbar feinen, satirischen Zwickeln in die vollen Backen hinaus. Ein ungeheurer lockerer Kragen umschloß den dicken, gekröpften Hals. So saß auf einer kleinen Figur ein wuchtiger Kopf, unregelmäßig und grotesk geformt, aber von einer seltsamen, unruhigen Schönheit des Geistes bis ins letzte Teilchen durch und

Y So lobsinget denn!durch modelliert, und über der massiven Stirne flackerte beständig ein Zünglein Genialität.

Das also war der volkstümliche Pfarrer und Prediger und Dichter Ignaz von Euwe, ein berühmtes Original durchs ganze Vaterland, vor allem ein unerschöpflicher Plauderer und Wanderer Gottes. Rücksichtslos mit Gnaden und Schelten, ohne Schonung, wenn der Stachel des Witzes ihn löckte, begeistert für alles Große und Schöne in Kirche und Welt, besaß er das Blut eines Zigeuners, das Gehirn eines Weltweisen und das Herz eines Bauernkindes. Er kannte die Welt. Von Meer zu Meer hatte er sie durchzogen. Musik und Poesie waren seine liebsten Zerstreuungen, sang er ja selbst einen golddunkeln Bariton und schuf Hymnen und heimatliche Stücke für die Volksbühne. Das Siebendörferland besaß trotz Gebirge und Schneckenpost und konservativer Eigenart hundert und tausend Brücklein in die Ferne. Aber der glorreiche Pfarrer von Euwe schlug ihrer noch einmal tausend mit seiner über alle Grenzen leuchtenden Genialität.

Wegen seiner großartigen Absonderlichkeiten hatte ihn Paul immer mit einer besondern heimlichen Zuneigung verehrt. Dieser Mann war auch ungestüm, ja unbändig in seiner Art, auch ein Wanderheld, auch eine Ungewöhnlichkeit, die in keinen Rahmen paßte und häufig von den Kleinen mißverstanden wurde. Paul maßte sich an, ihn besser als alle andern zu verstehen und auch von ihm besser als von irgendwem verstanden zu sein. Rasch erhob er sich vom Sessel, strich den Bart glatt und verbeugte sich tief.

„Ja, das ist mein widriges Böcklein,“ suchte der Salderner Kirchherr jetzt mit einem Ton von Spaß zu erklären. „Aber da hab' ich es gerade an den Hörnern genommen und ordentlich geschüttelt. Und es ist nun zahm geworden und will tun wie die andern u...“

„Tun wie die andern ... schweig' mir davon!“ brach der Kommissarius los, „das ist eure bekannte Wassersuppe!“ Er kannte den Anstern Spichtigers wohl, aber dachte jetzt an jene schreiende Mittelmäßigkeit, die auch ihm überall am Zeug flickte und seine zwar oft absonderlichen, aber stets reinen Wege mißdeutete. Das Geniale in ihm sah und achtete das Geniale im Künstler. Sowie er aber das verdutzte Gesicht seines Kollegen sah, biß er sich auf die Zunge und lenkte weise ein: „Setzt Euch,Pauli! Ich weiß, Ihr seid gescheit genug, Euch endlich zu meistern, zu Frau und Kind zurückzukehren und im kleinen Land groß genug zu werden.“ Er zupfte ihn am Ärmel. „Sagt ja, schnell, ja, jal... Bin ich etwa Großstadtpfarrer und Domherr geworden? Prediger an einer Weltkanzel?... und,“ hier wandte er sich mit lustiger,sauersüßer Ergebenheit zum Pfarrer, der nie einen Ehrgeiz über seinen Pfarrhauskamin hinaus gespürt hatte ...„und träumte doch manchmal jung von violettem und purpurnem Zeug... Ah bah, Bauernpfarrer im Bauerndorf bin ich und bleib' ichl ... Aber, tun wie die andern ... Antonius, das sag' mir nicht mehr, wenn du nicht noch einen mitternächtigen Streit willst! ...Seid doch froh, schon euerer Kurzweil zulieb, wenn mal einer sich opfert, aus dem Gänsemarsch der Philister heraustrottet und euch was Neues aufspielt... Darin,Pauli, verstehen wir uns.“ ... Er schüttelte dem halbverzückten Spichtiger die Hand.

Federer, Das Mätteliseppi.

13 Antonius hatte schon aufgeatmet wie über einen Gehilfen, aber das Schwänzlein der Rede verdarb ihm wieder alles. Wenn das so weiter geht, sagte er sich bekümmert, hab' ich all meine Sach' in den Wind gepredigt. Stoppen, schnell stoppen! And laut trompetete er: „Nun, nun, Ignatius! Du bist doch unseres gnädigsten Bischofs Kommissari geworden, allerwenigstens mit einem blauen Kragen ... Aber jetzt sag' mir noch flink den Hauptspruch deiner Predigt, sonst kann ich nicht schlafen.Es muß etwas ganz Durchtriebenes sein, daß du so Schelmenaugen machst.“

Wieder roch der Kommissarius das Schnäpschen und zum zweitenmal lenkte er ein: „Ihr glaubt wohl,lieber Pauli, ich schüttle meine Sach' nur so aus dem Armel? Das ist Aberglaube. Nach dem Ol der Nachtlampe riecht's wie beim alten Griechen. Ich muß am Federhalter beißen und im Ohr grübeln, von einer Kammer in die andere stampfen und schreiben und streichen und wieder schreiben und nochmals streichen und übereinander kritzeln durch ganze Nächte, bis es im Blei liegt. Wenn Ihr etwa meint, Ihr brauchet nur so zu rütteln an Euerem Kunstbaum oder Musikbaum ...“„Kunst, Herr Kommissar, Bildhauerei ...“

„And Musik sag' ich. Ihr seid Musiker, viel mehr als Bildhauer oder Maler, das hab' ich Euch schon vor Jahren gesagt. Wenn Ihr die Orgel schlagt ...da müßt' es ein Kind merken. Das Zeichnen und Schnitzeln in Ehren. Aber Ihr seht, es zerrinnt Euch,es lauft Euch oder Ihr lauft ihm davon ... Die Musik ist Euer Blut und Atem. Das ist so!“ schloß Ignaz von Euwe unfehlbar. Seine tiefe Stimme klang dabei selber wie Musik.

„Ignaz, Ignaz,“ sprang Antonius nochmals ein,„in Gottes Namen, jetzt setz' ihm nicht noch neue Mücken ins Ohr! Laß ihn, wie er einmal gewachsen ist. Wo es bis jetzt Apfel gab, fabrizierst du keine Zitronen mehr ...Pauli kann gewiß malen und meißeln und dazu nach Herzenslust pfeifen. Aber mit dem Pfeifen allein gibt's kein Brot ins Haus .. Jetzt flink deinen Spruch! ...'s ist bald halb zwei.“ Der Pfarrer erhob sich, nahm Dose und Nastuch vom Tisch und machte Miene weg ·zugehen. Der Kommissarius erhielt dabei einen beredten,auf den Spichtiger und seinen reuigen Zustand verweisenden, beinahe tadelnden Blick.

Heftig fuhr sich der Kommissarius ans Ohrläppchen und wandte sich rasch und mahnend zu Paul: „Jedenfalls müßt auch Ihr, lieber Mann, stillsitzen, den Kopf in die Hände nehmen, studieren, probieren, korrigieren,dutzendmal, im ehrlichen Schweiß des Talents, wenn Euch was Volles geraten soll. Nur unser Herrgott hat die Welt so auf einen Wurf ins Weltall schmeißen können. And jetzt sagen die Fürweisen, daß sie auch da an Nase und Ohren nicht ganz fertig war ... na,also! ... Spichtiger,“ er drückte ihm wohlwollend die Hand, „behaltet das eine: Euer Talent nicht vergraben, wuchern Tag und Nacht damit! .., Und ich · will Euch schwören, hier in unserm buckeligen Gebirgstal ist es so ganz richtig still und ehrfürchtig dunkel, um etwas Famoses aus der Seele zu graben ... Bleibe im Land und nähre dich redlich, hat die Weisheit dem Künstler so gut als dem Ackersmann empfohlen.“

13*„Ich glaube, alles glaub' ich Euch ja,“ sagte Paul voll Ergriffenheit. Ergeben sah er bald den Pfarrer,bald den Kommissarius an, ganz wie ein Kind, mit dem man machen kann, was man will.

„So setzt Euch noch einmal,“ winkte der Kommissar und zog ein groß und schön beschriebenes Heft aus dem Rockfutter. „Hier ist meine Predigt für Euern Aplersonntag. Ich will Euch nur die Idee schnell verraten.Bloß eine Minute!“Mit einem verdrückten Seufzer setzte sich Antonius schläfrig an den Ofen zurück, aber begierig leuchteten die Spichtigeräuglein zum klassischen Mund des Predigers auf.„Hoch über den Sermon hab' ich dick und frech den Titel geschrieben: Der Käse und der Menschl “...Ignatius stand, den Überzieher noch unterm Ellbogen,totenstill da und guckte mit einer wahren Schelmenfreude rechts und links, um sich an den verblüfften Gesichtern zu weiden.„Das wird doch nicht ...“ stotterte und näselte der schlaftrunkene Pfarrer und ward vor Schrecken wieder völlig wach.„Das wird, das wird, liebster Antonius !“ verteidigte der Kommissar und fuhr mit dem dicken Daumen rund um seinen unermeßlichen Kragen. „Spichtiger, he, was meint Ihr? Der Käse ... und ... der Mensch!“

„Ein Fund,“ frohlockte Paul in ungeschmeichelter Freude, „ein Geniefund!“ Und mit den roten Lippen schmatzend fügte er voll Appetit bei: „Und wie führt Hochwürden die Propositio aus?“

„Der Käse, aber nein, der Käse,“ mischte sich Pfarrer Molin nochmals voll AUnruhe ein, „das kannst du doch nicht auf einer Kanzel feilhalten ... du bist geistreich, ja, und bist heillos originell, gewiß ... aber das ist dann schon der Gipfel! ... Käse! ...“

„Vorurteile, lieber Konfrater! Wer hört denn zu?Alles Käser und Käseesser! Und darf man Milch sagen,und wie oft tut's der Psalmist! so darf ich auch Käse sagen. Wo David, auch einmal ein Käsbub, zu seinem Hirtenvolk klagt: coagulatum sicut lac est cor eorumꝰ),ich glaub' im 118ten, da schwant mir immer, er wolle Käse sagen. Einerlei, wir sind der Kanton der guten Käse. AUnd da soll einmal vom Käse gepredigt werden,vom Tierkäse und vom Menschenkäse. Ja! Antonius,ich pack' deine Pfarrkinder in der eigensten Sache. Sie werden Satz für Satz verschlingen, und im appetitlichsten Käsmodel servier' ich ihnen die ewigen Wahrheiten so ernsthaft, daß sie daran lange genug zu verdauen haben.“

„Für Sennen und Melker, hm, allenfalls,“ brummte Antonius unüberzeugt. „Aber zum Beispiel der Landammann Horat oben im Ratsherrenstuhl, was wird der sagen?“

„Landammann hin und Landammann her! ... ich predige das Evangelium und frage keinen Cäsar, wie fein oder dick ich's vortragen darf. Übrigens ißt auch er nichts lieber als eine Schnitte alten fetten Alpenkäse zum Kaffee. Hab's selber hier an deinem Tisch gesehen.“

„Aber der Kantonsrat Marei, unsere ver ...ver ... verflixte Spottdrossel ... he ... das gäbe ein Gewitzel ...“

9 eigentlich: wie verdickte Milch ist ihr Herz.„Ich will dem Vogel die Federn zum voraus stutzen,glaub's mir! Was sinnst du denn eigentlich? Meinst,ich woll' Komödie spielen! Auf heiliger Kanzel? Das fehlte noch! Schau, ernst und faßlich tu' ich dar, wie man die süße Milch mäßig wärmt, ihr das Lab Y gibt und sie scheidet, dann mit dem Schweifgohn absticht und teilt bis zur Dickete und über dem Feuer sotane Masse dann mühselig zur rechten, feinen Bereitschaft ausharpfnet und endlich mit einem Geniezug ins Gärndli faßt und in gewagtem Schwung aufs Brett preßt und wunderbar säubert und endlich den runden Laib in seiner Vollkommenheit in die Spalen und Spangen packt, zunagelt und schwarz verpicht wie in einen Sarg und aus dem Lande weit übers große Wasser nach Amerika spediert. Und was das Schweiß und Feuer und Kraft braucht und säuberliche Hände und ein ehrlich messend Aug' und ein geduldig Herz! ...Antonius, wie, das alles ist doch nicht zum Lachen ...!Aber jetzt kommt der wahre Jakobl Bei jedem Schritt in dieser herzhaften Käserei steh' ich still und zeig' mit allen Fingern auf unser Menschlein hin, wie es wird und wächst und reift und auch akkurat so langsam kochen muß, in allen Arten von Feuern und Kühle, von Schweiß und Müdigkeit, gegohnt und geharpfnet und gegertelt und schön gemodelt und mit bitterem Salz durch und durch gewürzt, um guten Endes als schmackhafter würdiger Laib im schwarzen Gehäuse über das große

Dies und folgendes sind technische Volksausdrücke in der Käserei.Wasser der Ewigkeit ans himmlische Gastmahl zu gelangen zur Probe und Auslese und zum letzten Lobe des allerhöchsten Älplers und Hirten Jesus Christus.Antonius, sind das Nücken und Späße? ...“

Die zwei Hörer lauschten wie gebannt.

„Und du wirst durch meine Predigt den Alpenwind sausen hören und das NRühren und Schwingen am Feuer und das Zunageln der Reifen und den Jubel an den ewigen Tischen ... Und ich werde den schlechten Käse verwerfen, den die Würmer des Lasters zerfressen und der faul und schimmelig wird in der stickigen Weltluft,und jeder wird merken, was ich meine. O ich klopfe laut genug aufs Menschenkäslein und in Demut verhoff' ich, daß, so oft meine Zuhörer wieder Käse essen,ihnen der Geruch meiner Predigt in die Nase steigt und damit ein kleiner Schatten und Schimmer des Jenseits ihr Genüßlein würzt ... So, und jetzt, Antonius, darf sich das auf der Kanzel zeigen oder nicht?“

Der Pfarrer schüttelte ungemütlich den Kopf: „Ich sag' nichts mehr. Wegen mir bring' anch noch den Käskessel mit! Aber ein vpaar Lausbuben werden sagen,vor Jahren habest Kartoffeln auf der Kanzlei gesotten,... weißt, an jenem Bettag! ... und jetzt bratest du Kaäse dazu, hahal“

„Laßt sie reden,“ beschwichtigte der Spichtiger und nötigte den zornig aufspringenden Kommissar wieder auf den Stuhl. „Was bedeuten zwei, drei schiefe Mäuler? ...Das ist ein gewaltiges Gleichnis. Ich danke Euch!“Unwillkürlich und wie aus Gewohnheit griff er nach dem Glas Wein auf dem Tische und trank einen guten Schluck daraus.Der Pfarrer mußte lächeln. Dann warf er den letzten Trumpf aus: „Und was wird mein junger Pfarrhelfer Ludowig sagen? Der Segneri) ist sein Ideal und die alten großen Väter, aber mit Käse und Mensch ...“

„Pst, pst!“ bat Ignatius beschwörend. „Wahrhaft,der allein macht mir Angst. Wenn er unsereinen so ansieht und die scharfe Brille zurechtrückt, könnte man aus allem Konzept purzeln. Er ist ein heller Klassiker und, mein Sir, ich seh' ihn schon mit den Mundwinkeln zucken: Kommissari, das ist zu holprig, das ist zu saftig,das Dekorum, das Dekorum.“

„Der eine predigt so, der andere anders,“ beruhigte Paul. „Heißt es nicht: Hisce Graecus, illece ...“

„Barbarus! sagt's nur,“ schimpfte der Kommissar und kniff nervös ins Ohrläppchen.

„In sensu Evangelii,“ entschuldigte Paul und trank das pfarrherrliche Glas aus.

„Lassen wir's gut sein,“ brummte der Pfarrer.„Quod scripsi, scriptum est, nicht? ... Einen Zuhörer, der hunderte aufwiegt, weiß ich dir jedenfalls.Das Mätteliseppi. Breit sitzt es da am vordersten Platz und bläht sich auf und verbreitert die Achseln und hebt das Koller und dampft die mächtigsten Atemstöße und schwingt mit am Käse wie wahrhaftig eine Amazone Gottes. So tut sie auch immer bei Ludowig,wenn er nicht gerade so groß wie von Käse, aber doch von David, den Richtern und Makkabäern und andern Helden Gottes erzählt.“

) Paolo Segneri, 8. J., berühmter Kanzelredner und Volksmissionar des 17. Jahrhunderts.„Spotte nur! Aber ich bin stolz auf diese gewaltige Zuhörerin.“

„Gar nichts von Spott ... Aber jetzt denk' ich, ist das Gescheiteste, wir legen uns sogleich aufs Ohr ...Pauli, für heut nehmt mit dem Sofa da vorlieb und schlagt die Fußdecke hier über Euch ... Gute Nacht!Gelobt sei Jesus Christ!“

Pfarrer Molin legte die Kartons des Mätteliseppi auf den Tisch, nahm Sacktuch, Dose und Brevier und ging die krachende Treppe ins obere Stockwerk hinauf,gerade unters Dach. Sein Schlafzimmer neben der Stube trat er dem Kommissari brüderlich ab.

Sogleich griff von Euwe die gewaltigen Papiere auf und las laut: „Johann von Aar, ein grenzenlosiger Nichtsnutz. Hat mir des öftern das Webschifflein versteckt und den Zettel verkudert. Und soll ich's verraten,hat doch ein malefizgutes Herzl Bei jedem Holdrio gumpet er voran, schlägt die Scheiben ein und trampelt über Salat- und Rübleinbeete, bindet den Spatzen die Schnäbel zu und macht Hühner besoffen. Schlägt alles mit Spott und Lachen tot. Aber hat der Kilipeter, der blödsinnige, Hunger, so gibt er ihm sein Brot her, und plagt man ein Kind, so schirmt er's durch allen Spott und Prügel wie ein Heiliges. Besitzt einen guten Kopf. Kaum überlesen, weiß er's auswendig. Nur noch eines in Konfidenz: Macht lange Finger! Stibitzt, was er kann. 's ist fast wie Fieber und Unsinnigkeit. Er denkt sich nichts dabei. Mahn'ich und stell' ihm die Schande vor, so weint er bitterer als Petrus im Vorhof. Hat eben keine Eltern mehr und, scheint mir, sein Vogt paßt wenig auf. Dieser Bub müßt' mir zu einem strammen Bauern hoch am Berg, wo er schaffen muß, daß ihm das Gebein kracht.Werdet sehen, wie er die böse Narretei schnell verschwitzt hat. Er gäb' einen guten Soldaten, einen Hauptmann wie Sankt Mauritius und brächt's noch drüber bis zum Major; oder man laß ihn förstern oder Landjäger werden. Er hat die Grütze dazu ... Meine Herren mögen's überdenken! Der Bußen aller Sorten kein Ende. Mätteliseppi.“

„Pauli, was sagt Ihr dazu?“ sprudelte Ignatius hervor. „Ist das nicht salomonisch schön?“

Und er nahm eine zweite Kartonkarte und las:„Babeli Marian ... Zopf und Zopf und alles Zopf.So ein Zappel und Strappel, so links, so rechts, so hundertorts, so zerstreut und schlupfmäusig; aber ...Gott Lob und Dank! ... dann auch so kommod und sicher am Schwanz zu fassen und wieder aufs Bänklein zu zwängen und im Merks-Marr zu behalten ... wohingegen noch zu notieren, daß es ein schwach' Stirnlein und schnell Kopfweh hat und überhin noch der jüngste Zwirbel von den Kommunikanten- Meitschi ist. Bußen: Zweimal unter den Webstuhl sitzen, eine Tatze, sonst wegen Schwächlichkeit geschont. Mätteli-seppi.“„Welch ein Aug'!“ lobte begeistert der Kommissar.„Eine Seelenprüferin und dazu eine Dichterin von hohen Gnaden.“

„Mir ... verzeiht ... mir ist das alte Mädchen nicht sympathisch. Es riecht oft so säuerlich, so altjüngferlich, so ... na, Gott schuf's einmal, das ist nun Faktum, und schuf's in einem schlechten Humor ...“„Ho, Pauli ...“ drohte der Kommissar.

„Aber nun will ich gestehen, daß diese ... diese Porträte oder Charakterbilder mich doch verblüffen ...daß ...“„Joseph Maria Müller,“ las der Kommissar weiter,„hitzig und witzig. Ein Geblüt wie Feuer. Die Ehr'ist ihm alles. Um ein Lob klettert er zuhöchst in die Bäum'. Im Lernen wild und überflink. Einmal kann er zu viel, einmal nichts. Hänselt die Leut' gern und erschreckt die Kinder. Aber nimmt's recht verständig auf, wenn man ihn mal abkanzelt. Hat zuviel Sackgeld. Wenn er aufbraust, wird er blind und würd'alles in Stücke schmettern. Sollte daheim nie Most trinken, nur Milch. Man zieh' die Zügel kurz und spar' den Hafer und brauch' die Geißel fleißig. Dann verwett' ich meine Zoöpf', daß er einen prächtigen Lebenslauf nimmt, im Trab und Galopp, krumm und gerad',ein sicherer Reiter ins ewige Morgenrot. Bußen:Viermal auf den Boden sitzen und beten: Die Ersten werden die Letzten sein. Auch viermal eine Stunde nachsitzen und das Leben Sankti Aloisi laut vorlesen.Ein Hosenspanner. Verboten an der Fastnacht Maskerade zu treiben. Mätteliseppi.“

„Und die Strafen, wie abgefeimt! Auf jede Wunde das rechte Korn Salz. Fast wie Dante!“

Der Spichtiger, minder begeistert, nickte schwächlich.

„Alois Spichtiger ... aha, jetzt geht's an Euer Gewächs... Nehmt, das müßt Ihr selber lesen.“Mit fröhlicher Bosheit reichte der Kommissar den vierten Karton dem Vater Spichtiger.

Zögernd und voll schwarzer Ahnungen übersah Paul das Geschreibsel. Es sah wie ein Handgemenge von Schilden und Schwertern und Spießen aus. Sonderbarerweise waren die großen Buchstaben in lateinischer Schrift hingesetzt. Sie ragten wie Regierende über das gewöhnliche Gemengsel empor und schieden es trotz allem Getümmel wie Truppenführer klar in Regimenter und Bataillone.

„Wenn ich das nur entziffere!“ zweifelte Paul.„Zu allem, die Jungfer kann mich nicht ausstehen. Sie wird poltern und mir ...“

„Aber das Papier da handelt ja nur von Euerem Bübel.“

„Schon, schon, aber ...“

„Dann probiert es einmal!“

Paul begann unsicher: „Alois Spichtiger, war erst ein paar Probestunden bei mir. Ein stilles, bescheidenes Bürschchen ...“

„Da seht!“

„Hat zwar ein löcheriges Gedächtnis für den Buchstab' und das Wörtliche, aber Sinn und Wurzel der Lehr' faßt er mir gut ... Das ist wahr,“ fügte Paul schier staunend bei. „Und das bekam der Junge von mir.“Ignatius von Euwe machte ein Zeichen der Ungeduld und sogleich las Paul mit sichtlicher Lust und Neugier weiter:

„Die halbe Zeit krank, ein Furchthase, aber zum Lachen bereit beim kleinsten Fliegendreck. Der Geist ist immer willig, aber seine katzengrauen Augen gefallen mir schlecht. Wenn ich Geschichten erzähle, sind sie wie Zündhölzli und brennen mich fast. Aber sonst schlafen sie viel oder hangen halbwegs zu und spinnen weiß Gott in welchen Nebel. Ja, bei hochhäuptigen Sachen, da zappelt er und schießt mir beinahe ins Garn.Aber bei den kleinen Dingerchen, dem nötig Alltäglichen,da gähnt er ... Hat eben so eine verflixte ... hat eine ... was?“ zauderte der Leser.

„Mut, Pauli!“

Verflixte und verfluderte Phantasei vom ... Alten geerbt ... Das ist aber stark!“ beschwerte sich Paul und hielt das Blatt nur noch mit den Fingerspitzen, als wäre es eine brennende Nessel. „Möcht'nichts als Awenturi), grad als wär's an ....seines ... saubern Vaters ... Nein, nein, das ist zu bunt ...“

„Was an Vaters? Seid ein Mann, Pauli!Nehmt's als Buße!“

Paul nahm alle Tapferkeit zusammen und las nun so hastig, wie man eine gallenbittere Arznei hinunterschluckt: „An ... Vaters Lumperei nicht schon übergenug. Sichern muß man den Bub, aber zeitig. Merk'ich doch des öftern, wie's schon zigeunert in seinem unschuldigen Geblüt! Geistlich will er werden, sagt er immer und stöbert in allen Legenden und Kirchenbüchern ...Aber es heißt, der Alte hab' es zur Knabenzeit auf den Tupf so getrieben ... ächch!“ stöhnte Paul elenden Mutes.

„Ein scharfer Tabak, Spichtiger,“ tröstete Ignaz.„Aber glaubt mir, das schafft Euch Luft!“

„Es geht über mein Vermögen...“ Paul ließ y Abenteuer.den Pappendeckel entgleiten und deckte sein Gesicht mit beiden Händen.

„Wenn Kinder das Bett netzen,“ las der Kommissar mit barmherzig gedämpfter Stimme weiter, „so ist das Beste, man hält ihnen am hellichten Tage den Sudel vor die Nase. And haargleich wirkt nichts so ferm9,als wenn ich dem Alois die Schande des Vaters vors Aug' hänge ... Nicht daß ich den Alten zitiere, eja,das wär' unchristlich hart. Aber ich brauch' nur ein Wörtlein: Vagabund! Da wird er rot wie Kirschenmus, zittert, macht sich ganz klein und verliert keinen Blick mehr vom Buch. And nachher kommt er zu mir,ganz allein und sagt hübschli: „Dank vielmal, daß Ihr nichts verraten habt vom ... Ihr wißt schon ...von meinem ... Sonst täten die Buben mir's nachher vorhalten. Und gelt, Mätteliseppi, Ihr saget nie vor den Kindern zu mir das Wort, wisset, das ...Vater! ... gelt ... nur Vagabund ... ich versteh's dann schon ...!“

Ein leises unendliches Weinen wie von Frühlingsgewässern unterm Eis klang durch die Stube... Es ist genug, dachte der Prediger von Euwe und warf den Zettel auf den Tisch. Er ließ den Mann eine Weile in seiner Zerknirschung, dann strich er ihm gütig den Scheitel und sagte: „Dieses Mätteliseppi ist ein rauhes aber ganzes Menschenstück. Seht, das ist das Geheimnis, ganz muß man sein, nur kein Zwitter ...Aber jetzt behauptet Euch, lieber Meister. Zeigt, daß Ihr ganz sein könnt! 's ist über Mitternacht. So i) stark, vom Lat. rmus.fangt denn gleich in Herrgottsfrühe das neue, tapfere Datum an ... And nun seid so gut und spielt den Introitus ) dazu, einen Choral oder was Euch an Eingebung kommt. Ich kann nicht schlafen, ohn' daß ich vorm Bette eine Strophe sing' oder einen Jodel pfeif'.Aber das ist besser.“ Und er hob den Deckel vom Jahr und Tag in der Ecke schlafenden Harmonium und lehnte sich warteselig mit übergeschlagenen Beinen in die Ecke.

Paul wischte sich mit dem zotteligen Nockärmel übers Gesicht, probierte ein Lächeln und sammelte ein wenig die Sinne. Dann saß er auf den Bochkstuhl,neigte den Kopf ein bißchen schräg und präludierte.

„Halt!“ Der Kommissar sprang herzu. „Nicht in diesem Rock!“ AUnd er riß ihm jählings an den zerfransten Ärmeln den häßlichen Lumpen rechts und links ab und schleuderte ihn mit dem Schuh zur Türe hinaus. Dann nötigte er Paul, seinen eigenen schwarzen Überzieher anzulegen. „Behaltet das Tuch! Ich trag's doch immer nur am Arm. Ah, wie angeleimt!Beide sind wir gleich krumm und buckelig, da sieht man's. Aber jetzt Musik ... Musik ... Musik!Schön hat's begonnen.“

Wieder begann Paul, suchend und tastend zuerst.Aber schon flogen ihm nach den ersten vier Takten wie aus dem Geratewohl kleine Motive zu, ein ganzer Vogelschwarm. Zetzt schloß er voll Hingebung die Augen und streichelte zärtlich ein Motivchen ums andere und prüfte sie vom Kopf bis zum Schwanz, bis einem

9 Eingang.von ihnen das Gefieder schwoll, es über alle hinaus-wuchs, gewaltig die Schwingen spannte und in einem feierlichen Largo wie ein Adler durch die Stube schwebte. „Hm, hm!“ machte der Kommissar und kniff glücklich die Augen zu. Aber nun schien das kleine Spatzenvolk dreist zu werden, den Adler zu umgaukeln, zu foppen und auf alle Zwergart zu necken. Ganze Geschwader flatterten herum, und ihr Gespötte ward dicht wie ein Wald und schien die große Melodie zu ersticken. Aber auf diesem Gipfel des Scherzos, wo das boshafte Durcheinander zu wild wurde, schlug eine einzige schwere Adlerschwinge dazwischen hinein und traf ein zweites und drittes Mal, schattete weit und weiter und herrschte zuletzt und zwang auch den übrigen hundertschnäbeligen Spektakel in ein gemeinsames sieghaftes Finale. Paul beugte sich dabei immer tiefer zu den Tasten, als wollte er sie küssen, sein Gesicht ward bleich und edel wie Elfenbein. Er vergaß alles um sich. Aber seine Seele schien aus ihm heraus zu leuchten, einen seltsamen,schmerzlich süßen Glanz um seine kleine, verhockte Figur zu weben und dann mit den letzten Tönen ins Anendliche zu verfließen.

Langes Stillschweigen herrschte. Die beiden hörten kaum, wie Pfarrers Pantoffel oben von der Diele unwirsch klopfte und zur Ruhe mahnte.

„Das ist Genie,“ brachte Ignatius endlich heraus.„Das ist's! Ich schmeichle nicht.“ Er klopfte dem Mann, der über den Tasten zu schlafen schien, kräftig auf die Achsel. „Ich hab' es Euch immer gesagt und sag's wieder. Ihr seid Musiker und nichts anderes. Was Ihr sonst künstelt, das ist Talent.Aber das hier ist Euere Natur. Ihr müßt Ihr folgen.“

„Kann ich aber doch nicht vom Blatt spielen,“ gestand Paul, „und kaum ein paar Noten schreiben.“

Der Kommissar schrak auf. Ach ja, nur phantasieren kann er! Ärgerlich schliff er den Daumen um den Kragen und grollte: „Warum habt Ihr denn auch gar nichts gelernt?“

„Ich hatte genug, o so genug am Angelernten, wisset an dem, was von selbst da war,“ entgegnete der Spichtiger demütig, aber eine wahre Glorie im Angesicht.

Ignaz stutzte. Dann rückte er hart an Paul und forschte in seinen Mienen, so nahe, als wollte er die Seele daraus zusammenbuchstabieren. Dann schoß es aus ihm: „Es gibt bettelarme Millionäre. Aber jetzt weiß ich, was Ihr seid. Das Gegenteil, ein millionenreicher Bettler! ... Aber Pauli, Pauli, eben doch ein Bettler!“

Damit lief der Kommissar, als wollte er vor seiner eigenen Rücksichtslosigkeit fliehen, in die Nebenstube hinüber und schlug die Türe zu.

Aber Paul dachte entzückt dem Worte nach. Ein Millionenbettler, ja, das ist gut gesagt. O was hab'ich nicht in mir! Und wieder legte er die Hände auf die Tasten und fing zu spielen an, aber ohne die Pedale zu treten, so wie er oft ganze Symphonien aus den Scheiben trommelte. Es war ein tonloses Fingern, gewaltig nach unten und oben und die Abgründe zu mitten mit kühnen Läufen überjagend. Das feine Hundeohr unter dem Ofen hörte nur das Klappern der Tasten, und auch ein Menschenverstand konnte nichts

Federer, Das Mätteliseppi. 14 anderes erraten. Aber Paul hörte ja und nein, kalt und heiß, Nacht und Sonne, Meer und Berg und ewige Wüste und alles Leid und Hosianna der Menschheit. Stimmen, Farben, Gesichter, ein ganzes Epos stand da. Und von den tausenden donnerte besonders eine Lippe tief aus dem Baß heraus: „And ich bin's wahrhaft und ich bleib's ... ein Musiker!“ Ja, ein Musiker, jubelte Paul, Papier! ... Dieses Motiv schreib' ich auf! . .. And indem er auf einen von Mäͤtteliseppis Pappendeckeln Noten hinwarf, ausstrich,wieder schrieb und nochmals ausstrich, schlief der schicksalsreiche Mann, den Kopf auf der Tischplatte und die zitterigen Hände am leeren Glas, wie ein müdes Kind an einer unmöglichen Schulaufgabe ein.

8 D gewaltige Käspredigt war unter den schwarzen Säulenbogen verdonnert, aber trug ein tausendfaches Echo durch alle Dorfstuben bis hinauf ins ödeste Bergstadel, wo nur ein halbwüchsiger Milchbub und eine Geiß hausten. AUnd allen schien der Käse etwas Feierliches und Ehrwürdiges geworden, fast wie das Weizenbrot, und der Benignazi schwor, daß unser Heiland und seine Jünger am Abendmahl gewiß auch Spalenkäse genossen, der wahrscheinlich auf einer Alpe des Libanon geschwungen und vielleicht nur etwas magerer als der hiesige war.

Aber auf den frommen Sonntag folgte die kraftvolle Weltlichkeit des Montags. Wildmann und Wildweib zottelten in greulicher Verkleidung schellenschüttelnd und Schreckschüsse verpuffend das Dorf auf und ab. Weit floh man vor diesen groben Urmenschen, und nur wenige flinkbeinige und schlaue Buben wagten sie zu hänseln.Aber wenn so ein Angeheuer einen erwischte, ward er von Wildweibs Birkenbesen erbarmungslos ausgestäupt.

Aus allen Dorffenstern lachte die Jugend, die sich nicht ins Getümmel traute, in die gelbe Herbstsonne und in die von ihr vergoldeten Abenteuer der Gespanen hinaus. Von allen Türen floß der Duft von Ziegerkrapfen, Schweinswürstchen und jungem, übersüßem Most in die Gassen. Oben, unten, zumitten im Dorf summte es von hohen und tiefen Geigen, und hinter den nassen Scheiben der Gasthäuser walzten die Älplerpaare, mit Samtkoller, Silberkettlein und blitzendem Haargeschmeide die Jungfern, mit fein umbordeten Hirtenhemden die Männer, andere aber auch in halb

14*und ganz städtischer Tracht, die engen, niedrigen, von Tabak durchnebelten Sääle um und um. Die lauten Jünglinge vom Dorf und die stillern, aber härtern vom Berg heischten einander an den Bachränften zum Kampf heraus. Hinter den Wirtschaften rollten die Kegel und auf der Herriwiese, der abgeweideten, sammelten sich die berühmtesten Schwinger der Urschweiz, des Haslitals und Entlebuchs zum Hosenlupf um ein dickwolliges Mutterschaf oder um einen Käse, der zwei Zentner wog,oder um einen Zwanzigfränkler, der eben warm aus der Münze kam und in einen Napf voll Nidelmilch?) geworfen ward. Der Sieger mußte das Geschirr in einem Zug bis auf den goldenen Rest leeren.

Alles war im Trubel, die Kleinen am allermeisten,die Herrigeschwister, die Tonoli, der glatte von Aar und die Trunzkinder an der Spitze des jungen Trosses, und alles pfiff und mundorgelte, ließ Ballons steigen und knallte Pulverteufel ab und schleckte dann wieder und sog an den Fingern und war heißer Mitspieler und noch heißerer Zuschauer. Das ganze Weichbild surrte wie eine Bienengemeinde und fast ein wenig spöttisch sah der alte, seelenruhige Berg in sein tolles Dörfchen.Er kannte es ja vorher und nachher so gut!

Nur eine Seele machte nicht mit. Alois Spichtiger lag schwach und übernächtig am Ofen und unterhielt sich wie so oft an den Bildern daran. Immer neue Vermutungen ließen sich aus diesen ungewissen, halb E konnte leicht die Welt vor den Fenstern dabei vergessen.t3

Rahmmilch.Jene eine Schilderung freilich mit dem Weib auf dem großen Platz und den Männern und Frauen und Kindern sogar rundum, die Kleider zurückgeschlagen, die Ärmel aufgestülpt und Steine in der Hand, diese Historie war dem Knaben jetzt völlig klar.

„Mutter,“ sagte er, als die Stubentüre aufging,„schau, das bist halt doch du ... je, gehst du aus?...so schön angezogen!“

„Der Pfarrer will mir etwas zum Flicken geben.Ich riegle die Haustüre, Schatz, und vor einer halben Stunde bin ich wieder da.“

„Ja, ja ... aber acht' noch schnelll... Das Bild da, weißt, ich kenne jetzt alle Köpfe darin. Dies da ist doch das Mätteliseppi mit dem größten Stein in der Hand. Ich hab' es immer gedacht ... AUnd da bist du, sicher, und hast auch einen Stein...solltest nicht,“ lächelte der Knabe wie zur Entschuldigung,„weißt ja, daß Christus dabeisteht ... ganz verwischt ist er, aber man sieht noch ein paar Strahlen. Und er sagt: Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein! ... Hm, hm,“ setzte der Bub wichtig fort,„ich kann nicht begreifen, daß auch das Mätteliseppi ...“„Hör' doch auf! Wie sollte ich da hineinkommen,Schwärmer du!“ tadelte Verena und fuhr dem Jungen über das viele braune Haar. „Halt dich ruhig, bis ich komme! Adie!“

Dann ging sie und war innerlich sehr stolz, daß Alois ihr die biblischen Dinge so scharf erklären konnte.Mutig und klug wie sie in einem war, fiel ihr bei, dem Pfarrer, wenn er gut aufgelegt wäre und es sich ordentlich schickte, kurz zu erzählen, wie ihr Bub das ganz verschwommene und vergilbte Bild entziffert hätte.

Als ihre leisen, raschen Schritte die Pfarrtreppe heraufstiegen, befahl Antonius zum Spichtiger: „Husch in die Nebenkammer! Aber lasset eine Ritze offen!Ihr müßt alles hören ... Herein!“

Frau Verena verneigte sich ehrerbietig vor dem Pfarrer. Ihre braunen Augen besaßen einen schönen,mutigen Glanz wie jedesmal, wenn sie die Arme zu einer frischen Arbeit ausstreckte. Die schmale Stirne war noch immer glatt und das Haar schwarz. Doch der Mund wellte schon, die Wangen dorrten ein, das Kinn ward spitz, und am dünnen Halse schrumpfte die Haut faltig zusammen. Aber aus diesem vorzeitigen Zerfall kam noch eine tapfere Stimme und sagte bündig:„Guten Tag, Herr Pfarrer. Sie haben mich rufen lassen ...“ und unternehmungslustig sah sie über den Tisch und das Sofa und die Wandhaken nach einer bereitliegenden Näherei.

„Setzt Euch, Frau Spichtiger,“ erwiderte der Seelsorger und fühlte in seinem unpolitischen Wesen eine leise Nervosität aufsteigen. Aber hinter der Türe war Paul vor der wohlbekannten Stimme erbebt.

„Seht,“ begann der Pfarrer im neuen Anlauf, „da hängt ein Chorhemd am Nagel. Die Spitzen sind zerrissen. Ich bin schon wieder an unserem verzwickten Schloß an der Sakristeitüre hängen geblieben, als ich dem Ministranten, dem Reinert Wilhelm glaub' ich, eine Ohrfeige hauen wollte.“ Antonius lächelte versöhnt.Denn der Spitzbube hatte den Hieb doch famos gekriegt.Alles, was sich gehört!... „Könntet Ihr das jetzt flicken, etwa bis Allerheiligen, daß es wenigstens wieder eine Art und Gattung macht?“

Frau Verena stand noch immer und ließ jetzt die Spitzen durch ihre magern Finger gleiten. Dann meinte sie bestimmt: „Ich nehm' ungebleichtes englisches Garn.Das Ornament da ist ein einfaches Muster. Kein Mensch soll merken, daß es zerrissen war. Hochwürden,seht, man kann fast alles flicken,“ frohlockte sie zuletzt.

„So setzt Euch doch ... denn ich habe eine andere noch viel bösere Flickerei für Euch ...“ Der Pfarrer schnupfte und schlug die Dose mit einem lauten Klapf zu, um sich für die schwierige Eröffnung Mut zu machen.Denn es genierte ihn, daß Frau Verena ihn so groß und unruhig anzuschauen begann.

So ein Spitzen ist ein zart' Geweb' und ein Riß durch alle die Nervchen da geht ihm, ich möchte schier sagen, bis in die Seele. Es ist unzweifelhaft sehr schwer, das wieder ganz in Ordnung zu bringen ...Aber nun seht ... der Spitzen ... das Flicken ...hm... ach was, ich will ohne Umschweif von Euerer Ehegemeinschaft mit Pauli reden.“

Frau Verena zuckte zusammen. Sie knotete ihre Finger auf der Schürze ineinander nund errötete über die Stirne und die fein geäderten Schläfen. Für einen Augenblick schlug sie die Augen nieder. Der Spichtiger in der Kammer mußte sich derweil auf die Bettstatt stützen, so bange ward ihm.

„Eine Ehe zwischen Mann und Frau ist ja auch etwas so fein Gewobenes oder Gesticktes wie der Spitzen hier. Und das da, möcht' ich's auslegen, ist der männliche Faden, der so gleichmäßig und fest den Grund zum Ganzen gibt. And dieses rote Fädlein hier,wie es nun durchs Neztz schlüpft und so rosige Schnörkel bildet, allerhand Blumen und Vogelzeug, nicht? ...seht nurl ... das ist der Frauenfaden, fein, zart,rot, so rechte opfervolle Liebe. Und es verwebt sich mit dem andern, verschönt es, bildet ein Ganzes mit ihm. Aber eins ohne das andere ist nichts, ist so ein Riß, wie Ihr da seht ...“

Das gemütliche Zureden war immer mehr zu einem lauten Predigen geworden. Unter dem Ofen knurrte der gescheite Philo leise. Aber auf dem Ofen schlummerte hart am Rande eine gewaltige graue Katze in fast unmöglicher Verschlingung, doch in süßester Welt-vergessenheit.

Frau Verena wollte dem Pfarrer demütig zunicken.Aber sie konnte es nicht. Steif stand ihr Kopf und glühend nahmen ihre Blicke dem priesterlichen Munde Wort für Wort ab.

„Heuer ist Euere wackere Lina zur ersten heiligen Kommunion gegangen. Ein braves Mädchen! Nun folgt nächste Ostern der Alois. Da sag' ich mir, was wär' das für ein Glück, wenn die Kinder ihre Freude nicht mit der Mutter allein, nein, mit Vater und Mutter teilen könnten . .. wenn ... ja, wenn Euer hochzeitliches Spitzen und Ehrenkleid wieder geflickt wäre, daß man, wie Ihr sagt, gar nicht einmal sieht, daß es zerrissen war.“

Die Frau sank ein wenig. Ihr Antlitz ward noch um einen Schein dunkler. Leise kaute sie mit den Lippen.

„Was denkt Ihr darüber? ... Ich weiß, Ihr habt es schon ein paarmal versucht. Geht es noch einmal? ...“Umsonst würgte Verena nach einem Worte. Pauli hinter der Tür hielt in tödlicher Neugier den Atem an.Seine Stirne taute über und über von Schweiß.

„Oder haltet Ihr dafür, der Riß sei zu groß, da helfe kein noch so roter lieber Faden mehr? ... wie?“forschte Antonius ungläubig, mit einem Tone, der ein schönes Nein erwartete.

Aber die arme Frau nickte langsam und hauchte ein Ja.

In der Kammer ächzte jemand dumpf. Verena meinte, es sei das Tier unter dem Ofen. Durch einen offenen Fensterflügel scholl vom Dorf her das eintönige Bachgesprudel und darüberweg Kindergeschrei, ferne Tanzmusik und das Getrappel der Wildleute.

„Aber Ihr habt noch eben gesagt, fast alles könne man flicken,“ versuchte der Pfarrer zu scherzen.

„Fast, fast alles,“ stammelte die Frau furchtbar ernst.

Da griff Antonius fester ins Zeug. „Ich weiß,Ihr habt viel gelitten. Aber nun frag' ich Euch vor dem, der alles weiß: Ist denn alle Schuld bei Pauli?Und Ihr steht in wasserheller Unschuld vor dem Ewigen?“

O die Qual! Verena sah auf ihre Hände nieder,so bestürzte sie die Frage. Aber ihr wunderbar heller Verstand geriet nicht in Unruhe. Ja, früher hatte sie viel mit Zweifeln ihr Alleinsein durchfochten und sich Sorgen um diese Art von Witwenschaft gemacht. Aber das lag nun längst im Rücken. Und wenn sie bedachte,wie sie vor drei Jahren ihren Gatten nochmals so liebevoll aufgenommen und gepflegt hatte und wie er ihr zum Lohne den letzten Batzen und sogar das Büblein gewissenlos davongetragen hatte ... nein, nein, der Faden ist zerrissen für immer. Lange hat sie daran geflickt.Der Stoff selber ist schlecht. Was kann da der innigste rote Frauenzwirn helfen ... nein, nein, ... dachte sie,flüsterte sie, schwor sie ... bis es deutlich durch die Stube geisterte, nein, nein!

Antonius geriet in Verlegenheit. Was konnte er noch sagen? Antadelig war der Ruf Verenas, daran gab es nichts zu mäkeln. Aber es regte ihn doch allmählich auf, daß dies kleine, zusammengeschrumpfte Weiblein sich gegen seine guten Absichten so schwierig erwies und neben einem großen Sünder, der sich aber auf den Knien schuldig bekannt hatte, nun die knappe heilige Unschuld spielen wollte. Menschen sind wir doch allzumal. War Paulis genialer Kopf eine große, so war doch auch ihr enges, nüchternes Gehirnchen eine kleine Schwierigkeit für den gegenseitigen Frieden und einen lautern Ehehimmel gewesen.

Der Geistliche stand auf, öffnete ein zweites Fensterchen und ging dann stiefelknarrend hin und her, während die verschüchterte Frau jedem Schritte wie ein bedrohtes Vogelchen folgte.

Die Empörung des Pfarrers wuchs beim Marschieren.Dieses Frauchen, so ein Häuflein Schwachheit da vor ihm im Stuhl! man könnte es fast mit einem tüchtigen Schneuz umblasen ... und schafft ihm mehr Arbeit als sieben Männer!

Die Arme hinter dem Rücken steht er plötzlich vor ihr still und schmettert sie an: „Ist das also Euer Evangeli, hassen statt lieben, kopfen und trotzen, statt verzeihen ?“Da schlägt die Frau ihre schönen braunen Augen aus dem zermarterten Gesichtlein zu ihm auf, trocken,heiß, unbesiegt, aber von dem unsagbar rührenden Vorwurf erfüllt: Peinige mich nicht weiter, ich leide schon übergenug!

Antonius wandte sich rasch ab, schlug ein drittes und viertes der Kreuzstockfensterchen auf und ging dann immer schwerer und verwirrter vom Sofa zur Kammertüre und zurück. Deutlicher grölte die verrückte Kilbi vom Dorfplatz herein. Der Hund schob sich murrend zur angelehnten Gangtüre hinaus. Nur die UÜhr tickte gemächlich fort, und die majestätische Katze, diese unendlich beherrschte, um sich und um nichts anderes sich kümmernde Bestie, schlief mit antiker Ruhe auf ihrer Ofenplatte weiter.

Erbitterung, Mitgefühl, Ratlosigkeit stritten sich in der guten Seele des Priesters. Er schnupfte und schnupfte,wischte sich die Stirne und schimpfte bei sich: ‚Da hast du den Tabak! Laß dich mit Weibern ein und du zappelst alsogleich mit Händen und Füßen im Garn ... Hilf Gott, da kann mir nur noch der Evangelist frommen‘,besann er sich und nahm jenes alte und oft verbrauchte Geschichtlein wieder vor, womit er wie mit einem unfehlbaren Goldstück schon so oft den Selbstgerechten den Heiligenschein prompt abgekauft hatte. Wieder machte er vor dem Sessel Verenas halt, schüttelte das Schnupftuch aus dem Ärmel und begann mit milderem Tone:„Ich will Euch nicht weiter zusetzen. Aber ein heiliges

Frau Spichtiger sah schweren Herzens aber folgsam wieder zum Pfarrer wie zur Kanzel empor und nickte demütig.

„Es steht bei Johannes,“ spann Antonius fort und gewann, sowie er auf seinem ureigenen Boden stand,die Sicherheit des Erzählers in Stimme und Vortrag.„Da ging unser Herr und Heiland einmal durch die Stadt und traf es gerade, daß zumitten auf offenem Platz ganz allein ein sündig' Weib stand und ein paar Schritte von ihr dräute ein ganzes Volk und nahm Steine auf und krempelte die Ärmel zurück und wollte die Schuldige stei ...“

„O je!“ entfuhr es Verena und sie drückte schnell die Hände aufs Herz, so schmerzhaft klopfte es da.

„Ihr wisset ...“

„Ich weiß, ich weiß,“ stöhnte die Frau und hielt vor Scham die zerrissenen Chorhemdspitzen vors Gesicht.

„Wer das Geschöpf ist? ... Es ist die Schuld vor Gott dem Herrn, sei's Mann, sei's Weib ... Und wer sind die Steiniger, Frau Spichtiger? Wer, wer? Und was hat Christus ihnen gesagt?...“

Das Weib vernahm den Pfarrer nicht mehr. Aber sie sah das Bild daheim am Ofen und hörte von den Lippen ihres harmlosen Knaben: ‚Mutter, das bist du...mit dem Stein ... solltest nicht! ... Wer von euch ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein!...‘ Vor ihren Augen,die endlich, endlich zu weinen begannen, ward alles neblig und wirr. Sie sah wie durch Schleier die große Gestalt des Priesters zurücktreten, sie hörte Schritte, und was für Schrittel ... Etwas Dunkles kniete vor ihr, eine Stimme... Himmel und Erde, diese Stimme... Sperrauf riß sie die Augen.

„Verena, o Verenal“... und warme, samtweiche Hände hielten ihre Wangen, „du bist rein wie Schnee,das schwör' ich. Ich bin ganz allein der Schuldige, ja,ich, Herr Pfarrer ... Wüßten Sie, was alles sie mir geopfert hat, nicht e in mal, wie andere Gattinnen, zehnmal, hundertmall ... Verena, so schau' mir doch ein einziges Mal ins Aug'!“ ... Paul rutschte demütig vor ihr und küßte leidenschaftlich ihre fast erstarrten Hände ...„Ich bin's, dein Pauli. Bin heimgekehrt, hab's nicht ausgehalten ohne dich! Nimm mich wieder zu dir, nimm mich für immer, immer! Frag' den Pfarrer, ob ich nicht ein neuer Mensch bin! Glaub' mir nur noch dieses Mal, o Verena, Verena ...“

Er liebkoste ihr verstörtes Köpflein und schmiegte es an seine Brust; im selben Nu hielt die alte Liebe und das alte Vertrauen an jenen schönen, jungen, genialen Menschen, der vor fünfzehn Jahren ihr Herz erobert hatte, mit dieser rührenden Stimme, diesem Puls, der so suchend an den ihrigen schlug, und mit so lang entbehrten, ungestümen Küssen ihren Einzug in ihr verwintertes, aber nicht erfrorenes Wesen. Also doch noch!O Gnade und Barmherzigkeit, also doch nochl ... Ja,er war ein anderer. Sie sah etwas Lauteres, Morgendliches, Knabenschönes jetzt wieder an ihm wie einst am Hochzeitstage. Trotz der ungeheuern Verwirrung hatte sie mit Blitzesschnelle bemerkt, wie sein Haar wohl geschnitten, sein Bart gepflegt, sein Kragen weiß und seine Kleider von sauberer, fast hochzeitlicher Feinheit waren.Sie wollte lächeln, sie wollte ja sagen, sie wollte seinen Bart streicheln und konnte vor großem seligem Staunen nichts von allem tun, als wieder zurück an seine Brust fallen und stammeln: „Gott Lob und Dankl“

Als Paul zu Füßen der Gattin stürzte, war Antonius taktvoll rückwärts der Stubentüre zugestiefelt. Die Augen überliefen ihm. Er wollte das Pförtlein sachte offnen und verschwinden, aber da war schon eine Spalte offen und daran horchte das langzipflige, mit einem großen Goldringel geschmückte Ohr seiner Alberta. „Pack dich fort!“ schnauzte er sie grimmig an, „du Gwunderhex'! Daß dir unser Herrgott doch sieben Eselohren an den Kopf kleisterte!“

„Das ist gut gegangen,“ erwiderte die robuste Magd mit geheimnisvoller Flüsterstimme, wich nur zwei Schritte und pflanzte sich neuerdings wie ein Baum auf. „Herr,das habt Ihr aber auch malefizgut eingefädelt ... nun nimmt sie ihn bestimmt ...“

Was schwabbelt sie noch? Nichts ist mir gelungen,rein nichts! Am End' war ich mit meinem Latein. Aber da ist der Pauli selber gekommen. Wie eine Kugel schoß er herein... Donner, was stehst du noch da und hältst Maulaffen feil. Weidliy) in den Keller und eine Flasche Rheintaler herauf ... und Brot und Käse und Ziegerkrapfen! Holla, wird's bald ...“

Nach einem warmen Stündchen traten Paul und Verena aus dem Pfarrhof in den dunkelsonnigen Dorfabend hinaus und eilten rasch über den Kirchplatz der

9

Flink.Bachbrücke zu. Je später, je dichter war das Volk auf Steg und Weg und um so toller der Schabernack der Jungen geworden. Paul reichte seiner Frau den Arm.Aber sie sträubte sich und ging allein und tapfer dicht an seiner Linken, ohne ein Auge nach rechts oder links zu verlieren.

Unweit der Brücke stand Friedel Herri in einer Gruppe von Knaben und Mädchen, worunter auch Lina und Hannchen Spichtiger. Mit feuerrotem Kopf und blühendwilden Augen stand er da, während ihm die hübschen kleinen Ohren fast davonfliegen wollten. Denn der lange, bleiche Hans von Aar, schwarzhaarig und geschmeidig wie ein junger Teufel, hatte ihn eben im regelrechten Hosenlupf auf den Rücken gelegt und das Knie triumphierend auf die Brust gesetzt. Die Mädchen jubelten. Johannes war nicht nur artig, nein großartig gegen sie. Die Buben aber litten viel unter seiner Härte und Überlegenheit. Drum taten sie jetzt, als wäre dieser Sieg selbstverständlich.

„Du bist größer,“ sagte Louis Tonoli.

„Und drei Monate älter,“ setzte Joseph hinzu.

Von Aar lehnte sich schlank und schön an einen Hagstecken und schaute gleichmütig seine hübschen Füße an, die in bloßen Sandalen steckten. Hochmütig wippte er die Knie auf und nieder. Dann lächelte er kühl über den verstrupften Schopf Friedels hinweg, verzog den bleichen Mund ein wenig, aber antwortete mit keinem Wort.

„Das hat keinen Wert,“ schrie der Herri, noch zitternd und schwer schnaufend vom Kampf, „größer!...älterl ... Dummheiten! Er kennt einfach die Griffe besser. Das ist's. Aber morgen oder übermorgen wollen wir wieder dran und dann ...“

„Liegst du wieder da.“ Von Aar zeigte hochmütig zu seinen Füßen nieder.

„Cheib du,“ schrie Josef Tonoli und ging mit verbissenen Lippen und die Fäuste vorhaltend auf den Tyrannen los. „Aber probier's mit mir, he,Stölzlig!“

„Weg, wegl!“ Louis zerrte den Bruder kräftig in die Gruppe zurück und entschuldigte: „Der Johann muß doch erst verschnaufen.“

„Was das anlangt,“ antwortete von Aar höhnisch und stand blitzschnell gerade und krempelte die Ärmel zurück.

„Nein,. Hans, schwing' nicht mehr, ruh' aus! Du bist doch Schwingkönig. Der Sepp läg' auch gleich am Boden ... der Sepp, der wilde Seppeldibeppel,“ klang es von sieben, acht Mädchenlippen, und sie hänselten den Zöpfefeind, indem sie die Zeigefinger kreuzweise gegen ihn rieben und im Takt sangen: „Helä, helä, helä...“

Der Tonoli spuckte nach ihnen und spottete zu Johannes: „Pfui, so ein Meitschifresserl“

Johannes schnalzte und schleckte die Lippen ab, als hätte er gerade mit Appetit davon gekostet. Das reizte die Buben gräßlich. Da trat ein kleines Ding herzu,stand auf die Zehen und hielt ihm eine Tüte Pfefferminze vor die Nase. Johannes nahm gleich sechse, warf eine um die andere hoch auf und fing sie elegant mit den Lippen auf. „Dank, Hanni,“ sagte er melodisch,„dafür darfst du den ersten Schottisch mit mir tanzen.Mein Mäusli bist du, gelt?“ Von halb fünf Ahr bis zum Abendläuten war Kindertanz im Gasthof zum Schimmel.„He hoi,“ rief da auf einmal Friedel Herri und zeigte zum Bach hinauf. „Ein Wunder, Leute! Der Spichtiger lebt wieder. Seht dort!“

Alles ging Friedels Fingern nach. Lina Spichtiger wurde bleich wie Kalk. Vorsichtig guckte sie zwischen zwei Mädchenschultern zur Brücke und erkannte sogleich den Vater. Entschlossen zog sie das Schürzenband fest,sagte nicht Ade, noch Guten Abend, sondern ging eilig zum unteren Bachsteg. Von dort schoß sie wie eine Gemse heim. Einen Kaffee werden Vater und Mutter zuallererst brauchen, einen guten heißen Kaffee.

„Er trägt einen Frack wie der Pfarrer,“ lachte Gemeindeschreibers Klausi.

„And hinkt ein wenig,“ lachte der lose Spaßvogel Wilhelm Reinert, „mit dem rechten Bein vom Most,mit dem linken vom Schnaps ...“

„Mein Porträt hat er versoffen, bevor er's gemalt hat,“ prahlte und log Friedel.

Endlich verstand Hannchen, daß sein Vater in der Nähe sei. Es äugelte froh herum, und wie es ihn von ferne erblickte, lachte es auf, spannte die Arme aus wie ein kleiner Spatz seine Flügel und wollte ihm entgegenfliegen. Aber da regnete der Spott der Buben wie Gift über sein Seelchen herab und der neunjährige Fant ward gleich zaghaft, schämte sich und kroch in die Kinder hinein. Johannes verfolgte mit seinen kühlen, aber scharfen Blicken das Vögelchen und dachte: ‚Ei, das nehm' ich in meine Hand und streichle und blase es

Federer, Das Mätteliseppi. 15 warm und trag's zum Nest ... das verflucht hübsche Hudeli.“

Er ging denn auch stracks mitten in die Mädchen auf die Kleine los.

Los', Wildweib, los'),“ brüllte jetzt der Herri durch die hohlen Hände, und ein böser Witz lachte aus seinen großen blauen Augen.

Im selben Moment umfing Hanneli schon den Ellbogen des mächtigen Schlingels und Schirmers von Aar mit beiden Gelenken und lehnte den Kopf an seinen warmen Hosensack. Denn höher hinauf reichte es nicht.Hilfesuchend blickte es an ihm auf.

„Wildweib,“ wiederholte Friedel noch lauter. „Da kommt ein Maler und hat keinen Pinsel. So gib ihm deinen.“ Er meinte den Besen.

Das Gelächter der Kinder, das wie eine Welle aufrauschte, erstickte auf eins. Denn eine gewaltige Maulschelle klatschte nieder. Der Herri fuhr sich jäh ins Gesicht. Er blutete aus Nase und Mund. Johannes von Aar aber putzte die Hand ruhig an seinen schwarzen Zwilchhosen ab und befahl freundlich in die Gruppe:„Kommt jetzt, 's ist Zeit zum Tanzen!“

„Du meineidiger Schuft ... dul“ stieß Friedel weinend hervor und suchte wie irre einen Stein oder einen Knüppel. Aber die übrigen Knaben hielten ihn zurück und trösteten: „Morgen rechnen wir mit dem Stölzlig ab, hörst du, in der Schulpause. Jetzt wollen wir auf den Tanzboden, komm!“

Aber da rief ein Mädchen: „Schaut, schaut! ...“

4 horch.mit einer so verwunderten Stimme, daß alle stutzten.„Dort,“ zeigte das Kind, „auf der Brücke ... nein doch!“

In der Tat, etwas Großartiges geschah dort.

Paul Spichtiger, im ÜÄberschwang seines Gemütes nach allen Seiten grüßend und den Hut ziehend, war mit Verena auf die Brücke getreten. Zuerst hatten die Erwachsenen das Paar ungläubig angestarrt. Was, der verschollene Schnitzler zur Seite der Frau Spichtiger,die man längst wie eine Witwe betrachtete? Doch ja,sie waren es und gingen in Eintracht nebeneinander.Wer nahe war, trat zurück, wer fern stand, rückte herzu,man tuschelte und murmelte und einzelne halblaute unartige Rufe von Jünglingen, denen die Kilbi bereits schwer im Kopfe lag, flogen in die Luft: „Guten Abend,schönes Paarl... Macht dem Meister Hämmerli Platzl...Gehst tanzen, Pauli? ...“

Der Spichtiger lächelte gutmütig. Verena aber trat kräftig auf die Brücke und sagte: „Vorwärts, Pauli,heimzu!“

Wildmann und Wildweib waren auch hergelaufen.Sie erkannten sogleich, daß der Augenblick einem Narrenstück besonders gnädig sei, und gingen drei Schritte hinter dem Ehepaar Spichtiger gravitätisch einher, wobei sie die beiden in Haltung und Bewegung lächerlich nachahmten, aber alles übertrieben, das Weib schroff und kerzengerade, er aber einen Höcker ziehend, nach allen Winden den Hut schüttelnd, einen vorgeblichen Bart streichend und auf verliebte Weise sein Gespan anschielend.Schließlich zog er eine Flasche aus der verlumpten Kleidung,schluckte mit Wollust daraus, streichelte den Bauch und bot den andern zum Bescheidtun an. Jetzt flog noch

15*des Herribuben Witz daher. Sogleich lief das Paar unter Grimassen auf den Spichtiger zu, um ihm den Besen zu überreichen.

Frau Verena merkte, wie es auf einmal rings unheimlich still ward und alle Gesichter sich spaßhaft auf einen Punkt hinter ihrem Rücken richteten. Das kleine Frauchen wandte sich hurtig um und verstand mit einem einzigen Blick die ganze, herzlose Gemeinheit.

And nun geschah etwas Anbegreifliches ... Sie stellte heftig einen Fuß vor, als wollte sie auf die Spötter losgehen, aber tat doch keinen Schritt, sondern loderte nur mit furchtbarem, tödlichem Ernst die beiden Fratzen an. Ihre Gestalt schien zu wachsen, ihr schwarzes Haar zu rauchen, ihr Auge wahrhaft zu brennen. Keinen Finger rührte sie, tat nicht den Mund auf, aber stand in einer solchen Würde und Anantastbarleit da, eine so ergreifende, stumme Klägerin, daß die ganze Szene in einem Atem ins Gegenteil umschlug.

Der Spaß auf den Gesichtern erlosch jäh, die rote Scham kroch überall hervor und Wildmann und Wildweib, die heute dem Pfarrer und dem Landammann ungestraft eines stecken durften und von der Glorie ihres hald vollendeten Tages eitel voll waren, diese urweltlichen Harlekine blieben wie gebannt am selben Fleck,alle Komik blätterte von ihnen ab, arm und kahl standen sie da und wagten kaum, Schuh hinter Schuh langsam zurückzukrebsen, Besen und SFlasche hinter ihre Zottelfigur bergend, bis sie die heillose Brücke endlich erledigt hatten. Nun erst wie verscheuchte Hunde machten sie rechtsum und galoppierten sozusagen mit eingestecktem Schwanz in ein Rudel Kinder hinein, indem sie ihre Schande mit verdoppeltem Narrengeheul und Schellengerassel zu erwürgen suchten.

Groß steht der Kirchturm von Saldern da und wirft um diese Zeit einen Abendschatten weit über die Dächer in alle Wiesen hinaus. Und noch viel größer ragt der Berg über dem Dorf auf, und sein Riesenschatten reicht über sieben Gipfel und Täler bis an die Gletscher des Berner Oberlandes. Aber nichts kommt der kleinen Verena Spichtiger gleich, wie sie am Kilbi-Abend auf der Brücke von Saldern stand und den Schatten ihrer Hoheit so weit über allen Spott und über alle Verachtung der Armut warf, daß er wie ein Königinnenmantel weit über diese gemeine Welt hinaus und mit den Zipfeln bis in den Himmel wuchs und dort von den Engeln ehrfürchtig aufgehoben und unserem Herrgott gezeigt wurde. And die himmlische Majestät nickte zufrieden und gebot: Schneidet den Überfluß von den Säumen und tragt es zu den Entblößten und Unbeschirmten der Erde, heute und morgen und übermorgen, solange es reicht! Und manches verschupfte Geschöpf hienieden,dem in jenen Stunden eine ganz frische Herzhaftigkeit und ein prachtvolles Selbstgefühl in die Fäuste zappelte,hat niemals geahnt, daß solcher Segen nach dem Gesetze,wonach nichts Herrliches verloren geht, aus einem fernen Bergdorf, von einem kleinen, leidenbeladenen, aber heroischen Weiblein kam.

„Bravo, bravo!“ erscholl weitum eine einzige, melodische Stimme. Dann beugte sich Johannes von Aar zum Hannchen und lobte mit glänzenden Augen: „Was du kleiner Schneck doch für eine großartige Mutter hast!Hast's gesehen? Hast's gesehen?“Indessen kehrte sich Verena langsam um und bot nun ihrerseits dem Gemahl den Arm, aber so, daß sie durchaus die Führende war.

Von den Türen und Fenstern der nächsten Häuser verschwanden einige Köpfe, andere aber beugten sich vor und nickten zuerst einen Gruß, und alles ehrte die Vorübergehenden mit einem achtungsvollen Schweigen, bis das Ehepaar, von der untergehenden Sonne wie mit goldenen Hochzeitskrönlein geschmückt, in der Dämmerung der nächsten Gasse verschwand.

Drei Stunden später bei vollem Dunkel klopfte der XDDD hatte das vom Tanzen und Most und der Saalschwüle schläfrige Dirnlein, sobald sie in die Matten hinausgelangten, einfach auf die Arme geschwungen und mit seinen raschen, langen Schritten vors Haus getragen.Bevor er den eisernen Klopfer anschlug, wog er das warme Bündelchen, das beide Hände um seinen Kopf gelegt hatte und selig an seinem Hals eingeschlafen war,wog es zweimal auf und ab und dachte: „Das ist doch ein herziges Bürdlein, leicht und duftig wie junges Heu,das trüg' ich noch viele Stunden weit bis zum Stucklikreuz; aber am liebsten in meine Stube, wo kein Vater und keine Mutter und kein Geschwister lebt, sondern nur der Vetter und die Knechte, Hosen, Hosen, nichts als Hosen! So unheimeligh...‘ Und in einer unbezwinglichen Sehnsucht nach einem Gespan mit Zopf und Röcklein drückte er seine flaumige Wange mit unschuldiger Zärtlichkeit ganz wie ein Bruder ans volle Bäcklein der Kleinen, klopfte dann mörderisch ans Eichenholz und sagte der Gestalt, die ohne Licht in der geöffneten Türe erschien, ob es nun Lina oder Frau Verena wäre:„Grüß' die Frau Spichtiger und sag' meinen großen Respekt ... und da ... pst! pst! ... bring' ich Euch Euer liebes Mäusli... pstl... es war ganz brav ... nicht schelten! ... nur ist's jetzt faul, und ich bitt' schön ... aha, du bist's, Lina ... heb' die Arme ... sol ... und jetzt trag's gleich ins Bettl...Ich hab' ihm g'rad eben für Vater und Mutter 's Nachtschmützlein) gegeben ...“ And schon war er von der Stiege und zwischen den Bäumen verschwunden und nichts als sein sonderbar leises, hübsches Lachen summte noch wie von einer großen, süßen Biene dem erwachenden Hannchen ums Ohr.u5

Küßlein.

94 etzt endlich bin ich in meinem Wasser,“ lobte Paul J zu Verena, „in einem kleinen Wasser wohl, aber groß genug für einen einzigen Hecht.“

Köstlich duftete das alte Holzgetäfel der Kammer,das saubere Bett, der frühe, heiße Kaffee; freundlich harrte der große Tisch mit Mappe und Reißbrett und Farbentöpfen, die Staffelei, vom Dachstuhl geholt und gewichst, und in einem dicken Blech zwischen dem Doppelfenster das feine, graue Modellierwachs.

Paul trug sich in einer doppelumkränzten Anzeige des Siebendörferboten zu jeder künstlerischen Hantierung an, gelte es Porträte von Kindern oder Greisen ...selbst Verstorbene wolle er nach ordentlichen Photographien gleichsam ins Leben zurückbannen ... oder seien es Grabsteine, Waldgemälde, Schnitzlereien, Auffrischung und Vergoldung alter Werke oder sogar langweilige Mal und Zeichnungsstunden der Bauernkinder. Selbst zu Hausplänen in gutem Bergstil war er erbötig.

Eine kurze Stille des Zweifels oder des Respektes folgte auf diese Anerbieten. Dann meldete sich zuerst ein sackreicher und sackgrober Goldinger Kaufmann um eine ungewöhnliche, große Puppe auf Weihnachten für sein einziges Töchterchen. Sie sollte aus Weichsel geschnitzt sein, mit Christkindgesicht und kreuzweis geschnürtem Wickel, die Hände warm vom Geben, die Füße vom Stillestehen und Warten kalt. So hieß es buchstäblich im Brief. Aber alles sollte aus dem gleichen wohlriechenden Holz gehauen und mit Farben voll Leben und Kinderzappeligkeit bemalt sein. Danach ward die lebensgroße Marmorbüste eines unlängst verschiedenen Staatsmannes bestellt. Von ihr sollten ein Dutzend kleine Kopien in Gips nachgemodelt und in die Amtsstuben des Kantons und in ein paar befreundete Häuser geschenkt werden. Aber das Größte war,daß Paul durch das Fürwort des regierenden Landammannes Horat berufen ward, die Statuen der Religion und Wissenschaft in dreifacher Mannshöhe nach freier künstlerischer Willkür aus einem grünlichen Sandstein zu hämmern und vor den Eingang des Goldinger Gymnasiums ins Angesicht der Tausende von Studenten aus nah und fern, die hier Weisheit sogen, und also ins Antlitz der schweizerischen Jugend und schweizerischen Zukunft zu stellen.

Dazwischen übernahm Paul die Kirchenorgel und den Chor für den kranken Organisten, und zu allem Ubermaß, denn er stand im vollen Appetit seiner Kräfte,schrieb er für die Landeszeitung manchen Leitartikel,nicht mit sachlicher, sondern persönlicher Lust, in der politischen Musik des Ländchens mitzutrommeln oder besser spitzig mitzupfeifen. Denn immer geriet er in eine sonderbare, geistreiche, aber ziellose Satire gegen alles,was seinen Phantasien zuwider, aber nun einmal Tatsache und altes Herkommen war. Als das Fröhlichste und wohl auch Giftigste dabei mochten die Schattenbilder gelten, die der Spötter in den Text streute und in denen er bekannte Politiker unter irgendeiner spitz-bübischen Maskierung feierte oder verdammte. Am Stubentisch und in den Hauspantoffeln war er ein Held.Das gemeine Volk, halben Leibes immer in Schadenfreude, sah diesen Humor über seinen Köpfen gerne.Das merkte man namentlich, als sogar Landammann Horat wegen seiner Zwängerei für allegre Orchestermessen im Dreivierteltakt und wegen eines bittern Zerwürfnisses in einer eidgenössischen Frage mit seinem engern Vollke,als dieser auch in seinen Irrungen großartige Mann von Paul in zwei Skizzen verschundet wurde. Die Zeichnung, wie er im viel zu kurzen Priesterrock mit einer Baßgeige auf das heilige Jungfräulein Cäcilia,womit der strenge Choral, und mit hölzernem Zepter auf ein gebundenes Niesenkind, womit das Volk gemeint war, kräftig niederschlug, ging von Hand zu Hand durch den Kanton und löste ein grimmiges Gelächter aus. Denn in diesem urdemokratischen Kantone, wo doch alles von der stimmenden Hand und freilich auch von einem antiken Phlegma der Gewohnheit abhing, mottete unter der offiziellen Friedensasche eine alte Fehde zwischen Herren und Volk leise und unverlöschlich fort. Jetzt aber spritzte es Funken. Denn gerade um die Zeit versuchte eine in der Tradition hart gewordene Partei aus Angst für ihre Heiligtümer das zu neuzeitlich gesinnte Oberhaupt des Kantons nicht bloß im nächsten April vom Landammannssessel, sondern nächstens, wenn die Schweiz ihre Vertreter nach Bern bestellt, ihn auch von diesem geliebten Herrenstuhl zu stürzen. In Horats Dorf tobte noch der Streit über die fidelnde oder choralende Kirchenmusik,und es muß gesagt sein, daß der Landammann der Geigen und Flöten im Zopf des Josephinismus erwachsen war und darum zeitweilig etwas zu selbstverständlich den regierenden Sakristan der Kirche betätigte.Nun war aber der gleiche Landammann nicht bloß immer ein hochmögender, sorgenvoller Pfleger seines Kantons, sondern noch ganz besonders der Guttäter der Spichtiger gewesen. Seine kleine, untersetzte und noch gabeseligere Frau hatte sogar am Taufbecken der Mutter und der ältern Tochter gestanden und es sehr ernst mit ihrer geistlichen Mutterschaft genommen. Es war nicht zu zählen und wägen, was aus ihren leisen Händen mit rührendem Takt in die Armut des Mösslihauses ging. Sie gab, indem sie dabei schüchterner als die Empfängerin wurde und ablenkend irgend etwas Gleichgültiges dazu sagte, wie etwa: Richtig, kennt Ihr diese blaue Sorte von Myriadieschen? ... Denn sie hegte gleich wie Verena eine starke Liebe zu Blumen und Blumenzucht. RNosalia Horats Antlitz war immer von einem stillen Lächeln besonnt, das nicht aus den goldbraunen Augen, noch aus den zartgeröteten Wangen, sondern aus einer tiefen Harmonie ihres frommen und welttüchtigen Wesens erblühte. In ihrem weißen Haar und dem weißgerunzelten Gesicht sah sie immer noch jung aus. Wie Mai oder JZuni? Nein,wie Oktober, aber Oktober nicht am Abend, sondern zur hohen, in stiller Verklärtheit ruhenden, reifen Vesperzeit.Sie war aus altem Stamm und wohlbegütert und es gebrach ihr an keiner Ehre und an keinem Segen.Statt aber an dieser Sonnenseite des Lebens den Schatten zu vergessen, wurde sie gerade durch soviel eigenes Licht nur aufmerksamer und empfindlicher für das Dunkel der andern und lebte beinahe zu nichts anderem, als mit ihrer Helligkeit soviel Finsternis wie nur möglich aufzuheitern. Sie stieg fast nur zur täglichen Messe ins Dorf, sonst arbeitete sie in ihrem herrlichen Hausgarten oder im Stüblein, wo sie mit Geduld die vielen Bittenden anhörte, die Kleinlichkeiten und die Erhabenheit des Elends mitgenoß, ihre Almosen bemaß und beim Dämmerlicht durch die Mägde in die Häuser trug. Wenn aber die Pflicht als Patin oder Frau Landammann oder Präsidentin der Arbeitsschule sie doch in die Gäß lein hinabzog, ging sie buchstäblich wie eine Sonne herum und verließ keine Stube, ohne die warme, helle Freude eines solchen schönen Planeten bei allen Bewohnern zurückzulassen. Trat sie um Neujahr ins düstere Spichtigerhaus, so ward die Baracke zum Palast, und lange noch nach ihrem Abschied schien dort, wo sie gestanden und wohin sie geblickt hatte, der Platz wie oergoldet.

All dies Wohltun der seltenen Herrenfrau war bekannt. Von ihrer größten Leistung jedoch sah niemand etwas.

Ihr Gemahl stand da wie ein königlicher Baum,hoch und scheitelrecht noch als Greis. Durch seinen Stamm pulste das cholerische Blut von sieben jähen Jünglingen, und AÄAste und Dolden glühten und blühten noch vom Trieb heißen Lebens und Wirkens. Ein kleines Ungefähr und dieser stattliche Baum schüttelte sich in zornigem Winde und übertoste jede andere Stimme.Nur die der kleine Frau Rosalie nicht! Wie ein Rotkehlchen setzte sich diese Stimme in den Baum, wetzte den Schnabel und stimmte mit milder, aber unwiderstehlicher Eindringlichkeit ihre Melodie an, so daß es von einem Zweig in den andern trillerte, bis zum schroffen Wipfel klang und nach und nach das Gestürm dieser Wettereiche in den Takt und Frieden ihrer kleinen Noten zwang. Zuletzt schwang sich dieser Vogel zu oberst in die Dolde und dankte mit einem zweiten Liedlein, weil der Gewaltsbaum unter seinem Bann so geduldig und ruhig und endlich ganz gehorsam still geworden war.Ja, dieses Frauchen bändigte ihren mächtigen Gemahl.Doch pfuschte sie ihm nie in die Politik. Sie kannte ja die Lauterkeit aller seiner staatsmännischen Handlungen und nur, wenn Horat, wie er ja in der großen Welt seine Bildung und einen weit über die Heimatberge reichenden Blick gewonnen hatte, nun eben oft das große Maß des Auslandes zwängerisch an die kleinen Formen seines Kantons legen wollte, oder wenn ihr überzartes religiöses Gewissen bei seinen Vorhaben litt, nur dann suchte sie mit ihrer schönen Berg und Ländchenklugheit zu bremsen, zu stunden und vertagen,bis der Galopp seines politischen Gedankens sich nach und nach in einen gesunden Trab ermäßigt hätte. Ob aber Orchester mit opernhaften Soli und hüpfenden Tempi oder ob schwere runde Choralnoten am Sonntag vor unserem lieben Herrgott ihre melodische Kniebeugung machten, das schien ihr unbedenklich. Sie hatte selbst einst gern wie jede hiesige Landestochter in allen Ehren ihren Schottisch und Mazurka getanzt; und in allen Ehren auch eine lichte, seelen und fersenbeschwingende Musik vor dem Altar zu spielen, dünkte ihrem unverdorbenen Sinn durchaus gottgefällig. Es wurmte sie darum, daß gerade der Spichtiger ihrem Gatten zuwidertat, steifnackig den härtesten Choral betrieb und,als er, wie am Rosenkranzfest, dennoch zu Posaunen und Klarinetten gezwungen wurde, sich unverzüglich in der Zeitung mit stechenden Versen und Bildchen rächte.Freilich, die liebe Armut der Familie war daran unschuldig und auch Vater Spichtiger mochte in der Sache eben seine unzerbrechlichen Grundsätze haben. Aber nur keine Bildchen und Verse! Das ist Undank und macht beim Gätten gefährliches Blut.

Verena wußte nichts. Sie las weder Zeitungen,noch schwatzte sie sich in die Nachbarschaft ein. Aber Alois merkte davon. Er paßte schon lange gut auf, wie es im kleinen Staat zugehe, wer regiere, wer gehorche,wer wohltue, wer leide. Seine Leidenschaft für die Historie der Welt übertrug sich aufs Histörchen seiner Heimat. Den Boten las er immer rasch und hitzig durch. Obwohl nun Pauls Worte dunkel und seine Schattenbilder mehrdeutig waren, so daß der Witzbold nicht am Kragen gefaßt und einer bestimmten persönlichen Bosheit überwiesen werden konnte, so durchschaute die mit den Jahren immer schlauere Unschuld des Jungen doch bald den Zusammenhang und schämte sich über Vaters Feder und Stift erbärmlich. Denn hoch stand ihm Landammann Theodul Nikolaus Horat nicht bloß als Gönner, sondern noch mehr als der erste großartige Steuerer,den er am Schiffe der helvetischen Republik erblickte.Auch vom Aufruhr des Volkes gegen den Mächtigen schnupperte er ein Pulverräuchlein auf, je näher es dem Wahltag der eidgenössischen Räte zuging.

Oft saß er an freien Nachmittagen beim Vater und guckte zu, wie jene Marmorbüste die letzte Feile bekam und wie sich die Skizzen für die heiligen Sandsteinfrauen auf allen Rändern und Deckeln häuften.Heute war Paul besonders gut gelaunt. Ein Kanonikus von Sankt Gallen hatte ihn als alter treuer Schulkamerad an die Bahre seines berühmten Bischofs berufen, um die Totenmaske vom Verblichenen abzunehmen.Paul zeigte den ehrwürdigen Gips mit den weitliegenden Augen, der feinen Mundbildung und der schön gerundeten Römerstirne, und der erschaudernde Knabe berührte andächtig die paar kurzen silbernen Härchen,die an den Schläfen klebten, Haar eines gesalbten und infulierten Mannes, eines Fürsten und Gelehrten der Kirche.

„Das war noch einer!“ betonte Paul mit erglänzenden Augen. „An den reichten die Landammänner der ganzen Schweiz nicht an. Aber hier! ... Der Pfarrer ist schlaff und läßt sich in Kerzen und Kaseln) hinein reglementieren, wenn's hoch vom Kirchhubel kommt. Ha, Landammann Horat müßte so einen Gotteskämpen gegenüber han, das wär' ein Funkengestiebe. Aber woher die Sankt Jörg und Uli nehmen?Aus der Luft etwa? ... Schau', Alois, wenn nur du ein Tapferer wirst und der Kirche gibst, was der Kirche ist. Jetzt kriegerst du immer mit Soldätlein.Dummheit! Schlachten des Geistes sollst du schlagen lernen. Lies die Kirchenväter, den großen Atha-nasius !“„Den kenn' ich,“ schrie Alois begeistert. „Fünf Kaiser haben ihn nicht gebodigt. Drei Erdteile haben sich vor ihm gebogen. So etwa heißt es in seiner Lebensgeschichte.“

9 Das eigentliche Meßkleid.„Jetzt sollen wir,“ schweifte Paul ärgerlich ins Gegenwärtige, „auf Allerheiligen die Corelli-Messe herunterdudeln, didelda, didelda dei dei. Zuckerzeug,faules Ohrgekitzel, pfuil“

„Vater,“ verwagte der Bub, „wehr' dich! Nur aber ... das da ... schau,“ er zog die Zeitung vom Samstag aus der Tasche, „das ist nicht gut.“ Er schlug das Blatt auseinander und hielt dem Vater sein Machwerk mit betrübten Augen vor. Ein Riese mit Papierkrone, Papierzepter und mit einem ungeheuern Papiermantel sprengte mit lächerlich wilder Majestät auf den Vatikan los. Aber im Lauf flogen ihm überall die Fetzen ab und es kamen Beine und Hände eines Zwerges und der Wasserkopf eines Kindes zum Vorschein.

„Das soll unser Landammann sein,“ tadelte Alois bekümmert weiter, „der mir die Weltgeschichte von Schlosser geschenkt hat, zwölf Bände, und dir hat er die große Arbeit in Sandstein verschafft! Und erst unsere Gotte!), Frau Landammann ... ach Vater! ...“

Paul erkannte sein Vergehen schwarz auf weiß und das Gericht darüber in den unschuldigen Augen seines Sohnes und schwand augenblicklich mit bösem Gewissen zusammen. Da der Bub aber mit offenen Lippen auf ihn wartete, zerrte er heftig heraus: „Was verstehst du davon? Da höre man so einen Grünspecht! Merkst denn nicht, daß hier der Kirchenfeind in genere?) verhöhnt wird? Es kann der vierte, fünfte oder sechste der y Patin.) im allgemeinen.deutschen Heinriche oder der schöne welsche Philipp oder Napoleon oder ein zukünftiger Prahlhans und Stelzengänger sein, kurz es kann ...“

„Nein, Vater, es ist der Landammann auf dem Kirchhubel und niemand sonst,“ widerstand Alois laut und empört. „O, ich weiß es. Vater ... ich bitt'dich, hat der Bischof da oder der Athanasius oder sonst einer ...“ er hielt dem Vater das Gesicht des toten Helden und damit gleichsam zweitausend Jahre heroischer Kirchengeschichte entgegen, „hat der auch mit solchen Helgen gekämpft, mit so einem Schund und Spaß? ... Und ... ja wohl ... und bist du hier im Dorf ein Bischof oder auch nur ein Pfarrer ...daß du das Recht ... nimmst ...“

„Halt's Maul!“ befahl der Spichtiger wütend, ohne doch über seine Scham Meister zu werden, und knisterte heftig in seinen Papieren herum. Endlich strich er ruhiger den Bart und meinte: „Gut, ich lass' dieses Gekleckse. Wenn du so flennst! Hast allerenden recht ...Mit echter Kunst hat das nichts gemein. Gib den Bischof!“ Er hielt das feierliche, im Tode noch gleichsam von römischem Trotz geadelte Gipsgesicht wie ein Panier hoch. „Aber weißt du, was unser allmächtiger Landammann will? Eh' so ein grasgrüner Spritzer gen seinen Vater spuckt, sollt' er sich doch erst im Abe unserer Landespolitik unterrichten ... Also, unsere Schweiz bekommt eine neue Verfassung. Da sollte sie doch die alte verbessern, zum Beispiel uns Katholischen soviel Freiheit geben als den Evangelischen, die gestohlenen Klöster den Orden zurückgeben, die Jesuiten hübsch amtieren lassen, den Bischöfen die Freiheit der

Federer, Das Mätteliseppi. 16 Apostel gewähren und der heiligen Kirche den unwürdigen Maulkorb abnehmen, den sie ihr wie einem Raubtier umgebunden hat, und das um so mehr, weil unser Staat jeden Schimpfian und Naseweis seinen Plunder über den Markt schütteln läßt. Aber nichts von allem! Im Gegenteil, indes unsere protestantischen Brüder in voller Freiheit nach ihrem Glauben schalten und walten, werden wir neuerdings in eine Kette von Paragraphen geschnürt, bekommen Handschellen und Fußeisen und sollten nächsthin in der großen Volksabstimmung dazu noch mit Ja und Amen danken. Die ganze Arschweiz ist bitter dagegen. Sie hat einst die Blutvögte verjagt.Die grauen Berge, die alten Kirchen und Rathäuser,der Winkelried und Bruder Klaus rufen uns aus ihren mutigen Jahrhunderten zu: Verjagt auch ihr eure Vögte und bleibt im guten Alten! ... Aber der Landammann Horat erwidert: Hört mich, nicht die Toten! Weit herum bin ich gekommen und weiß, wie spät es am eidgenössischen Tag ist. Aber ihr seid kurzsichtig und wollt nicht mit dem Stundenzeiger vorwärts.Neue Zeit und neue Welt wollen auch neue Gesetze.Ihr bekommt dies und das und verliert nichts. Denn die Erstgeburt, ha, was gilt sie heute noch? Aber das Linsenmus demokratischer Rechte und Fortschritte, was nährt und sättigt, das ist der wahre Jakob ... Und so, Alois, hat unser Landammann zu Bern mit Ja gestimmt, obwohl sein ganzer Kanton Nein denkt. Ist das nicht Tyrannei? Ich will kein Brot vom Tyrannen ... ich will schon ohne das zurechtkommen, ha ...“Geringschätzig wischte Paul ein paar Skizzen der Religion vom Tische. „Laß liegen!“Alois empfand unklar, daß da zwei alte große Gewalten aufeinanderstießen, deren genaues Wesen er nicht kannte, aber aus seinen Studien der Geschichte ahnte. Aber daß gerade sein Vater mit einer so faulen Vergangenheit das Recht und der Landammann mit einer so edeln und fleißigen das Unrecht vertrete, wollte ihm nicht in den Kopf. Die Stirne schmerzte ihn vor unerlöstem Zwiespalt.

„Ich verstehe das noch nicht, Vater,“ klagte er.„Erzähle mir lieber, wovon du beim Mittagessen angefangen hast. Weißt du, von den Farben. Noch kann ich nicht glauben, daß es nur drei Farben gibt und alles andere aus diesen dreien stammt ..

„And doch steht das fest. Schwarz und weiß sind keine Farben.“

„Also rot und blau und gelb?“ Wie über einem Geheimnis, das halb seine dunkeln Augen öffnete, entzückte sich Alois. Auch Paul war froh über das Thema und mischte auf einer weißen Schale die leuchtenden Olfarben, daß grün und braun und grau und violett in allen Schattierungen erwachten.

„Was dünkt dich jetzt das Schönste?“ fragte er sinnend.

Alois war ein Narr der Farben. Er schwelgte mit nervöser Wollust in ihren unbegreiflichen Rätselseelen. Grün erfrischte ihn besonders. Das war tapfer und keck, wie ein Jüngling, der immer mit ernsten Augen lacht, dem nichts mißrät, der überall vorangeht. Aber Rot war ein lauter, schöner, junger Tyrann, Mordfreude im Herzen, der an heißem Wein und Wildbret tafelt und leidenschaftliches Geigenspiel liebt. Er kann

16*nicht alt werden. Das Färblein zwischen Lila und Violett war etwas Geheimnisvolles, leise Regierendes und so Vornehmes, wie wohl der Purpur und die Seele Cäsars einst. Aber die Farbe aller Farben,ah ...

„Welche denn?“

„Gelb, Vater, gelb!“

„Gelb?“ staunte Paul zurückfahrend. „Woher hast du das ?“

Alois wußte es nicht. Seine früheste Erinnerung in die Tage des Röckleins zurück war freilich ein Schützenfest durch die Dorfstraße mit einem Fenner,der unablässig eine weite, zitronengelbe Fahne schwang,so daß sie ihre Mondenpracht bald nach rechts, bald nach links mit melodischem Rauschen enthüllte. Nichts als diese gelbe Fahne war ihm im Sinne geblieben.Seitdem sah er sie wieder, so oft er einen ZSitronenfalter aufleuchten sah, und fühlte den gleichen innerlichen Schauder wie damals. Wenn ihn nun Banner und Kirchenfahnen anwehten, so war der eigentliche und wahre Fahnentriumph doch erst eine geschwungene, helle,gelbe Seide, die in der Sonne noch einmal Sonne gab. Der gelbe Damast an den Kirchenfenstern, der gelbe Rauchmantel am Fronleichnam, die Sonne durch den Weihrauchnebel süß und hell wie Gold fließend,das packte ihn wie Fieber und in einem unwiderstehlichen Kitzel der Sinne konnte er dann etwas Ansinniges, Tonloses herausschreien wie ein stummes Kind.„Auch ich liebe Gelb über alles,“ gestand jetzt Vater Paul ratlos, „und doch ist es nirgends in der Kunst recht zu brauchen ... Das Gold ist gelb und Sonne und Mond und die Glorie und die Falschheit und der Neid sind gelb ... aber hast du je daran gedacht?“

„Nein,“ beschwor Alois.

„Und ich nicht. Woher kommt das wohl? Ist's angeboren? ...“

„Es ist viere, Vater,“ unterbrach Alois. In der Stube rätschte die alte Uhr. „Ich muß in den Anterricht ...“„Denken wir's einmal ordentlich aus,“ fuhr Paul rücksichtslos fort, „gelb! Alles ist eigentlich gelb. Die Grausamkeit ist gelb und die Unschuld doch auch, der Haß und Dampf eines Drachen und der Wohllaut eines Kanarienvogels, die helle Findigkeit und die vornehme Faulheit, alles, alles ist gelb. Das Christkind in gelber Seiden und Goldkrönlein, welch ein Zauber!Aber gelbe Seide um den blassen Kaiserbuben Caligula,welch unheimliches, todbringendes Tuch! Alois, das ist's,im Gelb ist alles enthalten, und weil wir zwei von allem einen guten oder bösen Funken haben, ach, von gar allem, darum sind wir so verwandt mit dieser Farbe der Götter und Teufel ... ach, und darum nebeln wir zwischen allem und nichts in ewiger Unzufriedenheit herum.“

„Ich muß jetzt zum Mätteliseppi, sonst komm' ich aufs buchene Scheit knien,“ murmelte der Bub und sprang ohne Antwort hinaus, dem dämmerigen Dorfe zu. Es war kurz nach Allerheiligen. Der weiße Bergwinter war schon über die Flühen bis zum Bannwald hinuntergerückt, und alle Schornsteine bliesen den gemütlichen Rauch der Stubenöfen in den eiskalten Abend hinaus. Schon schattete es leicht über die Wiesen. In einer Stunde ist es Nacht.

Das war die Zeit, wo die Erstkommunikanten der nächsten Ostern sich nach dem Vesperbrot in die Webstube des Mätteliseppi begaben und dort in einem rechten Winkel an der Wandbank um das alte Mädchen saßen. Es thronte hoch im Webstuhl und jagte den schönsten roten oder blauen Einschlag emsig durch den Zettel hin und her, indessen seine Füße die Pedale stampften, damit sich abwechselnd die ungeraden Fäden von den geraden hoben, aufwärts, abwärts, und das glatte Schifflein wie ein Fisch durch die auf- und niederwogenden Wellen der seidenschimmernden See schießen konnte. Die Knaben saßen im halben Angesicht der Jungfer, die Mädchen im Rücken. Jene beherrschte das Auge, diese das fuchsfeine Ohr der tapfern Katechetin.

Im Takte der Pedale stellte nun die Mädchenbank mit vorwitziger, fast schnippischer Neugier siebenmal die gleiche theologische Frage aus dem Canisi und später aus dem Auslegbüchlein. Und im gleichen Takte antwortete die Burschenbank siebenmal mit rauher Stimme und barbarischer Sicherheit. Dann klappte man die Bücher zu und fragte und antwortete auswendig im schönsten Wechselchorus. Und es saß. Selbst der Sephisbattist mit seinem viellöcherigen Gedächtnis ward vom Schwung der andern mitgerissen und wußte alles, Frage und Antwort.

Das Mätteliseppi war kein Gemeindekind. Es stammte aus einem andern Dorf, von einer Familie, die mehrere Küster und einen Kapuzinerbruder hervorgebracht hatte. Als junge Waise war es dann in die Bauernwirtschaft der Herri nach Saldern verdingt worden. Ob der Zauber des Mannes es einmal gestreift, ob es je geliebt hat? Die einen sagten ja, die andern noch bestimmter nein. Jedenfalls kannte man das Seppi seit undenklichen Zeiten nicht anders als im Zopf und Stolz einer harthölzigen Jungfernschaft. Das Mätteliseppi lachte über Verliebte, die von den Nacht-buben zwischen zwölfe und eins verprügelt und durch Wassertröge und Schlimmeres geschwenkt wurden. Ganz in Ordnungl! Auch die Katzen kratzen und beißen sich in dieser albernen Sucht des Aprils. Fast übel ward der Hagestolzin, wenn von einer Hauslaube herab jemand Liebeslieder sang wie etwa: „Schöss' mich ein Jäger tot, fiel ich in deinen Schoß,“ oder vom Mühlenund Herzensrädlein: „Am liebsten möcht' ich sterben, dann wär's auf einmal still.“ Sie war jedenfalls zeitig als selbstherrliches, lediges Mädchen in die zweikammerige Wohnung des Mättelihauses gezogen, hatte Seide gewoben und Kaffee getrunken und einen hartverdienten Batzen auf die Seite gelegt. Am Feierabend nahm das Seppi fromme Kirchenbücher, las Legenden und Armenseelen Geschichten und fürchtete weder Spuk noch Teufel. Beim Zunachten ging es in den Rosenkranz und legte sich um die Neune in die raschelnden Laubsäcke, nachdem es am Hausaltärchen voll süßem, zopfigem Zierat die Kerzlein angezündet und das Nachtgebet verrichtet hatte. Ob die Menschen es genarrt oder ob es einem angebornen Trieb seiner rauhen Seele folgte,einerlei, es entfremdete dem Allotria der Welt immer mehr und baute sich um so tiefer in die Region des Glaubens und Gebetes, der standhaften Jungfrauen und Märtyrer, der heiligen Konzilien und Kirchenlehrer,der Seherinnen und Verzückten und bewahrte dennoch X heiligen Mechthild und Hildegard seine körnige, hausbackene Nüchternheit.

Am Sonntag saß es am vordersten Sitz der Jungfrauenbänke im schönsten Bereich der Kanzel und murmelte laut aus dem großbedruckten Buch mit Silberschlößchen seine Meßandacht. Beim Evangelium stand es bolzgerade auf, setzte sich breit zur Predigt nieder,legte die Hände unter die seidene Schürze und folgte dem Sermon mit ruhigem Interesse. Das Seppi kannte die Evangelien und Psalmen auswendig, wußte sogleich,ob der Vorspruch des Predigers bei Lukas oder Johannes stehe, es hatte in fünfzig Jahren einen religiösen Reichtum und eine theologische Erfahrung gesammelt,die es ihm schon bei der Einleitung des Predigers leicht machte, die Einteilung, die verschiedenen Beweispunkte und die Folgerungen vorauszusehen. In der Kirchengeschichte war es auffallend belesen und wußte besser als ein Professor sämtliche Synoden und Aftersynoden des arianischen vierten Jahrhunderts mit Datum und Personenregister anzugeben. So wenig es von den Frauenrechtlerinnen wissen wollte, bedauerte es doch mitunter, daß Frauen wie Katharina von Siena und Theresia von Avila und auch geringere Mägde Gottes nicht Sitz und Stimme im Kirchenregiment hätten.Mancher Unfug wäre unmöglich geworden, behauptete es und schnalzte gewaltig mit den Fingern. Ging das Mätteliseppi dann in seiner straffen blauseidenen Schürze vom Gottesdienst am Sonntag mit ein paar ruhigen Weibern heim, so vergaß es nicht, die Predigt gleichsam über die Gasse weiterzuspinnen und etwa mit respektvollem Tone zu bemerken, daß der Pfarrer im zweiten Teil, beim dritten Satz, Samuel statt Saul gesagt und daß er im vierten Argument wohl noch das Beispiel aus dem ersten Buche der Könige oder aus Schlusse vielleicht noch einen kleinen Hieb ins hiesige Dorf,in die und die hoffärtige Mode hätte zielen dürfen. Der hochwürdige Herr Helfer, der junge, mutige, würde es gleich getan haben; nur reiße ihn dann das „Temperiment“ und die schöne, hohe Evangelienfreude oft zu mächtig fort. Es menschle überall. Aber auch die Apostel hätten sehr ungleich, zum Exempel Petrus viel sachter als Paulus gepredigt, und sie habe mit Verlaub zu sagen den Thomas im Verdacht, daß er oft etwas kurios und wild am Kanzelsims herumgesprungen sei.Predigt anhören sei leicht, Predigt halten schon schwerer,aber Predigt machen ein Stück, daß selbst Engel erschrecken.

Hernach zupfte das Mätteliseppi etwa ein Gänseblümchen vom Rand am Weg, steckte es ins Samtkoller und schritt züchtig und würdevoll zugleich seinem Stübchen zu.

Nach Vesper saß es ein wenig im Birnbaumschatten hinter dem Hause, und kamen Kinder oder Nachbarsleute, so hörte es eine geduldige Weile zu, wie man vom Wetter und den Leibesgebresten das alte liebe Stroh drosch und allmählich die Vettern und Basen am Ohr zupfte, um dann schnell tiefer an Leib und Seele zuzupacken. Es lauerte scharf und wo das Geplänkel ausschweifte, nahm es eine atemschöpfende Pause wahr, schlüpfte in die Lücke und wandte den Klatsch mit einem derben Spruch oder einem guten Spaß unvermerkt seinem eigenen pastoralen Jagdrevier zu. Da wurden dann heilsame Wunder- und Trostgeschichten erzählt, Sagen vom alten Totenbeinhaus, vom Friedhof der Heiden hoch bei Sankt-Klausen, vom Hexenturm in Goldingen, von verrufenen Alphütten im Klüsterli.Aus einem Fetzen der Chronik oder einem alten Konterfei holte es die längsten Abenteuer, und jedes Histörchen ward zuletzt mit einem fetten Schweif von Belehrung und Mahnung abgerundet. Erschüttert schied man von der sagenmächtigen Sibylle.

Von Zeitungen las das Mätteliseppi nur den Siebendörferboten der letzten Woche, mit dem Hildmanns regelmäßig sein Pfund halbfetten Käse umwickelten.Von Romanen hätte es das berühmte Buch Dorothea oder die Lilie des Ostens von Otto Reuspel bis zum Zeile: „Besiegle mit einem Schmatz deiner schwellenden Lippen mein Schicksal, flehte der schöne Junker Theobald“, wollte die Leserin zukllappen. Aber sie überwand sich und ruderte sogar noch im dritten durch einen Kindsraub, eine Strickleiter bei Nacht und einen lästerlichen Rausch des Raubgrafen Hanno. Als aber das vierte schwül begann: „In brünstiger Umarmung, Mund an Mund und Aug' in Aug', verzückten sich Kuonrad und Erzegildis hinterm Alkoven“, da schlug die Jungfer die Deckel dieses und aller Romane ein für allemal zu und hielt sich nur noch an den Kalender vom guten Tod und ans geistliche Jahrbuch. So viele Bischöfe auch die „Alte und Neue Welt“ empfahlen, das Mätteliseppi begnügte sich mit den reichen Abbildungen der Hefte. Denn da stand das mörderische Wort Roman unter mehr als einem Titel. Und Novellette konnte doch auch nur etwas Spitziges, Flatterhaftes, Exotisches bedeuten. Die Bischöfe sind hohe, weise Hirten, kein Zweifel. Aber kennen sie das Futter und den Magen eines jeden Schäfchens zu tiefst im Gebirg und Zwilch?

So hielt sich das Mätteliseppi in scharfem Zaum und Zügel und hätte den Faden seiner Seiden und frommen Lebensart ohne Zweifel in zufriedener, aber unberühmter Stille zu Ende gesponnen. Aber da streifte das große Schicksal, das aus Bettlern Könige, aus Toren Weltorakel macht, auch den flachsgelben Scheitel dieser alten Jungfer und gab ihr die Jugend eines ganzen, stolzen Dorfes, seine süßen, wilden Schöpfe und sozusagen seine Zeit und Ewigkeit in die Hände.

Die Ratsherrin von der Haselmatte klagte einmal unterwegs, daß sie ihren Nazi) im Katechismus weder mit Apfelküechli, noch mit Fasten und Prügel vom faulen Fleck bringe. Sie schäme sich fast zu Tod, wenn der Bub am Sonntag in der Christenlehre dem Pfarrer die Antwort immer wie ein Stockfisch schuldig bleibe.Alle Leute in der Kirche schauen dann vom Knab zur Mutter hinüber, mit Schadenfreude, mit Straf' und Gericht und am meisten und bittersten mit einem falschen,

) Ignaz.höflichen Mitleid. Der Nazi wird am Ende noch ein Osterkalb.)

„Uberlaßt mir das Bürschchen,“ riet das Seppi.„Ihr habt mir den Maienanken?) einen Batzen billiger gegeben als der Jeremi, mein eigener Vetter! Dafür will ich Euch den Ignaz zu einem wahren Muster zuwegstriegeln. Habt keine Sorge!“

Schon am nächsten Sonntag verblüffte die Kirchleute das Ereignis, daß der laue Bub auf die Frage des Geistlichen wenigstens das Maul auftat, sichtlich im Kopf an etwas herumbuk und schließlich herausbröckelte,was zwar noch nicht nach Brot, aber doch nach einem ordentlichen Teig aussah. Über acht Tage aber wartete er dem Katecheten bereits mit fertigen, wohlgeformten Brötchen auf. Alles staunte. Die Haslerin oben im Ratsherrinnenstuhl streckte den Hals weit vor, blickte rechts und links mit Mutterstolz in die Frauen hinunter und beschloß zwischen zwei dankbaren Vaterunsern, der Weberin noch am selben laufenden Tage einen Korb mit den größten Samichlaus-Apfelnẽ), eine Wabe Honig und eine wohlgebauchte Flasche Zwetschgenwasser zu bringen.

Über einen starken Spruch auf Grabsteine oder Hochzeitshelgen war die bibelstarke Jungfer schon oft beraten worden. Jetzt aber klopfte man öfter mit Kindern an der Hand, die im Religionsunterricht nicht vorwärts-kamen und mit ihrem Bleigewicht den Kommunikanteniy) Bezeichnung solcher, die nur zu Ostern die heiligen Sakramente empfangen, dann auch der Kinder, deren erste heilige Kommunion um ein Jahr verschoben wird. ) Maibutter. 9) Sankt Nikolaus-AÄpfel, spätes, halkbares, mildes Winterobst.kurs des Pfarrers ganz ärgerlich hemmten. Diese Rangen gehörten bald zu den besten Aufsagern und Auslegern in der Christenlehre. Sie hoben Finger um Finger, um erstens, zweitens und drittens einen Glaubenssatz einzuteilen und kräftig zu beweisen. So geschah es, daß nach und nach alle Kandidaten für die erste heilige Kommunion neben dem öffentlichen Anterricht des Seelsorgers noch ein Privatkolleg beim Mätteliseppi nahmen. Nicht bloß ward der Text in einer Art Einpeitscheruum roh auswendig gelernt, man wiederholte auch die pfarrherrlichen Katechesen, zog Schrift und Väter bei, belebte den Satz mit Bildchen aus der Kirchengeschichte und hielt sogar das kluge Windlicht der Vernunft, so weit sein knappes Ol reichte, messend und vergleichend an den überweltlichen Stoff.

Von den vermöglichen Eltern nahm die Jungfer den Gotteslohn eines harten schweizerischen Fünffränklers,von den ärmeren ein Pfund Kaffee oder ein Stöcklein Zucker oder ein Dutzend buchene Holzbüschel oder eine andere bequeme Gabe aus Acker und Feld an. Selbst große Kürbisse oder ein Säcklein Eicheln wurden nicht verschmäht. Frau Verena freilich hatte den Alois mit leeren Händen ins Webstüblein gestellt. Als das alte Mödchen mit seinen kühlen Mondscheinaugen umsonst nach einem Korb oder Paketchen forschte, entschuldigte sie sich mit einem scharmanten Lächeln: „Was sollt'ich Euch zahlen für alles Fromme, das Ihr den Schlingel lehrt? Ich hab' ja nichts, und zudem wär's Simonie)und ständ' in Kirchenstrafe.“

) Handel mit Heiligem.Dieses feine theologische Späßchen imponierte dem Mätteliseppi. „Ihr seid stark im Fach, Frau!“ lobte es. „Hoffen wir, der grüne Apfel da fall' nicht weit vom Baum ... das heißt vom mütterlichen Stamm,vom mütterlichen. .. Na, was macht er denn? ...Er ...?“

„'s geht über Erwarten gut.“

„Hab's gehört, hab's gehört. Reparier' er nur drauf los! ... Meine Orgel ist doch kaputt.“

„Wer weiß ...“ lispelte Verena.

Das Seppi machte mit der Hand eine hoffnungslose,aber verzeihende Bewegung. „He, Alois,“ sagte es dann und zog ihn lächelnd an den langen Ohren über die Schwelle, „nur herein. Wen ich einmal hab', der kommt nicht mehr los. Da ist noch einer,“ stellte es den Neuling vor, „den mir Gott in die Finger gab,daß ich ihn feg' und klopf' und zurechtbürst', bis er und ihr alle Tunichtguts mit ihm als saubere weiße Lämmlein dem Hirt und Speiser Christus zum Altar entgegenlaufet. He holla, Leutchen, was faulpelzt ihr?Die Bücher zu und die Schnäbel auf ... Wie heißen die sieben Hauptsünden ?...“

Und indem die flachsschimmernde Altmaid in den Webbaum stieg und sich krachend aufs Sitzbrett schwang,ging der laute, lustige Chorus durchs Gemach: „Erstens Hoffart ...“ die Buben spotteten die Mädchen an ...„zweitens Geiz... viertens Neid... sechstens Zorn...siebentens Trägheit,“ und hier gaben die Schelmenblicke der Mädchen den Spott zurück.

Alois hatte sich das erstemal mit Befremden ins Stüblein gesetzt, wo es nach Seiden und Kleister roch.Aber schon binnen kurzem war er bis über die Ohren in dieses sonderbare Nest der Arbeit, des Dogmenmutes und des süßesten Friedens vernarrt.

Alle vier Wände und selbst die schräge Türe ins Schlafzimmerchen waren statt mit Tapeten von der Jungfrau höchsteigen mit Bildern aus Kalendern oder frommen und patriotischen Zeitschriften vom Estrich bis zur Diele überklebt. Da sah man die drei Eidgenossen auf dem Rütli zu den Sternen aufschwören, nebenan brauste ein amerikanischer Expreß über den Ohio und wusch Sankt Elisabeth den Aussätzigen die Beulen aus.Zwischen dem Apfelschußbuben Tells und dem erlauchten Prinzen Aloisius entdeckte Kolumbus das große Amerika.Absalom hing am schönen Lockenhaar im Geäst und unter seinen zappelnden Beinen rollte die gelbe Gotthardpost die Schöllenen hinunter. Hinter dem Kolner Dom deutete der schlaue hebräische Joseph Pharaos Träume und vorne jodelte ein Appenzeller sein Ziu...ziu! Gleich neben Ambrosius, der dem großen Kaiser mit dem Bischofsstab den Weg in die Kirche versperrte,war ein Senntum mit melkenden Kühern gesetzt. In bunter, gewissenloser Fröhlichkeit jagten sich die Schilderungen. Wo ein Bild schon vergilbt war, hatte das Mädchen neue Ausschnitte darübergeleimt, und so geschah es, daß über den Sündenfall Adams die Sturzwellen des Schaffhauser Rheins brausten und zwischen der Arche Noahs und einem Emmentaler Schwinget das halbe Dutzend geschwänzter Teufel hervorgrinste, welches dem Eremitenvater Antonius die Langeweile verkürzen wollte. Alois Spichtiger konnte sich nicht satt sehen in diesem mächtigen Bilderbuch. Es war ja, als hätten alle Welten und Zeiten ein wunderliches, tollkrauses Stelldichein im Gemach der sprödesten, weltflüchtigen,alten Jungfer verabredet.

Jeden Sonntag abend prüfte das Seppi seine Zöglinge über die vergangene Woche und bestimmte die Ordnung, in der man die nächsten sieben Tage zu sitzen hatte. Oben an der Bank saßen Fleiß und Genie,unten hockte die Faulheit und Dummheit auf dem letzten schmalen Teilchen. Der seelenruhige Louis Tonoli war der emsigste, Johannes von Aar der talentvollste; aber der Tonoli saß voran. Denn das Mätteliseppi in seiner Hausbackenheit sprichwörtelte: „Fleiß ist Gold, Talent ist Silber, Dummheit ist Null, letzten Endes zu verzeihen, aber Faulheit ist Schuld und Sünde.“ So saß denn der blöde Christoph Ägerli vorletzt und Joseph Tonoli mit seinen hitzigen Augen und seiner schnellen Seele, aber auch mit seiner Unlust an dieser muffigen Altweiberkammer bildete den Schwanz. Er allein trotzte dem Regiment eines Weibes. Friedel bei seinen Launen schnellte auf und ab in der Bank, indessen seine Schwester bei den Mädchen durch innigen Buchstabeneifer und Buchstabengehorsam die Spitze behauptete. Alois endlich gehörte in die nichtssagende Mitte der Bank,die vom Genie und von der Dummheit gleich weit entfernt ist, im Segen der Gewöhnlichkeit dahinlebt und weder das Gefallen, noch das Mißfallen Gottes und seines Mätteliseppis erregt.

Übles Betragen hatte keinen Einfluß auf die Plätze;ihm ward auf kürzere Art begegnet. Wer die Stunde störte, kniete drei Vaterunser lang auf ein knorpeliges Buchenscheit. Wer sich überhob und andere beschimpfte,mußte dreimal den Boden küssen und laut bekennen: Vom Staub komm ich, zum Staub kehr' ich, Herr, sei meiner armen Seele gnädig!“ Hatte jemand sich gar an der Majestät des Mätteliseppi vergangen, so mußte er in den Webstuhl zu Füßen der beleidigten Jungfer sitzen und vor der blitzenden Schadenfreude einer ganzen Mädchenbank seine lange Stunde aushalten. Ab und zu hieb das Seppi auch mit einem langen Stecken nach den Sündern. Litaneien abschreiben, Hausarrest, Fasten von Käse oder Weckenbrot ward fleißig verordnet und bei der Autorität der Jungfer und ihren schonungslosen Berichten nach Hause aufs Tüpflein befolgt. Am meisten wirkte, daß die Richterin bei den Strafen immer kühl und wortkarg blieb und kaum einen Schatten von Parteilichkeit zeigte. Als sie aber doch einmal sich vom Zorn übernehmen ließ, dem Joseph Tonoli das Weberschiff an den Kopf schmiß, jedoch grandios fehlte und das feine Gehäuse am Ofen zerschmetterte,da imponierte es ungeheuer, wie die Jungfer den Knaben verbot, die Splitter aufzuheben, sondern selber mit ihren fünfundsechzig Jahren hinkniete und die Stücke demütig zusammenlas. „Ich alter Esel! Geschieht mir recht!“ lachte sie mit grimmigem Humor und behandelte den widerhaarigen Tonoli an diesem Abend mit einer ungewohnten, respektvollen Höflichkeit, wie einen, dem man eine saure, aber gute Zucht verdankt.

Eine gewisse grobe Schalkheit übte das alte Mädchen nicht ungern im Strafen. Friedel Herri hatte einst den armen Michel Blotzgi mit einem Fünffränkler genarrt. Er warf das Silber auf den Boden und Michel durfte es behalten, wenn er davor abkniete und

Federer, Das Mätteliseppi. 17 es mit den Lippen aufhob und dem Herri aufs Knie legte. Der Arme wollte das niedrige Kunststück eben probieren, als das Mätteliseppi herzutrat. „So, so!“wetterte die Alte. „Steigt euch der verdammte Mammon schon so dick in den Kopf!... Laßt den Fünffränkler am Boden! ... Du, Michel, spuckst sofort darauf, als wär's Dreck, und's ist Dreckl ... And der Friedel liest ihn auf! ...“ Bevor aber der schüchterne Waisenbub Zeit dazu fand, hatte der Herri selber drüber gespuckt,dann die Münze hurtig aufgelesen, abgeputzt und dem Mätteliseppi geboten: „Nehmt Ihr's jetzt und macht was Gutes damit! Ich bin halt ein gräßlicher Kerl...“Alle waren entwaffnet, und auf heimliche Weise lief das heillose Geldstück dann doch im Hosensack Michels aus dem Stüblein und flickte der Armut wenigstens ein kleines Loch zu.

Ein andermal hatten Regine Rohrer und des Gemeindeschreibers Hedwig sich beinahe vergiftet mit Übernamen. Ihre Kröpfe schwollen vor Ärger und sie fauchten sich wie böse Katzen an. AUnd als der Zank am höchsten brannte, wußte keines mehr, warum es galt.Da winkte das Seppi den Mädchenfreund von Aar heran. Er mußte die zwei Herlein an den Zöpfen eng zusammenknüpfen, heißer Kopf an heißen Kopf, bis die Mädchen gestanden, der Zorn sei verrauscht, und sich die Hände gaben und jedes fürs andere ein Gebetlein sprach. Dann mußte der Mädchenhasser Joseph Tonoli die Zöpfe lösen.

Konnte die Jungfer den Widrigen gegenüber ein wahrer Schrecken sein, so half sie, wo nur der kleinste gute Wille hervorguckte, den Kindern mit einer rauhen,aber echten Zärtlichkeit vorwärts, etwa wie eine Löwin ihre Jungen schleckt und im Rachen herumschleppt.Beim Abfragen erleichterte sie den Schülern die Antwort auf jede billige Art. Sie flüsterte nicht ein, aber ihre groben Hände schrieben Zeichen auf Zeichen in die Luft, ein ganzes Alphabet, ja, eine ganze Theologie.Ein Kreis mochte: vollkommen ... die Finger empor:Himmel ... der Finger hinunter: Hölle ... halbgeknickt:Fegfeuer ... der Zeigfinger in die Ferne: unendlich ...Daumen in Daumen: ewig ... Finger über Finger gekreuzt: unterschiedlich ... Finger neben Finger: ähnlich heißen. Der Mittelfinger allein bedeutete Christus, den Mittler zwischen Gott und den Menschen; der Goldfinger Petrus, den Träger des Fischerrings; der Zeigfinger Paulus, den Wegweiser der Juden und Heiden.Der kleine Finger, der nichts allein kann, stellte den Zweifel, der selbstherrliche Daumen die Rechtgläubigkeit dar. Hand gegen Hand hieß Kampf, Hand glatt auf Hand Friede. Aber wenn das Kind allmächtig oder Schöpfer oder Weltgericht sagen sollte, dann ballte das Mätteliseppi eine so ungeheure Faust, daß man glaubte,das Aufbauen und Zertrümmern des Weltalls zu sehen.Soviel vermochte die Katechetin einzig mit den Fingern zu erzählen.

Dann wurde die Zeichensprache weitläufiger. Mit flacher Hand über das Busentuch fahren besagte: Ruhe des Gewissens; aber ein flinker Tupf auf die Stirne bedeutete: guten Rat, Weisheit; ein mehrfacher Tupf:die sieben Gaben des Heiligen Geistes; Dummheit: ein täppisches Schlagen auf den Mund; Engel: eine schwebende Zick-Zack-Linie; Teufel: ein prachtvoller

17*Tritt aufs Pedal. In solchen Schnörkeln mit Händen und Füßen war das Mätteliseppi einfach unerschöpflich,und es gab keinen noch so unirdischen Begriff und keine noch so verwickelte Definition, daß die erfinderische Jungfer ihnen nicht durch eine anschauliche Geste gewachsen war. Wer nun nur ein bißchen gelernt, ein Deutchen aufgepaßt hatte, mußte bei soviel klaren Signalen seinen Weg durch den Katechismus ohne viel Gestolper finden. Wer also da noch stumm blieb, so einen Unverbesserlichen, fertigte die Alte am Ende sack-grob ab: „Sag' dem Vater, er soll dir einen Ring in die Nase ziehen ...“ oder: „Was gibst Finderlohn,wenn wir deine Weisheit finden? Fünf Rappen?Geht, Kinder, und sucht mal dort in den Kabisköpfen...Freilich für fünf Rappen lohnt sich's kaum ...“Witze fürchtete man mehr als Tatzen und Ohrfeigen,und das so alte komische Seppi erfreute sich eines Respekts und einer Disziplin, wie kein Lehrer und Pfarrer und Oberst der Schweiz.

War alsdann das sonntägliche Examen befriedigend ausgefallen, so stand das flachshaarige, steife Mädchen in seinem Sonntagsstaat an den feiernden Webstuhl,stützte die Rechte in die Hüften und begann wundervoll Geschichten zu erzählen. Die Kammer ward dunkel,kaum sah man noch die Umrisse der Erzählerin. Totenstille herrschte, aber ruhig floß die Stimme der Jungfer wie ein Seidenfaden durchs Stüblein weiter und spann Heimliches und Anheimliches aus und wob es wie Schleier um alle Kinder, daß sie noch verzaubert dasaßen, wenn das Muätteliseppi schon zweimal mit ganz anderem, überaus nüchternem Tone geschrien hatte: „Fertigl Packt euch nach Haus, allo!“

... Als nun Alois an jenem nebligen Abend zum Mätteliseppi lief, zwitscherten ihm schon von weitem die Fragen der Mädchen wie ein Spatzenchor entgegen,indessen das rasche Einfallen der Knaben klang, als bellten wachsame, mutige Hunde. Alois trat leise ein und drückte sich behutsam an seinen Platz zwischen den brüllenden Gespanen. Aber die Jungfer hielt den tosenden Webebaum nicht an, um Stille zu kommandieren und dem Spätling eine Strafe zuzuschreien, sondern schoß das Schifflein gewaltig hin und her und schlug den Gaden mit Geschmetter ins Tuch, als stritte sie mit einem unsichtbaren Feind.

Das wunderte Alois. Ihn dünkte auch, etwas Absonderliches geistere irgendwo herum. Wo? Was?Plöͤtzlich, o vertrakti), sah er ein fremdes Kind, vornehm und bleich wie keine Dörflerin, mit brandschwarzem Haar und großen, heitern, fast gelben Augen, auf die der Schatten der Wimpern wie dunkle Schmetterlinge fiel,auf der Mädchenbank sitzen und in spaßiger, kühler Verwunderung, die schneeweißen Hände im Schoß, dem frommen Rummel zwischen Buben und Mödchen folgen.Es trug goldene Ohrringe, hatte die Haare hinter den Ohren zu zwei mächtigen Schnecken geringelt, wie man es in Saldern noch nie gesehen, und unter dem kurzen Babyrock kamen, so wie es saß und die Beine schwang,die gespitzelten Unterhosen und die Säume eines geranium

) vertrakt, vertrakti ... ein Kraftwort, vielleicht von Drack ... Drache.roten, schwarz gesternten Unterröclleins deutlich zum Vorschein. Es duftete von Veilchentropfen und fuhr gern mit einem elfenbeinernen Finger, woran ein Goldreif blitzte, über die elfenbeinerne, ganz gerade Nase oder heftete mit zwei Fingern den fetten, runden, wie ein Blutröslein aufschwellenden Mund zusammen. Aber immer wieder sprang die Oberlippe hoch auf und entblößte alle vier großen, zuckerweißen Schaufelzähne. So ein Märchen von einem Mädchen hatte Aldis noch nie gesehen, nur bei der Sage vom Dornröschen etwa geahnt.Und jene eigentümliche Ehrfurcht, die ihn für alles Fremde und Vornehme übertrieben und schier unleidlich empfindsam machte, ließ ihm das Kind da sogleich als das Verehrungswürdigste in der ganzen Kammer erscheinen.Er wagte es kaum verstohlen anzugucken und wurde glutheiß, als es mit seinen kecken, harzgelben Blicken einmal über die Bubenbank streifte. Der Friedel hingegen lachte verwegen und etwas hochmütig zurück, während der von Aar schon ein Komplimentchen hinüberschickte.

Da fiel dem Spichtigerbub ein, daß ja eine Städterin namens Therese Lomser vor etlichen Tagen mit ihrem einzigen Kind ins Dorf gezügelt war. Sie hatte das schöne Silihaus mit seinem herrschaftlichen Giebel, dem Altan und der zweiflügeligen Türe mitsamt Garten und Anwesen gekauft. Ihr Mann, ursprünglich ein Saldernerkind, war vor wenigen Monaten gestorben und, sobald die reiche Witwe ihren städtischen Besitz vermietet hatte,war sie um der Gesundheit und Ruhe willen ins Heimatdorf des Gatten selig gezogen, wo die Familie jeden Sommer im Gasthof zum Schimmel eine kräftige Kur genossen hatte.Nach der letzten Frage und Antwort stoppte das Mätteliseppi plötzlich den Kammladen. Sogleich ward es still. Die Jungfer drehte sich auf ihrem hohen Sitze gegen die Mädchenbank und sagte mit kalter Stimme,indem sie einen gebrochenen Zahn gewaltig vorstellte:„Orla Lomser!“

Das Elfenbeinkind mit der goldigen Neugier in den Augen sprang hurtig auf und machte ein flottes Knickslein.Das war ungeheuerlich. Der jüngere Tonoli grinste. Der Herri streckte die Zunge. Denn beim Mätteliseppi blieb man stramm auf der Bank hocken und sagte höchstens:„Was?“

Das feine Mädchen aber schellte wie ein Glöcklein:„Was beliebt, Fräulein Josepha?“ ... Dann zupfte es zierlich die Falten des blauen Samtrockes zurecht.Es liefen drei gesteppte Aufschläge zum Schmucke ringsum.Nun sah man erst, wie kurz das Kleid war, fast wie bei einem Engelchen das Gefieder.

Ein Brummen stieg über das Schnäuzchen des Mätteliseppis auf. Gewaltig wie der hohe gelbe Mond sah es aus seiner Kühle auf das Dirnlein herab. Der ganze Aufputz dieses eitlen Tropfes war ihm ein Greuel.

„Orla Lomser... kurioser Name... das Orla dal ...sag' einmal, wie alt bist du denn?“

Zwölf Jahre, Fräulein Josepha, weniger ein Monat und ein paar Tage,“ klingelte der rote Schnabel ohne die mindeste Verlegenheit.

„Da bist du doch keine Puppe mehr,“ grollte das Seppi, „und trägst doch noch so einen Babyrock ...pfittergaxl“

Orla lachte, daß die Oberlippe sich bis zur Nase hinaufkräuselte. Sie sah zu den Säumen. In der Tat,das war komisch, so kurzl Und hier wandeln und schwandeln die Mädchen alle so rauschend lang. Dennoch, der kurze Schnitt gefiel ihr.

„Unsern Töchtern geht der Rock bis zum Schuhnestel. Man merkt halt, daß sie schon bald stramme Jungfrauen sind ... und weißt du ... ein paar Batzen mehr ans Tuch reuen sie nicht ...“

Jetzt rümpfte Orla ganz fein die Stirne und verlor das Lachen.

„Der Samt da muß wohl unsinnig teuer sein, daß du den Rock nicht länger kriegst ...“

„Es hat doch drei Plissees daran, Fräulein Josepha ...“

„Plissees ... Narrenschwatz!... Aufschläge sind das!Übrigens bin ich kein Fräulein, Gott sei Dank, sondern mit der Gnade des Herrn eine alte Jungfrau geworden,und du, kleiner Schnabel, kannst mir so gut wie die andern Mätteliseppi sagen.“

„Jawohl, Frä... Jungfer Mätteliseppi!“

„Wie wär's also, wenn du den obersten Aufschlag auftrennen würdest? ... Da ist die Schere!“

Dieser Schneid überwältigte das kecke Stadtmädchen.Das Abenteuer gefiel ihm. Es nahm die Schere und begann die Nähte aufzuschneiden.

„Da hast noch mein Sackmesser!“

„Und da meines!“

Zwei Messerchen, ein schweres, häßliches von Joseph Tonoli und ein zierliches mit Schildpatt vom Herri flogen Orla vor die Füße. Gleich griffen die Mädchen zu und halfen, um Orla herumkniend, hinten und vorne auftrennen. Dann zogen sie am Rocke. Er war schon ein hübsches Stück länger.

„Das macht schon eine bessere Gattung,“ lobte die Webjungfer. „Packt nur den zweiten auch noch an!“

Mit Hallo ward der zweite und dann der dritte Aufschlag aufgetrennt. Nun fiel das Gewand in blauer langer Ehrbarkeit bis an den Knöchel.

„Bravo! Aus dir kann noch was Rechtes werden,“rühmte das Seppi. „So wächst dein Rock, so wachset ihr alle rasch zu ehrsamen Dorffrauen heran. Das ist schon ein rechter Lappi)), wer sich kleiner macht als er ist. He nu, was gafft ihr mich so an? Fahrt weiter im Auslegbüchli, Frage 67: ,Was versteht der gläubige Christmensch und Katholik unter geistlicher und weltlicher Obrigkeit?‘ ... Lest mir's gesatzlich durch. 's ist ein scharf Mus, und wer sich überlöffelt, kriegt Magenkrämpf' ... Los!“

Während der Chorus auf- und abwogte wie ein Gewässer mit Ebbe und Flut, aber ohne den schreckhaften Grund aufzuwühlen, schnüffelte das Seppi nach allen Seiten herum, als wittere es noch irgendwo Unrat. Das Gestänklein des Bösen, das dieses lose Wesen aus der Stadt hierher in die züchtige Kammer gebracht hatte, war noch nicht völlig aus der Nase gewichen. So schnupfte die Jungfer denn eine doppelte Prise, nieste majestätisch,wob dann munter weiter und trat die Pedale so stramm,als versetze sie damit dem Teufel jedesmal ein Tödliches auf die Schnauze. Papperlapapp, mit dem schwarzen y

Narr, Tölpel. Signore will sie schon fertig werden, ohne Pfarrer und Kerzen ...

Die Petroleumlampen wurden angezündet.

„Genug!“ rief die Weberin, als das staatspolitische von Jerusalem, zu Pauli Ritt nach Damaskus, zu den Katakomben und anderen fernen Sachen als eine weitere,zwar heilige, aber für den Salderner Dorfplatz doch ganz belanglose Angelegenheit.

„Ihr habt gelesen: ‚Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist . .. Den Satz begucken wir mal! Aber vorher ... Orla Lomser ...“

„Bitte Fräul ... Mätteliseppi!“ ...

Was plagt die Jungfer schon wieder das wunderhübsche Kind? dachte Alois. Er hatte beim Rockverhör wahrhaft gelitten.

„Was hat dein Schatz für Ohren, kurze oder lange?“fragte die Weberin hart.

Orla lachte. Welch ein spaßig Weib ist die Seppi!Den Buben spritzen die Lippen vor halbverdrücktem Lachen. „Bartholomäus Zupfniddran! heißt er,“ flüsterte Friedel laut, „und hat Ohren wie eine Fledermaus.“

„Ich zupf' ihm aber dran,“ versprach das Seppi.„Was gibt er einem Käshoch schon einen Liebesnarrenring ... Weißt du auch, dummer Zappel, was ein Ring ernsthaft bedeutet?...“

Jetzt wurde Orla schüchtern und schattig im frechen Gesichtlein. Es hob den Finger mit dem Reiflein ins Lampenlicht, wollte etwas sagen, verschluckte sich und schien dem Weinen nahe.

„Wann habt ihr Hochzeit?“ giftelte Joseph Tonoli.„Wir wollen euch dann Musik machen.“ Er pfiff eins zwischen den Zähnen.

„Halt du 's Maul. Dich brauch' ich gar nicht ...Aber eineweg ist es eine Unart,“ wetterte die Weberin,„sich jetzt schon so hoffärtig einen Ring an den Finger zu stecken. Wenn man erst den Milchlutsch und Puppenrock wegtat! Ich rate dir ...“

„Aber, Mätteliseppi,“ erkühnte sich Alois mit überklopfendem Herzen zu warnen, „die Orla kann den Ring doch vom Götti haben ... oder geerbt ... oder ... was weiß ich?“ flammte er gegen Joseph auf; „das ganze Dorf sagt doch, daß du auch einen Ring hast ...“

Joseph und das Mätteliseppi zugleich schossen drohend empor.

„Aber du schämst dich, ihn zu tragen. Nur im Bett hast du ihn am Finger ...“

Felizitas ... Hildmanns Felizitas ... Felizitas ...schwebte es durch das Stüblein ... als wäre es die junge Selige selber.

„Wenn ich aber einen bekommen hätte, so trüg' ich ihn vor euch allen wie die Orla... ja, das tät' ich ...“Schwitzend lehnte sich Alois an die Wand zurück ...Mocht' es jetzt stürmen, einerlei. Er hatte die dankenden Augen des Kindes zu ihm fliegen sehen. Sonnig kam's, sonnig nahm er's und sonnig ließ er's durch die bewegte Seele gehen.

Aber Joseph Tonoli sah den Alois an, als wollte er ihn erwürgen. Er beugte sich vor, keuchte mit offenem,langzahnigem Mund wie ein toller Hund und rannte plötzlich ohne Mütze und Buch zur Kammer hinaus.Alles schwieg verblüfft. Vor den Fenstern hörte man die wilden Sprünge des Tonoli auf dem gefrorenen Boden sich im dunkeln Abend rasch und ungeheuerlich verlieren.

Jetzt nahm Orla gefaßt das Wort. „Der Bub dort sagt's recht . .. Mir hat Papa das Ninglein geschenkt ... Es war gerade nach der Weihnacht ... Und Papa rief mich ans Bett ... und war ganz weiß ...Er wollte mir etwas sagen und konnte nicht ... wegen dem Schnaufen. Da gab er mir das da an den Finger und zeigte immer zum Kopf und hat gelacht ...“

„Gut, gut!“ brummte das Mätteliseppi und drehte verlegen das Weberschifflein hin und her ... „Das hab' ich nicht gewußt ... Lassen wir also ...“

Aber Orla war eifrig geworden und verteidigte weiter sich und den Toten streng zu Ende: „Und da sprach Mama, ich soll den Ring recht anschauen. Und da sah ich unterm Stein ein feines Kreuzlein von grauem Haar. Das ist von Vaters Haar. And er ist am Morgen schon tot gewesen. Er wollte mir sagen, daß ich den Ring immer tragen solle und so oft ich das Kreuzlein anguck', soll ich beten: Herr, gib ihm das ewige Licht!... Hat die Mutter gesagt ... Da schau,Mätteliseppi ...“

Das herzhafte Kind hob den Fingerring der Jungfer hart unter die Augen. Es sah stolz, fast hoffärtig aus.Aber dem Alois schmolz beinahe das Herz. Der von Aar blitzte das Jüngferlein mit seinen blendendkalten Augen anerkennend an. Der Friedel rief feurig: „Bravo!“Die Mädchen drängten sich gerührt an die köstliche Städterin. Louis Tonoli aber saß im besten Gleichgewicht da und meinte zum Klausi: „Das ist kein Edelstein, nur Glas. Sonst könnt' man nicht Haare hineinstecken.“„Behalt ihn!“ gebot das Seppi mit wiedergewonnener Festigkeit. „Nur warn' ich euch alle vor dem Genarr und Geflitter, das jetzt mit Ringen, Kettlein und Maschen eine Fastnacht durchs ganze Jahr treibt und schon die Windelkinder vergülden möcht'. Und ist's noch meist Katzengold ... Du aber, sei nicht eitel mit sonigem Ring. Nicht zum Tand, zum Seelengedächtnis hat der Vater selig ihn dir gegeben, und wenn du's Armenseelengebetlein vergissest, so wollt' ich an deiner Stelle lieber einen Finger verlieren als einen Fingerring gewinnen. Doch wo sind wir eigentlich?“ tat das Seppi verwundert. „Längst solltet ihr mir etwas Gescheites über das Wort unseres Herrn sagen: ‚Gebet dem Kaiser,was des Kaisers ist ...‘ Wird's bald?... He nu, was für ein Kaiser ist denn gemeint, Klaus Irchel?“

Klaus Irchel, des Gemeindeschreibers Sohn, hatte eben den Johannes von Aar und Wilhelm Reinert, den magern, märzensprossigen, kalten Doktorsbub, mit einem Gesichtlein hart und klein wie ein Kiesel, auf einen neuen Wandhelgen verwiesen. Die drei tippten nun eifrig am Bilde herum, wo ein geschnäbeltes Schiff mit schild-und helmbewehrten Männern zwischen einem Wasserwirbel und einem Felsen sich notlich hindurchwand. Aus den schwarzen Spalte des Felsens hing ein Schlangenbauch mit sieben Köpfen halb zum Spiegel herunter.Das Boot suchte dem Morde nach rechts und links verängstigt auszuweichen.

„Wilhelm?“ scholl es vom Webstuhl.

Schweigen.„Johannes?“

„Was für ein Kaiser?“ wiederholte der geniale Johannes und netzte den Flaum der bleichen Oberlippe mit der Zungenspitze. „Mätteliseppi, das versteh' ich nicht. Wir sind Schweizer. Wir haben keinen Kaiser.Das Volk ist Kaiser.“

„Schade!“ rief Friedel. „Einen Kaiser sollten wir haben ... jung, flink, wild, hübsch, mit einem Thron und einer Leibwache ... lustig, aber doch zu fürchten ...o ich möchte ...“

„Bist ein Esel,“ fertigte die Jungfer kurz ab. „Jetzt haben wir Religion, nicht Mär- und Weltgeschichte.Was für ein Kaiser? frag' ich. Hebe den Finger,wer's weiß!... So, du? Also los, Christoph Ägerli?“

„Der Kaiser Napolion!“ bemerkte das schwache Büblein und seine in schöner, seliger Dummheit leuchtenden Augen sahen hoffnungsvoll auf Mätteliseppis Borsten um den Mund, ob sie sich bewegten und ob aus der gewaltigen Zahnlucke ein: Gut, Christoph! käme.

Stattdem überregnete ihn ein barbarisches Lachen.Der von Aar wand sich vor krausem, kitzligem Entzücken.

Gott erbarme sich deines Gehirns,“ sagte das Seppi.„Du, Hildchen?“

Friedels Schwester sammelte sich, rieb am Kinn und sagte dann langsam: „Christus meint den Kaiser der Römer, und dann überhaupt die rechtmäßige Regierung von jedem Land, also für die Schweiz ... die ... das ...der ...“„Den Landammann!“ half Alois nach.„Sag' meinethalb: den Landammann,“ gab die Jungfer mit herablassendem Tone und schlauer Miene zu. „Kurzum, wir meinen unsere Landes und Kantons-behörden. Und was sollen wir diesem kleinen Kaiser geben?“ ein geringes Lächeln kam und floh. „Weiter,Johannes?“

„Respekt und Gehorsam!“

„Warum?“

„Gott ist der Herr der Ordnung und des Rechtes auf Erden,“ erklärte Johannes halb auswendig aus dem Auslegeheft, halb aus seiner Phantasie. „Aber Gott spaziert nicht jeden Dienstag und Samstag ins Rathaus nach Goldingen. Da hätt' er ordentlich zu schaffen,müßt' er höchst persönlich in jedes Lumpennest ...“

„In jeden Flecken und Weiler, sagt das Büchlein.Mach' keine Späß'!“ Die Weberin langte nach dem Stock.

„Da sollen ihn also gescheite und gute Menschen stellvertreten. Und denen Regierenden muß ich nun Ehr'und Botmäßigkeit erzeigen, nicht als Menschen, sondern als Beamten Gottes, auch wenn sie Kröpfe haben und hinken ... und ... schnäpseln und ...“ Nasch bog er aus.

„Dal!“ Ein Hieb flog her und krachte neben dem glatten Sünder in die Wand, mitten zwischen die Apostel des Abendmahlbildes. „Auch wenn sie ihre menschlichen Fehler haben,“ korrigierte das Mädchen im Webstuhl heftig und zog den Stecken verschämt ein.

„O Mätteliseppi,“ klagte Johannes, „du hast dem guten heiligen Johannes eins über die Achsel gehauen.Den Judas hättest treffen sollen, schade!“

Alles lachte, und gegen seinen Willen verzog auch das Mätteliseppi sein breites Gesicht in einer sonderbaren, widerstrebenden, schnurrigen Spaßhaftigkeit. Aber seine Hand knubbelte schon wieder gefährlich am Stecken.

Doch den Johannes zwickte der heiße Teufel, einmal zu sehen, wie lange er sich zwischen Bosheit und Prügel in der famosen Mitte halten könne. Die Orla sollte sehen, was er für ein verwegener und behender Seiltänzer wäre. Für die ganze Stube war es ein Fest,wenn er in solcher heillosen Kunst ans derbe Mädchen geriet.„Schlag' nicht,“ fuhr er mit seiner kosenden Flüsterstimme fort, „ich will zur Sach' was fragen. Sag', muß ich denn wirklich einem Regierer heute gehorchen, der mir gestern eine Ohrfeige gesalzen hat?“

„Wenn der Herr etwas Gerechtes fordert: ja!“

„Hoho! Würdest du etwa dem König heut gehorchen,wenn er deinen Bruder gestern in den Hexenturm geworfen hätte. Heut wollt' er die Steuer haben?Sag'?“„Natürlich!“ schrie Friedel und glühte herrisch auf,„blechen müßtest du mir da in die Hand ... und den Bruder ließe ich doch nicht los ...“

Johannes sah am Herri gleichgültig wie an einem Loch vorbei. „Sag', Mätteliseppi.“

„Ich würde gehorchen,“ antwortete die Jungfer, jede Silbe heroisch betonend.

„Aber wenn es dein Herzallerliebster ...“

Niemand lachte mehr. Das war zu stark. Alles schaute zum Mätteliseppi wie zu einer Wetterwolke.Dampft sie vorbei? Oder fällt sie auf uns, blitzt,hagelt, trifft?

Das Mätteliseppi saß einen Moment wie versteinert.Dann übersäeten rote Flecken sein Gesicht. Die Augensterne schmolzen wie bei einer mittäglichen Katze und es blieb nichts als ein Punkt, glänzend wie eine Dolch-spitze. Heftig nahm die Jungfer das Schifflein auf, wob zehn rasche Gänge hin und her, machte halt und sagte scharf: „Von Aar, in den Kasten, da! ...“

Sie kramte in der Tasche, zog einen großen Schlüssel heraus und reichte ihn Friedel. Der öffnete hurtig den Kleiderschrank in der Ecke und winkte Johannes mit der Wollust eines Kerlermeisters, wenn er endlich seinen Feind ins Eisen kriegt. Aber Johannes beachtete ihn nicht und schlüpfte lächelnd und den Mädchen eine spaßige Kußhand zuschwenkend zwischen ein paar dunkeln Röcken und Mänteln in den Kasten. „Gute Nacht!“ höhnte Friedel, riegelte geräuschvoll zu und steckte den Schlüssel vor fiebriger Freude keuchend in seine tiefen Hosen. Ein Zug von hartem, schmutzigem Triumph gab der Bläue seiner Augen in diesem Augenblick etwas so Unheimliches und Widriges, daß Alois so weit er konnte von ihm abrückte.

So war es also keine Sage, daß die Jungfer zu seltenen Malen einen gräßlichen Buben wohl in den Kasten riegelte. Da steckt ja nun der hübsche Johannes darin, weiß Gott, in welcher Nacht und Enge. Die Mädchen waren mit Anwillen dem Prozeß gefolgt. Sie fühlten ein unerklärlich warmes Mitleid mit dem Eingetürmten. Bittend sahen sie zur Weberin auf. Orla aber sperrte in ihrer Verblüffung noch immer das Mäulchen weit auf und zeigte einen kleinen, ganz goldigen Stockzahn. Ach, dachten die Zöpfe, wenn der liebe Schlingel nur nicht Angst bekommt und anfängt

Federer, Das Mätteliseppi. 18 zu heulen! Nur das nicht! Aber, o weh, wenn er nicht schreien kann, weil er nach Luft schnappt und fast erstickt, du liebe Seit! Das wäre noch viel schlimmer.Heule er, tobe er, schimpfe er, wenn er nur den alten flotten Schnauf behält!

Zum zweitenmal hatte sich das Mätteliseppi gefaßt und wob nun kalt und sachlich, als wäre sein Faden nie zerrissen, das hohe Gespräch von Kirche und Staat weiter:„Ja, Kinder, der Obrigkeit muß man sich fügen,auch der widerhaarigsten, solange, gebet acht, solange sie nach Recht und Pflicht gebeut! Zum Erxempel: Hat unser Heiland nicht dem Pilatus gehorcht wie ein Knechtlein? Und wer war dieser Kerl? Ein Römer,also von denen, die das freie Judenland eingesackt haben ˖Aber nun waren die Juden halt doch römisch geworden und der kleine, reiche, verwöhnte Ratsherrnsohn Pilatus saß für den Kaiser da. So mußte man ihm wie einem gegenwärtigen Kaiser untertan sein.“

„Einem Kaiser untertan sein, ist doch leicht, ist schön,“ warf Herri ein.

„Meinst? Aber ilem Pilatus, hopla! Wißt ihr,wie er aussah? Er war sicher ganz jung, ein richtiger Grünschnabel, und hat den goldenen Sessel von Jerusalem nur bekommen, weil er ein mächtiges Herrenbüblein und lästerlich reich war. Er kommt mir vor mit einem Haar so schwarz wie Kohle und mit einem Gesicht so weiß wie Kreide, aber voll kleinen Blattern und Eiterpusteln, weil er immer schleckte und naschte und Fastnacht wollte durch alle graue Fasten.“ Die Rednerin sah bedeutsam an den Platz, wo das Spitzbubengesicht des Johannes noch eben in einer ähnlichen schönen und wüsten Frechheit geglänzt hatte.

„Es gibt noch solche! Man kennt sie,“ kanzelte sie weiter. „Ja, so ein Pilatus treibt exakt am Aschermittwoch zu Leid und Ärger der Braven am liebsten Skandal ... hm... Aschermittwoch!“ betroffen hielt sie inne, aber korrigierte sich nicht, sondern fuhr kühn über den Schnitzer hinweg und polterte: „Er dachte nie über Lumpereien hinaus, war Sonntag und Werktag das gleiche liederliche Tuch und eitel auf sich wie ein junger Gockel. Am liebsten schwänzelte er den Röcken nach. Aber vor der Wahrheit hatte er eine Hundeangst. Dagegen in Listen und Nücken war er frech wie ein Dachs. Man darf sagen, zum Bösen hatte er alle Säcke voll Mut, zum Guten nicht einen Hosenknopf groß. Ja, ja,“ grollte die Alte mit wackelndem Kopfe, „es gibt noch solches Ungeziefer. 's muß gar nicht erst ein Fürst in Jerusalem sein. Ein grüner reicher Schlingel, da habt ihr's, in Saldern oder einem andern Dorf!“ Ein wuchtiger Blitz flog zum Kasten.

„Und nun schickt so ein Nichtsnutz und Zeitvertuer den Weibel zum Heiland, daß er die Steuer zahle.Und unser Herr, der Zeit und Ewigkeit auf den Achseln trägt und mit dem kleinsten Schnauf das ganze Rom zusammenblasen könnte, greift in den Rock und will gehorsam zahlen. And da er keinen Franken und Rappen findet, wirkt er sogleich ein Wunder für diesen jungen, bleichen, gehirnlosen Laffen . .. Und da fragt ihr noch, ob man denn wirklich einem übeln Herrn gehorchen müsse!“18*Die Mädchen schämten sich ein wenig, die Buben staunten. So ein Pilatus!

„Der junge Spritzer weiß gar nicht, was Großes in Christus steckt. Diese Sorte merkt nichts. Jedenfalls ist er zu faul und hat eine kleine Seele, sonst würde er sich zum wenigsten kümmern um die große Unruhe im Judenkanton, um alle Wunder Jesu und um sein neues Predigen, er würd' auf die Feind' oder Freund'hören und spüren, was jeder Kindskopf spürt, daß etwas Ungeheures im Tun ist, lieb oder bbs. Aber er! ...Er da! Er spaßt doch lieber mit Mädchen und salbt das Haar und steht in neuen Hosen vor den Spiegel und preßt das Volk und praßt und ludert und glaubt und traut nicht über seinen Schatten hinaus ... Wie gefällt euch das Gesellelein?“

Stumm blieb man und horchte, horchte nur.

„Und diesem Kerl zahlt der Weltherr Christus die Steuer! ... Ich könnt' wild und traurig werden darob.Aber, gottlobl kommt gleich was Besseres ...“ Hier schnupfte die Seppe gemächlich und ruhte ein wenig auf der Neugier von sechzig Kinderaugen zufrieden aus.

„Man hat den heiligen Christ gefangen und in Schmutz und Blut vor den Pilatus gezerrt. Ach was, dachte der Knirps, der gerade kneipen und kegeln wollt' mit andern Bengeln, was geht mich der Mann an? Hab' er's! Weg damit ... Aber da muß der Heiland ihn ganz merkwürdig angeschaut haben, daß die Ewigkeit überall herausglitzerte. Und da erkannte sogar dieser lästige Tropf etwas Ungewöhnliches im Martermann, etwas wie Wunder und ewige Kronen, aber auch wie ewiges Gericht. Und da ward Pilatus feig und zitterte und möchte schnell den heimlichen Gott bestechen und von ihm profitieren. Er bittet ihn also und kriecht und schmeichelt um ihn: Jesus möge doch nicht ein so heiliges Gesicht machen und so streng und hart predigen, sondern an seinen Tisch sitzen und geuden und tanzen und sich mit Hoffräulein necken, Späße erzählen und lustigen Hokuspokus aufführen und sein exzellentes Talent nicht im Beten vergraben, sondern zur Kurzweil der Prinzen und Könige verschießen. Das sei ein Stumpfsinn, so schwere Rätsel über die Wahrheit und die Ewigkeit und über andern Dunst aufgeben.Also linksum! ... Aber Christus gab dem Narr nicht einmal eine Antwort... Was, fuhr das Tyrännlein auf, du willst nicht? Steh' ich etwa nicht für den Kaiser da? Bin ich im Augenblick nicht selber dein Kaiser? Weidli, sag' ja und Amen oder ich lass' dich geißeln, dörnen und ans Holz nageln! ...

„Aber der Heiland, der ihm die Woche vorher noch demütig die Steuer bezahlt hat, gehorchte nicht. Lieber starb er. Warum, Wilhelm, warum diesmal nicht?...Natürlich, vor und nachher maulen und zur rechten Zeit stumm wie ein blöder Karpfen ... Du ... Alois!“

„Wenn die Obrigkeit etwas Schlechtes befiehlt, ist sie nicht mehr die Stellvertreterin der göttlichen Ordnung,sondern die Magd einer menschlichen Unordnung.“

„So ist's,“ eiferte die Alte, „das hast du gut gehinzu: „Aber Respekt, Bub, muß man doch haben.Man kann sagen: Nein, das tu' ich nicht, und doch den Hut abziehen. Keine Obrigkeit darf man verspotten,verstanden!“Dem Alois sott das Blut vor Scham. Wie gut verstand er!

Indessen schüttelte Friedel bbse sein Herrenköpflein zu all dem Reden und bestimmte: Einem Herrn darf man nie nein sagen. Ihm legt man immer das Ja wie einen gehorsamen, bequemen Schemel unter die Füße und fragt: Was willst du? Was soll ich?

„Also,“ schrie das Mätteliseppi, „soviel ist ausgemacht, und ingleichen, daß kein Dorf vor ungerechten Pilatussen sicher ist, nicht einmal Saldern unterm Rock des hochseligen Bruder Klaus. Die kleinen Kaiser gedeihen auf jedem Boden.“ Drohend warf die Rednerin ihr breites Gesicht gegen Friedel. Sein Vater, der Ratsherr Jeremi, geht durch dick und dünn mit dem Horat. And ist ihr Vetter!gebracht.

„Ich sag' dir,“ verkündete die Alte mit eintöniger Feierlichkeit, „kein Ratsherr, auch dein Vater nicht,dürfte auch nur dem Kaplänlein in Ettisried, das doch unser ärmster Pfründner ist, ein grünes oder schwarzes Meßgewand auf morgen vorschreiben. Denn morgen haben wir Sankt Arsula und ihre heiligen Kameradinnen,versetzt vom einundzwanzigsten, und die wollen rote Kasel. Aber, dein Vater, Friedel, ist viel zu gescheit,als daß er so was Tolles probierte.“

Aber der Herri wurde noch erboster und lispelte mit süßem S: „So, so, da wollt' ich doch sehen ...wenn ich einen Zwanzigfränkler zahlte ...!“

„And unsere sieben Regierungsrät', die den Kanton meistern, dürfen alle zusammen nicht einem Geistlichen befehlen, von was er Sonntags predigen müsse, auch nicht dem jüngsten und magersten Kapuzinerlein, das noch bartlos in der bösen Welt steht. Denn das ist Gottes und Kirchensach'! Aber das fällt unserem Rat auch nicht im Traume ein und der Kapuziner mit und ohne Bart predigt gerade, was ihm der Geist eingibt.“

Wie herrlich ist das Mätteliseppil bewunderte Alois.Welch eine Säule! Es opferte kein Komma aus dem Vaterunser, möchten auch siebenmal sieben Pilatus mit Rädern und Pfählen dräuen.

„Und setzet den Fall, daß unser Pfarrer nach Vorschrift die Beichtstühl' vom Chor ins Schiff hinuntersetzen wollte, weil sie wie Rettungsboote mitten unterm schiffbrüchigen Volke im Meere stehen und retten und ausharren sollen. Und er ruft Maurer und Zimmerleut'. Da mitten im Zügeln kommt unser Landammann mit Weibel und Landjäger daher und befiehlt, alles im alten zu lassen. Hat jemand zu folgen? Kühn sag'ich's heraus: Nein! Nicht einmal der kleine Pflasterbub am Kübel ... Aber freilich, „mäßigte sich die Alte,„unsere Beichtstühle stehen schon immer im Schiff und nebste und überdem würde sich auch unser hochgeachteter Herr Landammann nicht die Finger am Zorne Gottes und seiner Kirche verbrennen wollen. O gar nicht!Aber eineweg, man muß aufpassen, die Ohren scharf spitzen und hintersi und fürsi) gucken, denn die Zeiten,die ...“

„Mätteliseppi,“ flüsterte es schüchtern von der Mädchenbank herauf.

4 rück· und vorwärts.*258

3.„Schweigt mir ... And jetzt malet euch vor, die Behörden unseres Vaterlandes wollten ein Gesetz zusammenstoppeln, der Sach', daß die Kapuziner aus dem Land müßten oder daß wir in den Schulen kein Vaterunser mehr beten und kein Kreuz an die Wand hängen dürften und ähnliche Gottlosigkeiten. Hört, Buben, da dürfet ihr im größten Schnauz- und Bartwuchs nicht Ja stimmen; müßt euch wehren mit Händen und Füßen und, wenn kein Ausweg bleibt, sotane Regierung vom Schweizerbaum schütteln wie faules Obst. Pilatus oder Christus! Ach Dummheiten! Unser altes braves Mutterli Helvetia weiß haargenau, auf welches Bord es stehen muß. Man hat wohl auch schon mit ihm gepröbelt ... jawohl! und sogar ein bißchen herumgestänkert, und es riecht davon nun nicht eben gut in einigen Großhanskantonen. Aber so ein Zweiundzwanzigstel ist doch nicht die Helvetia, höchstens ein Überbein oder der Kropf von ihr. Sie aber bindet ihre Zöpfe härter und stemmt die Fäuste in die Hüfte wie die Haselbäuerin am Berg und sagt: Na, Jüngelchen, komm her, daß ich dich hinten und vorne und oben und unten mal ordentlich fege, bis man wieder weiß, daß du von meinem Granit bist!... Aber noch einmal, Kinder,aufpassen! ... Saget es daheim den Alten, sie sollen hell wach sein! Sind faule Tag' im Land. Da wär'eine wichtige und heilige Stund' leicht verschlafen. Sagt es grad so und erklärt es mit Christ und Pilatus, wie ihr's eben gehört. Vergesset mir nichts! Seht, Bürschchen, ihr seid schon kleine Missionäre. Macht ihr's gut,so erzähl' ich euch am Sonntag nach Vesper ein mächtig langes und schreckhaftes Abenteuer des jungen Alfred,der weiland König von Engelland war ... und wie er sich durchgehauen.“

„Die Hand drauf, wir sagen's daheim. Die Gitzen))können's dir tätschen ).“ Die Knaben rieben sich die roten, rauhen Bauernhände, die Mädchen schüttelten die Schürzen vor Freude. Wie klang das: Abenteuer,Prinz Alfred, Engelland!

„Darf ich dann auch zuhören?“ scholl es melancholisch tief aus dem Kasten.

Die Jungens kicherten. Er lebt also noch, hat noch Humor.

Das Mätteliseppi legte den Finger an den Mund.Niemand solle dem Frevler antworten!

Aber zum zweitenmal säuselte es durch die Mädchenreihe und streckte bewegliche Finger auf und bettelte:„Mätteliseppi!“

„Was gibt's zu plärren?“

„Der Johannes ... er hat ja keine Luft ... liebes Mätteliseppi, der Friedel soll den Schlüssel hergeben ...das soll er auf der Stelle!“

„Hähä, das möchtet ihr?“ fragte der Herri grausam und schlug auf den Hosensack, daß der Schlüssel klirrte.„Es sind noch nicht einmal fünf Minuten, Maätteliseppi,“ log er und hielt ihm frech seine schwere silberne Sackuhr entgegen.

Aber das Seppi wollte nun doch die Schüler entlassen, denn es ging nahe an die Sieben.

„Sag' uns lieber noch,“ lockte Friedel mit seiner seidigsten Stimme, „was das Bild da über Wilhelms s Geiß, Gitze, Abername für Mädchen. 9) klatschen.Kopf bedeutet. Die Leut' im Schiff mit Schild und Schwert? Und der Drach' rechts ... aber links der Wirbel so hoch wie ein Haus?“

Das Mätteliseppi stieg aus dem Webbaum herunter,die Mädchen drängten die Nasen herzu, Orla suchte Alois und stützte ihr Händchen auf seine Achsel. Da wagte er kaum noch den Atem zu ziehen, als wäre ihm ein Pfauenaug' oder ein Schwalbenschwanz angeflogen und möchte vom leisesten Zucken verscheucht werden.

Der von Aar spitzte die Ohren im Kasten. Diese verdammten Röcke! Immer im Weg! And wie säuerlich und altjüngferlich sie rochen! In der ersten Minute hatten sie ihm fast den Atem benommen. Nach und nach gewöhnte er sich aber doch an die enge, stickige Dunkelheit. Er heckte entsetzliche Rachepläne gegen den Herri aus. Hände und Füße zu einem Bündel schnüren!nein, das war nicht genug. Aber ihn so verknöpft im Schnitzhaus ins Ofenloch stoßen, wo sonst im Herbst das Obst gedörrt wird, einen ganzen freien Nachmittag lang, und ihm hie und da einen Guß Wasser hinunterschütten, das kann langen.

Nun erwachte die Neugier in Johannes. Er betastete die verschiedenen Kleider und suchte die Taschen.Vielleicht gibt's da ein Schmerzensgeld. Ah bah, in jedem Sack war nur ein Rosenkranz, ein großes Schnupftuch, ein Paar Schuhschnüre, ein kurzer Bleistift und etliche Knöpfe. Zu unterst im Zipfel stak immer eine kleine Zwiebel als Amulett gegen Schwindel und Schlagfluß. Endlich, wohl im Sonntagsrock, stieß er auf etwas Pfefferminz und sieben dürre Zwetschgen. Mit Appetit ward das kleine Diebsmahl genossen. Doch die klebrigen Zwetschgensteine schob er wieder zum andern in die Tasche. Ehrlichkeit über alles! Das Mätteliseppi kann zählen, es sind alle sieben. Um es nicht langweilig zu haben, machte er darauf Jagd auf Knöpfe und Haften. Er drehte, grumselte und drehte wieder, bis bald eine Hafte am Hals, bald ein Knopf am Gürtel ließ. Aber stehlen wollte er nicht. Auch die Knöpfe wurden zu den Zwetschgensteinen versammelt.

Jetzt könnte man das Stadtherlein rächen und auch der alten Jungfer etwas auftrennen, einen AÄrmel oder die Rückennaht an der Gestalt. Indem er sich in der Enge bemühte, das Sackmesser herauszukriegen, alle Wetter, da hörte er die Gespanen über die Bohlen trampen. Was Teufel, die gehen! und er soll da drinnen stecken!

„Das ist wohl gar ein Heide, Mätteliseppi!“ hörte er die klirrende Stimme Wilhelms rufen.

„Hansdampf du!“ wetterte die Alte mit vernichten-dem Blicke. „Ich ... und Heiden! Ja, doch, doch,doch, wenn's Heiden in meiner Stube hat, seid ihr's ...“

„Ein Schweizer-Eidgenoß ist's einmal nicht,“ belehrte Klausi. „Die tragen Holzschuh', nicht Sandeln ...“

„Und Schild und Armbrust,“ spottete der steinige Wilhelm, „wie kindeligl AUnser Militär trägt Säbel und Gewehr.“

„Und dann, wo ist das,“ sagte der Herri. „Wo haben wir solche Felsen im Wasser? Etwa im Arnerandere Klötze ...“

Überhaupt,“ fertigte Louis Tonoli die ganze Geschichte ab, „Drachen gibt es nicht!“„Ihr seid mir heitere Burschen!“ schimpfte die Alte.„Und der Wurm im Rotzlochy? Und den Sankt Jörg unter die Stiefel nahm, he?“

„Auch Kolumbus kann es nicht sein. Der trug einen Federhut,“ meinte Orla.

„Was mögen es denn für Heilige sein?“ fragte ein kurzköpfiges, ehrliches Mathildchen.

„Vielleicht Kreuzfahrer. Aber wo ist das Kreuz?“rätselte Klausi und kratzte an seinem sonst so findigen Fuchskopf.

„Tötet euch nicht vor Studieren,“ foppte das Mätteliseppi. „Unbekannte Heilige sind's, wie's deren rätlich noch viele gibt. Schaut her, sie fahren durch die Prüfungen des Lebens dem ewigen Hafen zu. Den Schild des Glaubens halten sie vor und schwingen die Lanze der ...“

„Aber wo ist der Heiligenschein? Wo ein Rosenkranz oder Kreuzlein?“ stritt der Herri.

„Und diese wilden und frechen Gesichter!“ schloß Klausi an.

„Es ist wahr,“ bestätigte die Jungfer mit der Nase am seltsamen Boot der Fremden herumriechend. „Aha,da haben wir's, ein symbolisch Bild, ein Gleichnis!Das soll die Menschheit vorstellen, wie sie unbedacht durchs Leben rudert, zwischen dem Strudel der Vergnügen ... dal ... und dem Drachen der Sünde,dem siebenköpfigen ... hier! Ein Elend ist es, wie y Beim Rotzloch in Unterwalden soll Strut Winkelried einen Drachen besiegt, aber an seinem Geifer den Tod geholt haben.man heut mit Holdrio und BHopsassa in die Ewigkeit schwadert! Präget euch den Helgen nur scharf ein!“

Auf diese kühne Exegese erscholl wie aus dem Grabe die Stimme Johannes': „Mit Vergunst, Mätteliseppi, das ist der alte Schuft und Schelm Odysseus,ein dicker Heid, voll Lug und Trug. Laß mich heraus und ich erzähl' die ganze Sage.“

Wieder klemmte Friedel seinen Hosensack trotzig zu.Auch das Mätteliseppi wehrte mit beiden Händen gegen den Kasten und das heillose Orakel darinnen. „Geh du lieber endlich in dich und schweig, Maulaff!“kreischte es.

Aber das Unheil war nicht mehr abzuwenden.Der kleine Spichtiger hatte den Griechen längst erkannt.Gern hätte er vor Orla geglänzt. Aber wie bei jedem kitzligen Fall gewann der Hase in ihm schmählich den Vorsprung gegen den Löwen in ihm, und er zauderte,bis Johannes von Aar ihm alle Lorbeeren zu rauben drohte. Heiß vor Angst wie vor Ehrgeiz, schüttelte er jetzt Orlas Arm von sich, trat gebückt vor und begann:

„Mätteliseppi, der Johannes hat ganz recht. Ich will dir morgen das Buch bringen, worin vom verschmitzten Odysseus allerlei erzählt und akkurat so ein Kupfer abgedruckt wird.“

„Heiden, Mätteliseppi, du hast Heiden im Haus,haben wir's nicht gesagt?“ neckte Wilhelm und alle Knochen an ihm glänzten vor Schadenfreude.

„Ja,“ fuhr Alois jetzt stattlich und schonungslos fort und stand vor Wichtigkeit auf die Zehen vor, „ja,der Odysseus da war ein verdammter Heid, hat geschwindelt und gemordet und lang mit einer vermaledeiten Her' gehauset und jeden Morgen und Abend den schwärzesten Götzen geopfert und .. *

Klaps, schwaps! Rechts und links saß eine wohlgefügte Ohrfeige.

Wie vom Schlag gerührt stand der unschuldige Bub da und ließ die Arme wehrlos hangen. Das Mätteli-seppi jedoch kratzte mit seinen langen Fingernägeln das Bild wie im Fieber von der Wand. „So,“ keuchte es, „und so! und so!“ ritsch ratsch, die Stücke flogen,in Fetzen fiel das Heidentum zur Erde und ward von den groben Bauernschuhen einer alten Schweizerjungfer in Grund und Boden gestampft.

Totenstill ward's. Alle Köpfe bogen sich unter dem Schrecken dieses Weibes. Es sah aber plötzlich ruhig vom Boden auf und kommandierte gelassen: „Geht!...du bleibst, Alois!“

Als die Klasse wortlos hinausgerumpelt war, der Friedel schlau voraus, standen sich der Bub mit den brennenden Backen und das abgekühlte Mätteliseppi eine Weile stumm gegenüber. Aus Aloislis grauen Augen tropfte die Wut in kleinen bittern Tropfen nieder.„Alois,“ tröstete die Jungfer endlich mit heiserer,trockener Stimme und fuhr ihm übers Haar, „versteh'mich recht! Du bist unschuldig. Aber ich hab' dich dennoch strafen müssen ... für deinen Hochmut. Mußt etwa du mir predigen vor allen Kindern oder bin ich dazu da? Sagl ... Hast du nicht gemerkt, wie der Klausi, der Wilhelm, der Louis ... und diese Neue da,die kleine Hex' ... puhl“ sie blies eine schwere Luft von sich, „mich alle schadenfroh angegafft haben? Soll ich das von euch leiden? Von grünen Flegeln, die noch naß hinter den Ohren sind? ... AUnd das wegen einer ... ist's möglich! ... nur wegen einer Verwechs-lung? Konnte das nicht etwa auch ein alter Tell sein?Oder ein Ritter zu Sankt Mauritius' Zeiten auf dem Genfersee ... oder ein Symbol? Weißt du überhaupt,was ein Symbol ist?“

„Nein,“ antwortete Alois matt.

„Also das weißt du nicht einmal. Da sieht man!Und da tut ihr noch so wichtig mit einer Lausbubengeschichte aus der Heidenzeit, die vielleicht erstunken und erlogen ist. Dafür kennt ihr das Nötigste aus unserer lieben Christenzeit kaum im Fadenschlag. Nein wahrhaftig, die Ohrfeige nehm' ich nicht zurück. Wär' sie ein Unrecht an dir, noch viel größer wär' das Unrecht an mir und dir und allen, wenn ich wegen einer solchen Narretei den Kredit bei euch verlöre, die Autirotät,wie man sagt ... Weißt du überhaupt, was das ist?“

„Nein,“ lispelte der Knabe noch viel müder.

„Gott, der Dreieinige, und da wollt' ihr mich aus dem Webbaum und Stüblein und allem Amt werfen...“

„Mätteliseppi!“ beschwor der Junge nun mit viel weichern und edlern Tränen.

„Das und nichts anderes! Zupft ihr mich heut am kleinen Finger, so reißt ihr mir morgen am Kopf und fort ist die Autirotät, ich bring' nichts mehr zuweg bei euch, und gestohlen ist, was mir euere Eltern gezahlt haben ... nu ja, deine Mutter gab nichts, einerlei!Aber wie steh' ich altes Mädchen erst am Weißen Sonntag da, wenn ihr zum Heiland am Altar solltet und in euch hineinguckt und schaudert, weil es noch so dunkel und staubig im Herzkämmerlein aussieht, die Fenster nicht geputzt sind und die zwei Lichter, der große Kerzenstock des Glaubens und das kleine Anschlitt der Vernunft eine so geringe Flamme haben und stinken und eher düster statt heiter geben? Und wenn unser Himmelskönig dann riefe: Ich will nicht hinein,nein, in diese ungastlichen Seelen will ich nicht! ...Mätteliseppi, Mätteliseppi, was hast du mit meinen Kindern gemacht?“

„Hör' auf, Mätteliseppi, es tut mir ja furchtbar leid ... ich tu's nie mehr ...“

„Soll ich's glauben? Gut, so gib mir die Hand!“

Alois reichte die Hand und suchte die Mütze, um Reißaus zu nehmen.

„Halt! Jetzt trinken wir den Kaffee miteinander.Ich hätt' genug für drei im Ofen.“ Das Seppi langte einen braunen Topf aus dem heißen Rohr. Dann holte es Brot, Käse, Wurst, Zucker, alles in Brocken und Resten vom Frühstück und Z'mittag aus der Kammer. Endlich stellte es zwei runde, blaue Tassen mit weißen Ohrlappen auf und ein Gläschen mit dunklem Birnenhonig dazu.

„Greif zu!“

Da klopfte es unheimlich irgendwo. „Mätteliseppil“bat es sanft aus irgendeiner Klaftertiefe. „Mätteliseppie!“

Verdutzt fuhren die zwei zusammen. Da schmachtete ja noch der schlimme Johannes hinter Schloß und Riegel.

„O jerrä, jetzt ist der Friedel mit dem Schlüssel fort,“schimpfte Alois, „das hat der Cheib mit Fleiß getan.“„Hör' auf fluchen oder du mußt die Wurst fasten!“drohte die Alte. Dann ging sie aufs Türlein, zog eine Haarnadel aus dem Gezopf und schabte und schlinggerte damit im Schloß herum. „Jetzt stoß!“ befahl sie in den Kasten. Ein Puff von drinnen, ein Krach, das Gefängnis flog auf und Johannes trat mit geblendeten Augen, aber mit dem alten süßen Mutwillen unter den Wimpern aus der Finsternis hervor. „Ach!“ hustete er und spuckte aus. „Jetzt weiß ich, wie's dem Jonas im Bauch des Walfisches war, einfach gottserbärmlich!“

Ein wenig lachend, ein wenig brummend führte ihn das Mätteliseppi ans Tischchen. Dann fischte es mit dem Zeigfinger den dicken braunen Nidel vom Krug, schmiß einen Fetzen in diese, einen andern in jene Tasse, füllte beide mit dem Milchkaffee und behielt, da es keine dritte besaß, gleich den irdenen Hafen mit seinem schönen Rest für sich.

Nun war alles Aufregende hinter den Rücken geworfen und gemütlich löffelte und säbelte man an den Vorräten herum, bis Stübis und Rübis verschwunden war. Mit befeuchteten Fingerbeeren tupfte man noch die kleinsten Krümchen auf. Und indem verriet die Gastgeberin geheimnisvolle und die Neugier stachelnde Nebensachen aus Alfreds Abenteuer und hielt sich dann mißmutig über den krämerschlauen Balz Trunz auf,weil er ihre Mären stehle und mit seinem Namen in den Siebendörferboten abdrucke. Das wolle sie ihm einmal tüchtig eintränken. Er könne wenigstens unter den Titel schreiben: „Aus dem Munde einer alten Jungfer überkommen!“ Der Schelm verdiene allweg noch einen kräftigen Batzen bei der Dieberei.

Federer, Das Mätteliseppi. 19 u0 „Soll ich den Ba... ba ... ba ... batzli mal stellen und durchbleuen?“ fragte Johannes mit spöttischem Gestotter; „verdammt gern tu' ichs'.“ Dann leckte er den Honig vom Finger. „Und darf ich das Hunghäfeli) ausschlecken ?“

„Hoi,“ entgegnete die Jungfer und reckte sich in die Breite, „dem Balzli werd' ich noch allein Meisterl ...Da, schleck! ... aber nur halb, die Seite mit dem Spruch! ... Lies einmal!“

„Ein bittrer Morgen ... Bringt süßen Abend,“ deklamierte Johannes und leckte sogleich mit seiner langen,leisen Zunge den hübschen Satz vom Morgen bis zum Abend ab, ja fuhr noch ungehörig über seinen Tag hinaus. Dann bot er das Geschirr dem Spichtiger.„Da hast du noch Amerika und Australien. Mit den drei alten Erdteilen bin ich allein fertig geworden.“

So putzte Alois die Süßigkeit der Neuen Welt auf und fuhr dann doch in die Alte hinüber, um etwa einen Tümpel oder ein Geriesel aufzusaugen, das der Prasser Johannes als zu seicht und ärmlich verschmäht hätte.

„Verschluck' mir nur das Glas nicht!“ wehrte das Seppi. „Und noch einmal, was mir mit dem vertrackten Helgen passiert ist, 's war ohne Wissen und Wollen. Aber es gibt da ein anderes Kupfer, Alois,viel schlimmer als das mit dem Griech' ... schau'!“Es zog die Zeitung vom Spiegel herfür und schlug sie auseinander. „Das hat dein Vater gemacht und da war er dabei mit allen Bosheiten. Wir wissen es jetzt,man muß dem Kaiser geben, was des Kaisers ist und

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Honighäfchen.keinen Rappen weniger. Aber potztausend, auch keinen Rappen mehr! UAnd will der Hochmut dennoch mehr,ja schaut, Buben, da kleckst man darum doch nicht so bitterbose Fratzen in die Welt hinaus und giftelt so einen Terxt dazu, sondern ...“

„Ich hab' es ihm schon gesagt,“ bröckelte Alois beklommen hervor.

„'s ist aber zum Totlachen fein,“ machte Johannes und kicherte mit Überzeugung in seine wunderliche Schalks-seele hinein. „Schenk' mir das hübsche Bild!“

„Nein, man treibt nicht so ein Versteckspiel. Das ist wüst und feig. Sondern man marschiert mit ungewichsten Schuhen geradeswegs zum Kaiser ...“ das Mätteliseppi machte eine Armbewegung gegen die Kirche,bergauf ... „und steht wie ein Baum vor ihn und schüttelt ihm die Wahrheit ins Gesicht. Ich werd' es immer so machen ... Sag' das dem Vater! Im übrigen lob' ich ihn. Er hält da zum Rechten, und wenn er nicht so garstig herumspuckte, könnte er mit seinem kuriosen Talent doch herrlich viel nützen. . Was, da schlägt es Sieben? Zum Tempel hinaus! Aber mit der Orla tut nur nicht wie mit Porzellan. He, Hannes, was hast denn?“

Der von Aar stand schon auf der Schwelle und schmiß blitzschnell einen Franken ins Mieder der Jungfer. „Für Knöpf' und Haften!“ rief er lachend im Davonlaufen. Draußen im Sträßchen lispelte er dem Alois ins Ohr: „Ein Grüeßli dem Hanneli ... Aber was sagst, ist die Orla nicht ein cheibeschönes Meitschi?“

Alois nickte und eilte mit einer sonderbar bewegten,zwischen Sonne und Gewölke taumelnden Seele nach Hause.

19*Das Mätteliseppi jedoch kleisterte am gleichen Abend noch über die griechische Sauerei eine mächtige heilige Barbara. Sie trug einen umfangreichen, steifen und die Erde streifenden Rock aus selbstgewobenem Leinen,mit einem braun gewürfelten Muster. Und dieser Rock von deutscher Zucht und Breite begrub alles Beelzebubwerk des Tages. Orlas Puppenschnack, Johannes' glatte Zunge, Josephs Fäuste, Aloisens Dünkel und alles nichts-nutzige Altertum erstickte in diesem selbstgesponnenen,straffen, urgermanischen Flachs.

Dann fuhr die Jungfer noch mit einem glosenden Wacholderreis und einem Stücklein Zunder vom letzten Karsamstag durchs Zimmer, räucherte alle Ecken aus,als hätte ein Krankes und Ansteckendes da gelegen,spritzte kräftig Weihwasser nach den vier Himmelsrich-tungen und legte sich dann mit kühl gewordenem Atem um die Achte in ihr breites, raschelndes Laubsackbett,das Linnen bis ans Kinn gezogen, um den Schlaf der alten und gerechten Jungfern zu schlafen und wie rechtens dazu wie ein Goliath zu schnarchen.10 Ar einem späten Novembertag, da der Himmel grau und schwer wie ein eiserner Schild die Hausdächer beschwerte, winkte die Spichtigerin ihren Knaben in die Küche ans kleine, lichtscheue Schiebefenster.Dennoch sah er kaum ihr Gesicht. „Was muß ich?“fragte er in einem üblen Vorgefühl.

Dringend antwortete Verena: „Zur Patin auf dem Kirchhubel! Sag' der Frau Landammann einen schönen Gruß und sie möchte den Zettel da doch auf der Stelle lesen und dir barmherzigen Bescheid geben.“

„Was steht darin?“ schrie Alois und hob verteidigend den Arm. „Ich bettle nicht ... nein, nein,ich kann das nicht.“ Breit riß er den Mund auseinander und seine vorstehenden Backenknochen erzitterten. J

„Alois!“ bebte die Frauenstimme aus dem Dunkel.Aber mit harter Hand schlug sie den flehend erhobenen Arm ihres Kindes nieder. „Sag' noch einmal betteln und ich stell' dich vor die Türe! Sitz' zu mir auf die Bank da und schweig!“

Eine Minute saßen die beiden still unter der steilen,offenen Leiterstiege, die an der Wand zu den obern Kammern emporkletterte. In ihrem Winkel war es schwarz wie Nacht.

„Wir müssen den Hauszins zahlen,“ begann Verena rasch, „sonst wirft uns der Schuldenbote hinaus. Schon gestern und heute hätte er's dürfen. Der alte Herri spaßt nicht. Also!“

Wie eine Sündflut brauste es dem Bub durchs junge Gehirn: Herrgott, wo hattest du deine lieben Augen? Alles wirfst du dem Jeremi Herri vor die Füße,die Wiesen, die Ställe, das stolze Haus und den Geldkasten. Hättest denn nicht wenigstens dieses Hüttlein hier uns geben können? Nein, dem Geizhals auch das zum andern Staat und Prangen! Der Friedel kann geuden und ich soll betteln! Ja, alle Buben haben wenigstens einen Franken im Sack und springen in Hildmanns Laden und begehren auf: „He da, einen Viertel Zuckerkandel! Einen Birnenwecken! Schokolade!“Ich aber habe nur einen Zweiräppler und Hosenknöpfe im Seckel. Immer muß ich mich schämen, ich allein!Und jetzt ... ohl ... nein, ich kann nicht betteln ...ich tu's nicht! Ich tu's nicht. Lieber Hunger haben! ...

Zwischen seinen großen grimmigen Zähnen knirschte er hervor: „Wo ist denn unser Geld? Ich hab's doch im Kasten gesehen, wie du's schon lang aufgebeigt hast,die Fünffränkler besonders und die Zweifränkler besonders und ...“

Streng schnitt Verena ab: „Der Vater hat's gebraucht. Er hat den Sandstein zahlen müssen, sonst vekam er die zwei Klötze nicht und konnte die Arbeit nicht anfangen. Wenn er die Umrisse herausgehämmert hab', woll' er gleich von den Herren einen Vorschuß verlangen. Aber bis jetzt will ihm der Hammer nicht gut tun ...“

„Er kann nichts,“ tobte Alois. „So gar nichts.Die Buben sagen mir ...“

Verenas Maulschelle hing in der Luft, das freche Kindsmaul zu beschweigen, als die Stubentüre aufging und Paul pfeifend zum Herde lief. Ein Streichholz flammte auf. Die geduckten zwei Leutchen unter der Treppe sahen, wie er die Tabakpfeife mächtig anblies.Dann tastete er am Geschirr im offenen Gestell herum,wohl nach Glas und Flasche. Aber er fand nichts und schöpfte zuletzt mit der Kupferkelle Wasser aus dem Kessel und trank ein paar heftige Schlücke. Darauf trat er ans Fensterchen und trommelte in sehnsüchtigem Rhythmus eine ferne, ahnungsvolle Musik aus der Scheibe. Verena verschluckte einen Seufzer, aber Alois ward im Nu wie gebannt. Er hörte die Musik so gut wie der Vater heraus. Es war wie ein Marsch, erst noch fern als ein Punkt zuhinterst in der Straße, kam dann näher, man hörte die Schritte und die einzelnen Instrumente der Bläser, nun ward es klar und groß und brauste endlich wie eine kaiserliche Majestät an Alois vorbei. In einem gemaäßigten Andante entfernte es sich ein wenig, kehrte aber durch ein gewaltiges Hornsignal aufgeschreckt wieder um und zog im gleichen Weltgebrause ein zweites und drittes Mal an Alois vorbei, mit Staubwolken, Fahnenflattern und wie Vespersonne blitzendem Messing, langsam, feierlich mit eindrucksvollen Pausen, als könnte es nicht genug verehrt und beklatscht werden. Die Glocken läuteten, die Böller krachten, die Türme und Giebel verneigten sich und alle Menschen knieten nieder. Nur Paul schlug die Augen wie ein Niese auf und zeichnete das Wunder mit Hieb und Stich auf ein Blatt nieder: die zwei unendlichen Frauen, denn das war es, neben der schneeweißen Religion die waldgrüne Wissenschaft! ...So steht's! ... sol ... sol ... und so! punktum!

Alois erkannte das so gewiß, wie Brot und Wein,die man ißt und trinkt.Paul trommelte einen letzten Takt aufs Fenster,knurrte etwas Seliges zwischen der Pfeife hervor und sprang wie von einem heiligen Dämon befessen in die Stube. Man höörte eine zweite Türe zuschmettern und einen Riegel vorstoßen.

„Er hat's!“ jubelte Alois leise. „Jetzt hat ers!Und jetzt modelt und bosselt er's, Mutter ... und dann hast du Geld.“

Frau Spichtiger faltete hart die Hände. „Wollt's Gott! ... Aber jetzt mach' Beinel Sonst wird es Nacht!“Alois steckte den Brief in die innere Brusttasche und lief in den grauen Abend hinaus. Vor den zwei Steinblöcken neben dem Hause hielt er. Dreimal mannshoch fuhren sie über den Knaben hinaus und obwohl daran noch kein Auge lebte, keine Lippe sprach und weder Finger noch Zehe aus der Masse zuckte, ahnte Alois dennoch aus den rohen Hieben und Schürfen des Klotzes bereits ein kommendes großes Leben, ja, er hörte es schon reden, mit Fingern deuten, mit hohen Schritten klingen und mit seinem Puls die Welt ringsum beleben. O sicher, das wird meisterlich! Wenn er will,der Vater, der sonderbare, geheimnisvolle Nichtkönner,o wenn er will ...!

Gehobenen Mutes kürzte Alois den Weg mitten durch die welke Herriwiese gegen das Gehöfte und alldort leise beginnende Dorf hinauf. Ein stummer, toter Abend herrschte mit schwachen, gespenstigen Umrissen des Dorfes und Berges. Aus dem Gras schlich ein trübsinniger Nebel auf und breitete sich gleichmäßig und träge wie moderige trübe Flut aus. Nur an den verdorrten Bäumen blieb der Rauch zögernd stehen, umkroch DDDD Geäst. Dort in den leeren Kronen saß er nun wie ein Wölklein Unglück fest und und vermehrte und verdüsterte die Stille. Die Stundenschläge vom Dorf her ertranken wie im Wasser.

Aber da pfiff jemand. Alois solle aus der Matte hinaus.„Darf man denn nicht durch euern Boden laufen?Jetzt nach Martini?“ fragte der Bub erschrocken, als er gehorsam zu Friedel in den Weg hinaustrat.

Der Herri hörte das gar nicht. Er sah nur wild dem Kameraden entgegen. Seine freche Nase war bleich, aber die Ohren züngelten vom Kopf wie rote Flämmlein. Fieberig getupft waren seine Backen, die schmalen, weitgeschwungenen Lippen braun vor Brand,die Augen von Glut verzehrt, die blonden Krausen gesträubt, der ganze Leib nichts als Ungestüm und ratlose Gier. Er hatte eben rohen Schinken und starken Most gevespert. Austoben wollte er jetzt. Ein Opfer mußte er haben, um an ihm seine grausame, hitzige Fröhlichkeit auszulassen. Laßt ihn! begehrte Doktor Reinert. Er zahnt noch einmal. Das muß hinaus!

Ganz recht kam ihm so ein Schwächling jetzt. Er trat einen Schritt zurück und spannte die Knie ein, um dem Alois auf den Nacken zu springen. Dann will er spornen und hetzen, bis der Menschengaul gebändigt ist und alles frißt, was der Herr reicht. And das erste ist: Alois soll ihm den hasen und meitschimäßigen Schulaufsatz für morgen verfassen: Wie das Veilchen blüht und stirbt! ... Herr Lehrer, solches Zeug schreibt der Herri nicht. Blast mir! ... Und das zweite heißt:Alois soll im großen Krach zwischen von Aar und Herri sich mit Unterschrift und auf Ehr' und Seligkeit zu Friedels Vasallen bekennen. Neutral sein gilt nicht mehr. Die Neutralen sind seine ärgsten Feinde,fertig!

„Warum darf man nicht?“ fragte Alois fester und nahm eine abwehrende, heuchlerische Miene der Unschuld an.

Friedel zeigte mit dem Humor eines Raubtiers die kleinen, schwarzen Zähne. Dann schwang er sich leis in den Hüften. Wie ein Luchs wollte X machen.

„Halt!“ schrie Alois. „Da kommt jemand! Jerräs),der Pfarrer!“

Wirklich schritt majestätisch eine große, langsame Figur aus dem Abendnebel. Antonius Molin! Sein Spazierstock mit dem silbernen Knopf tonte hell über den gefrorenen Weg.

Die Buben lüpften die Mützen und streckten die Hand mit Respekt entgegen. Alois stand näher. Aber der Pfarrer gab zuerst dem Friedel, dem schönen, reichen Ratsherrenbub, die Hand. „Wie geht's der Mutter?“fragte er freundlich, nach Aloisens Hand tastend, aber ohne vom Herri wegzublicken.

„Immer gleich, Herr Pfarrer,“ versetzte Friedel und seine Stimme ward auf einmal klanglos.

„War der Doktor heut da?“

„Ja.“

9 jerum.

1

„Und ?“

„Geduld, Geduld, immer Geduld, sagt er.“ Zornig stampfte Friedel auf den Boden. „Wenn er zu mir das sagte! Ich würf' ihm die Mirturen ins Ge

„Ordentlich, Kind, ordentlich!“ mahnte Antonius gutmütig und lächelte über den Bengel, der in einem so jungen schönen Zorn glänzte. Sobald Friedel merkte,daß er imponiere, schnaubte er heillos aus der Stupfnase und bleckte die Zähne.

„Was habt ihr denn vor?“ fragte der Pfarrer und nickte nun auch dem Spichtiger gnädig zu.

„Wir wollten einen Hosenlupf probieren,“ log Friedel geschwind. „Nicht wahr?“

Alois fand weder Ja noch Nein. Er fühlte sich bitter zurückgesetzt und tat doch nichts, um sich neben dem fröhlichen Mund Friedels zu behaupten.

„Mach's aber nicht zu schlimm mit ihm! Er ist zart!“ warnte der Geistliche in halbem Scherz und nahm eine Prise. „Magst auch? Da!“

Gleich griff Friedel zu und schob tapfer in seine weit gesperrten Nasenlöcher.

„Und du?“ Antonius hielt die Schnupfdose dem Alois entgegen. „He, wo hast denn 's Maul heut?“

„Htschi ... hitschiii ... tschi!“ nießte Friedel.„Ist das ein scharfer!“

„Warum nimmst gleich eine Hampfel )! Recht geschieht dir! Da verspritzt er ja die hellen Tränen,hachhachhal“ lachte der Pfarrer zu Alois. „Schau', der

9y Handvoll.wagt doch was ... Ade, Buben! Grüß' mir Vater Ratsherr und Mutter und sag', ich sprech' morgen eine Weil' vor!“

„Danke schön, Herr Pfarrer! Ade!“ antwortete Friedel. Der große Mann mit dem klingenden Stock und dem Hündchen voraus verschwand im Nebel.Düster sah ihm Alois nach und folterte seine Seele:Warum gab er mir nicht zuerst die Hand? Warum spaßte er nicht auch mit mir? Hab' ich's Spaßen nicht nötiger? Und warum läßt er nicht auch meine Mutter grüßen! Vom Vater sag' ich nichts, aber wenigstens meine Mutter grüßen! Überhaupt, wieso kommt er nie in unsere Stube, als etwa am Neujahr? Ist sie ihm zu wüst? Ist denn der großherrliche Heiland auch nur zu den Rats-herren gegangen? ... So zwickte und biß sich Alois und ging ins Grenzenlose ... Ah bah, nichts sind wir Arme eben, gar nichts. Wir haben nichts, wir vermögen nichts,wir gelten nichts ... Oh ja, freilich, gelten nichts,aber nur bis ich einmal beide Hosensäcke voll Gold hätt' oder in einem breiten, dreistöckigen Haus säß'oder ... oh ... oh ... auch das, wenn ich etwas Mächtiges leisten könnt', mit Musik ... oder Rechnen ... oder wunderbarem Reden oder ... ja wohl,oder mit dem Evangeli und der Stola und der Heiligkeit eines Sankt Ignaz oder Xaver ... daß sie alle auf mich sehen müßten, und wenn zehntausend Landammannnsbuben neben mir ständen, daß sie gerade mich hören und mit mir schwätzen müßten ... Und das will ich, schwor Alois mit bleichen, harten Lippen, das will ich! Das Elend muß einmal aufhören. O Mütterli,wart' du nur, sie sollen noch den Hut vor dir ziehen ...und vor mir! And der Knab streckte sich höher und fühlte das Blut unter dem Wirbel rauschen. Er preßte die Finger zusammen, als hielte er ein Krönlein von solchem Zukunftsglanz schon unentrinnbar fest. Wie bei Wind und Gegenwind war er nun aus aller Dumpf-heit frisch und kühn geworden.

„Und wir zwei? Hörst du wohl?“ fragte Friedel schon das zweitemal.

„Wir? He, wir ringen,“ beschloß Alois wild und knüpfte den Rock zu. Da raschelte der Brief und der kleine Heros knickte in die alte Hasenhaftigkeit zusammen.Mit ganz anderer Stimme wandte er ein: „Aber ich muß sogleich ins Dorf ... Und hier sieht man uns.Acht' nur!“ Er wies ans Herrihaus empor, wo zwei Eckfenster im grauen Novemberduft plötzlich goldig aufleuchteten. „Zündet man bei euch schon so früh an?“

„Da liegt ja meine Mutter,“ gestand Friedel ungern, und auch ihm verblich die Stimme wieder. Wie lange war sie dort oben schon eingesperrt und konnte sich um ihren lieben Wildling nicht mehr kümmern! Der Sohn aber sehnte sich nach der milden, weichhaarigen Frau mit den immergütigen, fast geschlossenen braunen Augen. Je härter Friedel jetzt des Vaters Regiment über sich fühlte, um so leidenschaftlicher sehnte er sich nach ihrer leisen Stimme und ihrem schönen Nachgeben und Jasagen. Wenn er doch helfen könnte, daß sie bald wieder in die Stube hinunterstiege, die feine, noch jugendliche Frau, und ihm, wenn er schimpfte und schnaubte,das krause Haar striche und zuspräche, daß er jedesmal merkwürdig zufrieden wurde, aufs Weinen blitzschnell ganze Schollen lachte und ihr aus Übermut in die Finger biß.

„Jetzt muß ich aber springen.“ Alois wollte ernstlich weggaloppieren.

Gibst du der Mutter auch etwas zum Samichlaus )7 fragte Friedel jählings und hielt ihn herrisch am Armel fest.

„Ei wohl! Schon lange spar' ich zusammen.“

„Wieviel hast du denn?“ examinierte Friedel geringschätzig.

„Fünfunddreißig Batzen,“ schoß Alois stolz heraus.Da sah er die spöttische Lippe des Herri. „Ich weiß schon, das ist wenig. Aber ich ... bis in vier Wochen...meine Mutter ... aber,“ er faßte seinen ganzen Mut ins Wort, „aber ... in Gottes Namen ... wir sind halt arm!“

Das bekannte er zum erstenmal frei heraus. Streng blickte er den Gespanen an: Willst du's etwa probieren,zu lachen?

Aber Friedel lachte nicht. Das Tapfere Aloisens traf sein Tapferes. Er sah dem Dreiunddreißigbatzigen beinahe ehrerbietig ins Gesicht. Dann sannen seine blauen runden Augen ein wenig vor sich hin.

„Hör', Alois,“ bat er und schlug ihm den Arm über und drängte ihn gegen das nußbäumene, alte, mit einem Wappen und Band und Mäschchen verschnörkelte Haustor, „dein Alt ... dein Vater macht doch gute Porträte? Sag', auf Ehr' und Seligkeit, sind sie fein?Daß man sich sogleich kennt? Gerad' als wollte man

9

Sankt Nikolaus, 6. Dezember, Tag der Bescherung.reden und spaßen? Und von der Wand springen?Kann er sie so?“

Alois wurde verwirrt. „Wenn er will, kann er's schon,“ sagte er. Aber er errötete dunkel und sah in den Boden.

„Blitz und Hagel, dann muß er mich malen. Ich hab' oft aus Narretei über ihn gelacht und gelogen.Das tut mir jetzt leid. Er muß mich durchaus malen.Ich sag' dir, warum.“ Der fiebrigschöne Bursche hielt den Mund, als müsse er's sogar vor dem stillen Abend ringsum geheim halten, an Aloisens Ohr und indem er den Duft von Most und Wildheit und süßester, unschuldigster Knabenhaftigkeit über den andern staunenden Knaben ergoß, flüsterte er mit seinem LispelS: „Sag'es aber sauber keinem! Sonst! Weißt, ich darf gar nicht mehr zur Mutter in die Kammer. Ich rumple zu stark, sei zu grob, mach' ihr Fieber, heißt es. Und doch hat die Mutter Heimweh nach mir. Wenn sie nun aber mein Bild hätte, mein Gesicht exakt so groß es ist, mit dem Strubel und den Flügelohren ... weißt!...gerade so wie ich bin, hallo, da wäre ich doch bei ihr und vielleicht würde sie schneller gesund. Denn sie säh'mich oft an und tät' denken: ‚,Aber, aber der wilde Bub!Wie hat er doch ein verstrupftes Haar. Niemand strählt es ihm. Da muß ich doch pressieren mit Gesundwerden,daß ich ihm den Schopf glatt streichen kann.“ Weißt,Mutter meint, wenn ich das Haar glatt habe, sei auch alles andere glatt, ich würd' zahm wie ein Kaninchen.Denk'! Wie lustig!“ Indem er das sagte, strich er seinen Strubel an Aloisens wohlgekämmtem und hübsch gescheiteltem Kopf hin und her wie ein Ziegenböcklein.Den Alois rührte das Gehörte über die Maßen.Er atmete so nahe nicht bloß die Schönheit des Kameraden, sondern auch seinen alten stolzen Namen, seinen Reichtum, sein Glück ein. Es übernahm ihn völlig.Wie liebte er doch den Herri! Zärtlich drückte er seine rauhe Hand, die ihm über die Achsel fiel, an die Wange und streichelte sie als etwas Kostbares. Das erste starke Lenzlüftchen der Jugendfreundschaft blies in seine Seele und brachte sein Knabenblut in Gärung.

„Weißt, mein Vater ist heillos böse mit mir, ich kann's ihm recht oder schlecht machen, immer, immer!Mit dem Oberknecht, dem Sebast, tut er tausendmal schöner. Und der ist doch,“ Friedel sprach's dem Alois ins Ohr, daß es kitzelte und feucht wurde, „ein Hurenkind. Man sagt, von einer Magd im Stall. Aber,“fügte er häßlich altklug hinzu, „nicht wie zu Bethlehem.Niemand weiß es recht. Hat jedenfalls nicht Vater,nicht Mutter ... Doch basta mit solchem Dreck.“

„O je!“ rief Alois entsetzt.

„O je,“ spottete Friedel, „bist du ein Huhn! ...Also ich gelt' nichts. Aber mit der Mutter ist Vater wie ein Hündchen, sagen die Mägde. Er holte ihr die Sonn' vom Himmel, wenn's kalt ist, und den Mond,wenn's ihr zu heiß macht, sagen sie.“ Friedel stieß Alois auf die Schwelle. „Er wird brummen und schimpfen. Aber du mußt nicht erschrecken. Sag' einfach: Dein Vater lass' fragen, ob er mich malen dürfe.Er hab' jetzt keine Arbeit. Mein Kopf behag' ihm.Er werde hübsch, fast wie ein Altarhelgen.“

AV wie eine Silberglocke mit einem reinen Grundton und etlichen falschen Nebentsnen. Das S aber, das süße,immer anstoßende S, fiel nieder wie Wassertropfen auf Wassertropfen ins flüsternde Sommergras fällt und betörte Alois am meisten. Ehe er sich versah, war er die Stiegen hinauf und längs einem Gang gerissen, stand vor einer kleinen Tür und hörte auf Friedels hartes Gepoche ein schrilles Herein. Irgendwo war schnell Hildchens Schatten wie ein Lächeln vorbeigehuscht. Das gab ihm Mut.

Ratsherr Jeremias Herri kehrte sich vom Schreibpult um. Aber Alois sah zuerst nur seine grasgrünen Pantoffeln, die hell übers dunkle, spiegelreine Parkett leuchteten. Das kleine, dünne, schwächliche Männchen,dem krauses, weißes Haar in die Stirne und über den mächtigen Hinterkopf wucherte, richtete so gewaltig blaue Augen, wie er sie Friedel gegeben hatte, auf das Pärchen. Sein Stumpfnäschen schnupperte wie ein Hundeschnäuzchen: Was gibt's? Mund und Kinn verloren sich in einem weißen Bartstrudel. Das Gesicht war wie bei Friedel im Vergleich zum Schopf klein, aber nicht rosig, sondern von einer zähen, gelbbraunen Farbe.

„Was ist los?“ fragte er leise und doch das ganze zierliche Zimmer füllend.

Alois schwieg ratlos, wiewohl ihn Friedel tüchtig mit dem Ellbogen stieß.

„Der Alois Spichtiger ist da und möcht' Euch um Gotteswillen anhalten.... nicht? ... so schwatz doch!Mein Vater hat schon eine Minute Zeit ... aber los!“

„Also!“ herrschte der Ratsherr mit dem gleichen lispelnden S. „Mach's kurz! Aber zum Betteln hab'ich keine Zeit. Der Zins ..

Federer, Das Mätteliseppi.

20 Jetzt reckte sich Alois: „Der Zins ist's nicht!Aber mein Vater hat keine Arbeit. Da möcht' er etwa gern ...“

„Und die zwei hageldummen Sandsteine vorm Häusli?“Beim gefrorenen Wetter kann er nicht dran hauen.Grad drum möcht' er fragen, ob der Ratsherr so gut wär' und ihn das Porträt vom Friedel malen ließe.“

In der allerhöchsten Verblüffung starrte Jeremi das Kerlchen an. Er verstand gar nichts.

„Vater,“ setzte sich jetzt Friedel schmeichlerisch ein,„wär' das nicht famos? Ich möcht' das Porträt der Mutter auf den Chlaus schenken. Hätt' die eine Freud'!Weil ich ja fast nie zu ihr darf! Es kostet gewiß nicht viel, he Alois, 's Maul auf!“

„Sicher nicht,“ nickte der Spichtigerbub.

Sonst kann ich ihr ja keine Freude machen. Sollt ich mich nicht schon lange photographieren lassen für sie auf die Weihnacht? Aber ein großes, farbiges Stück ist doch was anderes. Vater, nehmt das Geld aus meiner Sparkass'!“

„Was ist das alles für ein Blödsinn?“ schalt der Ratsherr endlich heiser. „Marsch hinaus! Zum Firlefanz hab' ich keine Zeit lo

Sie könnten ja, Herr Ratsherr, den Lohn am Zins abziehen,“ redete Alois zu. Um Friedels willen wagte er jetzt zu betteln. Für sich tät er's nie.

„Aha, der Wind kommt von dorther,“ spottete Jeremi. „Weg!“ Er zeigte zur Türe und drehte sich zum Pult zurück.

„Nein, Vater, nein,“ flehte Friedel ängstlich, „aus meiner Kasse will ich's geben. Oder ich will auf die Weihnacht kein neues Kleid und schon gar nicht den Mantel, von dem die Mutter immer spricht. Ich mag überhaupt keinen Mantel. So langt es gewiß.“

„Mehr als genug,“ bekräftigte Alois wichtig.

„Zum Chlaus leg ich der Mutter das Bild aufs Bett, rot und blau und blond und lustig. Da hast mich! ... Vater, so sagt doch!“

Der Ratsherr schien zu schreiben. Er horchte dabei und wehrte nicht mehr ab. Friedel tupfte den Alois:Gewonnen! „Vater,“ bat er dann innig, „ich will Euch dann sicher besser folgen, bimeich )1 Sagt doch nur ja!“

„Mein Vater malt gern hübsche Köpfe, Herr Ratsherr. Er hat sich selbst als Bub schon gemalt. Auch den jungen Daniel. Ich könnt' es Euch zeigen, damit Ihr trauet!“ half Alois ...

Die Buben horchten in die Pause. Da fing die Kuckucksuhr an zu rasseln und endlich fünf Schläge durch das Amtsstüblein zu rufen.

„Geht! Ich überleg's vielleicht,“ scholl es vom Pult,ohne den Rücken zu wenden.

„Dank, Vater, o Dank!“ schrie Friedel entzückt und wollte aufs Pult zuspringen. Da drehte sich Jeremi halb und sagte hart: „Die Verena wird morgen wohl zinsen.Da red' ich mit ihr. Aber wird's was, dann zahl'ich's Bild und geb' ich's am Chlaus, verstanden? Hinaus!“

Friedel schoß einen Schritt vor, als hätte er's überhört. Er ward leichenfahl, gurgelte und verschluckte

A 20*sich vor Not: „Vater, ich bitt' schön ... mein Mant...o das ...“„Das geht dich alles keinen Knopf an. Neue Kleider reuen mich nicht. Aber daß du immer der alte Lotterbub bleibst, das wurmt mich. And da soll man dich noch in aller Sünd' und Schand' lebensgroß auf einen Helgen malen! Gut meinst du's mit dir und mit mir, auf Ehr'!“

„Herr Ratsherr!“ rief Alois von der Türe her,„er plagt uns alle, Euer Friedel, aber wir haben ihn doch gern ...“

„Ihr, Vater,“ lispelte Friedel ganz gebrochen und reiner als Tau hingen große Tropfen an seinen langen blonden Wimpern, „ich will jetzt Fleiß haben, glaubt es nur noch diesmal! Ich will mit dem Alois lernen,ich will immer folgen aufs Wort und Ihr könnt ...“

„Wollt ihr wohl gleich zum Tempel hinaus, ihr Letzköpfigen!“ dräute der Ratsherr und ging mit seinem gelben, verschatteten Gesicht heftig auf die Knaben los.

Husch! entschlüpfte Alois. Vor dem dick umnebelten Haus ereilte ihn Friedel, schlug den Arm um seinen Hals, zerrte ihn ins dunstige Feld hinaus und begann ausgelassen zu schluchzen. „Hast du's jetzt gesehen? So ist mein Vater! ... Mutter, o Mutter!“ Unbändig tropften dem fassungslosen Alois die fremden Tränen über Mund und Wangen und schmeckten so heiß und salzig, als wären es die eigenen. Seine Liebe zu Friedel ward grenzenlos. Mit den weichsten Händen wischte er ihm über die nassen Backen, strich ihm das herrliche Gekraus zart, wie es wohl die Mutter täte,und sprach erquicklich: „Friedel, Lieber, Lieber du!Was kann ich dir helfen? Hör', von jetzt an gehör'ich zu deiner Partei. Befiehl, und ich lauf' dem von Aar direkt in die Fäuste ...“

Friedel heulte leiser. Gern horchte er auf solche Sprache.

„Und hast du den Aufsatz auf morgen?“

„Nein,“ knurrte Friedel aus den Tränen hervor.

„Willst du, ich mach' ihn dir!“

Der Herri nickte und öffnete die Augen langsam.

„Jetzt muß ich gehen. Ich leg' dir das Papier um die Neune hinter den ersten Kellerladen, schau' dort!Sag' nur noch, daß du mit mir zufrieden bist!“

„Ach ja,“ versprach Friedel und trocknete sich unter Schlucken und Schnupfen. Die alte, freche Miene kehrte langsam ins verweinte Gesicht zurück.

„Und wie soll dich der Vater malen? Nur Kopf und Brust? Nein, ich rat' dir ganz, vom Hut bis zum Schuh, oder doch noch über die Knie herunter,daß man merkt, wie du dich biegen und schwingen kannst ... Da, spring mir auf den Buckel, das wolltest du ja! Ich bin dein Schlachtgaul, gelt, und trag' dich bis zum Hag, Herr General ...“

„König!“ verbesserte Friedel halblaut.

„Frisch!“ Alois bückte sich tief und zitterte vor Freude, seinem neuen, herrlichen, ewigen Freunde einen ersten Demutsdienst zu erweisen.

Allmählich ward der Herrengeist in Friedel wieder lebendig. Der hohe, starke Bub ging ein paar Schritte zurück, bog die Schenkel und flog in einem brausenden Satz seinem frommen Tier auf den Sattel. Mächtig schlug er die Beine über dessen Achseln. Alois hatte sich breitbeinig über den Boden gesperrt, ein wenig geschwankt und geächzt. Jetzt aber bäumte er sich auf,und selig seiner Last, mit leichtem Atem und wunderbarer Kraft, trabte er immer rascher dem Feldzipfel zu,wo er am fernsten war, mit pferdemäßigem Gewieher und hie und da frech ausschlagend. Auch der Herri wurde gewaltig, riß im Vorbeiritt eine Gerte von einem dürren Bäumchen, rief „Hüp!“ und „Allo!“ und hieb der Bestie immer wieder in die Beine. So oft das Roß böslich stille stand, spornte er es kräftig mit den genagelten Schuhen in die Weichen, bis es aufwieherte und in einen übermütigen Galopp verfiel. Aber Alois bockte und scharrte und schüttelte den Reiter expreß noch gefährlicher und schrie: „Nur fest! Ich fühl's nicht!Hau zu!“

A Schwindel durch das Abendgrauen und wer es vom Weg her im Nebel erschaute, etwa Lehrer Meinradi,der jeden Abend eine Viertelstunde Mythologie studierte,um seine Nüchternheit romantisch zu befruchten, der mußte an einen jungen Zentauren denken, der sich irgendwie aus dem seligen Hellas in die finstere Schweiz verirrt und aus Verzweiflung an Salderns starkem Teigbirnenmost berauscht und vergessen hatte.

Am Hag sprang Friedel ab. Seine Augen blauten wie heißer Mittag und seine braunen, schmalen Lippen waren gesprungen. Er schüttelte Alois glücklich am Hals, daß es weh tat: „Lieber Frind! Lieber Frindy!“ Dann verschwand er im Hui, aber rief

9 Freund. noch aus dem Nebel: „Hörst, ich will den Aufsatz kurz,nur zwei Seiten! Kommando!“* **Alois schwebte wie im Schlafwandel durchs Dorf und den Kirchhubel hinauf. Ein Truthahn schwaderte irgendwo und eine gewaltige gelbe Dogge sprang vom Horathaus auf ihn los. Doch der Kleine, der sonst vor dem lächerlichsten Köter Herzklopfen bekam, ging dem Ungeheuer beinahe stattlich entgegen und sagte:„Bari, was willst? Ich bin's nur! ...“ und er pfiff dazwischen: „Und da kommens die stolzen Franzosen daher, doch wir Schweizer, wir fürchten uns nicht,“ so daß der Bernhardiner gemütlich wurde und ihm als Wegweiser zur hintern Türe, in die rauchige Küche voraustrottete. Alois atmete auf: Soweit ging es gut!

„Aloisli,“ sagte die ältere der beiden Mägde mit einem wohlwollenden, aber auch bekümmerten Gesicht und warf zugleich Salz ins Geköch, „jetzt kannst nicht zum Herrn. Es ist viel Besuch da. In zwei Stuben.Gelt, Regini!“

Die Junge nickte düster, und dem Alois wurde bang und dunkel, als müßte eine Leiche im Hause liegen.

„Nur eine Minute zur Frau Landammann ...zu Mutters Gotte,“ fügte er empfehlend bei.

„Es ist unmöglich,“ sagte die Alte in gewohnter,müder Übertreibung. Dann rieb sie die Finger am Handtuch ab. „Was ist denn schon wieder los bei euch? Zitterst ja! Da, iß das Bisquit ...“ Sie tunkte es in ein Sirupglas und schob es ihm in den Mund. „Ich kann's ja versuchen und dich wenigstens melden.“Sie verschwand, winkte dann aus dem Gang, wies auf die Türen rechts und links und murmelte: „Im Stübli warten die Kantonsrät' und im blauen Sääli ist grad das Mätteliseppi bei der Herrschaft ... Da! ...nein, da ist's eiskalt ... In Gottes Namen, schlupf'in die Kammer! Die Frau wird nichts dagegen haben. Aber schneuz' und hust' nicht und tu mir keinen Mucks!“Alois stand in der niedrigen Schlafkammer, zwischen zwei schönen Betten. Hinten sah man durch Vorhang und Scheiben dürre Gartenbäume und den steilen, im Nebel verschwindenden Berghang. In der einen Fensterecke lagerte ein Lehnstuhl behaglich, in der anderen ein schmales Büchergestell, von dem die goldene Rückenschrift der Bücher dem Bub durchs Dunkel geheimnis-voll entgegenleuchtete. Gleich neben der Türe hing ein Weihwasserbecken aus altem Zinn. Über dem Bette rechts sah das Bild des gedörnten Heilands von der Wand; von drüben grüßte ihn mit Mutteraugen die schwertdurchbohrte Maria. Auf dem Nachttischchen stand aus uraltem, fast schwarzem Holz, derb aber herzlich von einer Hand des sechszehnten Jahrhunderts geschnitzt,der heilige Landesvater Bruder Klaus mit Stecken und Rosenkranz und ein Zicklein schleckte seine barfüßige Ehrwürdigkeit.

Neben diesen himmlischen prangten auch irdische Andenken Horats, vor allem das strengväterliche Antlitz des Oberhauptes der Schweiz, des Bundespräsidenten Emil Welti, seines teuern Duzfreundes; der General Herzog; dann der Bischof von Chur: ein Gesicht wie aus bleichem Marmor gedrechselt, fein, hart und edel zugleich, in seiner klassischen rhätoromanischen Bildung eine ganz andere Rasse als die hiesigen Alemannen verkündend und dennoch als geistlicher Vater des Landes verwandter mit ihnen als gleiches Fleisch und Blut;endlich Angehörige der Frau, politische Kameraden und das eigene Konterfei als Student in Augen und Lockengewalt wie ein junger Zeus.

Am Fußende der Betten standen sich zwei geschlossene Türen gegenüber. Die links ging ins Eßzimmerchen, wo die Abordnung der Kantonsräte wartete.Als aber Alois an der andern vorbei zur Nische huschte,woher ihn die goldenen Titel blendeten, ward sie heftig aufgerissen und der Bub sah die Frackschöße des Landammanns hereinschwänzeln und den Ellbogen eifrig vorwärts und rückwärts nicken, während Horat im Rahmen stehen blieb und mit hoher Stimme ins blaue Sääli schmetterte: „Wenn ich einmal verkindet) bin, dann komm du wieder mit deinem Canisi! Einstweilen kann ich ihn noch allein lesen und auslegen. Nein, absoluti nein!“ widersprach er, bevor man eine Antwort oder Gegenwehr hörte, „ich nehm' und nehm' nichts zurück,“und er lief, während Alois sich in die hinterste Ecke verschloff, durch das Schlafzimmer bis zur andern Türe,als wollte er sie einrennen. „Die können mir Jahr und Tag warten, ich bleib' beim Wort.“

Er machte kehrt und windete ins Säälchen hinaus.Sein großartiges Gesicht war vor Blutandrang beinahe y Kind, kindisch vor Alter geworden.violett. Sein Haar ... was haben die Salderner Greise alle doch für ein dichtes, greises Schneehaar!... es wehte lohweiß, die gespreizte, selbstbewußte Lippe war mit Geifer bespritzt und die Hand mit vorgeneigtem Finger und blitzendem Ring schrieb hin und her durch die Luft: Nein, nein und tausendmal nein!

Aber die Webjungfer stand ungebogen und klafterbreit vor ihrem Sessel und ihr rauhes solides Auge ließ wie eine Tierbändigerin den auf und abdonnernden Löwen keine Sekunde los. Frau Horat suchte ihren Gemahl aufzuhalten: „Aber Klaus ... aber Klausi!So laß uns doch ruhig reden! ... Schatz, so hör' doch einmal! ...“Nichts, nichts, nichts! Wie eine Bise fegte der im Sturm noch einmal so erhabene Greis wieder zurück. Das Parkett krachte und wahrhaft die Papiere auf dem Tisch flogen auf und die Vorhänge lispelten.E überflüssig. Weben soll sie an ihrem Gefäd und dort ihre Knöpfe lösen. Herrgott noch einmal!“

Die Alte stützte sich in die Hüften und ließ den Sturm genau wie ihr Rudel Buben daherrumpeln und wieder verlärmen. Der Schnauf wird ihm schon ausgehen, dachte sie kühl, und dann ziel' auch ich und werf meine Steine.

„Die Verfassungen werden nicht im Himmel geschneidert,“ wetterte der Landammann weiter und stand einen Augenblick still. „Wären wir Cherubime und Seraphime, so brauchten wir keine. Aber nur das Mätteliseppi ist so ein zuckerweißer Erzengel ...“

Das Mätteliseppi schüttelte mißmutig seinen breiten Flachsschädel: „Nicht so! Nicht so!“

„Akkurat so! ... Wir andere aber sind freilich ungeschickte Menschen auf einer ungeschickten Welt und da braucht es denn eben ein Reglement. Recht machen kann man's keinem ganz. Macht's etwa die Sonne jedem recht? Und die hat doch unser Herrgott angezündet ... Also nimmt man das Gute von der Sach' und sorgt, daß einem das andere nicht wehtut.“

Mit versöhnlicher, heiterer Stimme flüsterte die Frau Landammann hier: „Unsere gute Seppe meint halt, die alte Verfassung tät es noch lange. Aber was verstehen wir Weiber in dem Stück? ...“

„Traget ihr Frauenzimmer etwa ein Kleid fünfzig Jahr wie Mutter Helvetia?“ schrie der Mann und verrückte die Stühle im Marsche, litzte den Teppich um, stolperte dann und ward noch grimmiger. „Hält ein Stoff so lange, du Tausendweberin? Und wenn auch, so wächst doch das Mensch darin und braucht mehr Platz und Bewegung. Und so ist unsere Schweiz größer geworden ...“

„Mit Vergunst,“ schlug die Alte hier wie der Blitz drein, „nicht um ein Dorf!“

Betroffen hielt Nikolaus Horat an.

„Seit achtundvierzig, was? Seit achtzehnhundertfünfzehn nicht einmal um ein Spatzennest!“

„Wie blöd du schwatzest,“ versetzte der Landammann und riß einen Vorhang zurück. „Nicht am Leib gewachsen, am Geist, an Kraft und Erkenntnis ...!“

„Sagt lieber an Eitelkeit der Eitelkeiten!“

„Da deklamiert sie wieder aus den Propheten,“schalt Nikolaus und versuchte umsonst den Ton in Spott zu kehren. Sein Zorn war zu groß und zu ehrlich.

„Aus dem Prediger ... und weiter sag' ich: gewachsen an dummen Moden und an dem, daß wir den Schwaben rechts und den Welschen links jeden Dreck nachmachen ...“

Horat schlug die Hände auseinander, wie hilflos vor solcher gehörnten Stierköpfigkeit.

„Machen die Fremden uns etwa auch was nach?Etwa die Berg'? Die Wasserfälle? Oder den Arnold Winkelried? Oder den seligen Bruder Klaus? Und das wär' ein Ziel. Aber das fällt ihnen nicht ein.Haringegen wenn dorten jemand unserer hochheiligen Kirche einen Zopf anhängt, zopft ihr gleich zwei. Und wenn dorten ein Staatlicher zwei Kerzen verlöscht, blast ihr grad vier aus ... Solche Sturni)) und Affen sind wi ...“

„Hör' auf! Einen Pfifferling weißt du! Ins Blaue krähst wie ein blindes Huhn,“ prasselte es auf die Jungfer hageldicht. Aber im Nu sich zu seiner vornehmen, ob auch ergrimmten Natur zurückfindend, rief der Horat: „Redet, wenn Ihr dreißig Jahre dem Staat gedient habt ... wenn Ihr ein volles Hundertmal nach Bern gefahren seid und dort Wochen und Monde studiert, geschrieben, gehorcht, geredet und gekummert habt für das, was dem Vaterlande nottut,dann redet! ... Und wenn Ihr alle Kantone kennt

9

Verwirrte Köopfe. und wie eine Allmutter wisset, was der im Gebirg,aber auch was der am großen Fluß und See, im flachen Kornland, an der March, in Reben, in Stadtmauern und in zwanzigerlei Hosen und Farben nötig hat.Haha, Ihr meint, das sei alles ein Katzenschwanz!Eine Last und Arbeit ist's, vor der man oft in keinem Bette schlafen kann.“Der Landammann wischte die Lippen und wie er von seinem Fach und Amte anhob, geriet er unbewußt ins breitere und stattlichere Geleise einer politischen Rede,ward bilderreich und saftig und wechselte mit rhetorischer Geste Hieb und Sicherung.„Ja, wenn nur unser Kantönlein wäre, so ein altes Murmeltierchen, das sein Loch und seinen Frieden hat!Aber was sagt Ihr von Basel am Rhein, mit seinem Handel und Zoll und der Völkerwanderung aus allen Strichen? Kann das nach unserem Dorfgesetz kutschieren,mit Trommel, Weibel und Verlesen unterm Vorzeichen )? Und das glänzendklare Zürich, mit seiner großartigen Frechheit durch alle Schweizergeschichte,das seinen Zwingli hat und anders glaubt und schaut!Hoch überm Wasser stehen seine berühmten Hochschulen und da springen zu Hunderten die Studenten aller Mützen und Zungen und Götter in die Lehre ...Türken sogar ...“Beim Namen Zwingli hatte das Mätteliseppi einen Seufzer verdrückt. Jetzt aber bekreuzte es sich entsetzt.Türken! Allah, Halbmond, Vielweiberei, Sklaven,

9 Vorhof der Kirche.

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Peitsche, Flucht durch die Wüste, ereilt, lebendig geschunden, tot! ...

„Mach' noch ein Kreuz, armes Seppi, 's hilft alles nichts, auch bare, nackte Heiden hat es dort ...“

„Klausi,“ bat die Gemahlin.

„And die studieren und werden erleuchtete, mächtige Häupter! Glaubst du, solche Wesen könne man nun gängeln wie unsere Erste und Zweitkläßler? ... Und unsere Tessiner und die von Genf und aus der Waadt,hopla, die haben nicht unsern langsamen und oft noch sauern Holzbirnenmost im Leib, sondern einen tänzigen,wilden Burgunder. And unsere flinkäugigen und flinkzüngigen Sankt Galler erst, du meine Seel'! die so gern ein paar Jährchen in die Fremde trotten und die halbe Erdkugel abgrasen und mit allerlei Menschen und Moden und Geldkatzen rechnen müssen und klüglich beobachten, nach wievielerlei Form und Geist man ein braver, nützlicher Adam sein kann, sinnst etwa, die könne man mit einem Nosenkranz von einer Fabrik zur andern führen und mit Weihwasser besprengen vor jedem Geschäft? Ja, gute Nacht! Da gibt es kein anderes Mittel als eine neue Verfassung, die etwas zugibt,etwas nachgibt, da lockert, dort minder schnürt, auch einen wichtigen Zottel wegschert und in Gottes Namen dem Frieden zulieb wenigen wenig nimmt, um vielen biel zu geben. Ein bißchen opfern schließlich alle, und fromm und heilig kann doch auch bei dieser neuen Verfassung jeder werden, der guten Willens ist. Hast du in der alten sieben Zacken, so kriegst so gut in der neuen Verfassung wieder sieben am Heiligenschein. ..“

„Klausi, Klausi,“ warnte mit milder Stimme die

Landammännin und blickte vertrauensvoll auf ein altes Bild vom Maler Wyrsch, einer Landeskraft aus Buochs.Da kniete nämlich die heilige Rosalia am Auslug einer Lavahöhle und betete über das von Feuer und Fieber bedrohte heimatliche Palermo tief unten am blauen Golf. Und die Frau Landammann wußte sofort mit herzlicher Gesichertheit, daß unter den gefalteten Händen einer solchen Patronin auch das Flämmlein hier in der Stube noch zeitig erlöschen werde, ehe daraus eine Feuersbrunst übers ganze helvetische Haus bräche. Oder dann würde die Feuergewaltige wenigstens mit kühlen Händen durch den Brand schweben und mit himmlischer Überlegenheit fürsehen, daß nur altes Gerümpel von der Lohe gefressen, aber das Echte und Bewährte verschont würde.Der Gemahl jedoch redete weiter: „Wenn's bei mir stände, ich wollte gern genug die Jesuiten ins Land lassen. Mit dem größten Schnupftuch winkte ich sie herein. Hab' ich doch bei ihnen mein Latein und Griechisch gelernt und das Reden vom Pult und eine Sache leiten. Und meinetwegen könnten die Sankt Beat und Meinrad und Gallus wieder kommen und unter jeder Haselstaude eine Zelle aufschlagen. Bin ich etwa ein Heid? Geh' ich nicht wie du um die Sieben zur Messe? und bet' wie du? und halt' den Bruder Klaus in Ehren? Wer hat denn unsern marmorenen Altar renoviert? und das Waisenhaus gestiftet? und die Milchsuppe für die Schulkinder über Winter, wenn's denn eben gesagt sein muß! Und frag' du doch meine Frau, was wir beineben alljährlich an Kirchen und Klöster vergaben. Ich sag's dir nicht. Aber dann frag' ich auch nicht erst eure Kabisköpfe, ob ich hinwieder dem Vaterland seine Rate geben dürfe ... Doch,doch, auf das kommt es am Ende doch heraus! ...Still ... Und dann muß ein Mann vom Staate weiter denken, als die andern. Er steht auf dem Turm und sieht mehr als die alten, tiefen Schornsteine im Duf...Und weiter,“ der Redner übersprudelte sich, so rannten ihm die guten Gründe in hellen Schwärmen entgegen,„ich bin nur Einer! und unser Kanton ist nur Einer und ein Kleiner. Nicht immer aufs Bubi kann die Mutter achten, wenn es weint: Mämm... mämm!Die andern, die erwachsenen Buben wollen auch Brocken,Fleisch und Wein. Und ich wär' ein sauberer Schweizer,schrie ich aus meinen Bergen heraus: Nichts da von Brocken! Bleibt ihr beim Mämm-Mämm wie wirl ...Und wenn hier alle brüllen: beim Lutsch und Nuggi?)bleiben und wenn ihr alle für Lutsch und Nuggi stimmt,ich hab' für Brocken gestimmt und nehm's nicht zurück .“Ach ja, da waren im Eßstüblein drüben fünf Kantonsräte und wollten Bescheid: Ja oder Nein, nimmt der Landammann das Wort zurück, das er droben in Bern vor aller Schweiz gegen Herz und Hirn seines Völkleins in die Urne warf, gut, dann soll er wieder ihr Mann sein und im Saal der Nation für sie raten und tagen. Tut er es aber nicht, dann weg mit ihm am nächsten Sonntag! Die ganze Schweiz wählt am siebzehnten ihre Volksvertreter, erprobte alte oder wie Frühling so freudige neue. Das Siebendörferland wird ) mundartlich: Milch, Milch! 9) Schnuller.einen neuen erkiesen. Ehrerbietig, die Hüte in den klobigen Fingern herumrutschend, aber mit keiner Runzel ihres ledernen Gesichtes zuckend, waren sie jäh vor ihm gestanden: Ja oder nein! Barsch lief er vor ihren Nasen weg zur Frau ins Sääli und da, o verwünschte Minute, gerade da trat die alte Zahnluckenseppe wie eine Prophetin vor ihn und knisterte mit einer frischgestärkten, steifen Schürze und verkündete Milch und Honig von Kanaan, wenn er sich bücke, aber alle sieben Plagen AÄgyptens, wenn er gerade bleibe.

„Und ich bleibe gerade! Kein rechter Staatsmann hat die unerleuchteten Völker in seine Erleuchtung klecksen und pfuschen lassen, hat lieber sein närrisches Herz als seinen überlegenen Kopf gebrochen, trug Fluch und Spott und Steine und Verbannung. Aber dafür steht er mit ungebleichter Glorie im Buche der Zeiten ...“

Hoch flog Horats Atem, mächtig wehte sein Haar.Er stürmte durch Saal und Kammer neben Aloisli vorbei und eine wilde, märtyrerhafte Erhabenheit schimmerte aus seinem Gesicht. „Nehmt mir alles!“ rief er mit vor Bewegung überschlagender schwacher Stimme und riß die Türe zum Eßstüblein auf. „Reißt mir Rock und Hemd ab, aber ich leb' und sterb' mit meinem Ja. Jetzt wisset ihr's und jetzt macht, was ihr wollt!“

Alois sah das Grüpplein der Räte eng und sich gegenseitig schirmend beisammenstehen und mit steinerner Ruhe auf das Kommende warten.

Vom Sääli aber lief mit breitem Klapperschuh das Mätteliseppi dem Landammann in die Schlafkammer nach und legte seine gerunzelte, derbe Weberinnenhand auf seinen Armel. Mit einer so feierlichen, fast kirch

Federer, Das Mätteliseppi. 71 lichen Gelassenheit sah es ihn aus den urweltlich kühlen und sichern Augen an, daß Nikolaus Horat im Moment wie ein Kind stillhielt.

„Ich frag' Euch zum Ersten an: Was tut Ihr dann, wenn das Rathaus zu Bern und das noch liebere zu Goldingen vor Euch zugeriegelt wird? Jetzt seid Ihr wohl hochgemut. Aber wenn Euer Fieber ausgebrannt ist und die langen Tage kommen und die Rathausglocke läutet und der zweifarbige Weibel herumstolziert und Eure Kameraden alle die Wendelstieg'hinauf steigen in den alten Saal, nur Ihr könnt nicht mehr, und niemand fragt Euch und berät Euch inskünftig, wohingegen Ihr doch das Herz voll habt von Lust und Sorg' fürs Gemeinsame, Nikolaus Theodul Horat, wie haltet Ihr das aus? Es zerbricht Euch.“

„Es zerbricht mich nicht,“ widersprach der Landammann hastig, „ich brauch' euch gar nicht ... aber ihr werdet mich wieder rufen ... Wenn ich dann noch will! Das ist die Frage, ob ich noch will! Schön ist es, einmal Ruhe haben. Das Kläffen und Bellen um die Hosen auf Schritt und Tritt hab' ich lange schon bis ans Halszäpfchen hinauf satt. O ich grüße die Ruhe ...“

„And die Langweile! Ihr, ein Mann wie Quecksilber, Ihr?“„Ich, ich, ja ich! Habe ich nicht einen Berg von Büchern? Nicht einmal aufgeschnitten sind sie. Jetzt will ich sie endlich studieren und lesen. Die AUnruh,die Tausendgeschäftlerei, all der Staatströdel, so ein Floh, den ich mir ins Ohr setzen ließ, weg ist's! Und ich hab' Freunde und will auf Reisen gehen und ich will an stillen Regentagen die Geschichte des Ländchens schreiben, so eines blinden, undankbaren Ländchens ...Seine großen Augen fingen an zu tränen, er fühlte sich elend und selig zugleich und hielt jede Silbe, die er sagte, für buchstäblich wahr, wie ein trotziges Kind,das etwas behauptet und rasch die Ohren verstopft, um keine Gegengründe zu hören.

Das Mätteliseppi packte ihn ungerührt nochmals am Armel und schrie:

„Und ich frage an zum Zweiten: Wie dürft Ihr beim Ja bleiben, da Ihr doch nichts anderes seid als der Mund der sieben Dörfer? Wie, das Herz der sieben Dörfer denkt und will heilig Nein, und Euer Mund sagt Jal Ist das nicht Lug? Wie könnet Ihr also noch unser Mund sein? Denket für Euch, wie Ihr wollet, und redet für Euch, was Euch bedünkt!Aber beim Dreieinigen, wenn Ihr als unser Mund redet, dann sperret den Nikolaus Horat und sein Ja ein, denn das ist doch nur ein Bürger und ein Ja.Und dafür tut das Volksmaul auf, statt daß Ihr's versiegelt, und schreiet zu Bern unser zehnhundertmaliges Nein! Nein! Nein! dem Mutz) und anderem bösen Widervart ins Gesicht! ...“

Das derbe Geschöpf stand da und bewegte heftig die Ellbogen und Schultern, als trommelte es einen Gewaltsmarsch. Alle dörflichen und jüngferlichen Rücksichten waren vergessen. Seine Mondäuglein glitzerten fast überweltlich. Und blieben trotzdem die Gesichter der Ratsherren steif wie Holz, so fing es doch unter ihren

) dem übermächtigen Kanton Bern.44*

RXV grauen Wimpern zu zucken und blitzen an. Alois Spichtiger aber in der Bücherecke versah sich gar nicht mehr aufs Verborgensein. Er stand vor und horchte wie gebannt und meinte das Wehen der Weltgeschichte und das Rauschen ihrer zwei ewig geschiedenen Banner zu vernehmen. Es ward ihm kalt und heiß, er riß den Mund eckig auseinander und schwitzte aus den Händen. Und es würgte ihn heillos etwas, wovon seine Bubenseele fast zersprang, ungeheuerlich herauszuschreien. Aber er konnte es nicht. Er wußte nicht einmal, was es war.

„And tut Ihr das nicht, so seid Ihr kein Schweizer mehr und verleugnet die alte Republik und gehört dorthin,wo die Sultane und Zaren den armen Völkern aufs Gewissen hocken ... Ja, das sag' ich Euch ... und das ist soh ...“ schloß das Mätteliseppi mit tiefem Baß und ballte beide Fäuste vor die Brust. In diesem Augenblicke erschien es so gefährlich, wie der gewaltige eidgenössische Zuchtstier des Jeremi Herri, wenn er finster unter der Stalltüre steht, die Hörner senkt, unheimlich wie ferner Donner brummt und keinen Menschen, auch nicht seinen Knecht und Pfleger, den Bändiger Sebast, sei's mit dem Knüttel, sei's mit gutem Futterheu, hereinläßt. So verspreizte sich diese alte Jungfer gleichsam vor dem Portal ins liebe Schweizerhaus, und ihr Haarloffel blitzte und ihr Kragen schwoll und ihr Flachs erglomm in so heiligem, urväterlichem Eigentumszorn, und sie sperrte die Ellbogen so weit rechts und links, daß jedermann sah, da stolziere nichts Neues ins Haus, aber stelze auch nichts Altes heraus, solange ein so glorreicher Drache die Schwelle hüte.

Beim Worte: kein Schweizer mehr ... war Landammann Horat wie ein gepeitschter Lowe in die Höhe geschossen. Rot und naß wie in Blut erglühte sein herrlicher Kopf. Er wollte die Schreierin zur Türe hinauswerfen. Aber ehe er sich etwas vergab, war seine Gattin hinzugesprungen, hatte seine geschwollene Hand ergriffen und freundlich, aber unwiderstehlich gesagt: „Er kann irren wie wir alle. Aber etwas anderes sein als ein Schweizer, als der beste Schweizer,Mäͤtteliseppi, merk' dir, das kann er nicht!“

AUnd jetzt bückte sie ihre rundliche, mit einem schwarzen Spitzhäubchen gekrönte, himmellichte Stirne und küßte ehrerbietig seine Hand, nicht wie eine Gattin, sondern wie eine dankbare, demütige Dienerin.

Die Ratsherren schielten verlegen in die Möbel,aber das Mätteliseppi verneigte sich vor der Frau und begann mit leiserem Keifen:

„Und, lieber Herr Landammann, noch das: was ist eigentlich mit dem Studieren und Korrigieren und Renovieren und den zweihundert nagelneuen Paragraphen viel geholfen? Gumpt) unser Dorfbach nicht wie sonst vom Stuckli herab? Und wachsen nicht die Alpenrosen zu beiden Seiten am Schaum und oberhalb die Edelweiß und die Steinrauten gerade so in der neuen Verfassung weiter und kehren sich keinen Deut dran? Und stehen die Berge doch nicht jünger und der Himmel nicht heller darüber? Und leben wir nicht länger? Haringegen klappert der Meister Tod gerade so präzis daher und reißt dich und mich aus allem Papier und Gwunder

9 hüpft.heraus! Was hast dann von allem Zanken, wenn durch die lange blaue Ewigkeit der Herrgott auf dich zukommt und dich am Ohr nimmt und ausfragt über Glauben und Hoffen und Lieben und sich kein Tüpflein um deinen Paragraph und Tintenhafen kümmert? Aber unten auf dem Erdkügelchen, so'nem Gummiball Gottes,geht alles wie's will weiter, mit oder ohne Nikolaus Theodul Horat. Und da bläst ein Wind und wirft das ganze Kartenhaus deiner fünfzig Jahr' zusammen.Und dort bläst ein Gegenwind und baut ein neues Kartenhaus auf ... Du lieber Gott, was sind das für kurzschwanzige Eitelkeiten ... wohlfeil wie Wasser!...Und da kannst dich ereifern und schier Blut schwitzen und das alte heilige Vaterland drunter und drüber werfen wegen so einem neuen Schnitzel Papier! Sei doch gescheit, Klausi, und bück' dich! ... Wir sind alt und die Segesse) summt uns schon um den Kopf ...bück' dich!“Als hätte es mit diesem „Bück' dich“ auf Komma und Punkt alles gesagt, was ihm ein Höherer auftrug,glättete das alte Mädchen die steife Schürze, nickte allerseits ernst ade, verneigte den Flachskopf besonders tief vor Frau RNosalie und strampelte mit vier breiten,großen Schritten zur Kammer hinaus. Der Landammann sah ihm schweigend nach, eilte dann mit heruntergezogener Lippe ins Eßstüblein und warf die Türe hinter sich zu.

Frau Horat und der Bub standen allein.

„Bist durch das Schlüsselloch gekommen?“ fragte

9 Sense.die Horat verwundert. „Ja, was stehst denn da, was gibt's, Aloisli?“

Aber Alois verstand nicht recht. Noch ganz verdonnert vom Erlebten stand er da. Endlich griff er mechanisch in die Tasche.

„Aha, einen Brief,“ nickte sie, und obwohl ihr Herz jetzt von einer andern, viel schwerern Sache erfüllt war, griff die Landammännin dennoch mit schöner Aüberwindungskraft zum Zettel, wo irgendein kleines,höchstens vierzig oder fünfzigfränkiges Unglück wohl sein Stimmchen in ihren Riesenkummer mischte. Sie nahm die Brille aus dem Futter, legte sie knapp auf das noch immer graziöse Näschen und las. Jetzt erst fiel dem Bub wieder die eigene Not und Bettelei ein, und nach so einem erhabenen Vorgang kam sie ihm doppelt gemein vor. Er forschte ängstlich das Gesicht der Leserin aus. Sie aber lächelte leis und traurig ins Papier, wickelte es dann nachdenklich zusammen und sann nach. üÜber den vorigen Sturm hinab ward es jetzt unermeßlich still in der Kammer, so daß Alois fern,fern durch den Nebel den Truthahn schwadern, irgendwo eine Türe gehen, aber von der Frau neben ihm weder das Kleid, noch den Atem lispeln hörte, so ein Engel der Ruhe war sie.

Endlich steckte sie den Brief in die Brustlitze und murmelte mehr zu sich als zu Alois: „Ja, ja, das kann man nicht so lassen.“

Was nun kam, war für Alois wie halbe Weihnacht: Geklingel vieler winziger Schlüssel. das Knarren einer widerspenstigen und doch so allmächtigen und allgütigen Truhe, das Geläute von sechs schweren, gelblachenden Goldbatzen in seiner feuchten Hand und über diesem kleinen Wunder schwebte noch wunderbarer eine Stimme und sagte: „Ich lass' die Mutter grüßen und hab' jetzt die besagte dicke Sorte von Winterwolle beX wart' einmall ... etwa am Freitag eine Probe davon holen.“

Alois fühlte eine kleine ballige Hand in der seinigen. Ihm stürzte das süßeste und heiligste Wasser aus dem Auge. Er bückte sich und wiederholte in einem unbegreiflichen Kommando seiner Kinderseele, was er die herrliche Frau vorhin tun sah, küßte ihre Hand,und küßte sie wieder und wußte nicht wie viele Male.Und diese Bubenlippen, so kühl und hart und süßester Gewalttätigkeit voll, gefielen der guten Spenderin. Sie ließ es geschehen und zog die Hand nicht weg, wenn schon das Eßstüblein aufging und der Landammann dunkel hereinsprang und tonlos sagte: „So, jetzt haben sie mich geköpft.“ Er sank schwer in den Lehnstuhl.

„Nur den Hut haben sie dir abgenommen,“ widerredete Rosalie rasch und beinahe lustig. „Aber gedulde dich und sie kommen den gleichen Weg und setzen dir den gleichen Hut und so viele andere, als sie nur im Laden haben, gern genug wieder auf.“

Mit Alois an der Hand war sie an den Gemahl gerückt, ließ den Knaben und neigte ihr Gesicht mit einer wahrhaft himmlischen Schelmerei seinen aufstreckenden Armen entgegen. Da sagte der kleine Spichtiger unvermittelt aus aller Bubenfreude heraus: „Vielmal Dank und vergelt's Gott, Frau Landammann. Juchhe,jetzt köͤnnen wir morgen zinsen und der Vater kann am Sandstein hauen ... und die Mutter wird endlich wieder lachen,“ ... und mit der Vogelschnelle und Vogelfröhlichkeit seines Alters aus aller noch eben so nahen Finsternis wegfliegend, lockte er nun auch wie so ein leichter Finkenschnabel die großen, ernsten Gespanen, die noch im Schatten saßen: „Ich bitt' Euch schön, lachet jetzt auch wieder und seid wieder frohl“

„Der Spichtigerbub, was?“ staunte Nikolaus Horat.Da bemerkte er das Gold in der Knabenhand und den Brief im Koller der Frau. „Was will ... aha,Geld hat der Pauli wieder gebettelt!“ ... Er schnellte vom Stuhl auf. „Gelt, damit dein miserabler Vater wieder seine Fratzen von mir malen kann ... Her damit! ...“

Der Knabe spannte die Faust ums Geld und wich vor dem andringenden Gewalthaber bis zur Türe zurück, wo das Weihwasserbecklein am Rahmen hing.Der Gekreuzigte sah da mit erlöschendem Aug' ins Wasser.

„Nichts als Wohltat hab' ich euch getan. Nun ess'ich des Teufels Dank! ... Der Mensch soll mir nie wieder unter die Augen kommen. Sag's ihm, sag's ihm!Mit solchem Schmutz will ich nichts zu tun haben, das schwör' ich!“ Und der Landammann, überwältigt von allem meuchelmörderischen Feldzug gegen seine gerade Seele und wie vergiftet von der bissigen Satire im Boten, schlug dem Kleinen auf die Faust, daß die Finger aufsprangen und das Gold wie sechs kleine herzlose Sonnen über den Estrich rollte. Es glühte und sprühte wie ein verzehrendes Feuer.

„Aber ich ... ich habe ja nichts gemacht,“ stotterte Alois und schlug in Unschuld die leeren Hände auseinander.

„Klausi, Schatz, ich bitt' dich ...“ wehrte die Frau,„Aloisli ... das ist nicht so gemeint.“

„So ists gemeint,“ rief der Horat, „daß dein Vater ein Lump ist und deine arme Mutter und dich und euch alle zu Bettlern macht und dem ganzen Dorf ein liederliches Beispiel gibt.“ Und wieder drang der Grimmige auf das Söhnchen seines Feindes ein ...„AUnd so ist's gemeint, daß ein solcher Kerl noch unsere guten, dummen Leute ansteckt und allen Dreck zwischen mich und die Gemeinde schüttet und mich in der Zeitung wie einen Narren oder Schurken an den Pranger stellt. Und ... da ... aber so ...“

Noch nie hatte Alois einen solchen furchtbaren Zorn erlebt. Das Gewitter benahm ihm den Atem, würgte ihn in die Ecke, tötete ihn fast. Er zitterte wie ein Bäumchen, gegen das ein ganzer feuerspeiender Vulkan losgeht. Vor Not griff er unwillkürlich ins Weihwassergeschirr und machte das Kreuz. Und wie man beim Hineingehen in die Kirche tut, reichte er den noch nassen Finger mit dem heiligen Wasser dem Gegner:er möge auch nehmen und sich auch bekreuzen.

Diese einfache unstudierte Handlung wirkte ein Wunder. Der empörte Mann sah den Jungen ratlos an.„Was ... was ... wieso?“ stotterte er betroffen, aber tupfte unwillkürlich vom Fingerchen und bekreuzte sich.Auch Frau Rosalie tat es und betete lieblich: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.“ And in so tiefe Menschlichkeit schwebte in diesem Augenblick etwas Göttliches.„Natürlich ... dich geht mein Geschimpf nichts an ...“ bemühte sich der Horat schwerfällig, „Aloisli ...du bist brav ... und hast gute Noten so im Fortschritt als im Fleiß ... Du wirst einmal ein gescheites Paterlein. Ei, wo liegen die Batzen? ... da, schaul ...und da einer ... drei, vier ...“ Und der riesige und mächtige Herr kniete nieder und bückte sein dunkelblutiges Zeushaupt bis auf den Teppich und langte unter das Bett, um die letzte Münze hervorzuwischen.„Da! Jetzt mach' Beine und trag's der Mutter heim!“Es brannte schon aus allen Dorfscheiben das Lampenlicht, als Alois pfeifend den Kirchhubel hinuntersprang. Einige Fenster machten bekümmerte, verschwitzte und abgehärmte Gesichter von einem schweren Tage her, andere lachten in leerer Schwatz- und Klatschfreude in die Gasse hinunter. Das Herrifenster war jetzt verhängt und sein Licht stiller als jedes andere. Dort wurde jedenfalls nur geflüstert und auf den Zehen über Teppiche gelaufen. Aber die Lampe der Pfarrstube loderte und schattete hin und her. Denn Antonius Molin marschierte den Boden auf und ab, daß das Hartholz krachte. Er überschlug den Tag und war unzufrieden. Wo lag es? Durch die kräftig geschmetterten Dominus vobiscum der heutigen Katharinenmesse,durch den zweistündigen Unterricht in der alten Kapelle,durch vier oder fünf Krankenbesuche und die eben vollendete zweite und dritte Nokturn)) geisterte ein blasses, unglückliches Bubengesicht mit scheuen Augen y ein Teil der priesterlichen Tagzeiten.und verwürgten Tränen ... „Aha, da, da stinkt's! ...Immer der Alte!“ Der Hochwürdige schlug sich derb auf die Brust und beichtete voll Zorn das Augustinische: „Peccati penam sentimus, et peceandi pertinaciam non vitamusi) ... O Herr und Gott,der du nicht kennst das Ansehen der Person, wie darf ich grauer unverbesserlicher Esel so zu dir treten?“

Sein Schritt wurde langsamer, er schnupfte eine Prise und als die robuste Albertine die Kartoffelsuppe hereintrug, sagte er sich energisch: „Nein, Anton, nicht drüber schlafen, das nicht!“

„Was, Herr?“ fragte die Magd neugierig.

Nicht einschlafen und schnarchen überm Rosenkranz, wie heut abend, hab' es gut bemerkt,“ schalt Antonius lustig. „Was gibt es denn nach der Suppe?“

„Nudeln mit Käse und Speckbohnen dazu.“

„So lauf und hol' mir hurtig den Aloisli Spichtiger! Er soll mit mir zu Nacht essen. Und ich hätt' da ein paar alte Kaiserbücher, die Salier und die Staufen oder was, mit schönen Kupfern. Die könnt' er gerad heimnehmen, sie verschimmeln sonst ... Und laß Mutter und Vater schön grüßen. Sag's aber auch recht und manierlich!“

An diesem Abend war in vielen Stuben Freude.

) Wir fühlen die Strafe der Sunde und fahren doch hartnäckig mit Sündigen fort.11 lautlos, feierlich flockte es vor den Fenstern von einem stillen Himmel auf eine fast noch stillere Erde nieder und breitete nicht das Totenhemd, wie falsche Stimmen sagen, sondern das schönste weiße Nachthemd der Natur, das trotz allem schon nach Erwachen und Morgen duftet, weit über die Dörfer und Berge aus. Die Spatzen schwiegen, der Schuh der Menschen schlief auf der Straße ein und alle getigerten Salderner Katzen knäuelten sich auf den Ofenplatten in wohligem Weltvergessen zusammen.

Dafür ward es hinter den Scheiben nun doppelt lebendig, denn die Gasse hatte sich in die Stube geflüchtet. Besonders eifrig ging es in der Spichtigerstube zu. Friedel freilich stand mit gespreizten Beinen und der Reitpeitsche in der Faust still vor Pauls Staffelei und weitete die Augen in Gewitterbläue. Er hielt sich steif, aber schielte doch gern zur Seite, wo Alois am Boden saß und mindestens hundertsiebenundfünfzig russische Holzsoldaten gegen eine kleine, spärlich beschirmte Würfelstadt führte. Sie hieß Plewna und gehörte dem Osman Pascha Herri. Er kommandierte dort wie ein Leu.

Am Fenster saß die Mutter und stahl beinahe das gesamte kümmerliche Tageslicht für ihre Flickarbeit.Ihre zähe bräunliche Farbe war gewichen. Sie sah angegriffen aus. Eben hatte sie wieder eine jener Erkältungen überstanden, die seit etlichen Jahren sie beinahe am gleichen Tag im Früh- oder im Spätwinter anpackten! Jedesmal fing es scharf und gefährlich mit Seitenstechen an, pendelte zwischen Lungen und Brustfellentzüundung herum, ward aber von der energischen Frau in zwei heißen Tagen total ausgeschwitzt. Am dritten Tage strickte sie schon im Bett, einen Lichtschirm über den Augen, und am fünften ging sie bereits langsam in der Kammer herum. Der legte Anfall war hartnäckiger gewesen. Aber mit Ausnahme von Schwäche in den Beinen und einem trockenen Hüsteln schien die Gesundheit wieder ziemlich hergestellt.

Alois und Friedel hatten die Orla Lomser eingeladen, sich das Porträt anzusehen. Aber im Feuer der Belagerungskämpfe dachten sie gar nicht mehr daran.Dem Spichtiger war das Kindergeschwätz während dem Malen ganz recht. Es wehrte die Müdigkeit von ihm, die nach jeder halben Stunde kam und sagte: genug für heute! Und sein Pinsel ward frischer und beweglicher, als hätte er ihn auf den Zungen dieser Jugend genetzt.

Beim ersten Blick erkannte man den stolzen Ratsherrensohn auf der Leinwand in Haar und Nase und Flügelohren und in der unvergleichlichen, selbstbewußten Haltung der Herrirasse. Nur die feine kindliche Röte des Gesichtes, vor allem seiner Augen blaues, regierendes Himmelreich hatte noch nicht den richtigen, aus Tücke und Tapferkeit gemischten Glanz. Auch auf den Lippen saß noch nicht der ächte, bösfrohe Geist des Buben.Indessen meinten die Kinder, das Konterfei wäre so schon grausam schön und es ließe sich nichts Besseres mehr dazupinseln. Paul jedoch behauptete, das sei erst der Anfang. Er fühlte, daß die Seele noch nicht in dieser Leinwand stecke. Ihr beizukommen dünkte den Mann voll feierlicher Ideen jetzt eine besonders kurzweilige, wenn auch gar nicht leichte Jagd.

Paul war überhaupt guter Laune. Er liebte den Winter. Das war ihm die würdigste und ernsteste Jahreszeit. Auch jene staatsmännische Büste war gut geraten und das Modell zur Wissenschaft, das er in der Stube jüngst ausgebrütet und der Goldinger Kommission dann hinreißend schön erklärt hatte, trug ihm einen starken Vorschuß ein. Es gab wieder Wein und geräucherten Speck im Haus. Sodann hatte der Spich-tiger den Zeichenunterricht am Gymnasium bekommen und malte dort für die Tragödie Alexius in der kommenden Fastnacht die kühnsten römischen Kulissen. Da befand er sich denn in einer zukömmlichern Luft von vornehmen städtischen Burschen, die schon sapphische Strophen dichteten, Beethoven spielten und Vorträge über die Vorzüge des Bildhauers Skopas vor Bildhauer Polyklet hielten. Hier stärkte und nährte er sich in geistvoller Unterhaltung für sechs folgende Tage dörflicher Versumpfung. Für „Alexius“ hatte er überdies einen Totenmarsch und einen Straßenchor mit ‚über den Dächern summendem Glockengeläute‘ komponiert. Täglich komponierte er jetzt in den Morgenstunden im Bett.Aber niemand konnte seine Noten lesen, als er selbst.

Daneben lehrte Paul die Nonnen im Frauenkloster zu Goldingen die ornamentale Kunst in herber Gotik,in klarem romanischem Stil und in lichter leichter Renaissance für ihre liturgischen Bücher und für ihre frommen Stickereien an heiligen Gewändern, ja hie und da sogar an einer frechen Schützenfahne praktizieren. Und regte ihn die Unruhe und Keckheit der Studenten lustig auf, so beruhigte die außerhalb der Klausur gelegene,fromme und demütige Nonnenschule seine Nerven und er fühlte sich bei solchem Wechsel wie im Segen von Ebbe und Flut einmal laut und einmal still werden,genau wie seine uferlose Seele es brauchte.

„Halt einmal den Kopf mehr rechts! Die Augen hier zur Kante, noch etwas! So! Das ist der wahre Ton. Jetzt aber still, Friedel. 's ist bald vorbei.“

Dem Wildling war das Stillehalten längst zuwider geworden. Oft hätte er gern vor Empörung die ganze Staffelei umgeworfen. Aber dann dachte er an die freudlose, einsame Mutter im Bett und wie sie das Bild zum ersten Male grüßt und lacht und dann lange beschauen und vielmal küssen wird. Er knirschte leise und hielt wieder geduldig her. Doch öfter begehrte er zu sitzen, weil ihm vom Stehen übel wurde. Er hatte die letzte Zeit gemagert. Seine Augen brannten gierig und unrein wie Kerzen aus schlechtem Wachs. Ganz bestimmt trug er schon lange etwas Ungesundes mit sich herum.

„Wo greifst du jetzt an?“ herrschte Friedel zu Alois X lagerung nicht beobachten.

„Ich werfe dreißigtausend Mann ganz allein gegen das Südtor. Dort hast du nur einen dünnen Turm,eine schwache Batterie und dreihundert Mann zur Verteidigung, bum, bum!“

„Dann zieh' ich die Truppen von den Schanzen hinter der Stadt zurück... vorwärts!“

„Gut ... aber das reicht noch lange nicht und ich hab' eine Stunde Vorsprung. Diesmal lang' ich sicher in die Vorstadt.“

„Donnerhagel, so geht es nicht, halt einmal!“ Friedel besann sich, seine hübsche Stirn kindlich furchend. „Trommle meine ganze Besatzung zusammen! Ich mache einen Ausfall am Westtor!“

„Da rennst du direkt in meine Kanonen.“

„And ich tu's doch! Dort bin ich im Vorsprung.Deine Batterie ist noch nicht auf den Wällen.“

„Freilich steht sie schon seit frühmorgens da und die Kanonen sind scharf geladen. Paß gut auf, Osman Pascha, du wirst gefangen. Aber ich werde dich ehrenvoll ...“„Herrgott noch einmal,“ Friedel schüttelte sich aus der Steifheit und rannte mit dem Schrei: „Lieber sterben!“ auf Alois zu, um das Bombardieren zu hindern. Aber schon waren zwei Bleikugeln in die Würfel geschleudert und ein Teil der Stadtmauer fiel zusammen.

„Falsch, ganz falsch,“ schrie Friedel bleich vor Wut und schlug den Schuh durch die hübsche Aufstellung der Russen, so daß Mannschaft und Park übereinanderflog.„Das geht gegen das Spiel,“ verwahrte sich Alois entrüstet und gab nun auch seinerseits der Stadt Plewna mit dem Knie einen Stoß, daß Paläste und Türme zusammenkrachten.

„Vermaledeiter Russ'!“ keuchte der Herri und fiel nun über den kauernden Alois her. Aber dieser umklammerte mit allen Kräften Friedels Knie und die Chefs ihrer Majestäten von Petersburg und Konstan

Federer, Das Mätteliseppi. 22 tinopel lagen über und untereinander im Getrümmer ihrer Heere.

Aber nun riß eine Hand, die stärker war als Zar und Sultan zusammen, den Alois vom Boden auf und drohte: „Wie oft habe ich dir verboten zu kriegerln,solange der Friedel dem Vater stehen muß. Sicher verbrenn' ich dein ganzes Soldätlizeug.“

„Das sagst du immer,“ tadelte Paul, indem er tapfer darauf los malte, indessen Friedel seinen alten Arrest bezog. „Verbrenn' nur einmal all dies dumme Militärspiel. Der Krieg ist die Glorie von sieben Menschen und das Elend von siebenzig Millionen.Jeder Krieg ist schlecht.“

„Aber Vater, wenn ein Land angegriffen wird ...wenn es für seine Freiheit fechten muß,“ wandte Alois ein, „in der Notwehr wie wir Schweizer bei Morgarten und Näfels und Sempach und bei Sankt Jakob an der Birs ...“

„Paperlapa! Wir Schweizer haben meistens zuerst angefangen oder es doch soweit getrieben, bis man uns bekriegen mußte. Freilich, das sagen sie euch in den Schulen nicht.“

„Aber Vater!“ beschwor nun auch die Frau und ihre Nadeln klirrten wie Schwerter.

„Dem einen hat Gott die Macht gegeben und der regiere, und dem andern die Schwäche und der gehorche!l So ist es und zwischen beiden gibt es nicht Platz, noch Atem für den Krieg ...“

„Das schon,“ gab Friedel zu; „aber ...“

„Aber wenn zwei Schwache aufeinander stoßen, das willst du sagen. Ich frag' auch,“ focht Verena.„Nein, wenn zwei Starke zusammenkommen,“ stellte Friedel fest, „dann muß man doch wissen, wer der Stärkere ist und dafür ist der Krieg da und das kracht dann und jammert und ist heillos schön.“

Alois baute die Ruinen wieder in die Höhe und stellte die Truppen auf die Füße und rief eifrig dazu:„Sagt was ihr wollt, Krieg muß sein. Da gibt es erst Helden ...“

„Gloriahelden, Trommelhelden, hypnotisierte Helden!“

„Und unser Winkelried), Vater, sag' einmal!“

„Gut, ich tu' ihm nichts. Aber es ist leichter ein Held zu sein bei Fahnen und Kanonen und mit vielen Genossen in einer lauten, großen, weit sichtbaren Sache,als hinter einem Hag, in einer armen Dorfstube, vielleicht mit einer Ahle oder einer Barbierseife in der Hand Held sein. Oder in einem abgeschabten Kittel und in einem verkannten und verspotteten Künstlertum,die Augen nach innen, ins Einsame, Eigene gekehrt,statt aus eiteln tausend Fenstern in den Lärm glotzend,da dennoch und trotzdem Held sein. O, o,“ Paul reckte sich mächtig, „ihr wisset gar nichts. And es ist leichter, da zu sterben, wo viele sterben und wo man schnell und mit Lorbeeren stirbt, als langsam im Bett nach abgerackertem, kleinem, stillem Arbeitsleben den Tod Sechritt für Schritt herzuhinken und mit der Sense i) Arnold Winkelried, der Unterwaldner, der nach altem Glauben in der Schlacht bei Sempach 1386 eine Anzahl Speere der unzerbrechlichen österreichischen Front in seiner Brust begrub und damit dem Sieg und der Freiheit „eine Gasse machte“, neben Tell die volkstümlichste Heldengestalt der Schweizer.27*schwingen und drei-, viermal fehlschlagen zu sehen, bevor man zum letzten Male die Zunge streckt. Warum wird im Krieg jeder dritte Mann ein Held, und warum im Frieden nicht einmal jeder tausendste Mann? Weil das eben tausendmal schwerer ist!...“

„Vater, los', im Schulbuch steht bei der Schlacht am Morgarten: Söhne Helvetias, entblößet euere Häupter! Denn hier geschah etwas Heiliges: die Bluttaufe der jungen Schweiz ... Vater, die Bluttaufe! Ja, hätten wir nicht gekriegt nach allen Seiten,so wären wir jetzt ein armes Volk wie die Polen oder wie ein Stamm hinten in Rußland. Nein, Wälle muß man mauern und Kanonen gießen und in den verdammten Feind schießen,“ überschrie sich Alois. O ihr Großen, Hannibal, Cäsar, Belisar, Gustav Adolf,Napoleon ...“ Schwärmerisch streckte der Bub die Arme zur Diele empor.

„Schweig mir von den Verderbern der Welt! Sie haben ihre Schreiber bestochen. Was wüßten wir sonst von Cäsar? Die Millionen im Meer und im Sand und im Alpeneis, die konnten nicht Bücher schreiben und die Wahrheit erzählen und über ihre Vertilger fluchen. Aber ich sage euch, das blaue Eis, das überm Gefels wächst, und der graue Stein fluchen dafür heute noch über jene Ungeheuer und lachen sie aus. Und die Gräser und Bäume, die über der Walstatt gedeihen, nichts als immergrüne, triumphierende Flüche sind sie gegen jene Mörder. AUnd sie höhnen: Seht,was ihr für Tröpfe seid! Tot seid ihr und nur noch ein Namen, eine Legende, eine Lüge! And all euer Zeug ist zerblasen von einem Tag auf den andern.Und wir wachsen und lachen über euch hinweg als wie über einen dummen, grauen Großmuttertraum ...

„Nein, Alois, ich log vorhin. Nicht einer ist stark und soll darum regieren, und einer ist schwach und soll gehorchen, sondern alle sollen regieren und alle gehorchen.Gleich sollen alle sein an Sonne und Dunkel und an Bücken und Thronen, wie sie gleich an Blut und Knochen sind. Brüderl ...

„Morgarten sagst du,“ Paul strich den Bart mit einer sozusagen demokratischen Geste in zwei Zipfel auseinander. „Morgarten? Dummer Bub! AUnd dann kommt noch Sempach und gleich geht es ins Aargau und Thurgau und stiftet Untertanenländer mit Vogt und Schloß und Bauern ohne Satz und Recht. Und es kommen die paar Herrlein in Gold und Samt und ihr Kommando und das Bücken und Schwitzen und Bluten von allen andern. AUnd so ist es heute noch im Kriege.Was hat der Bauer in der Krim oder am Aral davon,wenn der Zar hundert Schlachten gewönne? Sein Acker würde nicht größer, sein Teller nicht voller, sein Zins nicht kleiner, sein Essen nicht billiger, im Gegenteil, er müßte mehr steuern und vielleicht noch mit einem hölzernen Bein zum Steueramt seinen letzten Batzen tragen.Aber freilich im Märchenbuch der sogenannten Weltgeschichte werden unsere Kindeskinder einmal lesen müssen:In der Schlacht bei X. hat Emil der Große genial gesiegt. Die Strategie war meisterhaft, das Manbver ein Muster für alle Zeiten ... Ha, aber wie viele im letzten Würgen des Todes die Zähne in die Erde bissen, in ihre heilige, allgemeine Muttererde, für die man sich küssen, nicht töten sollte, und wieviel Liebe und Genie und Wissenschaft und herrliche Menschenhilfe mit all den Ungenannten gemordet wurde, davon steht nichts zu lesen. Und in diesem Lügen- und Legendenbuche lest ihr: Osman Pascha hat Plewna bis zum letzten Atemzuge wie ein Löwe verteidigt. Aber davon steht wieder nichts, wie viele Väter nicht mehr heimgekehrt sind zu ihren Frauen, wie viele Waisen darben,wie mancher Friedhof sich noch langehin mit Verhungerten und Verseuchten füllte und wieviel Groll diese grün vom Menschheitsbaum geschnittenen Brüder für den großen Gerichtstag in die Ewigkeit mitgenommen haben, während, ja horchet nur, während derselbe Osman Pascha in schönen Zimmern und auf weichen Teppichen seine kurze Gefangenschaft hinbringt, die Pfeife rauchend und mit hübschen Damen liebkosend. Was kuümmern ihn die verdorrten Knochen seiner Zehntausende? Der Sultan hat ihm ja einen Ehrendegen geschickt, der Zar hat ihn gerühmt und sein Name wird goldig in die Bücher gemalt und das Schweigen zahlloser Gräber überbrüllen ...“

Wild blickte Paul um sich, wer ihm etwas Triftiges entgegnen könne. Friedel tat alle Zeichen des Unwillens,aber wagte ins majestätische Gepolter dieser Rede doch kein Widerwort.

„Du, Friedel, wärest wohl auch so ein Cäsar! Hast Saft und Mark dazu. Aber daß sogar unser Alois,so ein kranker Tropf ...“

„Vater,“ protestierte Alois, indem er hitzig ein Tor übergiebelte, „in der ganzen Bibel ist doch auch immer Krieg. Gestern lasen wir beim Mätteliseppi: Saul hat Tausend erschlagen, aber David hat Zehntausend erschlagen...“„Und das alte Seppi hat den Schnauz gestrichen,“gab Friedel hinzu, „und mit dem Zahn gewackelt und die Pedale gestampft wie ein Ochs und gebrüllt: Zehntausend, hört ihr, zehntausend!“

Alois nickte und rief: „Ja, der Herrgott will den Krieg, wie er ein Gewitter will. Zur Luftreinigung,sagte das Seppi. Schon im Himmel sei doch Krieg gewesen zwischen den Erzengeln, dem Michael und dem Luzifer. Damit fange alle Geschichte an. Und schon die ersten Buben auf Erden, der Abel und der Kain,haben Krieg gehabt. Dann kämen die Richter, der Samson, der Saul und David und andere mehr und zum großartigen Klapf am Schluß noch die Makkabäer ...“

„Wir kennen die Bibel, hä?“ frohlockte der Herri.

„Schweig du! Und du auch! Ihr Bibelstümper!Ihr wisset es also besser als die Engel zu Weihnachten und als der Heiland die vierzig Tage nach dem Grab, wo es doch immer hieß Pax ... et in terra pax... Pax vobis! Sagte der Heiland etwa: Bellum vobis, der Krieg sei mit euch? Ja dann! Aber er sagte immer:Pax! Der Friede sei mit euch! AUnd durchs ganze Evangelium läutet es immer Pax. Im Alten Bund,jawohl, da klirren die Speere und Schilde. Aber der ist überwunden durch den Neuen Bund, wie Barbarei durch Erleuchtung. Und ihr könnt in der Geschichte der Kirche und des Staates herumstöbern, wo ihr wollt,immer findet ihr das Wunder, ach, was Wunder, nein die schöne göttliche Selbstverständlichkeit: so oft man das Evangelium gut las, war Friede, und so oft man es schlecht las, war Krieg.“„Nein, Pauli, da gehe ich nicht mit,“ widersprach Verena kopfschüttelnd. Sie hatte es zu stark im Gedächtnis, wie ihr Leben längst nichts als Krieg war: mit dem Gemahl, mit Alois, mit der Arbeit und mit der Armut, mit dem Hunger rechts und mit dem Reichtum und Hochmut links, ein Krieg vom Morgenstern bis zum Abendstern mit dem magern Geldsäckel und dann eine ganze Kette von Scharmützeln die Nacht hindurch.Nicht anders als wie ein Bajonnett führte sie die Nadel und wie ein Maschinengewehr die Nähmaschine.Focht sie damit doch auch um Leben und Sterben!Aber auch das wollte sie nicht vergessen, wie das Brot schmeckte und die Münze am Sonnabend glänzte und das verzinste Stüblein wärmte nach solchem Kriegen und Siegen! Nein, ohne Krieg wäre kein Leben, wenigstens kein schönes Leben. Man fühlte so wenig, wie gut der Friede ist, wenn kein Krieg vorherginge, wie man vom Licht nichts weiß ohne das Dunkel vorher.

„Es steht doch auch bei Paulus: Ohne Kampf kein Sieg und ohne Sieg keine Krone, im gleichen Neuen Testament!“ trotzte sie.

„Da ist ein anderer Krieg gemeint, der mit uns selbst, der geistige, aber nicht, daß zwei mit Klauen und Zähnen aufeinander stürzen und sich wie Hunde zerreißen. Nicht diese Mörser und Bomben sind gemeint. Ins Gerümpel damit! Es bleibt uns noch zu säbeln und zu schießen und zu treffen mehr als genug in der Welt da drinnen!“ Voll Überzeugung schlug Paul seine schöne, weiche, weiße Hand flach auf die Brust. Und in diesem Moment glaubte er innigst,daß er nichts anderes getan als immer nur solche Kämpfe des zwiefachen Ichs durchgerungen habe, und ihm, dem phlegmatischen, selbstsüchtigen, immer nur einem Windstoß seines Flackergenies folgenden Manne wurden die schwarzen Falkenäuglein vor Rührung feucht.Er spürte das lauterste Mitleid und einen schönen Respekt über sich selbst. Zärtlich flockte er den weichen,glänzenden Bart zwischen den Fingern.

„Aber die Türken, Vater,“ wehrte sich nun auch Alois, „die uns Christenhunde schimpfen? Diese Einbrecherbande aus Asien, sagt das Mätteliseppi, die auf nichts als Gestohlenem hockt? Diese ...“

„Wer sitzt denn in Europa nicht auf Gestohlenem?“unterbrach der Spichtiger rasch und seine Äuglein fuhren gleichsam um den Erdball. „Etwa wir Schweizer? Hier auf diesem Platz hauste einmal der liebe Urmensch und dann kam der Kelte und verjagte ihn und diesen verjagte und plünderte aus der stramme Helvetier. Und wieder einige Jährchen, da fielen die Römer ein und nahmen dem Helvetier den Raub ab. Hernach machten es die Franken und Alemannen genau so, und so sitzen wir jetzt auf einer Hufe Land, die gewiß zehnmal von einer Diebshand in die andere ging. Und da werfet ihr Steine auf die Slhhne Mohammeds! Warum sollen die allein nicht stehlen dürfen? Ist das ein Vorrecht der Christen? Hört mir auf! Man gerät in einen Wald von Unsinn, wenn man einen einzigen Krieg gelten läßt ...

Friedel streckte ab und zu seine Zunge, um dem Alois zu zeigen, wie wichtig er diese gesamte Friedenspredigt nehme. „St! st!“ machte Verena unwillig und spähte, ob Pauli die Grimasse bemerkt habe. Doch der fuhr mit prächtigem Wohlklang fort:„Ich bin dafür, daß jeder Mensch eine liebe Heimat haben soll, aber keine Nation, oder ...“ lenkte er hastig ein, „daß wir lernen zuerst wieder Menschen, Mit menschen und dann erst Russen oder Türken, Deutsche oder Franzosen sein. Wir haben doch alle Fleisch und Bein vom gleichen Lehm. Ja,“ steigerte er die Stimme und sah begeistert hoch zu den Fenstern hinaus, „wir sind alle Brötchen vom selben Teig und geknetet vom selben Bäcker und vor den gleichen Ofen zum Backen geschoben. Da kamen nun schnell die Handlanger und Gesellen, die stets witziger sein wollen als der Meister,und haben noch Zucker und Zimmet und Pfeffer und anderes Gewürze darüber gestreut. Als nun das Gebäck vom Rost kam, da war der Geruch und die Rinde und auch die Kost der Brötchen etwas verschieden.Dennoch war alles vom gleichen Mehl und Wasser und Feuer gekocht. Warum vergessen wir das? Warum vergessen wir den Meister und halten uns allein an die pfuschenden Gesellen? So antwortet mir dochl ...Das versteht ihr wohl nicht, wie? Aber es ist so,“schloß Paul und klatschte die Hand aufs Knie.

Verena nähte wieder. Das Bild von den Brötchen dünkte sie verworren. Da war es am besten zu schweigen.„Gar nicht gleich sind wir,“ lehnte sich Friedel mit trotzigen Lippen auf, und es schien dem Alois, als ob bei diesen Wort das ganze alte Herrigeschlecht mit seinen gelehrten Pfarrherren, seinen Landammännern in Kette und Krause, seinen Richtern mit dem Degen,den alten Zeugherren und Feldhauptleuten, ja die gesamte Herriherrlichkeit von angestammten Wäidern und Alpweiden und Seefluren, Höfen und Häusern und eigenem Kirchenstuhl am vornehmsten Platze, als ob das alles mit der Härte eines unerbittlichen göttlichen Vorrechtes aus dem Knaben blühe. Und im gleichen Augenblick hätte Alois vor ihm niederknieen und ebensowohl ihn unters Knie nehmen und treten mögen. Eine Zwiespältigkeit von Verehrung, die wie süße Sünde,und von Gegenwehr, die wie herbe Tugend erschien,machte ihm das unberatene Herz schwer. And ebenso war es mit dem Krieg. Mit der gleichen Wildheit könnte er sich für einen Cäsar ins Schlachtenfeuer werfen und den gleichen Cäsar mit Brutus erdolchen. Er fühlte Revolution und fühlte Sklaverei um seine arme Seele ringen. Es preßte ihm den Schweiß aus. Er seufzte und lief mit roten Augen zur Türe hinaus, um sich irgendwo in einem Küchenwinkel zu härmen. Statt dem lief er geradeswegs dem schönen Elfenbeinmädchen ins Gesicht.

„Orla will das Bild vom Friedel anschauen,“ sagte Hanna mit ihrem steten weiß Gott warum so spaßigen und kichernden Stimmlein. „Können wir jetzt?“ Und sie lüftete rasch einen Türspalt, daß man die Schamröte des Buben und das lustige, aber kühle Lomsertbch-terlein wie Mittag und Morgen nebeneinander sah.

Von innen rollte des Vaters Stimme in schönem,aber ungefährlichem Donner fort: „Wenn Gassenbengel streiten, greifen sie zum Knüttel oder Messer. Aber sie büßen ihre Ungezogenheit im Zuchthaus. Je erzogener man ist, um so eher schlichtet man den Zwist mit guter Vernunft und läßt das Metzgermesser dem Schlächterburschen. Wir erschaudern vor den Menschenfressern,die noch nicht so hell geworden sind. Aber sind denn unsere Regierungen nicht noch ärgere Kannibalen?Fressen sie nicht Menschenfleisch, ja, Fleisch und Bein und Seele und Würde und Geld und das Andenken ganzer Geschlechter auf? Die Regierungen sage ich,wohlgemerkt, nicht die Volker. O die Völker sind alle gut wie große Kinder und fühlen brüderlich. Sind nicht die Neger und Indianer vor den ersten Weißen zuerst auf die Knie und dann um den Hals gefallen?Aber die Regierungen ... nein, auch die nicht, auch die nicht! Aber ein paar Stölzlinge und ein paar Geldsäckel und ein paar Tintenhäfen, die verzwisten und vergiften die alten braven Adamskinder so systematisch und so durchtrieben, bis diese Unschuldigen, die sich von Geschwisters wegen nur küssen möchten, kratzen und beißen wie wölfische Unvernunft!“

„Hör' nicht auf das!“ bat Alois schüchtern, beinahe mit Sündermine zu Orla. „Mein Vater hat besondere Ideen, ganz anders als wir ... er ... weißt halt, er ist eben ein Künstler. Man sagt, die seien alle so.“

Orla lächelte nur verständnislos und hopste ohne weiteres ins Zimmer. Auch der Vater Spichtiger lächelte den Kindern zu. Er hatte sich entladen und war zufrieden. „Frau,“ sagte er plötzlich mit schwacher Stimme, „ich habe mich heiser gepredigt. Schenk mir einen Tropfen Wein! Uns allen! Laßt wenigstens in dieser verlorenen Bude den Friedensbecher kreisen!“

Verena bückte sich tiefer und nähte noch flinker, als hätte sie den Zuruf überhört.

„O wie schön,“ lobte Orla und schlug die Schneewittchenhände zusammen. „O wie schön bist du, Friedel!“ And mit aufrichtiger Bewunderung trippelte sie nahe ans Bild, stöckelte wieder zurück, wiegte den schwarzen Kopf nach rechts und links und schweifte mit vergleichenden Augen immer vom Bild zum Buben hin und wieder. „Wo hängst du das Porträt einmal auf,Friedel? Das sollte in der Stadt hangen. So hübsche Buben gibt es dort gar nicht!“

O ich habe doch einen allerschönsten gesehen, o welch einen! Wie der Prinz im Märchen ... Aber zu fürchten ... unheimlich ... alle diese Schönen und Vornehmen sind unheimlich ... am Turm oben, beim Fluß ... träumte Alois halblaut ... Auch stolze und flinke Jungens am Brunnen ... And Alois griff an die Stirne und tastete, nachdem er längst alles Unholde der Stadt vergessen hatte, mit sehnsüchtigen Fingern nach ihren zauberischen Erinnerungen zurück.

„Das träumst du, Alois. Das ist nicht wahr!“eiferte das Lomserlein. Aber sag' jetzt, Friedel, wo hängst du dein Bild auf? Ich möcht' es haben,gerade ob meinem Bett.“ Und das überlebendige Dirnchen zerrte den Knaben zudringlich an beiden Armeln. Aber der Herri riß sich barsch los und verzog seinen hochmütigen Mund zu einem ellenlangen, spöttischen Lächeln. Bis an die Ohren hinaus zuckte es.

„Wo ich das aufhenke? In der Kirche natürlich,neben den heiligen Theodul ... Sankt Friedel Herri!“Er streckte sich starr wie jene ehrwürdige Marmorfigur in der Chornische.

„Pst!“ schwirrte es vom Fenster her durch die Kammer. „Das ist Sünde.“ X

„Ach, Frau Spichtiger, ich sag' es ja nur zum Spaßen. Wisset, es wäre so lustig, die Orla kniete dann nieder vor mir und würfe mir Rosen vor die Füße ...“„Das tät' ich auch,“ gelobte die Kleine und ward gar nicht beirrt durch Friedels Spötterei.

„O du dumme Gans,“ höhnte der Bub. „Ich würde auf deine einfältigen Blumen spucken und ...“

„Aber die Peitsche sollst du dann nicht haben,“ meinte Hannchen ernstlich und zupfte den Friedel zutraulich am grünen Wams. „In der Kirche, denk! man bekäme ja Angst! Wenn du auf einmal schreist Hüp' und klepfft )).“

„O du Schnäbelchen,“ lachte Friedel und fuhr mit Hannas Fingerchen kosend über seine Lippen und steckte sie drohend zwischen seine kleinen Kieselzähne. Aber die Kleine sah ohne Angst zu und ihre Augen funkelten vor Spaß. Sie war es gewohnt, daß alle Menschen sie lieb hatten und die gefürchtetsten Buben mit ihr scherzten.

„Ich beiße dir das Fingerbeerchen ab, alle fünfe!Sieh nur! Hast nicht Angst?“

Hanna schüttelte den Kopf. „Aber in die Kirche darfst du nicht mit der Geißel, hör'! Alle bekämen Angst!“„Das sollen sie auch,“ fuhr der Herri auf und ließ das Hexlein los. „Und man soll wissen, daß ich schlagen kann, daß ich einmal in den Krieg reite und die Feinde niederknalle. .. bum ... bum ... hat ihn!...Aber, Spichtiger, Donner und Blitz, was macht Ihr da?“

A Paul hatte das Gespräch schon vergessen und war in die Einsamkeit seiner Seele und in ihre große, sonderbare Musik zurückgesunken, wie dies immer nach einer Arbeit oder einer größern Rede geschah. Er kleckste zuerst halb unbewußt einige Pinselstriche an den Rand der Leinwand, dann wurden es Linien, Punkte,Notenzeichen. Leise summte er etwas dazu.

„Ihr verderbt ja meine Hosen auf dem Bild, Spichtiger,“ zürnte der Herri. „Wischt das aus! Das gehört nicht zu mir!“

Durch Pauls kleine Buschaugen flirrte es wie Wetterleuchten. Ein wilder, irrer Glanz schoß übers Gesicht und erlosch so rasch, als er kam. Und nun sah sein Antlitz ganz grau und abgestorben aus. Er deckte mit beiden schwächlich zitternden Händen das Gekleckse. „Weg,“ bat er ängstlich, „weg! Das ist mehr wert als hundert Herriköpfe... Warum stehlt ihr mir meine Musik ... meine Musik!“ Er hob den Finger lauschend an's Ohr, horchte, hörte nichts mehr und ließ das Gesicht mutlos in den Bart fallen.

Die Kinder lächelten einander rätselhaft an. Verena aber erhob sich hüstelnd und die fleckige Stirn reibend.Sie nahm eine halbvolle Flasche Burgunder und zwei Gläser aus dem Schrank und schenkte Pauli mit innerem Widerstreben und dennoch auffordernder Miene ein. In diesem Zustande, das wußte sie, war ein Schluck Alkohol für den Augenblick Segen, später freilich Gift.

„Gib auch den andern,“ gebot Pauli, wie eine erneute Lampe aufleuchtend, und leerte das zweite Glas.„Ja, trinket, der Wein ist gut und tut wohl. Und wenn ihr wollt, Kinder, so könnt ihr am Samstag nachmittag alle mit mir in die Probe des „Alexius kommen. Wie? Paßt euch das?“

Ins Theater! Wo die feinen Studenten spielen!Tausendmal gern. Um wieviel Uhr? Um die atwei,vor dem Dorf! Abgemacht!

„Wozu brauchen die Kinder Wein?“ widerstand Frau Verena und füllte dann doch ein halbes Glas und reichte es dem Friedel. Der nahm einen heftigen Schluck und bot den Wein weiter: „Wer kommt dran?“

Orla und Alois griffen sogleich danach. Aber Friedel ließ das Glas dem Mädchen. Es trank ein wenig, doch erspähte Alois voll Genugtuung, daß es nicht die Stelle traf, wo Friedel angesetzt hatte. Hitzig entriß er ihm jetzt den Becher und schlürfte vorsichtig und mit innigem Genuß ein Schlücklein genau am Fleck,wo sein angebeteter Freund vorher trank. Er küßte sozusagen weniger den Wein, der Friedels Lippen benetzt hatte, als vielmehr in einem Geiste scheuer, keuscher Verehrung diese Lippen selbst. Dann setzte er ab und erblickte Orla mit ihrem keck geschürzten und vom Saft nun violett gefärbten Mund. Sie lächelte ihm scharmant zu und nickte: Gesundheit! Und im gleichen Augenblick kam es blendend wie ein Blitz über ihn, daß das etwas noch viel Herrlicheres sei als der geliebteste Kamerad. Wie eine leuchtende Unbekanntheit stand das vor ihm und ward sogleich so bekannt und so klar, als hätte er es längst in einem Traum erfahren, ja immer schon gewußt. „Ja, so,“ dachte er, „der dort ist mein Herr, aber die da ist mein Engel.“ And er trank zum zweitenmal und an der Stelle, wo Orla gesogen hatte. And dieser zweite Wein war noch viel süßer als der erste.

Von diesen zauberischen Tropfen oder von den zauberischen Gefühlen halb benebelt, setzte er sich auf den Boden, ward schnell sicher und immer zufriedener und baute unter leisem Singen die letzten Zinnen der Stadt auf. Friedel aber tastete plötzlich seltsam in die Haare hinauf und sprang mit einem unverständlichen Schrei über das Elend und den Tod seiner Armee hinweg zur Türe. Hinter ihm rannten auch Orla und Hanna in den Schnee hinaus. Der Herri war weiß wie eine Kerze gewesen.

„Die Schärpe, die Kappe!“ rief Frau Verena nach.„Paß doch auf!“

Aber Friedel blies draußen dreimal einen dicken blauen Dampf aus Mund und Nase und fühlte sich sogleich wieder wohl. „Verdammte Stubenluft!“ fluchte er. „AUnd wie die Farben stinken Kommt daher, ich erzähl euch was ... näher zum Baum, ganz herzu!Schaut, da oben wächst noch eine Zwetschge im Winter..hurrr ...“ Der Bösewicht schüttelte den zwei Närrchen eine ganze Wolke von Schnee ins naseweise Gesicht.

„Hast du nicht gesehen, daß er krank ist?“ fragte Verena in der Stube. „Einmal rot und hitzig und sogleich wieder wie Kalk. Du darfst ihn nicht mehr so lange stehen lassen.“

„Das ist nichts Besonderes,“ machte Alois. In der Schule passiert ihm das auch vielmal. Nachher lacht er nur.“

„Er wird es von der Mutter haben,“ bemerkte Paul. „Ich mal' ihn gern. Aber er ist verteufelt

Federer, Das Mätteliseppi. 23 schwierig. Weißt du, wie er mir vorkommt? Wie ein Engel der Zerstörung, so ein hübscher, kleiner Satan...Nur schlagen, niederreißen und dann liegen lassen ...und davonlaufen ...“

„Das ist der Fehler, alles liegen lassen,“ tadelte Verena mit besonderem Tone. Sie dachte an die langen Jahre ihres Lebens mit Paul und die alte Angst,es komme wieder, dieses Liegenlassen, dieses Davonlaufen,quälte sie heftig. Davor schirmt nicht Riegel, noch Schlüssel. Die bangen Zeichen mehren sich. Sie hat eine wunderbare, schreckhafte Feinfühligkeit in diesen Dingen. Jedesmal wenn Paul den Meißel abstellt,wenn er von der Staffelei springt, wenn er zur Türe hinausrennt, fragt sie sich: Geht er? Läßt er uns wieder liegen, uns und all das mühsam Angefangene, Zusammengelesene, Geflickte? ...

Da fiel ihr Blick auf Alois, wie er mit übergeschlagenen Beinen gleich einem Schneider neben seiner Stadt saß und fröhlich den letzten Helm auf den letzten Glockenstuhl setzte. „Aber mein Sohn baut auf,“ tröstete sie sich in aller Heimlichkeit. „Gib, Gott, daß er immer aufbaut und wenn es noch so oft fällt, immer wieder aufbaut.“„Fertig,“ frohlockte der Bub, „jetzt kann der Krieg losgehen.“„Falsch, ganz falsch,“ korrigierte Paul und leerte ein bißchen scheu und unsicher unter Verenas Auge das dritte Glas. „Was bist du für ein Zwitter! Soldätli und nichts als Soldätli und die Schlacht bei Lützen und Hamibal ... und gleich darauf glöckelst du und singst die Messe. Geht das zusammen, Altar und Schwert, der Kelch des Friedens und Pulver und Blei?Wir sind gottlob! nicht mehr im Mittelalter, das die Stola über den blutigen Panzer warf. Du solltest nicht von Innozenz UI., sondern von seinem heiligen Widerpart Franz von Assisi lesen.“

Alois senkte verdüstert den Kopf. „Aber,“ murmelte er ungeduldig, „da ist doch alles fertig, Soldaten, Kanonen und Wälle zu einer genialen Schlacht.“

„Wo hast du das verfluchte ‚genial‘ her?“ schimpfte Paul und suchte irgendeine Unruhe seines Gewissens dabei zu beschweigen: „Das ist das blödeste und erlogenste Wort der Welt. Wie oft hat es mich selber in Schwindel getrieben. Mach's du mir nur nicht nach!Fertig! hast du gebrüllt. Gut, dann aber singe weiter:Alles in Ordnung, Tore und Fenster offen, die Häuser bekränzt, die Glocken im Schwung, die Tische gedeckt,die Arme gebreitet, der Friede, Gottes Bruder der Friede kann einziehen.“

Hierauf trank er den Rest aus der Flasche, tupfte weitere Noten aufs Bild, summte leise und bat die andern furchtsam: „Geht hinaus! Laßt mich allein! Was verfolgt ihr mich den ganzen Tag?“

23*2**

12 lois ging mit Orla durch den schönen grauen A Winter voraus. Weit hinten folgte der Vater mit Hanna und Lina.

„Ich bin schon einmal mit dem Vater im Theater gewesen,“ tat der Bub wichtig. „Im Frauenkloster!Ich weiß nicht, waren es Nonnen oder Töochter, aber alle hatten hohe, silberige Stimmen wie die kleinsten Pfeifen an unserer Orgel.“

„Warum kommt doch der Friedel Herri nicht?“kümmerte sich Orla.

Etwas dumpfer fuhr Alois fort: „Es war ein Stück von der heiligen Klara oder von einer andern berühmten Nonne. Sie kam hinter den Tapeten hervor so jung wie du und schüttelte langes gelbes Haar.Links vom Altar standen die Priester und hielten eine Haube und einen Schleier bereit und jemand sperrte eine große Schere auf. Aber rechts sprang die ganze Verwandtschaft hinzu, junge Leute dabei mit schönem Gewand und mit Bechern und mit Tellern voll Gold und wollten das Mädchen wegzerren. Und ich dachte: Ach wie finster ist es dort und wie hell hier! Spring doch, Klärli, spring doch weg von der grauen Schere ins Licht ...“

„Was ins Licht?“

„Zu dem lustigen Volk ... ach, Orla, verstehst du das denn nicht? Soll ich aufhören?“

„Nein, erzähle nur, es ist schön,“ hastete Orla und griff nach Aloisens Arm. Aber dabei blickte sie neugierig in die Straße zurück, wo die dunkeln Hecken und Bäume aus der weißen Natur schläfrig hervorblickten,die fernen Dorfdächer schon ganz in der gemeinsamen Winterfarbe untergingen und mächtige, schwere Winterwolken vor Phlegma nicht wußten, ob sie einschlummern oder noch ein paar Schritte weiterkriechen wollten. Sie deckten die Berge halb zu und schufen so aus der Landschaft eine dämmerige, heimelige, träumerische Stube, in deren Totenstille sie wie eine tiefe, wohlige Diele herunterhingen.

„Wo der Herri nur bleiben mag?“ schimpfte Orla leise.

„Aber,“ erzählte Alois weiter, „das junge frische Nönnlein machte mit der Hand zweimal gegen die weltlichen Gäste sehr, sehr ernste Zeichen, so ... schau, so:Laßt mich! Ihr versteht mich doch nicht!... Und niemand wagte sie anzugreifen. So spazierte sie geradeswegs in die Schere. O es war grausam anzuschauen!Ich fing an zu weinen.“

Alois drückte Orlas Hand. Er fühlte etwas Sonderbares. Das schöne Elfenbeinmädchen da brannte ihm sozusagen ins Herz, aber nicht wie eine frohe Sonne,sondern zuckend und zappelig wie das unheimlichste Wetterleuchten. Es entzückte ihn. Aber er hatte nur Unruhe davon. So oft er die schier schwefelgelben Augen des Kindes und seinen keck aufgesprungenen Mund sah, ward ihm übel zumute. Und mit einem kindlichen Instinkt fing seine Seele jetzt wieder wie schon gestern und vorgestern ängstlich gleich einem Armensün-derglöcklein zu klingen an: Das ist nichts für dich! Weg davon! Plag' dich nicht! Und dennoch war er zu schwach, zu eigensinnig, zu selbstsüchtig, auch nur um Fingersbreite von dem Herlein abzurücken. So oft Orla Friedel nannte, verschattete sich sein Gesicht.35.

28 „Zu weinen sagst du, so hör' doch!“ fragte Orla und ward wirklich neugierig.

„Zu weinen, daß der Vater mich immer stupfen mußte. Aber die Schere machte Tschirr und Tschärr und das Haar fiel zu Boden wie gestorbenes Gold und der Kopf sah jetzt grausig aus, so kahl wie ein Mauseschwanz, und die Verwandtschaft weinte oder machte ein wildes Gesicht. Aber das Nönnlein lächelte. Und da deckte man einen schwarzen Mantel über sie und schnürte ihr Stirne und Hals und Ohren fest zu und schlug ihr ein Häubchen und einen Schleier über den geschorenen Kopf, so daß fast nur noch die Nasenspitze und die Augen hervorguckten. So, jetzt mauert man sie ein, dachte ich. Und immer weniger sah ich vom Gesicht, bis nur noch die Augensterne übrigblieben und zuletzt sogar die verschwanden. Aber es blieb doch noch immer etwas, weißt du was: das lustige, heilige Lächeln,das ich gar nicht verstanden habe ... das mir weh getan hat wie ein glitzeriges Messerchen. Da mußte ich halt so laut heulen, daß der Vater mich schnell hinausspedierte. Das Haar, schrie ich immer, das schöne, gelbe Haarl“

„Und mein Haar, gefällt es dir?“ fragte Orla.Sie zog rasch eine Nadel aus der schön gewundenen Haarschnecke, so daß sich sogleich ein Schwänzchen losringelte und in immer größern Kreiseln auf die Schulter herunterschlängelte. „Greife einmal, wie das glatt ist!“forderte sie.

Fast feierlich ließ Alois die Flechte durch die hohle Hand fließen. Er dachte, es müsse fein weggleiten wie über ein warmes graues Kätzlein. Aber dieses Mädchenhaar griff sich rauh und grob an und war kalt wie Wasser. Alois erschrak, als hätte er eine Schlange befühlt. Dennoch hätte er diese Haarschlinge um kein Schwert und Zepter der Welt losgelassen.

„Was hast du? Gefällt es dir nicht ?“

„O ja,“ gestand der Knabe und streichelte am Zopf,als müßte er davon weicher werden.

„Es ist präzis das Haar vom Johannes von Aar,“klatschte die Kleine lustig, „wir haben jedes einen Streifen abgeschnitten und zusammengetan ... magst du den Johannes?“

„Ich? ich weiß nicht,“ stotterte Alois. Wahrhaftig,jetzt wußte er nicht, wer ihm sonst noch lieb war neben diesem Zauberröcklein.

„Ich hab' euch alle drei gern, dich und den Friedel und den Johannes. Aber wen ich dann heirate ...“„Den Friedel darfst du nicht heiraten,“ fuhr Alois plötzlich gewaltig auf und seine grauen Augen loderten.„And den von Aar auch nicht. Das befehl' ich.“ Etwas Ungeheuerliches roch aus ihm, wie es aus dem wilden Roß oder einem gereizten Leu dünstet und duftet.

Orla fuhr unwillkürlich zusammen. Sie schwankte zwischen Spott und Bewunderung. „Warum darf ich nicht?“ fragte sie.

„Der Friedel ist bo6se. Der schlägt dich. Dem müßtest du dienen wie eine Magd, ja!“

„Aber der von Aarl!“

„Nein, keinen von beiden! Das darfst du nicht!,schrie Alois unsinnig.

Orla lächelte spitzbübisch. Diese Aufregung des aufglühenden Knaben gefiel ihr. „Soll ich denn dich heiraten?“ lockte sie.

„O Gott,“ schrie Alois furchtbar ernst und schlug sich vor die Stirne. „Ich werde ja geistlich! Und du ... du mußt dir dieses Haar abschneiden lassen und ins Frauenkloster treten. Das will ich!“ Wild schüttelte er sie. Sein Haar stand hoch auf, seine bleichen Wangen dunkelten und die Lippen verzerrten sich.

Orla verging der Spaß. So ein Alois gefiel ihr heillos. Plötzlich war er etwas Mächtiges und Gebieterisches, was ihr imponierte. Die ungeschickten, dörflich plumpen Hosen, das bäuerliche Gehaben, der Geruch der Armut und der Schätten eines zweifelhaften Vaters zerfloß wie Schaum und ein Alois war das,der keinem andern Knaben glich, ein Sonderbarer, Demütiger, Stolzer, Grober, Feiner, Dienstbarer, Herrischer,ach, einfach ein Sonderbarer.

Das Mädchen wurde schüchtern und band das Haar wortlos hinterm Ohr wieder zusammen. Sein weißes Gesicht ward so licht und unschuldig wie der Schnee ringsum. Aber die beiden gelben Augen rollten so herrlich unter dem schattigen Haar in diese Blässe hinaus, wie ab und zu aus dem düstern Himmel eine Sonnenspalte aufging und einen oder zwei Funken über die weißen Fluren kugeln ließ. Sie wärmten nicht, sie sangen nicht und machten nicht froh und waren doch schöne, seltene, goldige Lichter.

Alois hatte schon mehrmals unterwegs in die Tasche gegriffen. Jetzt, überwältigt von der Zauberei dieses Fants, packte er zum letztenmal zu und sagte: „Orla,willst du dieses Gedicht hören? Ich habe es für dich gemacht ...“

„Gib, gib!“ forderte Orla neugierig.

„Aber du darfst es niemand zeigen und niemand etwas davon sagen. Es ist ein Geheimnis von uns zweien ganz allein,“ bekannte Alois glücklich.

„Auf Ehr' und Seligkeit.“

Zögernd entfaltete Alois das Blatt und wurde immer schämiger dabei. „Und du darfst mich nicht auslachen. Paß auf, sobald du lachst, hör' ich auf.“

„Dummer, ich lache gewiß nicht.“

„Jemand!“ begann der Bub vorzulesen. „Jemand!das ist der Titel. Jetzt kommt die erste Strophe:

Ich sah an einem Abend

Ein Kind so ...Nein, ich kann es nicht lesen.“ Alois schüttelte sich vor Scham. „Da nimm ... schnell! Sonst reut es mich! ... Tu es nicht auf ... nicht jetzt!“

„Ja, ja, ja,“ schwor Orla. „Aber warum tust du so dumm? Schämst du dich denn, sag?“

Alois vermochte keine Antwort zu geben.

„Machst du viele Gedichte? Ist es nicht furchtbar schwer? ... Au, da schlittelt der Friedel herunter,bravo!“ Rasch steckte sie das wunderbare Papier in die Tasche. „Ich danke dir,“ sagte sie mit einer Stimme,deren Helligkeit nicht von diesem Papier herkam.

„Kein Wörtlein mehr!“ herrschte Alois sie böse an.

Vom Hügel herunter raste Friedel auf seinem gelben Holzschlitten gegen die hohe Straßenbbschung. Er trug eine grüne Mütze und ein weißes Wams und pfiff und schrie Huje, während vor und hinter ihm der Schnee stob. Jetzt bog er sich zurück, stemmte die Füße in die Kufe und flog wie ein Bolzen über den steilen Nanft hinaus und in die Straße hinunter.Schlitten und Mann blieben aufrecht. Orla und Alois hatten vor Aufregung laut aufgeschrien.

„Ich mußte wegen dem Heu nachsehen,“ sagte Friedel hochatmend und ganz von Schnee überreift und schüttelte und klirrte mit einem Säcklein am Gurt. „Der ganze Dolsterhubel,“ erklärte er Orla mit einer hochmütigen Gleichgültigkeit im Gesicht, „und die zwei Scheuern und der Wald dahinter gehören uns ...Aber wo versteck' ich den Schlitten? Da ... kein Mensch guckt in dieses Gesträuch. So! Jetzt aber laufen wir. Vorwärts! Wer ist zuerst beim Scharfrichterhaus?Eins ... zwei ... drei ...“

Das Kleeblatt rannte den Straßenrücken hinauf, wo zu oberst einsam zwischen Birnbäumen ein finsteres Holzhaus mit hohem Giebel stand. Hier hatten immer die Scharfrichter des Landes gehaust und ringsum war es nachts wegen dem Herumspuken von Gelopften und Gehängten ungeheuerlich. Von da lief die Straße in die Tiefe zum See hinunter und schwenkte über die Mündung eines Gebirgsflusses dem Hauptort Goldingen mitten in umzäunten, tiefverschneiten Wiesen zu.

Friedel lief wie ein Hirsch, Orla wie eine Katze,aber Alois verlor den Atem und mußte bald stillestehen.

Er sah die beiden oben im Schnee sich necken. Oft flohen sie sich, oft gerieten sie im spaßigen Streit eng und derb ineinander: der Freund, den er niemand gönnte,und das Schätzchen, das er erst recht allein haben wollte. Da setzte er sich geradeswegs in den Schnee und es ward ihm dunkel vor den Augen vor Eifersucht und vor Trauer. „Das ist alles nichts für mich,“keuchte er. „Ich will diesen dort nicht mehr nachlaufen.Jeh will wieder für mich leben. Mit ihnen kann ich es ja doch nie aufnehmen. O wie die lachen! ...“Er stopfte sich die Ohren mit dem Zeigefinger. Nichts wollte er mehr hören, nichts sehen, sondern am liebsten heimlaufen.

Denn da fiel ihm plötzlich mitten im Schnee sein ebenso sauberes und weißes Bett ein, in dem er oft die kranken Wochen zubrachte. Und auf einmal bekam er Heimweh danach. Dort war er so sicher. Nichts beunruhigte und reizte ihn. Da war er ganz allein in der Kammer und kämpfte großartig mit seinem Atem,mit seinen Träumen und seiner Zukunft. Es war dann eine süße Stille um ihn. Sogar die Fenster und was von draußen hereinsah, schwiegen wie Freunde, die durchaus nicht stören wollen. Und da las er Bücher und studierte über große Dinge und schuf Gedichte und schwebte aus diesem Dorf und Ländchen weg in eine ungeheure Welt, von der seine stolzen Kameraden nicht einmal ein Gras flüstern hörten. Und es kamen zu ihm die Großen aus jenen Erden und aus jenen gewaltigen Jahrtausenden. Er kannte sie längst, sah sie,grüßte sie und redete oder psalmierte mit ihnen. Und er fühlte herrlich, wie er vor ihnen wuchs, von einer Minute zur andern, die Zehen auf, durch den Grat zum Wirbel empor, ein kleiner Riese schon! Das zu schildern! Ach! Was war dagegen aller Bubenlärm und alles Mädchengesumme? Wohl, die dort hatten ihre hübsche, wilde, kleine Welt. Aber auch er hatte die seine. Und sie war tausendmal größer und besser.

Da weckte ihn der Vater. Alois erhob sich und lief mit der Gruppe Pauls weiter. Es waren die beiden Tonoli, der steinige Reinert, der schlanke von Aar und zwei Mädchen hinzugekommen. Alle wanderten mit feiertäglichem Glanz der Augen, im Sonntagskleid und mit einem festlich schlagenden Herzen durch den Schnee. Nur Louis Tonoli machte ein werktägliches Gesicht und fragte den Spichtiger, wie groß das Blech und der Blasebalg seien, womit man Wind und Donner beim heutigen Theater nachahme.

In dieser Gesellschaft ward dem Alois sogleich leichter. Doch vermied er, den zwei dunkeln und beweglichen Punkten tief unten in der Straße nachzusehen.

Vater Spichtiger erklärte das Stück, indem er ungeschickt durch den Schnee schaufelte und mit dem Hut in der Rechten lebhaft durch die Luft fuchtelte.

Der junge, schöne, reiche Alexius sei der Sohn des obersten Römers nach dem Kaiser gewesen. Man gab ihm eine wunderliebliche Braut. Er sollte heiraten und dann auf den feinsten römischen Sessel sitzen. Er würde ein Feldherr, ein Staatsmann und, da der Kaiser ein Schwächling ist, der Regierer der Welt.

Und er besaß wirklich ein heißes Blut für das Lieben und ein tapferes für das Kommandieren. Aber da gab es noch etwas anderes.

Joseph Tonoli schrie: „Was anderes? Wenn er nicht einmal das will! Man sollte ihn ohrfeigen.“

Still! Er lebte in Rom. Und vom Fenster sieht er die Ruinen der Cäsaren und fragt: Ist nur ein Haufen Schutt von Seipio und Marius und Augustus übrig? Was such' ich Tropf dann solchen Schutt?...Und damals klopften die Barbaren vom Norden an die Stadt. Siebenmal wird Rom zerrissen wie ein altes Tuch und siebenmal wieder geflickt. Und in solchen Lumpen stolziert und bettelt siebenmal ein anderer Habenichts herum. Und Alexius lacht: was will ich solchen Fetzen- und Lumpenreichtum? Nein, das ist alles Schutt:reich oder stark oder gelehrt und berühmt werden. Da bleibt mir nichts als Heiligwerden. Das ist es!Damals blühte die junge Kirche mächtig auf. Aber schon mischte sich die Weltlichkeit hinein und beschmutzte die Altäre. Und da sehnte sich Alexius nach jener Welt,wo Christus allein König ist. Das ist die Armut, die Niedrigkeit, das Lachen über alle Wichtigkeiten der Menschen. Das ist das Anbekanntsein und das Verachtetsein und das Getretensein wie Gras. And eine Leidenschaft danach packte den Alexius und am Abend vor der Hochzeit ward sie unüberwindlich, und er stand hin vor seine Braut und sagte: Ich liebe dich wie keine andere Seele, aber ich liebe über alle Liebe Christus und seine Herrlichkeit. Und da antwortete sie: mit einem Gott streit' ich nicht. Geh, Bruder, geh dieser großen Liebe nach ... And sie küßten sich zum ersten und zum letztenmal im Leben, zugleich zum Willkomm und zum Abschied ihrer Herzen. Dann entwich Alexius in der Nacht und diente dem Herrn in Armenien und noch ferner und tat Wunder und ward groß und heilig. Zu Hause aber hielt man ihn für tot und malte ein schwarzes Kreuz neben seinen Namen. Er suchte das Daheim zu vergessen. Doch manchmal abends in alle Müdigkeit seiner Taten lispelte eine kleine, ferne Stimme: Geh heim!

„Und kam er nicht mehr zurück?“ fragte Joseph hochatmend. „Und was machte seine Braut?“

Er wurde in der Fremde so berühmt, daß er Angst oor sich selbst bekam. Er wollte verachtet werden wie Christus und ward statt dem gefeiert und besungen und auf alle irdische Höhe gezogen. O Gott, seufzte er, ich bin ausgezogen, um die Verachtung zu finden. Aber ich habe die Prahlerei gefunden. And ich suchte doch in den Bergen, in der Wüste, in den Gossen der Heidenstädte. Willst du sie mir nicht schenken? O Gott, sei nicht geizig und zeig' mir, wo ich die Verachtung finde.

Und im selben Moment rief jene kleine, ferne Stimme wieder: Geh heim!

Da zog er mit Bart und Kutte und Muschelhut nach Rom zurück, um daheim die Verachtung zu finden.Hier, Kinder, fängt das Theater an.

„Das weiß ich alles,“ sagte Alois gelangweilt. „Und jetzt zieht er als Bettler in den Palast der Seinigen und haust unbekannt unter der Stiege wie ein Hund,und erst beim Sterben merkt seine Familie, daß er ein Heiliger und ihr nächstes, teuerstes Gebein ist. So,glaub' ich, sagen die alten Akten. Aber das paßt mir nicht. Was nützt all das? Gottlob, daß man nachher gleich von unserem Bruder Klaus etwas spielt.“

Der Vater ward entrüstet. „Den Bruder Klaus,der Welt entlaufen, einsam im Wald, verstehst du?Das heißt nicht viel. Aber den Alexius verstehen, den großen Unbekannten,“ hier erhob Paul die Stimme leidenschaftlich und dachte mit einer Art wilden Behagens an seine Jagd in zerrissenen Hosen und Schuhen durch die zünftige Welt, und wie er unter Tisch und Bank und oft beim Vieh übernachtete und manchmal auch wie ein Hund zur Türe hinaus in Nässe und Nacht geworfen wurde.. warum? ... weil man ihn nicht kannte und den Funken in ihm nicht sah und meinte, er sei ein bloßer Landstreicher, aha, die allezeit Blinden! ... „Aber den Alexius verstehen unter der Küchenstiege seines Elternhauses und unter der Gemeinheit des Gesindels, der Mohren u ...“

„Es kommen wirkliche Schwarze vor, Neger mit Ringen in der Nase, nicht?“ stieß Reinert hart hervor.

„Und unter Sklaven, auf Scherben und Lumpen,jahrelang, mit den Tieren gespeist und wie ein Bettler bald mit Mitleid, bald mit Bosheit behandelt; wie er nun täglich Vater und Mutter sieht und über den verlornen Sohn seufzen hört und selber dennoch unter ihren unwissenden, sehnenden Blicken ein stupider Bettler bleiben will; diese Selbstverleugnung und Selbstverach-tung bis zum Lehm hinunter, aus dem wir Würmer gekrochen sind, verstehen, ähnlich wie ein schönes Modell, das ich geformt habe und selbst wieder zerschlage und zur ursprünglichen Erde zerstoße und zerstampfe ...o das verstehen, ihr Kinder und du besonders, Hochmutsaff Alois, das fassen in seiner übermenschlichen Größe und sich davor schämen und bis zum Kot verneigen, den solche Heroen heiligen, das ist eben schwerer als mit dem frommen und friedlichen Bruder Klaus Erdbeeren im Ranft pflücken und mit süßer Gottseligkeit durchs Zellengitter zum Altar in der Kapelle schauen und psallieren.“„Man hört uns ja,“ warnte Alois, der sich nun einmal nicht erwärmen konnte.

„Das darf die ganze Welt hören,“ rief Paul noch lauter. Dann aber schrak er plötzlich zusammen und eine gewisse Ängstlichkeit verzögerte seine Schritte. Denn man näherte sich dem Gymnasium, einem hohen, largen Bau mitten in Gärten und Wiesen. Etwas Trautes und Gastliches, aber auch Ehrwürdiges und Weises äugte frisch aus den vielen schmalen Fenstern hervor.Allerlei bunt geübte Musik drang aus dem Innern,während vom Spielplatz her helles Knabengelächter und junge harsche Männerbässe erschollen. Alois war schon zweimal und immer wie im Traume dagewesen. Je näher er ans Portal trat, um so schöner dünkte ihn diese Welt. Denn das war eine ganz andere, als die im Dorf. Hier sah er kein Dunkel, keine Winkel, kein Geenge mehr. Breit war das Tal, offen der See,weit zurück stand das Gebirge und unermeßlich schien das Dach des Himmels. Ja, das ist die große Welt,wahrhaftiger als jene Stadt, eine Stadt der Städte,eine Zusammenkunft der Menschheit in gleichem Dürsten, Ringen, Lieben und Sichkrönen. Da spricht man die alten Sprachen, als spazierte man mit Cicero oder Plato Arm in Arm, da mißt man Sterne, liest Philosophen, rechnet das Schwierigste und Verzwickteste mit Ziffer, Buchstabe und Winkel aus. Da führt man die heiligsten Werke der Musik und Poesie auf, da wird psalmodiert und gebetet so feurig und mit urheimatlicher Inbrunst wie in alten Domen, in versteckten Katakomben oder in Benedikts einsamen Klöstern. Und da wird nicht bloß übers Leben hinaus, sondern auch mit kühnem Appetit ins Leben hineingeguckt, Pflanze und Stein und Tier studiert und im historischen Schutt gegraben und Staat und Bürgertum untersucht und Handel und Gewerbe geprüft und an Maschinen und chemischen Stoffen herumgehert und die wunderbare Gleichung der Natur aufgelöst mit allen neunundneunzig Unbekannten bis zu jener letzten, ewigen, hundertsten Unbekannten, die nur ein Gott enträtselt. Und da wird,seht doch nur, gesungen und gespielt, geplagt und geliebt,ehrgeizig gekämpft, gesprungen, erlistet und überlistet, ausgelacht und gescholten und gerühmt und die Faulheit und die Feigheit schier zu Tode geneckt. O ein Götterleben!

Gelassen sah man im Wirrwarr der vielsprachigen,jungen, feiernden Herrlein Mönche im trauten Habit des Erzvaters Benediktus hin und herwandeln und auf unsichtbare Weise Ordnung halten. Sie lärmten und turnten und hopsten nicht mit, schlugen nicht Ball und schoben nicht Kegel, und doch lebte das ganze vielAugen ein zweites Leben. Sie lachten den Jungen herzlich ins Gesicht, als wären sie ihresgleichen, aber blickten sogleich wieder über die hundert sorglosen Knabenköpfe mit der Sorge und Reife ihres Verstandes hinaus, indem sie heimlich wägten und maßen, wohin der Spaß dieses, die zornige Faust jenes und die verschmitzte Kühle eines dritten und hundertsten Studentleins wohl endlich führen werde. Und sie lächelten froh beim Plane,hier und dort nächstens ein wenig gegen das junge Ruder zu steuern und das Segel ein bißchen zu wenden. Aber die launischen Ruderer sollen glauben, sie täten das alles selbst.

Federer, Das Mätteliseppi.

24 Diese Mönche konnte man gar nicht beim Alter fassen, Jugend und Alter schmolz bei ihnen köstlich zusammen in Eins, das fast zeitlos anmutete. So wie ragten und wie es, je näher ihrem Schatten, desto friedlicher zuging, mochte man sie für Väter oder Mütter der vielköpfigen Familie halten, und man irrte nicht. Sie waren beides. Wirklich war in ihrem prriesterlichen Wesen die ungeteilte, elterliche Seele aufs wärmste beisammen.

An einem Fenster fast unter dem Dach stellte ein hagerer Professor mit tiefen, schwarzen Äuglein und einer unermeßlich hohen Stirne irgendein Meßinstrument aufs Gesimse und notierte etwas davon ab. An einem andern offenen Fenster sah man zwei Studenten mit dem Fiedelbogen hin und herstreichen, während ein junger kraushaariger Mönch in vollen roten Backen den strammen Takt dazu schlug. Ganz nahe aber auf der großen Portaltreppe stand der greise, doch rüstige Rektor mit kurzem weißem Haar, klugen grauen Augen, einer majestätischen Nase und einer wahrhaft schweizerischen Reckhaftigkeit in Gestalt und Gehaben und begrüßte eine Schar Gäste, unter denen die kecke Stimme des Kommissars Ignazius, die rasselnde des Pfarrers Antonius Molin, die im S so wunderlich überschlagende des Regierungsrats Herri und andere wichtige Pfeifen des Ländchens und seines politischen Orgelspiels vernommen wurden. Doch der mächtig auf- und niederschwellende Tenor des Rektors beherrschte das Konzert wahrhaft königlich. Sowie nun Paul nahetrat, grüßte ihn der gewaltige Monch freundlich und wechselte einige wohlwollende Worte mit ihm. Die Herren rechts und links und einige Damen blieben achtungsvoll stillestehen und in der Glorie einer so erlesenen und regierenden Gesellschaft stieg dem Alois ein seliger Schwindel in den Kopf. Er erschauerte, als irgendeine Stimme bestätigte:„Ja, Herr Rektor, das ist der Aloisli Spichtiger, der gar zu gern studieren möchte.“

„Pater Nikolaus, wollt Ihr dem Jungen schnell eine Kutte holen? Er kann gleich bei uns bleiben,“scherzte die hohe Stimme des Rektors.

Jemand stieß Alois in die Hüfte, irgendwer kicherte,ein Witz des Kommissari flog durch die stille Winterluft und von ein paar niedrigen Fenstern spotteten blühende Jünglingslippen überlegen auf den erschrockenen Buben nieder. Aber Alois erschrak nur, weil er aus einem Nebel von Gebilden den großen heiligen Erzvater Benedikt mit wallendem Bart und uralten Römeraugen auf ihn zukommen sah. Jetzt machte er ihm das Kreuzzeichen auf die Stirne und zog ihn gewaltig mit sich. Und es rauschten die Wälder der Sabinerberge und der Anio brauste aus der Schlucht und da, hoch am Fels, aus unzähligen Zellen leuchteten Lämplein und klangen Hymnen und wehten und windeten mächtige Buchblätter von einer Seite zur andern. Federn kritzelten, Pinsel malten und eine Orgel summte in der Mitternacht. Mit Inful und Stab schritt der Abt durch den Weihrauch, die Marmorbogen und die ernste, ewige Einsamkeit dieser Welt.Und hinter ihm sah man nichts mehr als etwas Graues,Totes fernfern: den Trödel und Markt der Welt.

„Wir werden ihn vollends bändigen, liebe Frau. Er spielt ja schon im Alexius mit. Sie sollen staunen, wie

24*demütig er vor der Leiche des Heiligen khniet und ihm die Kaiserkrone zu Füßen legt.“

„Aber, Pater Nupert ...“

Kein aber!“ schnitt der Antwortende stramm ab.„Wir haben doch schon Bären und Leuen gezähmt,“fügte er mildernd bei und lächelte ein bißchen sein scharfes Lächeln.Alois sah eine große, prächtige Frau in köstlichem Pelzmantel neben einem überaus kleinen, starren Mönch stehen. Der preßte den energischen Mund fest zusammen und seine Blicke bekundeten etwas Bewehrtes und Geharnischtes. Die Worte klangen scharf wie Sensenschnitte. Mit seinen breiten Füßen stand er säulen-fest da.„Er hat mich noch nicht einmal gegrüßt. Gar nicht sehen will er mich,“ klagte das riesengroße Weib. Aber in ihrer Trauer und völligen Haltlosigkeit erschien die Frau dem Alois als eine Zwergin und der Mönch war der wirkliche Riese.

Der Pater zuckte beinahe spöttisch die Achseln.„Sie sind zu gut, zu weich, wie die meisten Evatöchter!Und just das macht Konrad so ungebärdig und zum Tyrannen.“Die Frau horchte gehorsam zu, Tränen schimmerten reichlich unter dem schwarzen Schleier hervor. „Statt daß er mir entgegenkommt, schickt er den Ernst mit einem Briefchen zu mir.“ verriet sie mit schwerer, zögernder Scham. „Er plant einen Streich, mitten im Theater. Mir ist himmelangst ... Nein, stecken Sie das Papier nicht in die Tasche! Lesen Sie es, sogleich! Es eilt!“Ritsch, ratsch, dal Lächelnd zeigte der Pater die Fetzen. „Wer zuvor droht und Zettelchen verfaßt, ist nicht gefährlich.“

Alois verstand alles ein wenig und nichts ganz.Aber daß dieser kleine Mönch da soeben etwas Heldenmütiges getan hatte, war ihm zweifellos. Wie sicher er dreinschaute und Licht in den halberloschenen Augen der armen Dame entzündete!

„Ohne Väter ... das ist schwer,“ wandte die Frau leiser ein. „Sie kennen ihn noch nicht wie ich, Hochwürden. Er hat ein edles Herz ... aber auf seine besondere Weise ...“

Verehrteste, lassen wir erst das Stück abspielen.Dann lade ich ihn mit Ihnen und Freund Ernst auf mein Zimmer zu Tee und Kuchen und wir reden alle recht gemütlich und da pack' ich ihn unvermerkt an seinem Lieblingsfach und zeig' ihm, wie unsere größten Feldherren und Staatsmänner und Künstler zuerst in solchen Konvikten straff unter Zügel und Obhut ...“

Hier schob sich eine Gruppe Gäste zwischen den Horcher und das aufregende Gespräch. Alois suchte verwirrt und ängstlich den Vater. Er klammerte sich fester an Paulis Hand und folgte ihm durch Gänge und Treppen in einen kleinen Raum. Der Maestrol! brüllte man ihnen entgegen. Und der Maestrino! Hier, Herr Hofintendant, seht, meine Senatorenrunzeln sind nicht glaubhaft ... Nein, zuerst kommt mein Knebelbart daran! ... Sagen Sie, steht mir die Toga virilis gut? ... Da fehlt noch eine Glatze ... Die Schminke her! ... Salb' dich doch mit Sirup, du Schlecker!...So ging es durcheinander. Paul schmunzelte vor Zufriedenheit und pinselte hier und zupfte dort und verwandelte die urchigsten Kühbubengesichter der Schweiz mit einigen genialen Charakterstrichen ins lauterste, klassische Römertum. Indem zerrten einige wilde, schwarze Schurken den Alois in eine Ecke, wo der Mohrenhäupt-ling kohlschwarz dasaß und das Weiße im Auge furchtbar zeigte und mit den groben Zähnen gräßlich fletschte.Aber der Bub erschrak nicht, sendern guckte mit Bewunderung in das Gebiß und den Rachen des Unholds hinunter. Mit angeklebten Bärten und Schnäuzen liefen die meisten hin und her und spuckten etwa ein besonderes Kraftwort ihrer Rolle aus und versuchten trotz des unbequemen Haarwuchses von einem Becher verdünnten Weines, der im heißen Raume kreiste, einen guten Schluck zu erwischen.

Von der halbgeöffneten Hintertüre aus sah Alois dunkle, mit Tapeten behangene Balken und Bretter und zwischendurch die hellere Bühne und ein Hin und Hergehen und Plätze Ankreiden und Aufstellen hohler Kisten,die nach außen bemalt Mauern, Tore, ferne Türme,Bogen einer Brücke und ähnlichen Schwindel vorgaben.Mitten in der heillosen Lügnerei stand wahrhaft Alexius selbst, mit einem bleichen Gesicht, in langem Pilgerrock,und lehnte sich an seinen langen, mit Hut und Muschel gezierten Stab. Welch ehrwürdig schöner Aufzug!Aber wie gewöhnlich sah der Heilige aus. Das kluge,fröhliche Paterlein Nikolaus, das wie eine bedächtige Ameisenkönigin das Gekrabbel des Schauspielervolkes sonderte und schlichtete, hatte dem Alexius gerade eine Prise Schnupf geboten und jetzt mußte der Heilige dreimal niesen und Nase und Augen putzen. Dann half er weiter Petrollampen anzünden und gab mitunter einem kleinen faulen Römerbüblein einen Rippenstoß,daß es doch rascher mit den Zündhölzchen aufwarte.

Plötzlich stieß Alois einen leisen Schrei aus. Denn hart neben ihm aus dem Kulissenschatten glühten zwei wahrhafte Mohrenaugen heftiger und gefährlicher als eine föhndurchbrauste, wetterleuchtende Nacht. Grünlich erschien die Gesichtsfarbe des großen Burschen, kurzlockig das Haar, fein geschwungen die Falkennase, purpurn die beflaumte, üppig geschwellte Lippe. Das alles war nicht Schminke, sondern Natur. Alois mußte es schon irgendwo gesehen und gefürchtet haben. Der junge Mann trug eine kaiserliche Krone und einen knisternden, goldverbrämten Mantel. Nicht der Mohr dort, der da ist der Böse, fühlte Alois. Von dem kommt Unheil. Ah,da ... da ... da hab' ich's: Stadt, Fluß, runder Thurm, Altan, Windhund, Zigarette übers Volk geworfen ... der Prinz, der schöne Stadtprinz!

Er saß allein und sah niemand und machte ein hochmütiges, böses, gelangweiltes und doch rachsüchtiges Gesicht. Natürlich! Hier hat er keine Windhunde und Zigaretten und Mädchen. Natürlich!

Wie von einem Dämon angezogen schlich Alois immer näher zu diesem Menschen. And erst jetzt sah er hinter ihm einen andern, ruhigen, großen Studenten eindringlich auf den Kaiser einreden. Sie übten wohl ihre Rollen.

„Deine Mutter hat dich überall gesucht.“

„Bah!“

„Du sollst nach dem Spiel zu Pater Nupert kommen. Die Mutter wartet dort. Ich komm' mit.“Jener schüttelte abweisend den Kopf.

„Konrad, sie hat doch die Reise nur deinetwegen gemacht.“

Der schöne kaiserliche Schlingel verzog die Lippen mit gekünstelter Geringschätzigkeit.

„Mach' keine Dummheiten, sag' ich dir als guter Freund! ... Bin ich nicht auch Interner und andere auch, und wir sind alle noch lustig am Leben.“

„Ihr wißt eben nicht, was Freisein ist!“ brach der andere los. „Ihr seid noch in den Windeln, ihr alle.Darum gibt man euch solche Stücke! Kindermilch! Ihr werdet nachher brave Novizen, zieht Kutten an und trottet ins Kloster ... Aber ich will nicht in diesem Gefängnis sein. Ich will in die Stadt zurück. Hier bin ich krank, pfui Teufel! Ich will es euch schon zeigen.Ich mach' mich frei, und gerade heute paßt es mir am besten.“„Konrad, Lieber, du, nein, das tust du nicht! Die Schande ... denk!“

„Hineingelockt hat man mich und festgehalten, als ob ich ein Zuchthäusler wäre. Man bewacht mich auf Schritt und Tritt. Spione seid ihr alle ... ächch!...Und die Mutter hört auf jeden geistlichen Rock und klatscht ihm alles. Und da heißt es: Seele in Gefahr, Teufel mit Mistgabel! ... Aber das nützt einmal alles nichts. Gesagt ist gesagt! Heute mach' ich mich frei.“

„Du willst uns nur schrecken, tu's doch!“ versuchte der Freund zu trotzen.

„Wartet es ab ... Ich spiele den Kaiser. Jawohl! Aber nicht den römischen, ich spiele meinen Kaiser ... Sieh da, das sollte ich an der Leiche des Alexius deklamieren:Er hat fich stets gebückt und ward erhoben,

Er lag im Staub und schwebet in den Himmeln,

Unfreiheit ließ zum Freiesten ihn werden ...und so weiter ... paperlapa ... Aber ich schreie:Alexius, dich kann ich nicht verstehen,

Ich mag nicht Kutten tragen hinter Gittern,Ich muß hinaus aus diesem engen Hause,Das Leben leben und die Liebe lieben,

Zur Hochzeit ziehen, nicht ihr feig entlaufen,In Freiheit will ich lachen, will ich weinen,Mensch will ich sein und menschlicher noch werden.And da ich Kaiser bin, befehl' ich laut:Begrabt den Heiligen, begrabet auch

Euch selber, wenn ihr müde seid; doch mir Lasset die Freiheit, die ihr mir gestohlen,Bevor ich mit Gewalt sie mir ertrotzel...Was sagst du dazu? Ernst, bei Gott, das ist mir heilig ernst.“

„Lachen muß ich, Konrad. So eine Prahlerei!“

„So lache!“ Furchtbar ruhig steckte er den Zettel mit den revolutionären Versen in die Brust.

„Konrad!“ rief der Freund kreidebleich.

„Konrad, Konrad, Konrad, heulen könnt ihr!“ tobte dieser und zerrte wie im Schrecken vor sich selber den Mantel weit auf. „Lauf du lieber zur Mutter und sag', ich woll' sie hundertmal küssen und zu ihren Füßen knien, wenn sie mich sogleich fortnimmt. Und ich wolle dann schön ordentlich den frommen Kaiser spielen. Sonst ADDI und glutete wie ein Tiger im Käfig. „Lauf, lauf, 's ist hohe Zeit ... And sag' dem Rektor und allen, daß ich morgen schon ein Dutzend Kameraden anstecke, die auch gern mitkämen ...“

Freund Ernst verschwand wie ein Schatten, und aufgeregt und in einem Jammer von Hochmut und Not,Verzweiflung und Waghalsigkeit fiel Konrad mit dem rauschenden Kaisermantel in seinen Stuhl zurück. Und da endlich gewahrte er den Alois, wie er naiv und ergriffen beinahe ihm ans Knie stieß.

„Was gaffst mich an, du kleine Kröte?“

Alois hatte ein merkwürdiges Zutrauen gefaßt. Er suchte die Hand des herrlichen Studenten und sagte mit knabenschöner Herzlichkeit:

„Lauf nicht fort, ich bitt' schön.“

„Was geht's dich an, Esel? Warum soll ich etwa nicht?“„Ich bin meiner Mutter einmal fortgelaufen und habe heillos Angst und vom Mätteliseppi eine Ohrfeige gekriegt.“

„Bist wohl ein rechter Hase, du!“

A ist immer wieder gern zurückgekommen mit Hunger und Krankheit und ganz in Fetzen. O wenn du ihn gesehen hättest! ... Du würdest nicht ...“

Der schöne Jüngling runzelte die feine Stirne und staunte und drohte.

„Ich kenne dich,“ sprudelte Alois innig hervor.„Standest du nicht auf dem Balkon, am runden Turm?Und hast einen glatten Hund gestreichelt? Und Zigaretten geraucht und den Stumpen ... das solltest du nicht ...auf die Leute hinuntergeschmissen? And gehst in die Wirtshäuser ... dort beim Roseli Herri ... und ...“

„Halt das Maul, du ... du ... Wie donners weißt du denn alles? ... Das ist ja wie verrückt! ...“Seiner kaum mächtig sperrte er den Knaben zwischen seine Knie und drückte ihm die Ellbogen zusammen und blitzte und flammte ihn ganz nahe an, als wollte er ihn so stumm machen.

„And deine Mutter kenn' ich auch,“ eiferte Alois fort. „Du bist wohl ein schlechtes Kind. Denn vor allen Leuten hat sie vorhin geweint! Vor allen Leuten.wegen dir!“

Das olivenfarbene Gesicht des Jünglings ward aschgrau. Er würgte den Kleinen und schnaufte und blähte die Nasenflügel und im Auge ging Weißes und Schwarzes wild durcheinander.

„Sie schämt sich vor allen ... tu mir nicht weh!Ich rede ja die Wahrheit ...“

„Das wollt' ich ja auch nicht,“ sagte Konrad heiser und viel milder und lockerte die Beine. „Aber wo kommst du her? Bist doch ein Bub vom Land hier.Wie weißt du denn alles? Möchtest du etwa auch hier im Konvikt eingesperrt sein, ein ganzes Jahr ...“

„O wie gern, wie gern!“ jubelte Alois rasch und ein Entzücken, das etwa unschuldig Verstorbene verschönt, wenn sie aus dem verschwitzten und verglasten Körperchen dem ersten Schuß Engel am Himmelstor begegnen und mit ihnen in die neue Glorie hineinfliegen,ein solches Entzücken strahlte aus dem Jungen. Es war hinreißend. Konrad verlor alle Fassung.

Er fuhr dem Buben ein Weilchen zärtlich und wortlos durchs Haar, hielt in einem Ruck inne und stieß ihn plötzlich von sich. Barsch gebot er: „Geh, ich habe dich nichts gefragt.“ Heftig stand er wieder auf, riß den Mantel auf und zerrte die Krone aus dem negerhaften Kraushaar, so daß man vorne in der Bühne auf ihn aufmerksam wurde und Alois ganz verblüfft zurück in die Garderobe floh. „Knirps du,“ zürnte es ihm nach. „Gar nichts habe ich dich gefragt.“

„Ihr müßt nicht an euern Helden denken,“ lehrte dort Paul, „sondern einzig an euch. Ihr seid selber der Held ...“

„Ja, so ein Sklave ist ein schöner Held,“ spottete ein im Lehnstuhl thronendes Patriziersöhnchen auf den Neger vor ihm am Boden nieder und setzte seine schmucken, weißstrumpfigen Füße herrisch auf dessen heiden Achseln ab.

„Da kommst du mir gerade recht. Auch der Sklave Skio soll nur an sich denken, nicht an einen fremden Skio, den er kopieren müsse. Kopiere nicht, schaffe!Gib dich selbst,“ dozierte der Spichtiger immer eifriger.„Sich selber geben ist mehr als einen Aristoteles oder Alexander geben. Dies bleibt graue Kopie, jenes ist immerfrisches Original.“

„Aber nur so ein Sklave?“ forderte der harte,blonde, schmale Aristokrat unwillig heraus. Er hieß Emil von Seilern und gehörte einer regierenden Familie Goldingens an.„O ein Sklave!“ schwärmte Paul schier übersinnlich. „Wie gern spielt' ich ihn! Stelle dir vor, Skio,du wärest aus Saldern geraubt, auf einem Markt verkauft und vom Emil da erhandelt worden! Denk' an die verlorne Stube, an Vater und Mutter, ans Orgelspiel in der Kirche, ans Träumen im Erlwäldchen und an dein trotziges Wollen oder Nichtwollen! Und jetzt mußt du im Staub sitzen und durchaus einem fremden,rauhen Jungen mit langen Zähnen gehorchen. Fühle sein Auslachen, sein Schimpfen und Prügeln! Wie das brennt! Mache im Stillen Fäuste und fluche, weil du ohnmächtiger als ein Hund bist, der doch einmal beißen würde. Sinne darum auf Flucht! Heuchle inzwischen Ergebenheit, schmeichle, wiege in Sicherheit,aber wetze ununterbrochen den Dolch der Nache! Hasse alle Freien und kupple dich mit allen Sklaven zusammen!Werde leichtsinnig, weil dir das Leben ja doch nicht gehört, sondern täglich von der Lippe dieses Tyrännleins abhängt. Er kann sagen: Tötet ihn! so ruhig und schläfrig wie er sagt: Gib mir eine Pflaume! ... Was ist da übers Leben zu philosophieren? Werde leichtsinnig und riskiere es ein paarmal durch Ausreißen oder einen Mordanschlag. Dir ist doch der Schnauf und die Sonne und die Freiheit so gut angeboren wie deinem Herrn!Beziehe alles Leiden und alle Hoffnung und Gefahr auf dich. Ich und nur ich, sollst du denken, und so wirst du deinen Sklaven echt wie die Wahrheit geben.Denn nichts ist wahrer als mein Ich!“

Voll Interesse hörten die Studenten zu. „Und ich werde denken,“ versprach Seilern und sperrte die Backenknochen gereizt und hart im zarthäutigen, länglichen Gesicht vor, „daß ich allein kommandieren darf und daß die Füße und die Hände dieses elenden Sklavenhundes und sein Maul und sein Auge und sein dummes Gehirn mir gehört und sogar sein Atem und seine Seele mir, falls er eine hat, eine pechschwarze natürlich wie der Teufel. Und macht es mir Spaß, so zieh' ich ihm einen Ring durch die Nase oder er muß mir die Fliegen vom Gesicht scheuchen, wenn ich faulenze, oder ich häng'ihn einfach an einem meiner Zwetschgenbäume auf. Ich und nur ich und alles für mich, so sagt Ihr dochl“

„Ausgezeichnet!“ lobte Paul. „Du im Gegenteil ... Na, was gibt es denn da? Wo fehlt es, Alois!Wo steckst du immer! Das ist keine Luft für dich. Geh doch zu den Kindern! Vor einer halben Stunde fangen wir nicht an. Vorwärts!“

Hinter dem Kollegium, in den offenen Turnhallen,fand Alois seine Gespanen. Joseph Tonoli schleuderte Gewichte, Hans von Aar trieb sich geschmeidig am Reck herum und hatte soeben den großen Napoleon mit Glanz ausgeschwungen. Ein langer Student rief ihm Bravo zu.

Die Schneeluft und das freche Bubengeschrei halfen dem kleinen Spichtiger aus dem schier romantisch Erlebten in die frische, nüchterne Wirklichkeit. „Wo ist die Orla?“ fragte er sofort. „Und der Herri? Wo sind sie?“

Niemand wußte es.

Da lief Alois in einem tapfern Satz von Stolz und Entrüstung das Feld zum See hinunter. Ha, diese Falschen wollte er jetzt züchtigen. Ja wahrhaftig, an sich selber muß man denken. Das allein ist echt. Und ich Tor denke immer an andere. Ich lebe eigentlich nie für mich. Ein Jahr verbrauch' ich für den, ein anderes Jahr für jenen Freund, oder für ein Buch oder einen Helden, einen Dichter, sogar für arge Tyrannen. O ich ... darum bin ich so schwach. Der von Aar, der Reinert, der Tonoli und der Herri schon gar, aber sogar der Stotterbalzli, die denken zuerst an sich und darum sind sie so stark und haben nie Leid und Schmerzen.Mir fehlt immer etwas.

Er eilte hastig an Studenten und andern Leuten,die da spärlich über den verhärteten Schnee stapften,zum See hinunter. Der lag grau und gedankenlos da wie ein Geistesabwesender, und ringsum schliefen die Berge. Nur oben am Afer wachte sein liebes Saldern noch mit dem roten Kuppelturm und etlichen Giebeln in den schläfrigen Winter der Welt hinaus und Alois spreizte die Lippen hart, um nicht Heimweh nach der allsorgenden Mutterschürze zu kriegen. Winkelweh verspottet es der Vater!

Ein Fluß schloff vorsichtig und halb im Schilf versteckt, sozusagen auf den Zehen eines Diebes, um ja die mütterliche See nicht zu wecken und im letzten Augenblick noch zurückgehalten zu werden, in die toten Wiesen hinein und dem Flecken zu. Kaum wagte er ein Pst!durch die Halme zu flüstern, obwohl ihm das Knabenherz fast zerspringen wollte, als er Türme, ein Rathaus und den ersten stolzen Brückenbogen so nahe sah. Die alte strenge Mutter, die nie aus ihrem Hause tritt,würde es ihrem einzigen Buben grimmig wehren, sich in der Fremde auszuleben. Also leise, leise! Weiter unten, im Rücken von Goldingen, wenn es die Alte nicht mehr hört, wird er anfangen zu hüpfen und zu jauchzen: O Freiheit, o Ferne, o Brüder der Welt, o großes, unendliches Meer!

Aber so eine verräterische Stille wob hier an der Mündung, daß man den Stundenschlag überm See,das Knallen der Geißel auf der fernen Landstraße und vom Kollegium her das Zuschlagen von Türen und Fenstern hörte.

Hier müssen sie sein, raunte etwas in Alois. Er hatte das Brechen von Schilf und helle Stimmen gehört. Fieberig drang er über die gefrorenen Wasserpfützen durch die unübersehbaren Halme und geriet auf festes, grünes Eis, unter dem durch die Löcher der Rohre hinauf das Wasser leise gurgelte. Durch die Lichtung des Schilfs streckte sich die herrliche Decke weit in den See hinaus. Sieh da!

Auf einer abgesteckten Fläche schlittschuhten einige geschickte Studenten, aber auch Buben von Goldingen klirrend das Eis auf und ab. Ganz nahe am letzten Schilf saß Orla am Boden und fingerte an einem Schlittschuh herum. Der andere saß schon. Kohle und Elfenbein und gelbes Gold der Augen floß in ihrem Gesichtlein so zauberisch zusammen und gab ihr in der grauen Winterluft etwas so Lichtes, daß man an ein junges Madönnchen denken mußte. Nur die frech zur Nase springende Lippe und die nackten, frechen Zähne paßten nicht dazu. Und doch gefiel dem Alois gerade das am besten.Der Herri glitt mit leisem Schnitt in kühnen Bogen und Winkeln um die Sitzende und wetterte: „Vorwärts einmal, sonst lauf' ich allein! ... Linksum drehen! ...Herrgott, jetzt weiß die Gans nicht einmal, wie eine Schraube geht ... Ach, nicht so! Wart'!“ ... Er warf sich blübend rot vor Eifer neben sie hin und drehte den Schraubenschlüssel energisch um, indessen sein hübsches,kleines Gesicht mit dem mächtigen Hinterkopf beinahe an Orlas Knie stieß.„Was, ihr seid hier!“ schrie Alois und die Augen überliefen ihm vor Empsrung und Eifersucht, „und sagt mir kein Wort! ... Habt ihr das abgemacht mit den Schlittschuhen? Ohne mich! ... Das ist schlecht ...das ist ...“ Wie ein ungeheures Wasser stieg und rauschte das Blut durch Aloisens Sinne empor, in die Ohren, ins Gehirn und füllte ihn ganz. „O wie seid ihr falsch ... falsch ... in allen Grund und Boden falsch ...“

„Jetzt hört mir das Pfäfflein,“ lachte der Herri trocken. „Du sollst doch in die Kutte. Der Rektor hat es ja erst gesagt und du tatest wie verzückt ...Ade, Pater Alois! Bet' du den Rosenkranz und laß uns schlittschuhen und tanzen. Hui, Orla, fester in die Hand, so ... jetzt vorwärts!“

Mit erwürgter Stimme sah Alois starr nach, wie das so hübsch zusammenpassende Pärchen wegschoß, daß der Boden unter ihm pfiff, wie Friedel das Mädchen wild und elegant herumriß und wie sie mit Lachen und Angstgeschrei gehorchte und jede Keckheit gern mitmachte.Bet' du den Rosenkranz und laß uns schlittschuhen und tanzen! Das tönte ihm wie eine dumpfe Begleitung zur übermütigen Melodie des Pärchens nach. Damit hatte der Herri wie mit einem bösen Schwert sein Leben vom Leben aller andern, von ihrer Gesundheit und ihrer saftigen Kraft und Weltlichkeit geschieden. Zum ersten Male dünkte es Alois, es klaffe zwischen seinem Tag und dem Tag der übrigen Welt, zwischen seiner Zukunft und der Zukunft aller andern heitern Menschen,geliebten und gehaßten, ein breiter, tödlicher Riß. Er sei zum Dunkel, die zum Licht, er zum Beten und

Federer, Das Mätteliseppi. 25 Fasten, die zum Lachen und Schmausen an der Sonne bestimmt. Ja, es ist so, kein Küssen, keine Mädchen,kein Schwitzen und Entzücken in der Tanzstube gibt es mehr. Es kommt ein schwarzes Kleid, ein schmales Stüblein, ein einsamer Tisch und ein sauber verriegeltes Hauspförtchen. Es riecht nach Weihrauch und Büchernl!Aber der Geruch von Welt und Übermut, von Spitzbubenstreichen, von kühnem Schlitteln und gezopftem Mädchenhaar, der Duft von Würstchen und Nidel und Mäännerschwinget, der ist verboten. Bete den Rosenkranz! Es ist, als falle Finsternis auf Finsternis nieder und nur ganz fern, erstickend fern, hört man Erdgelächter.Wer hat gesagt: Ich muß! Noch bin ich kein Pfaff.Spottet nur! Mein Vater ist's auch nicht geworden und jetzt noch, wenn es ihm zu eng wird, nimmt er seinen Stecken und läuft fort. Und der herrliche Unglücksmensch im Theater, will er nicht die Mauern sprengen und davon? And alles denkt an sich und seine Freiheit. Wartet nur, Alois riß die Lippen breit auseinander und mordete schier mit den Blicken, wartet nur, ich will jetzt nur noch mich gern haben und für mich sorgen und niemand was fragen, niemand!

Mit einem verächtlichen Blick nach den Gespanen wollte er sich umkehren und als ein anderes, gehärtetes Ich von nun an seinen eigenen Weg gehen. Also vorwärts, weg von hier, aufs feste Land zurück! Er fühlte deutlich, daß dies jetzt das Gescheiteste wäre. Aber die bare Unmöglichkeit, auf einen Wink und Selundenschlag seine Haut, ach, sogar seine Seele zu wechseln,ließ ihn stillestehen. Langsam, meinte er, nicht so im Schuß! Ich will mich erst daran gewöhnen. Ich schaue noch dreimal zurück. Vielleicht verleidet es ihnen schon. Nein, noch fliegen sie dort, die Gecken! Jetzt schwenken sie ... Halt, hat die Orla nicht nach mir gewinkt? So fernher? ... Schon wieder! ... Meinetwegen, jetzt zähl' ich noch auf fünfmal fünf, dann geh'ich absoluti ... Und er zählte geduldig und schaute ihnen nach und merkte nicht, daß er mechanisch schon in die Siebenzig zählte und harrte. Es fiel ihm wohl schattenhaft bei, was er eigentlich da noch wolle? Wie lächerlich er warte! Aber diese Einwände erloschen in einer wachsenden Wut gegen den immer überlegenen und immer rechthabenden Herri, aber noch viel mehr in der Sehnsucht nach dem feinen Mädchen, einer Sehnsucht,die gerade jetzt, wo das eitle Geschöpf ihn floh und in der Hand seines Feindes lag, ins Ungebändigte schwoll.Er sah dem Schneewittchen, dem unerreichbaren, nach und meinte, die Augen müßten ihm vor Schauen und Sehnen bluten.

So stampfte er die Schuhe ins Eis und keuchte und wartete schmählich, bis die Zwei endlich in weitem Bogen auf ihn zuschliffen und bald, da ihm das Herz vor Bangen klopfte, in wildem Atem, mit feuchten Stirnen und roten heißen Ohren neben ihm ausruhten. Ruhig und freundlich grüßten sie ihn. Der Herri war glücklich und meinte, auch Alois müsse es sein, da er ihn ja so gern habe.

„Das solltest du mitmachen, Alois,“ sagte Orla tröstend ins unruhige Gesicht des Knaben. „O wie flott war es!“

„Warum hast du mir denn unterwegs kein Wort

25*davon gesagt?“ fragte Alois mit grollendem Tone.„Daß der Friedel ein falscher Schelm ist, das weiß jedermann, aber von dir ...“

„Du hättest uns doch nur aufgehalten mit deinem Kceche... kch ... kch ... Geschnauf,“ unterbrach ihn Friedel schonungslos und immer noch nichts Böses ahnend. Gleichzeitig, wie aus Spaß, hustete er, aber so heiser und aus der Tiefe, wie doch nur die Not hustet, und spuckte etwas Häßliches aus. „Der Alois ist,“ wandte er sich erleichtert gegen Orla, „zu krank für so wildes Gespring. Hast gesehen beim Scharfrichterhubel, wie er uns nachhinkte und dann stecken blieb! Das sag' nicht ich, alle sagen es im Dorf,Alois: fürs Messelesen und Beichthören und Hinterden· BüchernSitzen und etwa in der EttisriederkapellePredigen, dazu lange es gerade ... aber darüber hinaus ... nä ... ä!“ Das kam ohne böse Absicht hervor, es war nur rücksichtslos und herrimäßig gesagt.

„Ich ... das ... schon oft ... bin ich Schlittschuh gelaufen,“ stammelte Alois fast sinnlos vor Erregung, „das weißt du ... dich hab' ich doch die Ringel rückwärts und den Dreierzopf gelehrt, ich! ...Aber falsch bist du, alles willst du allein haben, immer lügst du, alle wissen es, kein Mensch mag dich ...du ... erzfalscher Cheib du!“

Das Kollegiumsglöcklein läutete von weitem unendlich friedlich in diese ungeheuerliche Schimpferei hinein.

„Was?“ fragte der Herri heiser und rückte mit blitzend blauen Augen und gepreßten Lippen auf Alois zu. „So was sagst du mir? Bist du verstört? ...Jetzt, Orla, schau' mal zu, wie ich den Knirps da abstrafe fürs Lügen ...“ Obwohl unsicher auf seinen Gleisen griff Friedel blitzschnell in die Finger Aloisens,verflocht sie fest mit seinen harten und längern Fingern und drehte ihm nun von oben die Hände zurück gegen die Achseln, bis der Spichtiger vor Schmerz auf die Knie fiele. Hart blickte er ihm ins Gesicht. Sein Näschen blähte sich vor grausamer Freude und auf seinen dünnen Lippen lachte es schon wie Triumph.

Aus Angst und Zorn und Schande wehrte sich Alois ausgezeichnet und erhöhte damit nur noch die Wildheit Friedels. Aber er fühlte, daß ihm bald der Atem ausgehe und er dann umsinken würde. Und dann? Schlecht ginge es ihm. Da gab ihm die Helferin Not im äußersten Augenblick ein, den Vorteil seiner breiten Schuhe zu nutzen. Verzweifelt zerrte er Friedel rechts und links in scharfen Winkeln herum,wandte sich mit ihm plötzlich, so heftig er konnte, zurück,Friedel glitt aus und schmetterte hintenüber aufs Eis hinaus, den Sieger freilich aufs Knie mitreißend. Jetzt riß Alois leicht die Hände los und wollte dem Stölzling, den er noch immer über, nie unter sich gesehen hatte, das Knie auf die Brust setzen, als ein dicker,dunkler Faden Blut aus beiden Nasenlöchern Friedels ins Gesicht und übers weiße Wams tropfte. Bestürzt sprang der Spichtiger auf und wollte etwas Gutes sagen und etwas Liebes helfen. Aber er war zu unbeholfen.Mit plumper Abbitte sah er bald auf Orla, bald auf Friedel und schwieg. Das Mädchen jedoch hatte sogleich ein hübsch gefaltetes, weißes Nastuch und ein hilfreiches Händchen zum Aufstehen geboten. Die Hand stieß Friedel rauh von sich, aber mit dem Tuch fing er sogleich das Blut auf.

„Steh' doch auf,“ bat Alois reuig.

„Wenn ich dann aufstehe, wirst du was erleben.Ich hab' noch alle Zeit,“ bemerkte Friedel mit unheimlicher Ruhe und schleuderte das Tüchlein Orlas übernaß von sich. „Gib mir einstweilen dein Nastuch, ich blute ja wie eine Sau ... warte nur, Kerl...“ Gehorsam reichte Alois sein sauberes Tuch und kniete dann neben Friedel nieder, um irgendwie sein Bedauern zu zeigen. Aber der Herri blieb der ganzen Länge nach auf dem Eis liegen, als wäre es so am bequemsten,und putzte und schnupfte seine feine Stulpnase, bis das Tröpfeln aufhörte. Flink saß er auf, breitete das gefleckte Nastuch auseinander, spuckte greulich hinein und warf es dem knienden Alois mitten ins Gesicht. Laut und gehässig lachte er: „Da friß!“

Die Buben schnellten gleichzeitig in die Höhe. Aber ehe sie zum zweiten Male aneinandergerieten, sprang Orla dazwischen, zerrte den Herri am Wams und sagte:„Es hat ja schon geläutet. Wir müssen ins Theater,sonst bekommen wir keinen Platz mehr. Aber komm schnell, ich putz' dir dort am Wasser das Blut vom Lismer. So darfst du nicht unter die Leute.“ Wirklich läutete es nun das zweite Zeichen und weitum war kein Mensch mehr auf dem Eis und in den Schneefeldern.Hurtig stampfte Friedel eine Eisblase auf und suchte nach einem Fetzen. Denn er hatte wie gewöhnlich kein Nastuch bei sich. Orla stutzte, hob den hübschen blauen Rock und riß flugs einen Streifen vom gebänderten Unterrock. „Nimm das,“ klingelte sie hübsch.

„Von einem Mädchenrock? Pfui! Da, mach' es mit der Mütze.“ Er gab ihr seine feingestrickte, grüne,kühne Banditenmütze. Orla tunkte sie ins Wasser und rieb ihm das Wams kreuz und quer, wobei sie sich siebenmal bückte, das rote Wasser auswand und frisches aufnahm. Er hielt wohlgefällig her. Sie aber spielte das Mägdlein überaus gern. Ihre vollen Lippen blätterten sich auf wie ein übermütiges Röslein und alle Zähne lachten nackt und frech hervor.

Alois betrachtete sein besudeltes Nastuch, zögerte lange, hob es endlich doch vom Boden, legte es sorglich zusammen und steckte es ein. Dann ging er mit furchtbar bleichem, unglücklichem Gesicht rückwärts immer weiter von der Gruppe ab und verlor sich im Schilf.Noch einmal hatte er den Blick dorthin geworfen, wo sein geliebtes Mädchen seinen geliebten Knaben bediente.Warum konnte er nicht helfen? Warum brauchte man ihn nicht? Er haßte ja nicht, trotz allem haßte er nicht.

Kaum wußte Alois, wie er ins Theater und auf das Fenstergesimse am mittlern verriegelten Laden gelangt war. Ein großer und ein zappeliger jüngerer Student saßen schon da und ließen die Beine in kurzen Hosen hangen. Das imponierte Alois. Sie hatten ihm heraufgeholfen und erzählten ihm, wer dieser oder jener Professor sei, wobei sie eine unverschämte Fabel an die andere flickten und nichts als Spitznamen gebrauchten. „Das ist der Doktor Hinwiederumaber,“sagte der Kleinere, „der die Bratsche dort spannt ...Er hat immer Schnecken im einen, Zucker im andern Sack. Wenn du mit alten Wörtern den Cäsar übersetzest und recht oft sagst: aber Cajus Markus Plam-pambius hinfüro, sintemal und alldieweil er zu viel Mabkkaroni genossen hatte, entfleuchte, eheu, unverrichteter Dinge ... hinwiederumaber Cajus Sempronius Cheibzoterus ... et cetera, so kriegst du den Zucker, sonst frissest die Schnecken mit Schleim und Schale ...“Alois betrachtete ungläubig das Orchester vor der verhängten Bühne. „Aber der Kleine, Magere, dort mit der Flöte, er sitzt auf einem Dreibein, das ist der Pater Kanari. Er redet dreizehn und eine halbe Sprache und hält zwei gelbe Vögel im Zimmer. Die sprechen und pfeifen nur griechisch und, wenn er falsch antwortet,schnäbeln sie ihm die Knöpfe von der Kutte. Gewiß fehlen heute wieder drei oder vier. 's ist eine Schande.Schau', wie klein er ist. Mit den Schuhen kommt er nicht zu Boden. Aber wenn er aufsteht, ist er noch kleiner. Sein Schnupftuch ist dafür so groß, daß man ihn jedesmal eine halbe Stunde suchen muß, wenn er sich hineingeschneuzt hat. Irgendwo in einer Falte klebt er dann, der liebe Pater Kanari ...“ Dies sagte sehr ernst der größere Student ... „Das ist aber sta ...sta ... stark,“ gurgelte der Kleine hervor und erstickte beinahe vor Spaß ... „So was mußt du denn doch nicht glauben. Aber, der Lange dort, wahrhaft, das ist auf meinen Eid ein Dichter von sieben Graden. Hast du nie gehört von einem Epos: Nibelungen und Nidelschwungen? Er hat's gemacht. Zwischen zwei Tassen Kaffee oder zwei Zigarren. Er raucht in der Bude wie eine Fabrik. In zwei Minuten sieht man ihn nicht mehr vor Nebel. Dann fährt er zu den alten

Göttern und Dichtern, dem Großvater Apoll und dem Onkel Homer und der alten Jungfer Sappho Kunigund Schluchzmichan. AUnd sie stopfen ihm wieder siebentausendsiebenhundertundsiebenundsiebenzig Reime in die AÄrmel und er fährt in einer Zigarrenwolke zur Erde zurück und schüttelt die Kutte aufs Papier und ... da steht's: Das befreite Jerusalem und der Faust und die Froschmäuseschlacht ...“ „Herrgott, wir machen ihn ja verrückt,“ tadelte der andere aus dem Dunkel. „Nein,ganz hell bin ich,“ widersprach Alois lustig, „ihr wollt mich zum Narren halten; aber ich habe den Homer schon gelesen und die Nibelungen auch. Und der Mann muß der Pater Leo sein. Hat er doch ein Lied auf Hannibal gedichtet, den großen Hannibal ... und eines auf unsern Kanton und ... wartet ... auch eines ...auf Cäsar ... und ... und ...: Israel, wie soll ich klagen ...“

Drei Studenten, die unter dem Gesimse auf der Bank saßen, blickten jetzt schadenfroh empor und ein sehr finsterer spottete: „Hä, der zieht euch noch das Fell über die Ohren, wenn ihr nicht aufpasset. Du,Pfyffer, halt' dein Damenstiefelchen ruhig.“

Indessen überschaute Alois den langen Saal. Er war ganz finster vom Gewirr der vielen Köpfe, und das spärliche Rampenlicht vom grünen Vorhang her floß nur langsam und schwärzlich glitzernd über das viele gescheitelte und ungescheitelte, junge und alte Menschenhaar, auf welches Alois wie auf eine wellenschlagende, düstere See niederblickte. Nach und nach gewöhnte sich Alois an das Halbdunkel und erkannte alle Einzelheiten deutlich. In den vordersten Stühlen zumittst saß der Rektor mit den vornehmern Gästen.Da blitzte der Silberbart des alten Jeremi irgendwo durch die Schatten und da stand auf und schaute mit funkelnder Spitzbübigkeit im schielenden Auge der Kommissari über sein geliebtes, oft gelobtes und oft geschimpftes Volk. Aber der Ehrenplatz neben dem Rektor blieb leer. Die Magnifizenz winkte mehrmals einem breiten, dunkelhaarigen Manne mit bleichem Gesicht,edlen Zügen und vor allem tief aus sich herausholenden,rastlosen Augen. Niemand konnte diesen Herrn übersehen, so außerordentlich wirkte seine Figur und besonders die feierliche Art, wie er das gewaltige Haupt auf dem kurzen Nacken trug. Er hatte freilich das Recht dazu. Denn dieser Kopf barg einen Schwung und Eifer und eine Güte und Liebe fürs Große von wahrhaft sakramentaler Innigkeit. Es war der junge Landammann Theodor Zirw, der sich mit Nikolaus Horat und Louis Durr jedes dritte Jahr nach altem Gesetz in das oberste Landesamt teilte, ein naher Verwandter Horats, eine Hoffnung und ein Stolz des Landes, mit einem Munde von denkwürdiger Redegewalt, aber auch zuzeiten von tiefer, forschender Schweigsamkeit. Ihn wollte der Rektor auf dem Ehrenplatz haben. Aber der Staatsmann lächelte abwehrend und wies mit seiner kurzen Hand zur Türe, wo der Richtige jeden Augenblick eintreten müsse.

Weiter sah Alois Doktoren, Geistliche, Professoren,Eltern der Studenten, dann zahlreiche Freunde und Bekannte des Hauses, Neugierige und Schaulustige aus den sieben Dörfern und das überflüssige und doch unfehlbare Zopf- und Hosentum der Goldinger Slegeljahre. Bis in die hinterste Ecke voll war der Saal.Denn es fand keine bloße Probe, sondern eine wirk.liche und fertige Vorstellung zum Andenken an jenen armen und doch gesegneten Tag vor genau vierzig Jahren statt, an dem die Benediktiner ihre tausendjährige herrliche Abtei im Tiefland hatten verlassen müssen und ohne Habe und Heim bei wildem Wetter in diesen Bergen ihr neues Nestlein gründeten. Nun ist es mit den Jahren ein prachtvolles Haus geworden, weit und breit durch Wissenschaft und väterliche Erziehungskunst berühmt, vergrößert nach allen Winden, durchbaut mit Sälen und Kapellen und Sammlungen und Bibliotheken und wie ein reifer, weitästiger Kirschbaum vom Gezwitscher eines frischen, nach dem Fleisch und Kern der Wahrheit hungrigen Spatzenvolkes erfüllt. Tüchtige Menschen waren aus den Schulbänken dieser Anstalt in die Welt hinausgegangen und ihre Söhne schnitten neben die Kerbe der Väter ihre jungen Namen in die gleichen alten Pultdeckel; aber mit dem Namen und der obligaten Schlingelhaftigkeit schrieb sich auch die alte Liebe und Verehrung wie ein von Geschlecht zu Geschlecht wanderndes Erbe nicht bloß ins Holz, sondern noch mehr in die heimelige, einfache, familientraute Seele dieses Hauses ein.

Wie an einem großen Kirchenfest Alois kein Auge von der Sakristeitüre ließ, aus der jeden Augenblick ach welche Pracht und Hoheit wohl mit Fahnen und Goldgewändern und der blitzenden Monstranz hervortreten mußte, so haftete jetzt der Bube, bequem an den größern Studenten gelehnt, ohne ein einziges Wimpernzucken am rostroten Vorhang, dem feierlichen, geheimnisvollen, ob

485 er sich bald hebe und Ungeahntes und Anvergleichliches enthülle. Er dachte nicht mehr an die Mache in der Garderobe und Kulisse, sondern glaubte an ein wirk liches Ereignis.

Das Orchester vor der Bühne bestand aus lauter Professoren und Studenten und stimmte in vielversprechendem Gesumme die Instrumente. Ein ernst unter der Brille hervorschauender, umsichtiger und rüstiger Pater, den die Jungen vollklingend Gallus riefen, stand jetzt ans Dirigentenpult und klöppelte mit einem schwarzen Lineal: aufzupassen, bereit zu sein, eins ... zwei ...Ein Schimmer von Gemütlichkeit und verborgenem Spaß zuckte durch sein feierlich kühles Gesicht, als er einen kleinen Fiedler noch die feuchten Hände am Knie abreiben und den hagern Mathematikprofessor an der Baßgeige mit der unermeßlichen Stirne und den tiefen Äug-lein noch eine letzte, schwere Prise schnupfen sah. Der Dirigent klöppelte nochmals. Aber noch schien nicht alles in Ordnung und der Pater senkte mit lächelnder Geduld das Lineal nochmals. In diesem Augenblick drückten sich Friedel und Orla zur Türe herein und verschwanden im Trubel. Alois atmete auf. Wenn sie nur auch einen guten Platz bekommen! ...

„Was ist das für ein Warten!“ tadelte der größere zum kleinern Studenten. „Du, Pfyffer, ich glaube, er ist zu wild. Er kommt gar nicht ...“

„Er ist schon da,“ versetzte Alois frisch. „Er wird immer schnell wieder gut ... Dort, seht, steht er schon auf der hintersten Bank an der Mauer und sieht alles prächtig.“

Der Jüngere schneuzte sich vor Lachen. „Der Bub versteht dich nicht,“ entschuldigte er. Es war ein saftiges Bürschchen mit Lippen wie Scharlach und einem tiefbraunen großen Gelächter der Augen. Aber er rümpfte schon die Stirne. Das schwärzliche Haar schleuderte oder spritzte er vielmehr wie Wellen um sich. In feinen Höslein saß er auf einem Samtkissen, das er mitgebracht hatte, und ließ die Beine bübisch hin- und herbaumeln. Er glühte wie ein Zündhölzchen von Scherz und Feuerwerk.

„Wir meinen den Landammann Theodul Nikolaus Horat,“ erklärte der ältere, gescheite Bursche. „Ihr habt ihm ja den Sessel zu Bern genommen und wollt ihm sogar an den Landammann ... Warum seid ihr so elend grob?“

„Ach, lieber Cattani, hör' auf,“ bat Pfyffer spaßig.„Nicht wahr, Bub, das verstehst du doch nicht? Sieh',ich auch nicht. Weg, das sind graue Sachen. Wir wollen lachen und schlecken, 's ist Vakanztagl Da, faß zu!“ Er hielt dem Alois eine seidene Tüte her mit kleinen lustigen Formen Schokolade. Der kleine Spichtiger nahm und verbeugte sich beinahe vor solcher Gnade.Da begann die Musik, man sagte, der Eingang zur Zauberflöte. Es fing mit großartigen Signalen an, zuzuwarten und aufzumerken, ging dann in eine süße,schelmische Neckerei über, wurde rasch ernster und stieg nun zu einer choralen Majestät und überweltlichen Würde, daß dem Alois ein Frost über den Rücken schauerte. Verkündet da Innozentius der Dritte, der Papst der Päpste, der Weltpapst, der Erde sein Gebot? Oder schlagen die tausend Schilde des jungen harten Heinrich des Sechsten zusammen, wie er über Italien gleich dem Nordwind braust: alles für dich, o Imperator!? Es scheint und scheint doch wieder nicht so. Denn nun rinnt leis und geschwind und heiß wie Blut eine Melodie aus dem Orchester, so süß und schmerzlich, daß Alois glaubt, die Trompeten müßten sich wirklich davon rotfärben. O Himmel, wer das gemacht, sah Himmel und Hölle zugleich. Ist's nicht wie Küssen und Morden in einem?

Unwillkürlich mußte Alois nach seinen Gespanen schauen. Teufel, die steckten die Köpfe zusammen und plauderten wohl. Wer kann jetzt schwatzen! Aber,wie nahe sie die Köpfe halten! Das ist unerträglich.Sie lesen. Vielleicht den ersten Akt voraus ... könnte ich zwischen drin sitzen ... ah ... das Theater wäre noch viel schöner.

„Ist das vielleicht deine Schwester?“ hänselte ihn der kleine Student und schrumpfte die vollen Lippen komisch zusammen. „Nu, brauchst doch gar nicht rot zu werden. Hübsch ist sie einmal, die Weiße dort!Beim Eid, die muß ich schon viel gesehen haben ...die ... die ... äh ... wie dumm ... die ...“

„Orla Lomser,“ bekannte Alois gedrückt.

„Natürlich! ... Die wohnte ja früher in unserem Hause an der Segesserstraße ... still ...“

Trara ... trara ... Es wiederholte sich das hohe Signal, das herrliche Gespräch der Instrumente kehrte wieder, aber bald düster, bald locker, entglitt, verfing,sammelte sich und wirbelte in schweren, schnellen Schlägen mit erlöster Freiheit aus.

Alles klatschte. Die Musikhefte wurden umgeblättert,Pater Hieronymus an der Baßgeige schraubte die G-Saite etwas genauer ein. Ein allgemeines Atemholen schien durch die Menschen zu rauschen. Etliche Neugierige standen halb auf, um besser zu sehen, was käme.Gleich wurden sie von zahlreichen Pst! und Zsch! festgespießt und fielen erschreckt ins Dunkel zurück.

Was wartet man noch? Was blicken die Mönche zur Türe? Da, ein Geräusch, wie wenn sich ein gewaltiger Mantel von einem noch gewaltigern Menschen löst und zu Füßen fällt. Der Vorhang ist weg. Eine Erde mit einer andern Sonne erscheint, fremd und doch genau so, wie Alois sie im Traume erlebt hat. Ha,da winkt die Stadt Rom aus dem Hintergrund, braun,grau, weiß, halb Ruine, halb neues Leben, uralte Trauer und junge Herrlichkeit zugleich. Vorne zu linker Hand aus dem edeln Gehölze der Pinien und Zypressen schimmert ein Sommerhaus, woher Zimbeln und Lauten klingen. Rechts dehnt sich die Campagna bewegungslos. Sie träumt von ihren Hirten- und Soldatenzeiten,und nur leise windet der Tiber seinen ,silbernen Schlangenhals‘ durch ihr graues träges Historienfeld der Weltstadt zu.

So totenstill wie auf der Bühne wird es im Saal.

Doch paßt auf, da lebt etwas. Ein blutloser Mann in Sandalen und staubigem Pilgerrock hat sich aus dem Gebüsch zur aussichtsreichen Stelle im Vordergrunde emporgerungen und betrachtet in heiligem Schrecken ...seine Vaterstadt! Seit vielen Jahren Fremde ist es das erste Wiedersehen. Mehr noch, hier auf Stimmweite steht das Haus seiner Eltern und Geschwister, das Heim seiner seligen Jugend. Wie gebannt starrt Alexius vorwärts. Jetzt also beginnt das Schwerste seines Lebens,aber auch ... ideal schwärmen seine Südlandsaugen ...das Göttlichste: das ist unter den Knechten des Vaters und Bruders als letzter Knecht und Bettler zu leben,die Schuhe seiner Geliebten Tag und Nacht über seinem Haupte, rechtlos, vom Almosen abhängig, in sehnsüchtigstem Erkennen doch selber unbekannt.

Alexius staunte verzückt in diese Zukunft und wie Engelchen hüpfte ein Lächeln um das andere aus seiner armen, blassen Müdigkeit heraus und umlichtete ihn.Von ferne summte die große Stadt. Nahe bellten die Hunde der Villa. Ein fetter Neger beschattete die Augen gegen den Pilger und reizte mit greller Stimme:„Voran, Hektor! Pack zu, Lupus!“ ... Und er machte Miene, den wütenden Bestien sogleich das Gitter zu öffnen.

Aber eine unsichtbare Lippe sang leise: „Vorwärts,Alexius! Hie Kampf, hie Sieg!“ ... Der Pilger erbebte bis in den Saum seiner Kutte hinunter. Dann faßte er den Bambus fest und schritt ergeben seinem heiligen Schicksal entgegen. Nie hatte man solche Schritte gesehen.

Alois preßte und knäuelte sich vor Aufregung zu einem Klumpen zusammen. Dieser hoheitvolle Bettler tat es ihm zauberisch an. Wie blühte sein Gesicht, wie duftete seine Gestalt, wie schimmerten seine Füße aus den dreckigen Riemen! O diese Füße vor allem! Sie haben Kronen und Schwerter und Harfen zertreten,denn das alles ist nicht das Wahre, und wollen jetzt in den Staub der Verachtung bis an die Knöchel waten.Denn das allein ist Wahrheit. Er sagt es in stillen,gelassenen Versen, horch! So erst erkenne man Gottes Unmaß und die eigene Null. Da verrauche die letzte Eitelkeit, verroste der letzte Geiz, versiege der letzte Blutund Nervenkitzel. Da schüttle der Geist endgültig den Trödel der Erde von sich und atme Größe, Wahrheit,Ewigkeit ... Alois faßt das nicht recht, aber er fühlt es doch. Als wären sie nie gewesen, versinken in seinem Gedächtnis alle Orla- und Friedelherrlichkeiten. Was ist Saldern? Was Herri? Hier ist Rom. Nun schweiget! Daneben versinkt alles. Und es gibt nichts Lebenswertes als solchen Alexiusmut, Alexiusschmerz,Alexiusruhm.

Es fängt nun die wundersame Demut des Heiligen unter der Küchentreppe an, das Foppen und Quälen des Gesindes, das Almosengeben seiner Mutter; der Stiefbruder, ein Knabe erst, treibt allen Mutwillen mit ihm, als wäre er ein dummes Tier, das kein Recht zu essen, zu schlafen und zu leben hat. Der heißgeliebte Vater schenkt ihm weder Blick noch Gruß. Und doch,ein einziges Wort und man würde Alexius umarmen und in Gold und Seide heben. Ein Wort und ergenösse die Ehren des Vaters, die Küsse der Mutter,die Reue und Herzlichkeit des Bruders und die Kniebeugung des ganzen Hauses. Aber dieses Wort sprechen machte ihn klein, es verschweigen: allmächtig, heilig,himmlisch. Nein, er wird es nie verraten. Erst dort,wo man sich erkennt und küßt von Seele zu Seele,wird er: Vater, Mutter! jauchzen ... Alois mochte bei solchem Helden weinen und lachen zugleich. Seine Seele zuckt wie in einem einzigen wilden Blitz. Das ist es! O Gott, das ist es. Seine Stirne tropft.

Federer, Das Mätteliseppi. 26 Er muß oft die Augen schließen vor unendlichem Schwindel.

Und je tiefer man Alexius in den Schmutz tritt, um so himmlischer leuchtet er. Alois möchte zu ihm springen und seine Füße küssen. Heiliger, Herrlicher, nimm mich mit dir! Und plötzlich versteht der Knab seine Armut,sein Asthma, seine Tränen und seine oft so geheimnisvolle Sehnsucht, seinen Bücherdurst, seine Verehrung der Starken und Mächtigen und sein unbesiegliches Kirchengefühl. Ist das nicht alles derselbe heilige Wind,der den Alexius oder der auch den kleinen Alois in die Unsterblichkeit treibt.

Auch das übrige Zuschauertum verfolgt die Szenen mit großen Augen. Das nahe Nom zieht vor allem die Seelen an. Heiß seufzt der jugendliche Ludowig:O Königin der Hügel, Stadt der Heiden und Heiligen,du Ewige und Unverwüstliche, wann werd' ich dich von Aug' zu Auge grüßen und deine apostolische Erde küssen? ... Meine elfhundert Franken Salär! ...Doch rasch zuckt ein geistvolles Lächeln über seine Brillengläser: Und doch ... „Hochwürden,“ murrt ihn da sein Prinzipal Antonius an, „Ihr studiertet am Borromäum zu Mailand. Hatte es dorten auch schon so italienische Bäum' und Stauden?“ „Ja freilich,“ lächelte der Helfer und sinnt weiter und preßt die scharfen Lippen im Affekt zusammen: Doch, doch, jeder Geistliche, auch der ärmste, ohne Reisegeld, grüßt Rom.Überall ist Rom. Auch in unsere Föhren und Felsen ist es hineingebaut, reicht auf unsere Alpen und ins verschlossenste Talnest, dasselbige Rom der Leone und Gregore und dieses verzückten Demutsriesen da. Das ist Rom: gleiches Glauben, gleiches Beten, gleiches Selbstverleugnen, gleiche Lumpen und gleicher Spott und gleiches Hundegebell um die heimatlosen Füße und gleiches Ersticken im Staub und gleiche Glorie im Auf ·erstehen. O ja, ich habe von Alerxius gesehen in mancher Dorfstube und in Küchen und Dachkammern. Ja, ja ...elfhundert Franken, einerleil Rom überall und immerdar!“

„Wißt Ihr, woher das stammt?“ unterbrach der Kommissari mit unehrerbietigem Gebrumm die Stille seiner Gedanken. „Ich las es in der Bibliothek am Vatikan auf altem lachenden Papier:

Roma diu titubans longis erroribus acta Corruet' et mundi desinet esse caput. i)y Wer hat so gelogen, he?“

„Es wird ein Kirchenverfolger sein ... tönt nach zwoölftem, dreizehntem Jahrhundert ... ein Kaiserpoet,sicher von den genialen Toren, den Staufen Einer ..der blonde, zweite Friedrich etwa?“

„Vertrakti,“ der Kommissar riß schmerzhaft am Ohrläppchen, „einen Borromäer muß unsereiner nicht examinieren wollen ... Aber ich sag' Euch, das alte Pergament hat selber gelacht über seinen Klatsch.“

„Schilenzium!“ kommandierte eine Stimme von hinten. Alle hörten den Ruf.

„Da hab' ich den Zettel,“ flüsterte der Kommissari.

„Unser Mätteliseppi,“ kicherte Antonius zufrieden herüber. „Da heißt es parieren.“) Etwa dem Sinne nach:Rom, das lange schon schwankt, von steter Irrung ermüdet,Stürzet und ist nicht mehr Haupt und Regentin der Welt.26*Weiter rechts schreckte Pater Leo, der Dichter, einen Augenblick auf. Dann fiel er unverbesserlich in die alte Träumerei zurück, durchstöberte die Lorbeerbüsche der Villa und suchte ein gewisses kleines Zweiglein. Das seinige? Sein wachsgelbes Haar zitterte leise, als nahe das Kränzlein schon. So andächtig kindlich war der zwei Meter hohe junge Pater anzusehen, daß der Herri zu seiner Linken immer noch zauderte, den Träumer zu stupfen und zu verhören: „Habt ihr also doch neue Kulissen angeschafft, ihr Verschwender? Was haben sie gekostet? Hätten die alten Tapeten vom, Zar und Zimmermann etwa nicht genug getan? Nein, mit dem Geld wisset ihr Kutten nicht umzugehen.“ ... Er verwürgte den Grimm, so gut es ging, aber beschloß, als Kollegiverwalter demnächst zu quittieren.

In der Mitte dieser bunten Köpfe wiegte der greise Rektor sein langes, kurzsträhniges Haupt leise auf und nieder. Er sah den heimkehrenden Wanderer Alexius mit ganz besondern Augen. Heute vor vierzig Jahren!Der Wandel der Zeit erschütterte ihn. Militär vor der alten Abtei, die Zellen verriegelt, das Allerheiligste aus dem Altar geflüchtet, Sakristei, Archiv, Bibliothek,Schatzkammer versiegelt, und er, der junge Noviz, mit seinem Brevier und seiner Geige an die Luft gesetzt,gleich dem Abt und den Mönchen und wie die Jünger des Herrn, Schnee, Wind und eine fremde Straße vor sich. Ade, Jahrtausend des heiligen Stubenfriedens,ade, Heimat der Zellen und wohlgeschnitzten Chorstühle,des Mettenglöckleins und der Choräle, ade, Garten voll Himbeeren und Bienensummen, ade, Friedhof aller lieben Brüder, ade, ade, meine bessere Seele!Und nochmals, er sieht den Pilger Alexius: O du Glücklicher! Suchst die Verachtung daheim. Mußt sie erst suchen! Uns hat die alte Heimat ungerufen Verachtung auf Verachtung über den Kopf geschüttet. War's gut? ... Gut war's! ... Der Rektor setzte sich stramm in die Höhe. Er sah das Spiel seiner Studenten auf den Brettern, sah die Konfratres im Orchester und unter den Gästen sitzen, fröhlich alle, jung die meisten,keiner auch nur ins Bubenhaar von jenem Wind des Erxrils gestreift. Und rings um ihn saß die Würde und Stattlichkeit des Landes und im Rücken das große Volk und seine Freundschaft. Er fühlte die Wärme dieses Volkes ringsherum, sein Beschirmen und Sichern,wie noch nie, und es machte ihn nicht bloß selber warm,sondern stolz und selig und wetterfest für alle Zukunft.Die kahlen Hallen der verlorenen Abtei störten seine Zufriedenheit nicht mehr. Vorbei! Hier ist jetzt das Leben und Wirken, hier Heimat und ganze Seele ...Herr Landammann Zirw, lieber Freund, so rückt doch näher! Ich kann heute keinen leeren Sessel schauen ...Hoch lebe Euer frommer und tapferer BruderklausenKanton!

Der Magnifikus hatte noch keine Antwort, als die Türe hinten aufging und mitten in die lautlose Aufmerksamkeit Landammann Theodul Nikolaus Horat trat.

Man hatte ihn seit dem Tage seiner Absetzung nicht mehr unter den Menschen gesehen. Alles blickte jetzt vom heiligen Alexius weg zum vornehmen Manne mit dem vielen Silber auf dem Römerkopf und den mächtigen Brauen. Wie sah er aus, der von allen Himmeln Gestürzte? Weinte er, fluchte er, grollte er oder zerdrückte er den Grimm nach außen in einer müden Maske? Nichts von allem. Er schien nur etwas kleiner geworden, der Kopf ging etwas weniger steil,die wohlrasierten Lippen waren schmäler, der Gang stiller. Alle dünkte es so. AUnd alle schlugen in einer sonderbaren Verlegenheit die Augen nieder, wie von begangenem Anrecht. Sie alle hatten ja den Baum fällen helfen.

Und es blitzte die Erinnerung an jenen düstern Wahlsonntag durch jeden Kopf, da sie in allen Dörfern gegen die neue Verfassung und gegen den alten Nationalrat stimmten. In Saldern stand der angegriffene Held als Präsident der Abstimmung amtsgemäß vor und sah die roten und weißen Stimmzettel in die Urne regnen. Die roten hießen: weg mit ihm! Die weißen:behaltet ihn! Und es schien beim jungen Wählertum,als hielten sich die Farben in einem nervösen Gleich-gewicht. Horats Hand zitterte, sein dickes Blut rauschte auf, doch er stemmte die Sohlen fest auf die Kirchenfliesen und präsidierte mannhaft weiter. Aber nun rückten die Alten an, die zähen, unabänderlichen, die keine Anderung verzeihen. Und jetzt flog es rot und rot und immer rot in die Urne. Der Horat sah zu,als vergösse man sein Blut. Schwäche kam ihn ob solchem Aderlaß an. Er mußte sich auf den Stuhl setzen. Saldern, sein Dorf, hatte ihn ohne Zweifel nach dreißig Jahren der Fürsorge und väterlichen Arbeit rauhherzig verworfen. Kinderdank! Aber die übrigen Gemeinden? Nur jetzt ausharren und dem Volksneid und Volksgrimm kein Wimpernzucken zeigen! So widerstand er. Die letzten Stimmenden vertröpfelten. Gleich gültige Geschäftssachen wickelten sich im immer dünnern Gemeindering ab. Aber vor der Kirche wogte trotz Schneegestöber das Volk auf und nieder und wartete auf den großen Klapf. Depesche um Depesche flog daher. Endlich liest der Landammann mit bebender Stimme die entscheidende vor: „Unser lie ...“ er verschluckt die Liebkosung, „unser Kanton hat die Verfassung verworfen.“ Juhe und Juhei donnern über den Kirchenplatz ... „Aber die Mehrheit des Schweizervolkes und der fünfundzwanzig Stände hat angenommen! ...“ Zäh bricht der Jubel. Die langen Gesichter werden dunkel, alte Bauern wischen die Augen,Jünglinge heben beide Fäuste, es tost und stürmt durch das Schiff zum Tischlein mit der Urne vor. Aber der Horat leuchtet auf. Das Schweizerhaus erneut, nun ist alles gut. Nun werfet mich meinetwegen hinaus zu den Toten! ... And er erbricht die letzte Depesche und liest mit herrlicher Stimme: „Nikolaus Theodul Horat 613 Stimmen ... Otto Dietrich von Seilern 1274 ...Von Seilern ist mit einem Mehr von 661 Stimmen zum Nationalrat erkoren ...“

Das Volk verstummt und man hört deutlich durch die Stille den Gestürzten noch etwas leiser sagen: „Ich lade meine lieben Herren Gemeinderäte zum üblichen Abendtrunk in den Stieren ein und ersuche den Gemeindeschreiber, dem neuen Vertreter unseres Landes die Gratulation des Rates zu übermelden.“

Schweigend, schwer, stumpf ging man auseinander und das Dorf sah den Horat seitdem nicht mehr. Man fabelte oder riet, er sei krank, verreist, er dräue hinter verhängten Fenstern. Man fürchtete sich, ihm zu be

R gegnen. Aber allen wurde bald seltsam zumute, als fehle etwas im Dorfe, etwas Gewohntes und Notwendiges wie der liebe hohe Kirchturm, mehr noch, wie der uralt und herrlich redende Dorfbach, mehr noch ...eben wie der Herr und Vater des Dorfes, Nikolaus Horat.Damit marterte sich jetzt das Volk im Theater. Der Mann aber schritt nach vorne, als sehe er niemand und denke an nichts Vergangenes. Er tastete sich im Zwielicht voran. Ein Student in schmucker Junkertracht,war es nicht der junge Emil von Seilern, stand mit andern Spielern an der Wand, bis seine Szene kam.Mit adeliger Unbefangenheit nahm er den Landammann leise am Arm und führte ihn durch die enge Menschengasse. Und siehe, dieses Tasten des gewaltigen Greises,seine scheinbare Hilflosigkeit und daß nun gerade der Sohn des Siegers ihm vorwärtshelfen mußte und dazu ein unfeines, übermütiges Lächeln aus den langen Zähnen springen ließ, wohl auch die Rührung vom Alexius her und vielleicht noch etwas anderes, Menschlicheres, was man in solchen herzklopfenden Sekunden nie beim Namen kennt, das zusammen schlug wie eine Offenbarung ein und machte einen unbeschreiblichen Eindruck. Man hockte tiefer, duckte sich blöde, stierte ins Dunkel und verhielt den Atem. Aber während vorne die Sessel auseinanderrückten und der Rektor sich mit weltmännischer Geste zum Willkomm erhob, in diesem beklemmenden Moment rief eine unvergleichlich strenge und absolute Stimme aus dem Volke: „Respekt, ihr Leute! Unser Landammann!“ And breit und knisterig, im flächsernen Schimmer seiner Borsten und Brauen und Mondäug-lein löste sich die klare Figur des Mätteliseppi aus den Sitzenden empor. Im gleichen Atem rauschten Hunderte und Hunderte von Hosen und NRöcken in die Höhe, alles erhob sich wie beim Evangeli und ein vor Erregung fast weinendes Stimmelein schrie verworren: „Cäsar ...Augustus ... Imperator!“ durch den Lärm. Der kleine Spichtiger! Er!

Aus dem Souffleurkasten beschwor Paul Spichtiger auf Latein und Deutsch seine Spieler. Was standen sie so versteinert? Umsonst, Alexius und sein Partner hatten ihre Rollen vergessen und glotzten, als wären nun sie die Zuschauer und das Publikum die Spieler,unverwandt in den ergreifenden Vorgang hinunter. Als nun Horat die Herren begrüßte und dem verlegenen Nationalrat von Seilern die Hand besonders herzhaft schüttelte, als dann der ganze Saal in ein gewitterhaftes Klatschen ausbrach und der Gefeierte sich still auf den Ehrenstuhl niederließ, da sah Alexius deutlich,wie Horat bleich und fassungslos seinen Blick auf die Bühne zu ihm, dem verlästerten Bettelmann, flüchtete.Und in diesem Augenblick begriff der Jüngling zum ersten Male, daß er nicht Theater spiele, sondern daß solches Auf und Niedergehen der Menschenwage mit den Schalen der Verachtung und der Vergötterung nichts anderes als das Leben sei. Horat verstand den geistvollen Burschen sogleich ... nickte wie einem ernsthaften Kameraden zu,doch hernach drückte er besorgt die Hand an sich und sprach im Geiste: auf und ab! auf und ab! altes Herz, laß es dich nicht mehr anfechten! ... Aber den Zweifeln zum Trotz erglühten seine Wangen rasch und seine Lippe legte sich breit und behaglich über das Kinn hinaus.Alexius schritt durch einen wahren Greuel von Not und Verachtung dem Ende zu. Daß ein kaum geflüstertes Wort, etwa: ich bin ja euer Alexius! ...wie es die Zuhörer ihm so leidenschaftlich auf die Zunge legen möchten, seine unsagbare Schmach in der gleichen Sekunde in ebensolche Herrlichkeit verwandeln könnte,daß er aber dieses Wörtlein nicht sprach, sondern mit versiegelter Lippe vor den Quälern im Staube kauerte,litt und starb, das zeichnete sein unblutiges Martyrium vor allem blutigen aus und hielt die Spannung des Publikums bis zum letzten Moment in fast unerträglicher Höhe. Sowie der Unbekannte nun aber verschied,läuteten die Glocken Roms von selber, Papst und Kaiser eilten auf das gleiche himmlische Zeichen herbei und Vater und Bruder erkannten an untrüglichen Malen des Leichnams ihr Teuerstes. Er schimmerte in überweltlichem Lichte. Ward darum Alois am Faden der Legende immer reiner gestimmt, so empfand er jetzt vor dem verklärten Toten nur noch Liebe und nichts als Liebe für alle Welt. Er wunderte sich gar nicht, daß der Imperator sich bis zur Stirne vor dem Aufgebahrten verneigte. Wie sollte er nicht? Daß dem üppigen Züngling keineswegs diese Legende, der er zu nahe in die Tapeten sah, sondern das so demütig stolze Ereignis mit Landammann Horat ans Herz gegriffen hatte, wenigstens für dieses Mal, das konnte der Dorfbub ja nicht ahnen.

In der Pause suchte Alois den Herri, um ihm alle mögliche Genugtuung zu leisten. Ganz ins Anrecht wollte er sich setzen und überlegen sagen: Behalte du nur immer die Orla. Ich verzichte auf das hübsche Kind. Es soll dir gehören! Denn ich ... ha, ich habe nach anderem den Sinn. O wenn du wüßtest! ...Und wirklich wollte er von heute an sich daheim möglichst alexianisch einrichten. Unter der Küchenstiege konnte er nicht schlafen. Aber er konnte Späne ins Bett legen, die geringsten Hosen anziehen, zu unterst am Tisch sitzen und zuletzt aus der Schüssel holen und gerade das, was ihm am besten schmeckte, stehen lassen.O, er wollte jetzt gleich das Nötige aufschreiben und die zwölf Staffeln der Himmelsleiter numerieren. Vielleicht sind es nur eff. Im Nu ist man oben bei Alexius.

Aus den Gästen hatten sich die jungen Leutchen mit den Spielern in die obern Gänge geflüchtet. Dort sah Alois auch den Konrad mit seiner Mutter aufgeheitert hin und herspazieren. An einem Fenster stand Orla mit andern Mädchen. Alois zog sie beiseite und sagte freundlich: „Führ' mich zum Friedel. Das ...das ... du weißt ... tut mir so leid. Doch zuvor,bitte, gib mir das Gedicht zurück. Ich merke erst jetzt,wie dumm es ist. Ein viel schöneres mache ich dir über Alexius. Gib schnell!“

Orla winkte mit hastigen Äuglein hinter sich und wollte entwischen. Da faßte er sie fest und forderte:„Das Gedicht will ich, auf der Stelle!“

„Da ist er ja, der Spichtigerlump, seht!“ Mit diesem Gruß sprang der Herri aus einer Gruppe von bekannten oder verwandten Studenten auf Alois los,packte ihn frischweg am großen Spichtigerohr und zerrte ihn zu den andern. Schnell und fest griff er zu, daß Alois gar nichts verwehren konnte. Gleich umstand die beiden ein Chor von Schlingeln, worunter der hübsche von Seilern mit dem zarten, aber entschlossenen Gesicht und den langen Zähnen. Auch Orla trat mit den Gespanen nahe.„So einer!“ wütete Friedel und ward beim Züchtigen immer wilder. „So ein verdammter Heuchler und Lügner! Tust wie ein Pfarrer nach vorne und machst im Rücken Liebesgedichte an die Mädchen wie den Schund dal“ ... Er wies mit dem Kinn auf ein Papier, in das einige Burschen lachend ihre Nasen steckten und wovon einer mit todsüßer Betonung den Vers hervorseufzte:„Du bist so warm wie Sonnenglut,Daß mir die Seele brennen tut!“„Fast wie Horaz!“ sagte von Seilern mit kaltem Munde.

„Du brennende Seele!“ höhnte der Herri mit fieberigem Gesicht. „Und du hast die Lomser nicht einmal gefragt, wie?“ richtete der kleine Tyrann weiter. „Hat er dich gefragt, Orla, ob er solches Affenzeug von dir schreiben dürfe?“„Hast eine Stirne weiß wie Schnee.Wie wird mir kühl, wenn ich dich seh'!“deklamierte der Leser fort. Einige schüttelten sich vor Lachen. Emil von Seilern sah vornehm allem zu und zog nur die Mundwinkel verächtlich herunter.

Alois rief verzweifelt aus seiner Scham heraus:„Seid still! Um Gottes willen, leset nichts mehr!“Er wollte ihnen den Zettel entreißen. Aber Friedel stand jetzt hinter ihn, zog ihm die Ellbogen rückwärts zusammen und schlug ihm mit dem Knie von Zeit zu Zeit in die Weichen. Alois war ohnmächtig.

„Orla,“ flehte er, im Glauben, das Mädchen müsse sich bei solchem Vorlesen fast zu Tode schämen, „Orla,hilf mir!“Doch das Kind hörte mit grober Neugier den Versen zu. Sie war weiß und schwarz und goldgelb wie immer und ihre Oberlippe schwoll hoch über die Zähne hinauf.Aber jetzt nahm sich das alles so roh, so häßlich, so schamlos an ihr aus, daß Alois mitten im Satze an sie verstummte. Ach ja, ihr Haar war ja auch so rauh,äVV

„Er hat mich nicht gefragt,“ antwortete Orla dem Herri.„Das ist eine Frechheit! Da ... und da!l He,Orla, hau' ihm auch eines!l Von einem Mädchen solchen Mist schreiben und doch immer wie ein halber Pfarrer tun! ... Wag' es nur! ... So mußt du machen!“ Friedel hielt die in den Rücken gedrehten Arme Aloisens nur noch mit einer Hand an den Knöcheln fest und hieb ihm die Hand rechts und links knallend übers Ohr. Aber jetzt entwand sich der Arme,wandte sich um und sprang dem Peiniger wie ein Tiger an die Kehle. Er war fahl und grau vor Wut, würgte und würgte und sah, hörte, fühlte nichts als die Süßigkeit des Wehtuns. Seine grauen Augen schwammen in trunkener Sinnlosigkeit. Friedel Herri griff mit verspreizten Fingern in die Luft, schnappte nach Atem und taumelte rückwärts. In diesem Moment erhielt Alois einen scharfen Schlag mitten ins Gesicht. Er ließ vor Schmerz sein Opfer los und empfing flugs einen zweiten Hieb. Wild wischte er sich die Augen und sah Orla mit erhobener Hand vor ihm stehen. Da war ihm,der Himmel stürze ein. Eine Sekunde drehte sich ihm alles um. Er sah Millionen weiße, erhobene Maulschellenhändchen und hörte rings nichts als Lachen und Höhnen. Da ward ihm alles gleich. Er ließ Kopf und Hände sinken und meinte beinahe einzuschlafen und nur von ferne den Herri zu hören: „Helft mir den Kerl einsperren. Er hat die Wut.“ Gleich faßte man Alois an Händen und Füßen und schleppte ihn gegen das Ende des Ganges. Alois rührte kein Glied.„Hieher!“ gebot Emil von Seilern, der nicht zugriff,sondern kühl daneben schritt. Ein Student öffnete die kleine Türe, hinter der nichts als eine verlorene Ecke voll Besen, Schaufeln und Putzlumpen sichtbar wurde. „Da hinein, bis das Theater vorbei ist,“befahl von Seilern mit dem nüchternen Tone eines Richters. Nicht aus Zuneigung für die Burschen,noch aus Haß gegen den Spichtiger kommandierte er so, sondern weil er für sich selber Freude daran hatte.Aber da brach etwas wie ein Donnerwetter in die Gruppe dieser Nichtsnutze ein. Es regnete Böre und Knüffe und zauste an Haar und Ohren. Alles wich.Zwei große Kerle der obersten Klassen, eher Männer als Buben, rissen den Spichtiger heraus und der eine,dessen tiefe, melodische Stimme Alois gleich erkannte,wetterte: „Wenn ihr den noch einmal anrührt ...Sternenhagel! ...“„Er ist ein Heuchler und Lügner,“ widerstand der Herri im Fliehen.

„Halt's Maul!“ versetzte Konrad und betrachtete den blassen, leidenden Spichtiger im Lichte aufmerksam.„Nein, der lügt nicht! Die Wahrheit sagt er jedem ins Gesicht und nichts anderes ... Mutter,“ wandte er sich zur großen, milden Dame hinter sich, „das ist das Büblein, von dem ich dir im Vorbeigehen erzählt habe ... Ja, wie heißest du denn eigentlich?“fragte er und eine Furche zwischen den Brauen erschien. In den üppigen Negerlippen hing lässig im Winkel eine rauchende Zigarette und gab ein Räuchlein gelb, weiß und olivengrün wie sein seltsamer fremdländischer Teint war. „So rede doch! Hinter den Kulissen hast doch's Maul ordentlich aufgemacht ...Warum machen sie ... wart' nur, fischblütiges Kerlchen!“er drohte dem Seilern, der sogleich mit herabgezogenen Mundecken den Rücken wandte, weit den Gang hinunter ... „Diese Narren, warum machen sie es dir so schlecht? ... Aber es geschieht dir ganz recht. Man muß sich selber wehren, mit Horn und Huf, wie ein Stier ... so wie ich's vorhin gemacht habe ...“ lachte er zur Mutter mit vielsagendem, nicht ganz reinem Auge. „Schau', Bübel, jetzt bin ich frei und ziehe morgen aus dem Kasten ins Wilde hinaus ... pst,pst, Frau Mama! doch in die Wildnis hinaus, hurra!Freilich du ... dul“ er machte eine träge Handbewegung, als sagte er: Du ziehst ja diesen Kerker der Freiheit vor, bei dir ist Hopfen und Malz verloren ...„nein, spiel' doch lieber nicht den Alexius. Das war einmal. Heute muß man schlagen oder geschlagen werden. Aut fer aut feri, ne feriare feri!“) haben wir gestern dem Kapellmeister übersetzt.“

„Ich wollte ja, aber es waren ihrer zu viele ...

„Zu viele! So reden Meitli und Memmen! Es sind nie zu viele. Die ganze Bande haut man zusammen, wenn man in flottem Zorn aufsteht un ...ja zum Teufel, auch an seinen Zorn glaubt. Giaubst du an dich? Hörst du?“

„An mich?“ wiederholte Alois zögernd und drückte dankbar Konrads Hand. Ihm war, aus ihren Fingern in die eigenen zucke ein fröhlicher Haudegenmut. Seine Lichtlein in den grauen Augen schossen hellauf. Er spürte auf einmal Hunger ... Aber Alexius?

„Sag', Konrad,“ duzte Alois vertraulich, „dünkt dich das denn nicht auch mächtig, schlagen können und doch nicht schlagen? Und wie Alexius alles von der Hand werfen, Geld und hohen Stand und sogar das Freisein und die hübschen Kleider und das gute Essen und das schöne liebe Mädchen ...“

„Pfui doch, du redest wie ein Sklave. Glaub' nur,es spuckt niemand das Leben aus, den das Leben nicht zuerst ausgespien hat. Dieser Alexius kommt mir verdächtig vor. Wer weiß die Wahrheit? Er war vielleicht verwachsen und pockennarbig, so daß ihn kein hübsches Römerjüngferchen ansah; und er hatte so dünne Grütze im Schädel, daß man ihn in keinem Dorfrat,nicht zu reden vom hohen Senat, brauchen konnte. Am Ende litt er noch an Bleichsucht oder war lungenkrank ) Wortspiel der Königin Elisabeth von England, des Sinnes:;Wer nicht prügelt, wird geprügelt.und durfte selbstverständlich weder tanzen, noch reiten,noch kneipen. Das Leben hat ihn von sich gespuckt.Und nun gebärdet sich der heilige Schläuling, als verhielte es sich umgekehrt. O es kostet dich wenig Üoerwindung, das Küssen zu lassen, wenn du keine Lippen hast oder keine findest. Zum Küssen braucht es immer zwei. Doch das ist nichts für dich, kleiner Hösi. Aber schreib es dir hinter die Ohren: Entweder prügle oder werde geprügelt; eins oder das andere ...“

„Konrad, Konrad, wieviel Bier hast du denn gesoffen?“ frug eine tiefe Studentenstimme. „Vorwärts,die Mutter wartet.“

„Na, Kleiner, ich schicke dir einmal eine Karte aus der Wildnis in den Käfig, um zu wissen, ob du schon totgeprügelt und heilig bist. Heut aber lebe noch und komm mit mir!“ ... Der beredte junge Mann schleuderte die Zigarette vor der Türe weg und zog den Alois willenlos ins verdunkelte Theater, wo bereits das Bruderklausen Drama des Kommissarius begonnen hatte.

Schlagen oder geschlagen werden? dachte Alois und fiel wie ein unseliges Bündel Zweifel und Ratlosigkeit auf seinen Sitz nieder. Jetzt wußte er überhaupt nichts mehr. „Du, Konrad,“ bat er zutraulich, „ich spüre großen Hunger. Hast du nicht etwas zu essen? ...So ein' Kaiser!“ fügte er drollig bei.

„Nichts als Schokolade! Da! Nimm nur die ganze Tafel! Willst du wohl, kleine Kröte!“

Wie gut mundete diese Schokolade! Alois schleckte und schluckte und sah auf einmal das Leben wieder in einem neuen Humor vor sich. „Halt!“ schrie er eifrig.Ein Stücklein fiel zu Boden. Er bückte sich.

Federer, Das Mätteliseppi. 27 4*

18

„Laß doch,“ wehrte Konrad.

Aber Alois tastetete mit rotem Kopfe zwischen den vielen Schuhen herum.

„Sag', was bist du für ein Narr!“ herrschte der andere ihn an und riß ihn gebieterisch empor. „Vorhin wolltest du das Leben und alles wegwerfen wie einen Kirschenstein und jetzt drehst du dir den Hals aus nach einer Krume Schokolade. Schöne Heilige ... Doch jetzt paß auf! Der da ... ha ... den lass' ich gelten.Das ist Schweizerrasse!“

Erst jetzt sah Alois in den waldblauen Tapetengrund der Bühne hinein. Wie das erfrischtel Ein grün und weiß sich über die Kiesel wälzender Gebirgs-fluß und drüber hoch an den Ränften hinauf Tannen und nichts als Tannen, dunkel, feierlich, schweigsam.Und wo der Wald magert und stirbt, gelbe Alpweide mit Hüttlein wie zerstreute braune Steinblöcke, dann graues Gefels, dann Schneefetzen und harte Gipfel.Dann nichts mehr als ein hoher, solider, schweizerblauer Himmel.

Und barfuß im braunen Nock wandert da ein ältlicher, knochiger Einsiedler mit magerem Bartwuchs und tiefgrübelnden Augen durch das Dickicht seiner Zelle zu.Ein weißgetünchtes Kirchlein, dem sie angebaut ist,schimmert zwischen den Ästen hervor.

Dem Alois geht das Herz wie Schwalbenschwingen auf. Das ist ja der Saldernerberg. Eine Stunde überm Dorf geht es in eine Schlucht hinunter. Alois,wie oft war er dort! Nichts als ewige Berge stehen herum und in der Bodenfurche rauscht das ewige Alpwasser. Und in diesen Ewigkeiten hauste und diente dem Allewigen dieser Salderner Bürger, der große Bauer und Philosoph, Nikolaus von der Flüe.

Jedes Kind, so weit zurück auch jenes fünfzehnte Jahrhundert liegt, weiß seine Geschichte, wie er erst ein frommer Hirtenbub war, mit seltsamen Stimmen der Einsamkeit und Geisterwelt im Ohr, und wie er sich außerordentlicher Gesichte erfreute. Wie er dann ein braver Knecht seines Vaters, ein strammer Degen seines Vaterlandes im Schwabenkrieg ward und zuletzt als Familienhaupt zuoberst am langen Bauerntisch saß und zwischen Söhnen und Töchtern und dem vielen Gesinde und auf den weiten Liegenschaften die gleiche Ordnung pflegte, mit der er als hoher Beamter im Kanton das Recht wog und das Unrecht richtete. Aber jene Stimmen folgten ihm wie bellende Hündlein so treu und fleißig und ließen sich keine Stunde lang beschweigen. Da glaubte er denn nach geordneten Erdsächelchen nun auch die große, ewige Sache gründlicher besorgen zu müssen.Er floh also in die Fremde, ward aber von einem schlichten Ackersmann verwiesen, zurück in die Heimat zu marschieren und dort sein sicheres Gnadenplätzchen zu finden.Und so tritt er denn in den versteckten, von Wald und Wasser tiefklingenden Ranft, betet und plaudert und sinnt sich in die Ewigkeiten, erlebt Wunder und Zeichen wie die alten Propheten und stiftet Segen, wo er nur einen Fuß unter die Menschen setzt. Man sucht, verehrt und braucht ihn wie Sonnenschein und Regen. Sein Fasten ist unglaublich, seine dürre Lippe spricht das Tiefste in zwei, drei Worten aus, seine fünf Sinne durchbrechen alle Gesetze der Natur und das

27*wilde und scheue Getier der Wälder wird sein gefügiges Gesinde. Er ist Philosoph und Poet zugleich und verwächst mit der erhabenen und ernsten Natur ringsum beinahe in einer Art mystischen, heiligen Legendenzaubers.Wohl schellen von ferne Kühe, pfeifen Hirten, schießen Schützen und zieht das weißrote Wappen seines Landes und seine Politik mit Kette und Ring und Halskrause vorbei, aber schattenleise, man hört und sieht es nicht,man ahnt es kaum in dieser wohlehrwürdigen Einsamkeit.O wieviel schöner ist nun doch das Gebirge hier als das Kapitol und Kolosseum zu Rom. Wieviel herrlicher sind diese Tannen als alle Pinien und 3ypressen vor der Stadt! Wieviel köstlicher braust der Bergstrom im Schrund als die Fontänen und Spring-brunnen der kaiserlichen Gärten! And dieser nordische Wind, ist es nicht der Atem Gottes im Vergleich zur schweren, schläfrigen Luft im dämonischen Süden?

Auch ist der Mann hier kein Bleichsüchtiger, kränkelt und bettelt nicht, noch riecht er nach Spitalluft, sondern A Fohn und Eiszapfentage ohne Flanell und Unterhosen erträgt, auf einer ungehobelten Bank schläft und zum Kopflissen einen Stein aus dem Flusse holt. Nesseln brennen ihn nicht, Dornen stechen ihn nicht, Wölfe tun ihm kein Leid. Er läßt aber auch nicht mit sich spaßen,und der Gehufte und Gehörnte ... Gott bewahre uns! ... könnte darüber wohl ein paar windelweiche Erfahrungen erzählen. Was vermögen Flamme und Flut gegen den Ehrwürdigen? Der geschwollene Fluß reißt Steg und Weg mit sich, aber Nikolaus von der Flüe setzt mit munteren Sohlen über den Unhold. Das brennende Goldingen löscht er mit der unwiderstehlichen heiligen Geste seiner Hand. Er richtet müde Menschen auf, öffnet verriegelte und verrostete Herzen, entlarot Verbrecher, beschämt Scheinheilige, sagt den Regierenden die derbste Wahrheit ins Gesicht, aber macht dann auch den weitesten Umweg und nimmt dazu noch die Holzböden in die Hand, um das Spiel einer Amsel nicht zu beunruhigen, oder bückt sich, um den Seidenfaden einer Spinne nicht zu verwirren, tiefer als vor den Schultheißen von Zürich und Bern. And er steht schon so hoch in Gnaden, daß die Holdselige selbst an stillen Nachmittagen von ihrem Baldachine in diese rauhen Gründe niedersteigt, um eine kleine Zwiesprache im grobheiligen Schweizerdialekt mit diesem Waldbruder zu pflegen.

Hatte der bleiche Alexius die Zuschauer nervös gemacht und beinahe gepeinigt, dieser Bruder Klaus schuf ihnen Behagen. Sie lehnten sich in die Bänke zurück,versuchten das linke Bein wohlig zu überschlagen und blickten fast herausfordernd um sich. Das war ja ihr Holz, ihr Stein und ihr Fleisch und Blut. Und mochten die Italiener noch so heilige Wunderlichkeiten hervorbringen, nur immer weiter! Ein solcher Nikolaus von der Flüe ging auf ein Dutzend Alexiusse, Pankraziusse und Servaziusse. Dort gab es soviel Sage,mindestens waren so viele Mäschchen und Schleifen hineingeschnörkelt, daß man den echten Zwirn kaum mehr zu greifen bekam. Hier aber waren Geburt und Tod und was in Mirakeln dazwischen rann, mit obrigkeitlichem Blei und Siegel verbürgt. Die Heiligen dort im Süden sind gewiß gute, weiche Menschen, so biegsam und melodisch wie ihre schönen Bäume, aber auch so in den Staub gezogen und von jedem Laffen zerblättert und zerfetzt. Aber so ein Sanktus der Schweiz ragt zäh und gerade wie Tannenholz empor und fächelt und säuselt nicht und wischt den Boden nicht und wer die Krone bewundern will, muß ... klettern können!Ja, hat dieser Bruderklaus nicht eine Haut wie Baumrinde und Hände wie zähes, braunes Geäste und ein hohes, langes, spitzes Haupt wie ein Tannenwipfel?Tönt sein Reden nicht tief wie das Flußwasser und steht sein blaues Auge nicht still wie der Himmel ob dem Ranft? Ist er nicht mit unserem Bergland zu einem Atem und Frieden verwachsen? Wo hat der Süden von Gott und Mensch und Natur eine solche ... man verzeihe! ... heilige Dreieinigkeit vollbracht?Etwa bei Alexius? Wir danken.

So stellte das Publikum den einen Heiligen dem andern parteilich entgegen, während die beiden sich längst im Jenseits duzten und vielleicht gerade jetzt Arm in Arm auf einer Lilawolke ihren Abendspaziergang abhielten und sich über die schlechte Gefolgschaft ihrer Landsleute diesseits und ennet den Alpen beklagten,wobei es keinen Anterschied ausmachte, ob der eine in weithallendem Latein und hohem Bariton, der andere in urchigem Bauerndeutsch mit einem abgründigen Baß seine Seele erleichterte.

Dem Alois wohlte es im gesunden, nach Harz und Tannenzapfen riechenden Heiligenschein dieses Eremiten merkwürdig rasch. Das ganze Einsiedeltum heimelte ihn mächtig an. Wenn es ein Häuschen wäre statt so ein Bretterverschlag, dachte er, mit einem hellen Fenster und etwa einer gedeckten Vorlaube, wo man nachmittags ins Laub und Wasser träumen und ein paar Erzengel erwarten könnte, und wenn eine hübsche Bibliothek in der Ecke stände für die Regenzeit und den Nebel und Schnee durch fünf Monate, und freilich auch ein gutziehender, wohlgeplättelter Ofen und eine bequeme kleine Küche mit etwas Gedörrtem im Rauchfang, vielleicht auch ein kleines Gehege von Hühnern und Kaninchen und etliche Obstlager im Keller mit einem Fäßchen Most zuhinterst und ein Saum Garten mit Brombeer- und Birnenspalier, wohlumzäunt, und ein wachsamer Spitz am Törchen ... dann, ach dann möchte ich schon heute ...

„Da wäre es mir aber zu langweilig,“ kritisierte eine leise, hastige Knabenzunge.

„Wart' nur, Haspel du, es kommt schon noch anders!“ tröstete eine langsamere und ältere Stimme.

Nachts wegen den Räubern müßte ein gutes Schloß mit doppeltem Riegel den Eingang sperren ... die Engel gelangen ja durch das Schlüsselloch herein ...und allerdings der Teufel auch ... Ja, der Teufel auch ...„Wo schaust denn hin, Letzkopf?“ tadelte mit seinem dunklen jungen Baß Konrad. „Paß auf! Jetzt fängt die Tagsatzung zu Stans an. Da war mein Ahne auch dabei, der Schultheiß von Luzern.“

Die Bühne gab einen braungetäfelten Saal mit offener Türe auf eine Vorlaube hinaus. Die Gesandten der Kantone tagten. Hohe Stühle waren im Halbkreis aufgestellt, mit einem Tischchen in der Mitte für den Vorsitzenden und seine beiden Schreiber. Aber niemand saß, die einen standen behend gegen die andern,es bildeten sich feindliche Gruppen, die Gesichter weiß vor Zorn, zwischen denen ein ältlicher Genosse mit haltloser Miene hin- und herlief und endlich sich erfolglos in einen der vielen leeren Stühle warf und den roten Kopf wischte. Hans Waldmann klopfte ans Schwert und schüttete den ganzen Hohn eines weitsichtigen Emporkömmlings auf die steifen Herren der Urschweiz. Die Einigung schien unmöglich. Zu weit gingen die Interessen der Städte und der Länder auseinander. Unlängst hatte man den Burgunderkrieg gewonnen. Ein Herzog wurde vernichtet, der zwei Könige wog. Das eidgenössische Banner flatterte tief ins Ausland hinunter und alle Monarchen Europas zogen den Hut vor diesen Raufbolden. Was nun? Soll es weiter gehen in dieser Tonart? Dem Meere zu? Sind wir eine so starke Flut, um es mit lebendiger Woge zu erreichen oder werden wir in Pfützen und Lachen verkümmern und zuletzt spurlos versanden? Ist es nicht besser, uns in die alten, engen Zäune zu bescheiden, mit dem Rücken an unsern Alpengranit gelehnt, im sichern Horst, klein aber warm und unerreichbar wie ein Adlernest? ...Die Bauern schauten auf Pflug und Hirtenhemd und sagten: „Ja, keinen Schritt weiter. Nehmen wir das Stadtwesen von Freiburg und Solothurn nicht in unsern Bund auf, ob sie auch im letzten Krieg mitgeblutet haben und tüchtigen Sinnes waren! Sie tranken zu lange andere Milch“ ... And die Städte blickten ihren Flüssen nach, dem Rhein, der Aare und Limmat und ihr schöner, kluger Wanderrhythmus hüpfte hinüber in die eigenen Schuhe. Und sie sahen die Schiffe landab fahren mit Segeln wie Siegesfahnen. And sie dachten an ihre Kaufherren in Marseille und Brügge und was da Herrliches und Berühmtes in Weltweite zu holen wäre. And kurzerdings, sie wollten endlich aus dem Pförtlein der alten Geschichte schlüpfen und sich in die große Welt hinausdehnen. Hie Heimweh, dort Fremdweh; hie fester Fuß auf fester Scholle, dort eine eroberungsmäßige, unübersehbare, glänzende Unsicherheit.„Wir sind Herz und Kern der Eidgenossenschaft,“ schrie die Urschweiz. „Nein, die Raupe seid ihr nur, die versteckte und gefesselte,“ entgegnete Zürich. „Wir aber sind der Schmetterling, der die Larve zerbricht und in den Tag hinausfliegt. Den Tag wollen wir euch zeigen.Ihr kanntet ja nur die Dämmerung.“ ... „Einen kurzen Tag,“ höhnten die andern. „Slattert nur, würden wir sagen, wenn ihr nicht auch unsere Existenz mitvergeuden würdet. Flattert nur und seht, wie schnell euch ein Ludwig oder Leopold mit dem Fangnetz erhascht und aufspießt und in die Sammlung steckt, etwa mit dem Vermerk: „Helvetia, ein kleiner, dummer, seltener Nachtfalter, fliegt zu weit ins Licht und genießt zu viel, wird dann müd und blöd und geblendet und läßt sich so leicht gegen Mittag fangen und töten. Gehoört zur Familie der kurzlebigen Nascher.“

So ging es her und hin. Man beschwor sich bei den silbernen Gipfeln der Alpen, bei den Geistern der Tellen und Winkelriede, bei jener stillen Seewiese im winterlichen Mondschein und jenen gebrochenen Herrenburgen des Neujahrmorgens 1308, beim Geläute unserer Dorfglocken, beim Geschelle unserer Kühe, beim Jodel unserer Kilbi. Man flehte, faltete die Hände, befahl,fauchte und bellte sich an, schmähte und lästerte den Bruder einen Verräter und Mörder im Mutterleibe.Diese kannten jene nicht mehr. Es war, als spräche man zwei wildfremde Sprachen oder gehörte zwei verschiedenen Zeiten und Vaterländern an. Schließlich wurden die Blicke still und hart, der Zorn wortlos, das Reden eiskalt und das Schweigen tödlich. Ja, der Tod warf schon seinen Schatten in die Reihen. Man wartete nur noch aus Höflichkeit auf den Bruderklaus, da ihn der Stanserpfarrer nun einmal um Gottes willen hergerufen hatte. Warten wir, hören wir, aber jetzt hilft nichts mehr als das Schwert.

Bei dieser Szene beobachtete der Rektor seinen Nachbarn genau. Er überlegte, nickte und sagte dann mit kameradschaftlicher Neckerei: „Da siehst dul Schon immer gab es bei uns Schweizern in guten Treuen Ja und Nein an der gleichen biderben Politik.“

Aber Landammann Horat sah ernst auf und lächelte nicht: „Was meinst du damit?“

„Ich meine,“ erläuterte der Rektor flinken Geistes,„du würdest auch hier gegen dein Volk stimmen. Mit Bern und Zürich machtest du gemein.“

„Gewiß, Magnifikus, aber nicht so sehr mit Bern und Zürich, als diesmal vielmehr mit einem Heiligen.“Und nach einem kleinen Nachsinnen setzte er bei: „Wenn man uns nur auch heutzutage immer sagen würde, auf welcher Seite der Bruderklaus stände.“

„Oho, ihr Politiker ...“

„Du hast recht! Ich würde zu den Städten stehen,ganz sicher ... und ich würde wieder für die neue Ver fassung stimmen, das schwör' ich, auch gegen den Bruderklaus, auch gegen ihn! Er ist ein Heiliger, aber der Verstand und das Gewissen ist mir noch heiliger ...“

„Rarus vir,“ sagte sich der Rektor in beiderlei Sinn von selten und seltsam und blickte vom Freunde wie von einer doch nie ganz vertrauten und durchschauten Seele weg. „Der Verstand ... heilig ... das muß er mir später deutlicher machen!“

Indessen toste auf den Gassen die angstvolle Neugier des Volkes. Es schrie und drohte, als wäre schon Krieg.

Nun werden sich also die Schweizer schlagen, die derben Länder am See gegen die erlauchten Städte Zürich und Bern. Keiner wird weichen, bis alle von Blut und Kraft sind. Darauf wartet der Habsburg rechts und der Ludwig links und der Schwabenbund oben und der heiße Lombarde unten. Um die Schweiz ist es geschehen.

Die Glatze des Historikers Pater Johannes, nur mit einem magern, blonden Saume umkränzt, glänzte zur Bühne auf. Immer die alte Geschichte, zürnte er.Mehr als Pest und Blattern und Hungersnot und Wasser und Feuer und Steinschlag und Erdbeben und Bär und Wolf und Gewürm, hundertmal mehr als das hat der Mensch dem Menschen Leides getan. O was könnte er sein, der Freund Mensch ohne den Feind Mensch!

Jetzt ward eine braune Kutte am Portal sichtbar.Die Köpfe beugten sich und es wehte wie getragen von einem leisen, langsamen Winde der Einsiedler vom Ranfte herein. Und wie er nun die grauen Augen so ewigkeitlich herumgehen ließ und die Arme von den Hüften löste und langsam ausbreitete, als wolle er etwas umarmen, was nicht da war, die Liebel ...siehe, da erschauderten die Abgeordneten unter ihren Mänteln. Es duftete aber wie von Wildnis und Vogelfrieden aus seinem Talar. Er hatte noch nicht einen Ton erhoben, als schon alle fühlten, es löse sich etwas gleich Riemen und Spangen an ihnen. Sie fühlten sich widerstandslos dem gegenüber. Das Poli-tische und Hochamtliche verrauchte und das gemeinsame,uralte, singende Hirtenbubenblut erwachte in jedem.Wie Kinder sahen sie einander an und wie Kinder blickten sie zum überragenden Vater Eremiten empor.Er wird schelten, er wird strafen und dann wird es wieder Eine Freude und Eine Liebe in der Familie sein. Dem Alois ward ganz heilig zu Sinne.

So hatte Paul die Studenten gedrillt. Sie sollten nicht erst allmählich unter der Ansprache des Heiligen die Finger von der Faust lösen und die Wimpern lichten, das sei schlechtes Theater. Nein, sie sollten das Unbegreifliche eines Wunders ohne Schielen und Stelzen darstellen, so recht in seiner plötzlichen, einfältigen Kindlichkeit. Und in der Tat, diese sprachlose,unaufhaltsame, unbewußte Änderung der Mienen und Herzen, ähnlich wie die Sonne unvermittelt in eine düstere Kammer fällt und sie von Grund aus ins fröhliche Gegenteil wandelt, überzeugte wie ein Naturereig-nis, mit dem man nicht unterhandeln, das man nur hinnehmen und bestätigen kann.

Und nun die gottschöne Rede des Mannes! Ach,welches Schweizerkind kennt sie nicht Satz für Satz?Ist es nicht das Schönste, was seit dem Rütlischwur über eine Schweizerlippe kam, und auch das Weiseste und das Einfachste? Nie hat ein Vater besser zu den Kindern, nie ein Richter gerechter zu den Parteien,nie ein Staatsmann tapferer und klüger zu Volk und Rat gesprochen. Er wehrt der Hand, die nur erraffen und ebenso der andern Hand, die den Fetzen Tradition als das Eins und Alles umkrallen will. Er wehrt dem Schuh, der über alle Häge setzt, aber auch dem uralten Pantoffel, der immer nur soviel behauptet,als er mit seinem faulen Filz deckt. Wer alles will,verliert alles; aber wer nichts will, besaß auch nie.Die Fenster rüstig auf und gescheit ins Freie geblickt,aber beizeiten geschlossen, ehe ein fremder Wind die Scheiben zerbricht und Duft und Wohnlichkeit des Heims zerstört. Aber das Tor nur langsam auf, dann weit und herzhaft hereingelassen, was ein gutes Paßwort weiß, aber rasch verriegelt und treu gehütet! Wohlverstanden, ein kleines Land in großer Hand heißt Reichtum, ein großes Land in kleiner Hand heißt Armut über Armut ... Der Bruder ist mir mehr als der Nachbar,und der Nachbar mehr als der Fremde. Aber alle drei sind Kinder Gottes von gleichen Gnaden. Doch immer lieber geeinte Brüder gegen den Nachbar als entzweite Brüder für den Nachbar. Schön ist ein lauterer Kampf. Aber ein lauterer Friede geht über alle Schönheit. Und der uns Fried' und Heim und wahre Politik und ewigen Staat und Glorie bedeutet:der Name Jesus syg üwer Gruoß!

Nikolaus von der Flüe redete langsam, mit dem Basse eines Bergwassers. Aber seine Lippen färbten sich hell, während die Augen sich in einer schönen stillen Schwebe hielten, wie zwei mit Strenge und Liebe gleich gefüllte Wagschalen. Und mit jedem Satze, den er sprach, wurden die Männer kindlicher und was noch etwa von Eisen und Grimm heimlich an ihnen haftete,das, ich möchte sagen, schwitzte zusammen wie Schnee im Föhn und verdunstete. Als dann der Einsiedler das Amen gesagt und noch langsam ein Gesicht nach dem andern gestreift hatte, als zähle er, ob alle da waren, ob das ganze Vaterland zugehört habe, und als er sich dann eilends seinen Wäldern zuwenden wollte, um ja keine Minute Einsamkeit länger zu verlieren, da fanden die Tagherren noch immer kein Ja!oder Gottes Dank! oder Lebewohl! sondern drängten sich suumm wie eine Herde Schafe um ihren Hirten und suchten seine Hand oder auch nur den groben Saum seiner AÄrmel zu küssen. Die Schweiz war gerettet. Die Glocken läuteten, die neuen Kantone wurden brüderlich umarmt und ein Gesetz voll Sauberkeit und gelassenem Geiste, das den Städten und Ländern gleich Freund war und gleichsam die Zukunft des Vaterlandes ans väterliche Herz schloß, ward noch am selbigen Abend entworfen, ins Reine geschrieben,von Sämtlichen unterzeichnet und mit Blei und Siegel dauerhaft gemacht.

Fern zwischen den beschneiten Tannen verschwand der braune Rock des Eremiten.

„Jetzt wird es wieder langweilig für den braven Mann,“ bemitleidete die frühere hastige Knabenstimme.„Dableiben sollte er und gar nicht mehr in die Wildnis gehen.“Alois hatte sozusagen in einem einzigen berauschenden Atemzug die Tagsatzung miterlebt. Besonders jener schweigsame, forschende Blick von einem Gesicht zum andern hatte ihn erschüttert. Und wie der Klausner sich dann gelassen wandte, und in den Tannen oben wohl erst stillestand und von allem Samt und Kettengold und pergamentenen Hochmut so recht aus der tiefen Lunge aufatmete, ah! Salve Einfachheit, salve Silentium, salve, salve Freiheit der Seele! Inständig war Alois jedem Strich und Tüpflein gefolgt, seine Schläfen arbeiteten unbewußt und seine Backenmuskeln zitterten vor Erregung. Jetzt beim lauen und feigherzigen Spruch des Jungen hinter ihm schoß er wild auf dem Sitze halbwegs herum und focht den Studenten leise an: „Einen Dreck verstehst du vom Bruderklaus.Heim muß er absoluti. Wenn ihn der Herrgott ruft,kommt er schon wieder. Aber ...“

„Was hat der Fötzel für ein freches Maul!“flüsterte der Angesprochene belustigt zu einem Dritten.

„So maule nicht so dumm!“

„Piano, verstehe du erst, was ich meine: es ist schade für so einen Mann, da oben im Wald allein zu hausen und niemandem zu nützen. Er sollte ein Schultheiß von Bern werden oder ein Feldherr im nächsten Krieg, weißt, im Welschland. Ich wette, er würde der größte Eidgenosse. Da oben versauert er.Das mein' ich. Er kann ja die Kutte im Koffer mit nach Bern nehmen und nachts anziehen und einen Rosenkranz darin beten. Aber am Tag soll er in Hosen und Gurt und Kragen stehen und politisieren und helOder dann sollen sie gerade in ein Kloster ... nein,das gefällt mir gar nicht, das wird langweilig.“

„AUnd ich setz',“ stritt Alois dagegen, „er hat es kurzweiliger als wir alle zusammen. Er sieht im Dunkel mehr als wir im Licht. Er hat mit seinen Gedanken und Gesichtern genug zu tun. Und was ich denke:unser Herrgott zeigt ihm, was noch alles kommt, Böses und Gutes. Und der Heilige kämpft nun gegen Gott,daß er schone oder daß das Bose womöglich bis zu seiner Stunde Hand und Fuß verliert, aber das Gute dann kolossale Fäuste bekommt und alles gewinnt. Und der Bruderklaus kämpft auch mit den Engeln darum,daß sie zu ihm halten. Freilich, der Teufel am wenigsten will so was leiden. Und da gibt es auch mit dem Teufel einen Hosenlupf. Das muß famos sein, wenn er ihn auf alle Viere wirft, daß die Hörner krachen.Alle Vögel schauen mit stillem Schnabel zu und alle Füchse und Hasen und Wölfe und Hirschen und die Petze aus dem Melchtal ... And die guten Tiere ...“„Ist der Kleine besoffen?“ murmelte jemand.

Einerlei, weiter! „Und die guten Tiere denken:wenn der Heilige nur Meister wird! ... Und die bösen möchten eigentlich auch lieber, daß er gewänne.Denn sie sind nicht gern böse. Sie möchten gut sein ...Und so ... ja, was hab' ich sagen wollen? ...o du weißt gar nicht, was der Bruderklaus dort oben in der Schlucht für uns leistet. Bestimmt mehr als alle Landammänner und Obersten und Professoren ...exküsi ... ich meine nicht euere Patres hier ...ich ...“„Nein, hör' doch, Wirz, wie der schwatzt! Britschgi,Durrer ...!“

„Das glaub' ich dir gern, daß er dann wohl auch nach Luzern und Zürich reist und nachschaut, ob alles mit Gott zugeht. Er wird, denk' ich, mit den Schultheißen zusammenkommen ... Kann sein, es gefällt ihm nicht schlecht in der Stadt, wenn man ihm das Großmünster mit dem Karli am Turm zeigt und großartige Musik macht. Etwa trinkt er dann sogar ein Glas Sauser und segnet die Reben ...“

„Woher fabelt das Kerlchen denn alles? So ein Deklamator! Hat er es auswendig gelernt?“ fragte die hohe, hastige Stimme zu Konrad fast mit Respekt.

„Haltet das Maul, beide miteinander!“ drohte der Angerufene. „Das muß ich sagen, Kleiner, du wärst ein sauberer Waldbruder. Ein Weltbruder eher mit einem Schwips vom Sauser! ... Na, jetzt klatschet doch auch mit, lauter, noch mehr! ... Sieh, man will durchaus deinen Vater heraushaben ... Schreien wir mit! Meister Spichtiger ... Spichtiger ... Spichtiger! ... Hervor ... vor ... vor!“

Wie das tönte: wie ein unbekannter, neuer Name.Immer hatte Alois ihn anders gehört, leise und nicht ganz rein. Jetzt aber toste und schütterte es durch den Saal und eine Kraft und Melodie lag in dem schwierigen und unmelodischen Worte wie im Schütteln und Triumphieren einer Eiche. Es knarrte und knackte und krachte und schoß zischend in die Wipfel: Spichtiger,Spichtiger. Zwei Pagen mit Kränzen hüpften auf die Bühne. Dem Alois rann ein süßer, atemraubender Schauer durch den Leib. Zum erstenmal fühlte er den

Federer, Das Mätteliseppi. 28 Brausewind des öffentlichen Beifalls ins Haar und Herz greifen. Es war ein Föhn, der schwindelig machte.Alois erstickte fast. Es ward ihm trüb im Auge, er mußte die Lider senken, gerade als sein Vater, den weichen, schwarzen Bart tief an der samtblauen Künstlerjacke herunterstreichend, langsam in die Mitte der Bühne schritt, wo der Souffleurkasten sich aus dem Boden höckerte. Sein breites Gesicht war von durchsichtiger Blässe. Seine kleinen Augen lachten mysteriös in die Verwirrung hinunter. Er wollte etwas sagen und ließ schon die nassen, roten Lippen unter dem Barte mit einer Reihe großer, verräucherter Zähne sehen.Doch verbeugte er sich nur, ließ die Kränze bis hinter die Ellbogen gleiten, preßte den Mund unter konvulsivischem Zucken zusammen und verbeugte sich wieder.In dieser Sekunde schoß ein Pfiff so scharf und schrill wie ein Pfeil durch den Saal. Paul Spichtiger ward erdfahl, wehrte mit einer Hand gegen das Parterre hinunter und griff mit der andern an die Herzseite.Der Vorhang fiel. Doch hatte niemand den Pfiff sonderlich beachtet. Er war wohl dem Mutwillen einer losen Lippe entfahren. Niemand bekümmerte sich um solchen Schlingel. Alles drückte sich eifrig den schmalen Ausgängen zu.

Alois freilich wußte, daß es ein Pfiff zwischen den gebogenen Fingerknöcheln war, den im ganzen Volke hier nur einer so hart und herzlos geben konnte: Friedel Herri. AUnd er ward noch blasser als sein Vater vorhin und preßte die Hand an ein noch wilder schreiendes Herz, und Blut trat ihm in die Augen. Ich hasse dich,schwor er in sich hinein, während seine Lippen steif und zäh wie Leder vorstanden. Du bist mir immer der Spielverderber. Damals hast du mir die Stadt Plewna verderbt und du hast mir das Gedicht verderbt und die Orla und den schönen Tag verderbt! Alles machst du kaputt. Ja, nichts als ein Verderber bist du.Aber ich fürchte dich nicht mehr. Jetzt kommt die Reihe an dich. Jetzt will ich, ich dich verderben. Ich bin stärker als du. Ich bin mit Alexius und Bruderklaus.Ich lasse dich nicht, bis du wie nichts vor mir liegst.Mein Eid!Und seine hellgrauen, ergebenen Augen gingen kühn auf und spritzten Feuer in die dunkel zu den Türen wogende Menge und schossen kreuz und quer und suchten in jeder Furche nach dem verhaßten Angesicht.

28*

4*

13 Aë das Mätteliseppi heimkehrte, war es tiefe Nacht.Aber vom Schnee und von ein paar großen, weißen Wolken, die der Mond hinter dem Berg schon beschien,ward die Landschaft märchenhaft licht. Die Jungfer hatte bei ihrer Schwester im Hauptort zu Nacht gegessen. Um die Neune würde ein Schlitten sie heimfahren. Aber um halb Zehn lief der Vetter Fuhrmann vors Fenster, klopfte und rief, man habe das Pferd noch nicht bekommen können. Das Seppi möge in seinem Hause in der warmen Küchenkammer schlafen.Aber das alte Mädchen band die Schuhriemen fester,knüpfte sein schwarzes Wolltuch über die magern Zöpfe und schuhte breit und schwer unter dem liebreichen Goldinger Mondschein dem Dorfe oben am See zu.Irgendwo schlug es zehn Uhr. Sonst schlief das Seppi um die Zeit schon längst in seinem jungfräulichen Bette oder hörte, wenn es etwa noch die Allerheiligenlitanei leise im Kirchenton vor sich hinsummte, nur noch die zwei, drei ersten Schläge im Einschlummern. Aber es fürchtete sich nun auch nicht, einmal so spät und nachtbubenhaft durch die Welt zu stapfen. Im Rücken, von Goldingen her, drang ein fernes Johlen den Schnee herauf und irgendwo in der Straße vorne hustete jemand.Anheimlicher tat der hinter den Riedern beginnende,stückweis gefrorene See. Er schrie wie ein klagender Hund oder ein greinendes Kind von Zeit zu Zeit unter der ganzen Eisrinde hin. Es sei der atmosphärische Druck. Könnten es nicht auch arme Seelen sein? Das Mätteliseppi sprach ein strammes Schuß und Stoßgebet. Dann aber gefiel es sich wieder in der kritischen Erinnerung an das erlebte Theater und war ein wenig unwirsch, daß man den Spichtiger statt den Bruderklaus zum guten Ende vor die Rampe gerufen hatte.Auch der Alexius ... bei allem Respekt vor dem Heiligen ... entsprach der Jungfer nicht. Er war zu zart gebaut, zu nervös und redete gar so seufzerlich. Nicht ein einziges Mal hat er gelacht. Und doch lacht niemand besser als die Heiligen. Was den Nikolaus von der Flüe anlangt, so hätte auch er noch rauher reden,einen wildern Bart tragen und einen breitern Bauernschritt gehen sollen. Das leise, sinnige Gebaren mit den Händen und die oft singende Betonung behagte dem Seppi schlecht. Vor allem hätte der Einsiedler nach seinem starken Schlußsatz nicht noch so merkwürdig herumgucken sollen, sondern mit dem Amen und Punkt-um mußte er sogleich rechtsum machen. Er mußte kommen und gehen wie ein Prophet: da bin ich, da enteil' ich, ob ihr wollt oder nicht. Exakt wie ein Stern,der aufflammt und erlischt wie Gott befohlen und keinen Teufel danach fragt. Schade, so ein Mischmasch ums Heilige! Aber das hat der famose Pauli ganz allein auf dem Gewissen. Der sieht den Himmel durch eine absonderliche Brille. Den Alexius hat er einfach verhunzt. An unserm Landesheiligen pfuschte er nach Möglichkeit. Aber das war zu solider Stoff und er vermochte gottlob nur wenig. Er hat ihn eigentlich nur ein bißchen gekräuselt. Das verstrubelt man schon wieder. Und so war es dennoch ein großartiges Spek.takel, eine wahrhaftige Sonntagspredigt für unsere Leute ...Da hustet jemand. Aber ich sehe nichts ...

Wie hehr war diese Schneenacht! Wie starrten die Wälder so still und schwarz von den weißen Bergen zum See herunter. Wie herb und würzig wehte die Winterluft und wie stark und stählern blau spannte sich der Bogen des Himmels über die Welt und verschoß lautlose kleine Sternenflammen kreuz und quer!Es hatte das gute Wetter da oben gehörig aufgeräumt.He, da vorne hustet es wieder, wohl ein verkälteter Schnäpsler. Denn heuer ist fürwahr ein gesunder Winter. Niemand müßte husten. Der Schnee deckt schon sechs Wochen mit einem halben Meter unsern guten Boden. Das tut der Herbstsaat gut, dem Roggen und der Gerste namentlich. Herrlich kalt ist's nach dem lauen Tag und dem schwülen Theatersaal. Der Hauch gefriert einem auf der Lippe. Es glänzt ein eisiges Bärtchen vom Kinn und Mund der Alten ...Wer hustet denn so?

Die Weberin beschleunigte den Marsch und sah jetzt einen dunkeln Gegenstand an der nächsten Telegraphenstange angelehnt. Er schien bewegungslos und doch kam das Husten von ihm. Sonderbares Husten,beinahe eher Schluchzen und dunkles Reden. Als das Seppi furchtlos näher trat, ward das Ding lebhaft,schlüpfte hinter die Stange, versuchte über die breite Hecke zu setzen und fiel ins Knie. Sogleich erhob es sich wieder und rief mit leiser, heiserer Angst: „Rührt mich nicht an! Laßt mich hier! ... Ich weiß schon,was ich will ... Nie gebt ihr mir Ruhe ... Immer kommen mir zwölf Schatten nach ... der von Freiburg und Solothurn dabei ... und einer pfeift grausam ...hörst du ... sol! ... o so!“ Ein Nachtvogel? Nein,vom Eise her klang ein gedehnter, unterirdischer, lang atmiger Schrei. Paul Spichtiger hielt sich zitternd am Arme des Mätteliseppi. Seine schönen, kleinen Augen starrten gläsern wie bei einem erschrockenen Kinde ins Leere. Aus seinem Barte strömte der üble Geruch von Wein und Tabak. Im Schnee lag ein fast entlaubter, runder Reifen, der Theaterkranz.

„Ihr?“ rief die Jungfer erstaunt und schüttelte sich vor Abscheu. „Pfui doch! Wenn Euch die Leute sähen, die geklatscht haben.“

„Geklatscht,“ lallte der Arme, schöpfte mit der Hand in der Luft und fing wirklich eine dämmernde Erinnerung an den Beifall im Theater. „Geklatscht ... aber auch gepfiffen ... gepfiffen ... Und etwas in den Wein ge ... gemischt ... ein Pulver, wie dem Euphemian )...Ha, ich weiß ... vielen bin ich im Wege ... so vielen ... sakkerdie?)! allen, allen!“

Wie er noch prahlt! Dem Muätteliseppi stieg der Grimm bis unter die silbernen Haarlöffel. So ein Schund und Schwefel! Ganz voll ist er davon. Aber jetzt gibt es kein Besinnen. Es packt den Spichtiger unter dem Arm, stampft präzis über den Kranz mit ihm und schleppt den Betrunkenen die Straße vorwärts.Was ist das für ein Mensch! erwog es und runzelte gleichsam seine Seele vor Groll so tief es konnte, denn seine Stirne starrte glatt wie ein Schild in den Mond ...Noch eben weilte er bei den Heiligen und legte ihnen die andächtigsten Sprüche auf den Mund und sah Alexius sterben und den Bruderklaus Wunder

9 Vater des Alexius, den die Sklaven vergiften wollen. 9) aus sacer dies, ein Kraftwort.

0 wirken ... And jetzt stinkt er von einem Mordsrausch und faselt Schmutz und AUnsinn wie Spülicht heraus.Nein, er ist unverbesserlich. Man sollte ihn einsperren.

Es zerrte ihn weiter und schnauzte dazu: „Seid Ihr ein Lumpazi! Daß Ihr Euch denn gar nicht schämt! Paßt auf, wie Euch unser Herrgott bald zerreibt! ... zu purem Sägemehl! ... Ihr verhunzt die Heiligen . .. Das war Euer Alexius, aber nicht der unsrige!... Gebet den Arm besser! Ich komm' Euch nicht zu nah, behüt' Gott!“

„Alles nimmt man mir ... Wo hab' ich das Geld?“Er bedeckte die Taschen mit beiden Händen. „Und die Kränze ... nein ...“

„Ich stehle nicht. Aber Ihr seid ein ausgemachter Dieb. Dem lieben Gott stehlt Ihr die Zeit und Euerer Familie das Gut und Euerer Seele Ehr' und Seligkeit.Wenn Ihr nur ein Glas klingeln hört ...“

„Hast du nichts zu trinken, Verena, sag'?“

Das Mätteliseppi staunte ihn voll Empörung an.Da bog er sich nieder, um etwas Schnee zu lappen.Sein Atem dampfte. Er wollte auf den Boden sitzen.„Laß mich doch schlafen, Frau, ich bitt' schön!“

Die Jungfer schnarchte ihn furchtbar an: „Vorwärts marsch!“Nach einer Weile schweigenden, mühsam gekoppelten Marsches sagte Paul mit einer überaus weichen und guten Stimme: „Verena, schau', es ist wahrhaft wie Weihnachten .... Die Luft schmeckt so süß ....Ich glaube, man singt von den Sternen ... Alle Berge lachen. Der Schnee wiegt sich auf und ab wie viele hundert Flaumbettlein ... Wo ist das Christ-kind? ...“„Verdrecket mir das Allheilige nicht!“ wetterte die Alte hart. „Nicht das Christtind kommt zu Euch, sondern der Herr Richter Christus, daß Ihr es wisset !“

„Ich kenn' es doch so gut ... hab' es aus Pappel geschnitzelt . .. Aber der Herr Trister hat es zurück-geschickt ... so geht es ... Sag', gibt es denn da keinen Stall? ... Es muß da irgendwo doch ein Stadel stehen. Ich schlief oft darin. Man ist sicher.Unten hat es Kühe und Geißen. O nur bei den Tieren ist es gut ... bei den Menschen geht es einem ewig schlecht! . .. Was? nein? ... Und der Hund des Senators? Die Leute haben auf Alexius gespien.Aber der Ajax ist hergetrottelt und hat ihm die Beulen geschleckt ... Ich liebe alle Hunde und sie lieben mich. Noch nie hat mich einer gebissen. Aber die Menschen töten ... Mich töten sie hundertmal im Tag ...“

Das Seppi hatte beschlossen, kein lautes Wort mehr ins verrückte Gefasel zu mischen. Aber jetzt konnte es sich nicht enthalten, trocken und scharf zu bemerken:„Viel zu gut sind die Menschen mit Euch! ... Wäret Ihr nur ein Zehntel so gut mit ihnen! Zum Exempel denkt an Euere arme Familie! ÜÄbrigens, Pauli Spichtiger,“ rief es ihm nahe ins Ohr, „bin ich für Euch kein Du, verstanden! Ich bin das Mätteliseppi, verstanden!“

„Du ... da ... da ... la ... la ... geh' ich nicht über ...“ lärmte Paul entsetzt.Der breite schwarze Schatten eines Nußbaumstammes fiel über die mondgelbe Straße. Der Spichtiger stand ergrausend davor wie am Rande eines Abgrundes und sperrte sich mit aller Kraft, auch nur einen Fingerbreit vorwärts zu tippen.

„Wahrhaftig, Ihr habt ein heiteres Gewissen,“spottete die Führerin. „Der bloße Schatten eines Baumes!“

„Zurück ... um alles! Da fällt man hinunter ...hinunter ... und erstickt. Lasset mich los ... weg ...ich will allein sein.“

„Vertrackter Kerli! So seht doch nur hin!“ Das greise Mädchen stand mit beiden Füßen mitten in den Schatten.

Ein schneidender Schrei entfuhr dem kopflosen Spichtiger. Er schnaufte schnell und schneller, riß sich los und lief an den Hag. „Du bist der Teufel ... jetzt weiß ich's ... alle Heiligen Gottes,“ jammerte er und rutschte am Pflock nieder und setzte sich in den Schnee.Ein giftiger Husten ließ ihn nur noch abgerissene Worte hervorstoßen: „Gerettet ... o wie gut, wie gut! ...Da kann ich wieder schnaufen ... und schaffen ...“Er schluckte etwas Schnee. Sogleich ward ihm köstlich zumute ... „Jetzt muß ich was modeln ...da ist Leim, alles Leim ... was willst noch? ...So stör' mich doch nicht immer! O ihr gräßlichen Weiber!“

„Steht auf! So kommen wir nicht heim,“ kommandierte die Jungfer nun gewaltig wie ein Oberst.

Aber Paul setzte sich bequemer und erklärte mit beiden ausgebreiteten Händen sehr gütig: „Hier sind wir sicher. Jetzt, was willst du? ... Einen Alexius?oder ...“ Er grub im Schnee, schäufelte ihn hoch und fing an zu kneten. Seine Augen irrelichteten zum weißen Bergstock zu hinterst am See. Über seinen harten Schnee rann der Mond weich und dünn und leise rauschend wie flüssiges Gold zu Tale.

„Das ist ... das da ... das ... o schau' doch,“zeigte er, „das ist die Wahrheit ... ja, so hoch geht ihr Kopf ... hier ... und nichts als Gold ist darin ... ein Gehirn von Gold und ein Herz von Gold ...und die Sterne wachsen um sie herum, ganze Bäume voll Sterne ... so ... Und das Gesicht ist weiß und stumm ... siehst du,“ fragte er eifrig und deutete vom Schneeberg zu seinem Phantasiegebilde, „ob sie nur einen Muskel bewegt? ... Wenn man lärmt und brüllt, das ist nicht Wahrheit! ... So ... und hier! ... Schweigen und begreifen und lieben muß man, das ist Wahrheit ...“ Wahrhaft, Paul formte im Schnee, blies sich den Frost von den roten Fingern und modelte weiter etwas wie ein Gesicht, unförmlich,aber doch ein Gesicht und sicher ähnlich dem Berg und ähnlich etwas Erhabenem, Lebendigem.

Das alte kunstlose Mädchen war betroffen. Dort in den Höhen das Berghaupt so breit und still und bestimmt, mit großen Augen- und Mundlinien im blanken Schnee, wahrhaft, das ist ein Angesicht! Heißt es nicht, man sähe den Kopf Napoleons im Berg?Aber es hat früher über solchen Schwatz gelacht und nichts gesehen. Jetzt aber sieht es! Das gleicht dem,was Pauli sagt, wahrlich es ist geradeso, und wie er's nachfingert auch. Da sind die Achseln, breit ausgeladen und mächtig sitzt die Gestalt in den Hüften und immer weiter rauscht der weiße Mantel um sie. Die Wahrheit, sagt der Narr da. Das Seppi greift an den Kopf. Es erinnert sich an einen Kelch voll Veltliner.In den Hitzen vom Theater her leerte es ihn, des Weines ungewohnt, etwas flink ... Aber das ist und steht da, lieber Gott ... und auch das Modell des Spichtiger nimmt eine wunderbare Form von Ausdruck an ... Sind wir denn alle miteinander verhert? ...„So, nun hält das Haupt ...“ stammelte der Bildner, „nur die Stirne muß höher sein und ganz lauter ... noch höher ... höher ... höher ... denn das ist die Weltstirne, man kann sie nicht messen ...unendlich ...“ er drückte und drängte die Form aufwärts... da kippte das Oberste über... „Hahahaha...ja so.“ Mit einer widerlichen Lache quetschte er die ganze Form zusammen ... „Meint ihr etwa, ihr könnet mich zum Narren halten ... hahaha ... da seid ihr am Unrechten ...“

Wie eine Seifenblase zerplatzte die Verzauberung der Jungfer. Nein, jetzt wird es zu bunt. Das Mätteliseppi verschüttelte beschämt seinen steifen Rock,um den letzten Faden der verdammten Narretei los zu werden. Dann riß es den Spichtiger mit einer unsagbaren, stillen Wut empor und lief rasch mit ihm gegen Goldingen zurück. Er hing schlaff an ihm und wehrte sich nicht.

„Ich tu' es ... Ja, bei allen Heiligen, es ist meine Pflicht ... Das hätte ihm längst gehört ... Mag die Polizei sorgen! ... Freilich ... seine Frau wird es ungern haben. In dem Stück kann man nicht mit ihr rechnen ...“ So brummte es stoßweise für sich hin und versuchte dann mit rauher Seele ein paar Vaterunser zu beten. Aber es mußte immer wieder vorne anfangen. Mit Not kam es bis zur vierten Bitte.

Am ersten alleinstehenden Hause, einer Wirtschaft „Zum Schlusse‘, nahe dem Flecken, pochte es, murrte und zahlte etwas. Darauf lief ein Bursche mit einem aufbellenden Hunde davon. Paul lehnte sich mit einem Tropfen Wein am Pfosten über der Tortreppe, trank lautlos in einem Zuge aus und duselte dann mit dem leeren Glas in der Hand halbwegs ein. Aber schon glänzten Zweispitz und Metallknöpfe eines Blauhöslers.Dieser knipste beim Bericht des Mätteliseppi oft mit den Fingern und sagte jedesmal: „Natürlich! Selbstredend!“ ... Dienst- und Gastleute wohnten an den aufgerissenen Fenstern und an der Gangtüre dem Auftritt neugierig bei. „Ins Loch mit dem!“ kreischte ein ältlicher Grobian; „ganz wie mit unsereinem!“ „Nein,kugelt ihn lieber ein wenig den Schnee auf und ab,“riet eine derbe Magd mit hübschem, weißem Brust-latz; „das macht hurtig hell.“ Der Landiäger aber ging ruhig die vier Stufen hinauf und legte den Arm auf Paul Spichtiger. „He, Mann Gottes, so komme denn!“ And er schob ihm seinen Ellbogen unter, damit er sich darauf stütze. Aber in der gleichen Sekunde schnellte Paul zurück, flog in einem merkwürdig sichern Satz über alle vier Stufen ins Glatteis des Wegleins und von da in schußartigen, gewölbten Sprüngen, genau wie ein junger Stier, erzählte der Wirt Mareis nachher in der Weinstube, die Landstraße hinauf, stumm, atemlos, steif vor sich hinstierend, mit dem fixen Gedanken wie mit einem Dolch mitten in der Stirne: er müsse alles an diese Minute setzen.Häscher und Hunde seien hinter ihm. Man wolle ihn ketten und erdrosseln. O Religion, o Wissenschaft, o du Eines und Beides, Wahrheit, du Helferin des Freien,wehre, wehre! Sie lügen mich sonst tot, o sie lügen mich sonst tot! ...

Ein paar Pulsschläge lang blieb das Trüpplein am Haustor wie gebannt. Dann hetzte der siebzehnjährige Sohn des Wirtes, ein rothaariger Dickkopf, der hemdärmelig in die Kälte hinaustrat und noch drei nicht ausgespielte Jaßkarten in der Rechten hielt, den braungefleckten Hund auf den Ausreißer. „Faß ihn, Sultan, pack, pack! Frisch!“ ... Aber das schöne magere Tier sah ihn mit unerfreuten Augen an und setzte die Pfoten ratlos vor und zurück, als gälte es, ins Wasser zu springen. Da gab ihm der junge Herr einen Fußtritt die Stiege hinunter. Sultan winselte mit einer fast menschlichen Stimme, kroch der Mauer nach und verschwand in die Stallung.

„'s muß gar nicht so ein Bösewicht sein,“ schloß die Magd. „Einfach mit Schnee einsalzen!“

Inzwischen hatte der Polizist mit gleichmäßigen,ausgiebigen Sprüngen den Spichtiger eingeholt. Diesmal nahm er ihn derb, aber doch immer noch mit einer Art demokratischer Gutmütigkeit am Handgelenk fest und sagte spaßig: „Wir wollen doch gescheit sein, sonst tanzen wir bis am Morgen für sauber nichts da im Schnee herum. Kommet jetzt, Gutfreund!“„Philister, Pedanten, Despoten, Einstöckige, Fensterlose, Muffige ... seid ihr alle,“ keuchte Paul und schlug wie rasend um sich. Er stemmte blitzschnell den Arm vor und traf beim ersten Box mit dem Daumenknochen der Faust den Bedränger so energisch zwischen Aug' und Nase, daß dem Manne war, es surre ein Hornissennest durch den Schädel. Jetzt aber griff der barbarisch zu. Mit einem Ruck zerrte er Handschellen aus dem Rock, klemmte die Knie des Spichtiger zwischen seine zwei Schraubstockbeine, zwängte ihm die Hände flach gegeneinander, schnallte sie fest und hieb breit und brennend eins über die Fingerspitzen. „Das fürs Schlagen!“ knurrte er. „Und dies fürs Davonspringen!“fügte er bei und ließ mit der Firigkeit eines Tierbändigers rechts und links eine Zwinge um den Fußknöchel schnappen. Von einer Spange zur andern lief eine kleine eiserne Kette von geringer Schrittweite. „Und das ist für den Rausch,“ beschloß der Polizist und schmierte dem ohnmächtigen Künstler eine Handvoll Schnee über Stirne und Schläfen und schob ihm den Rest in den Kragen.

Voll Genugtuung erwischte das Mätteliseppi noch den Schluß dieser gesetzlichen Bändigung eines öffentlichen Sünders und Ärgernisses. „So ist es recht!“nickte es. „Wer nicht hören will, muß fühlen. Also vorwärts denn! Das gibt einen unterhaltlichen Spaziergang nach Hause ... Still ... hört' ich doch sehon vorhin Schlittenschellchen . . . Fährt mir am Ende der Herr Vetter doch noch nach?“

Man sah vom Dorf herauf zwei Laternen wie gelbe Katzenaugen sich rasch vergrößern. „Euer Herr

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Vetter? Ihr wäret froh! Das ist ja der Doktor Melchior.Seinen Braunen kenn' ich,“ widersprach der Mann.„Ade, Jungfer Seppe. Kommt gut heim!“

„Was ade? Ich denk', wir gehen zusammen.“

„Fällt mir ein! Der Mann bleibt bei uns in Goldingen. Marsch auf die Polizeiwache! Dort ist die Arreststube. Morgen koönnt ihr ihn wieder gern haben.“

Das Mätteliseppi erschrak nun doch. Arrest! richtiger Nachtarrest bei der Polizei! Es hatte nur an polizeiliches Weggeleite gedacht ... Frau Verena!Die Kinder! Der Dorfklatsch! ... Aber es stutzt nur einen Atem lang. Dorfklatsch! Hat dieser Tunichtgut sich denn je ums Dorf und seinen Tadel gekümmert!Geh er nur in Arrest! Unsere Hände reichen doch nicht aus. Aber wenn er das Gesetz spürt, wie es eine starke Faust hat und den Sünder mannlich in die Finger nimmt, wer weiß? ... Gott befohlen ...

Und im Dünkel, noch etwas ganz Nützliches veranlaßt zu haben, wollte es nur noch den Doltorschlitten vorüberlassen und dann mit einem raschen Trab durch Nacht und Schnee das Abenteuer beschließen, als Paul Spichtiger laut schrie: „Hilfio! Wer Ihr auch seid ...Hilfio!“

Aber der Kutscher, dem es galt, hing den Kopf unbeweglich in die Brust und fuhr vorüber.

„Helfet doch! Mir geschieht Gewalt ... Haltet!Hilfe!“ wiederholte Paul Spichtiger so furchtbar tief und laut, wie man nur in der Verzweiflung schreien kann. AUnd er rannte mit der Fußkette klirrend in lleinen Schritten dem Schlitten nach, überstürzte sich,stand schwierig auf und rannte wieder, indes der Polizist aus vollen Backen lachte: „Nur zu, nur zu, hörst bald auf!“Aber jetzt sah man den Schlitten langsamer gehen,anhalten und den Kutscher ins Kupee hinein horchen und antworten. Gleich stieg er auch vom Bocke und öffnete den Schlag. Aber nicht der Doktor, sondern Landammann Horat, dessen naher Vettersmann, stieg vorsichtig auf die Straße heraus. In dem klaren Mondlicht erkannte er sofort den Spichtiger. Aber bevor er sich einen Gedanken oder auch nur ein Gefühl darüber bilden konnte, rasselte der Verfolgte mit Handschellen und Fußkettlein auf ihn los, klebte sich sozusagen an ihn und rief aus weiß Gott welcher Herzenstiefe und von Geschluchze und Gehuste fast erstickt: „Rettet mich!“

Es tönte wie der Schrei eines Sterbenden. Horat erbebte bis ins Innerste.

Jetzt erkannte auch der Landjäger von ferne den Landammann und begriff unverzüglich, daß die Geschichte allen Spaß verliere. Schleunig lief er herzu und rief schon von weitem: „Er hat geschlagen ...zuerst ... guten Abend, Herr Landammann ... und gebort und gebissen wie furibund. Sehen Sie nur,wie ich zugerichtet bin! Ich habe ihn ganz sachte ..ganz sachte ...“

Als er an den Schlitten gelangte, saß Paul schon auf dem Polster drin und der hochmögende Landammann nestelte mit seinen behandschuhten Händen fruchtlos an der Fußkette herum.

„So sagt doch, wie man die Zwinge auftut!“pressierte der Horat gereizt. „Was untersteht Ihr Euch,

Federer, Das Mätteliseppi. 29 s

50 nur weil der ... der ... Herr da einen Rausch hat,gleich mit Kette und Handschellen ...“

„Herr Landammann,“ stotterte der andere ... „in Vorschrift ...“

„Schweiget! Immer meint Ihr, man dürfe mit Christenmenschen wie mit Kälbern umgehen. Von Amt und Stelle könnt' ich Euch jagen . .. Wie ... wie ...wie geht denn das auf? ... Weg! ...“ Gleichzeitig sollte der gute Mann helfen und gleichzeitig stieß er ihn von sich.

„Herr Landammann,“ entschuldigte dieser nun merkwürdig sanft, „sehen Sie mir einmal ins Gesicht!Den Ballen da! Den hat er mir geschenkt, weil ich ihn stützen wollte ... nur stützen! ...“ Übrigens,dachte er rasch dazu, ist es ein Glück, daß sie dich an der Landsgemeinde auch noch aus unserer Regierung werfen. Meine Stimme hast du heute schon ...Gott, was habt ihr doch für ungeschickte Hände, ihr Herrenleute!

„Ja, das ist schlimm,“ begütigte der Landammann,sowie er die aufgedunsene, blaue Backe und das Auge in der Geschwulst nur noch wie einen Katzenschlitz sah.„Das tut mir recht leid, Meiradi Holzer, Ihr solltet es mit Schnee und Schnaps einreiben ... das kühlt.Aber um alles, wie tut man da auf?“

„Das ist doch einfach, sol!“ Auf einen Druck an der Stahlfeder sprangen die Zwingen ab. Im Nu waren auch die Handschellen weg. Der Landammann hatte inzwischen den rechten Handschuh abgestreift, den Beutel aus den Hosen gezogen und reichte dem Beamten einen Fünffränkler. „Man sagt, ein Fünffränkler, kalt und hart auf die Geschwulst, macht sie in ein paar Minuten schwinden. Da ... nehmt den auch noch, im Falle der andere zu warm wird ... Einen Rapport,“ gebot er verabschiedend und mit völlig veränderter, trockener Amtsstimme, „braucht es da weiter nicht, verstanden!“

Meiradi Holzer bückte sich in einer beinahe schreckhaften Freude. Zwei Fünffränkler, fast ein Wochenlohn! Wie sie glitzern im Mond! So ein Stück ist doch die schönste Sach' auf Erden. Gold freilich! Aber wann hat man das? And hat man es, so ist es so klein und dünn wie die Schwindsucht. Kaum daß man's greift. Aber diese dicken Kerle von Silber!Mit der ganzen Hand kann man ihnen über das Gesicht fahren, ins Maul und Auge und schöne Haar,und man merkt, daß man etwas Solides an ihnen hat und ein Dutzend davon reißt den dicksten Hosensack durch ... Meiradi schob mit verdeckender Hand das Folterzeug in den Rock und sagte wiederholt: Hochgeachteter Herr Landammann! und: Untertänigsten Dank!Sodann zog er zum Wirtshaus zurück und meinte vor sich hin, es sei doch noch eine große Frage, ob man einen solchen Herrn aus dem regierenden Stuhl werfen dürfe. Kommt ein besserer? Sicher kein Fünffränkiger!Die meisten sind Einfränkler oder Halbfränkler, und ich kenne sogar bludd) und blöd einen Batzigen.

Vor der Wirtschaft grübelte er in den Säcken, sah auf die Uhr, dann nach dem Rathaustürmchen über den Dächern, kratzte rechts, kratzte links hinterm Ohr und y nackt, bloß.29*schwenkte endlich dem rauchigen Haus zu. „Wir haben doch Fastnacht,“ beredete er sein Polizeigewissen, „und ein Jaß ist schnell gewonnen. Hab' ich heut eine gute Hand ...das heißt ... die Geschwulst ... Ah bah! ...Aberhin geht vor ein oder zwei Uhr das Naufen und Bengeln nicht los ... Tu dir was Gutes, Meiradi! ...Und Ihr, Jungfer Seppe, was steht Ihr da? Wollt Ihr nicht Kutsche fahren? Es hat noch Platz. Und der Landammann ist in gnädiger Laune. Ich rufe ...“

„Unsereins geht zu Fuß, verstanden!“ verwies die Alte langsam und mit scharfer Betonung und schaute ihm scharf auf den Hosensack. „Ich will nichts geschenkt.“Der Landammann stieg indessen über die quer gestreckten Beine des Spichtigers in den Schlitten. Er wickelte den Schläfer in die warme Plüschdecke und setzte sich still in die andere Ecke. Das Gefährte fuhr leise und glatt über den Schnee wie ein Schiff auf leicht gewellter See.

Nikolaus Horat war in weicher Stimmung. Er hatte einen guten Abend in der Rektorsstube verlebt.Seit Monaten zum erstenmal geschah es, daß er wieder unter den geistlichen und weltlichen Honoratioren der Heimat saß. Statt Mißtrauen hatte ihn bald eine fröhliche, in ihrer zarten Zurückhaltung doppelt wohltuende Kameradschaft mit beiden Armen umfangen.Man hätte freilich alles Politische vermieden und erging sich dafür in alten Sitten und Zeiten. Seinen Bemerkungen aus den Archivblättern Anno 1470 lauschte man wie einem alten Harfner. Denn Horats tiefhistorischer Geist sah dies alte lückenhafte Geschreibsel in einem hellen Zusammenhang und sprach es mit vaterländischem Ernst und Schwung aus. Natürlich, die jüngst ihm zugefügte unendliche Unbill blutete weiter an ihm. Kein Wort davon! Aber es gibt Stunden, wo man zwar immer noch die Wunde, aber doch ihren Brand nicht spürt. Daneben ward ein gelber Klosterwein aus dem mittäglichsten Tirol herumgeboten und in seinem milden Feuer löste die Seele ihre Siegel und plauderte sich wieder einmal in süßer, vornehmer Rücksichtslosigkeit aus.Mit solcher Stirne saß der Horat nun im Schlitten.Die Lage dünkte ihn sonderbar. Sein Feind neben ihm auf dem gleichen Polster! War es denn wirklich ein Feind? So einer? Immer wieder mußte er ihm ins Gesicht schauen. Der unangenehme Geruch und Schnarch des offenen Mundes störten ihn wohl. Aber etwas Sonderbares zwang ihn dennoch, näher zu rücken und diese Züge zu studieren. Eine schöne, edle Stirne!dachte er. Ich kannte sie gar nicht, so hoch gewölbt und feierlich gefurcht. Und diese ungewöhnlich feine,ja, genialische Nase! Sonderbar, ich sah das nie. Er rief: Hilfe! Rette mich! Wie ein Kind, und gerade zu mir! Das hätte ich für unmöglich gehalten ... Ach,was sind wir doch für einsame Menschen, stehen nebeneinander und kennen uns nicht! Und was sind wir für verlaufene Menschen! Einer hungert sich am andern vorbei und beide zusammen könnten sich doch so schön satt machen. Ach wir ... Er zog die hinunterrutschende Decke dem Schnarcher wieder bis zum Bart empor und grübelte in den stillen Winter hinaus.„Knallt nicht!“ befahl er dem Kutscher, als man ins Unterdorf von Saldern fuhr. „Und daß Ihr mir dieses Abenteuer säuberlich totschweigt, sonst! ... Zum Spichtigerhaus!“

Der Landammann hämmerte schonungsvoll an der Türe. Frau Spichtiger war im Sprunge da. Sie hatte ein graues Wollentuch um das furchtbar magere Kopflein geschlagen, trug eine kleine Petrollampe in der Hand und Augen und Lippen waren fieberig entzündet.

„Nicht erschrecken, liebe Frau ...“

„Gott! Der Herr Landammann!“

„Euer Mann hat seine Sache sehr gut gemacht,ausgezeichnet sogar. Man hat ihm Kränze geworfen ...Da mußte er nun eben aus vielen Gläsern Bescheid tun und so hat er in der Hitze zu rasch getrunken und wohl ein bißchen über den Durst hinaus ...“

„Hab' ich's doch geahnt ... o je ... soll das nun wieder anfangen!“ klagte die Frau. Dann raffte die Kerzenflamme hinaus ins Düster: „Wo ist er denn?“„Da haben wir ihn ...“ Der Fuhrmann half dem halbwachen, aber reglosen Spichtiger bis zur Haustüre und wollte weiter mit der Last ins Haus. „Lasset nur,“ bat Verena schamhaft. „Ich tu' das schon!“Aber Paul fiele um ohne starke Führung. „Ich will es selber ganz schonlich machen, Frau Spichtiger,“ versprach der Landammann, „Toni, wartet derweil beim Braunen und decket ihn. Er dampft wie Heu! ...So, das geht ja ganz gut, ... da ist die Schwelle,aufgepaßt ... jetzt seid Ihr daheim, Spichtiger!“

„Lala ... lala ... la ...“ kam es aus dem verstrubelten Bart hervor.Frau Verena schritt durch die nächtige, ofenheiße Stube voraus. An den runden Tisch gerückt stand die Nähmaschine noch offen, mit einem langen Hemd unter der Nadel. Daneben lagen Apfelhülsen in einem Teller. „Herr, Landammann, ich schäme mich ...eine solche Ordnungl! Aber wer konnte denken, daß Sie ...“

„Kein Wort, liebe Frau; ich wollte, ich hätte all meine Sach' so im reinen wie hier ...“

Man trat in die Kammer. „Der Kleine!“ entschuldigte Verena. Die Stimme wollte ihr nicht mehr gehorchen. Sie konnte nur noch mit der Lampe auf Alois weisen, wie er müd und bleich gleich einem Toten im breiten Bett des Vaters gegen die Wand zu lag und eine Hand schlaff über den Wirbel schlug.

„So, jetzt dank' ich vielmal.“ Sie kniete vor Paul nieder und zog ihm die Schuhe aus. Das bedeutete,der Landammann möchte nun gehen.

„Ihr habt ein tapferes und talentiertes Büblein,“lobte der Horat, von der Armut des Zimmers gerührt und durchaus innerlich genötigt, der Frau etwas Tröstliches zu sagen. Er blickte herum. Auf dem Nacht-tischchen lag ein Bündel Zeitungen. Das gab dem Landammann einen scharfen Stich. Aber gleich war es vorbei. Er besah das Papier nochmals beinahe mit Humor und setzte fort: „Schicket mir den Jungen doch,höret, schicket ihn ohne Besinnen zu mir, wenn Ihr etwas braucht. Meine Rosalie sagt, Ihr sehet schlecht aus diesen Winter ... Sie hat recht. Schont Euch doch ein wenig für die Zwei hierl ... Kann ich etwas tun? Rosalie ...“ Er griff in die Tasche.

„Laßt, laßt ... wir haben jetzt genug Geld!“ sflehte die Frau mit abweisender, aber ehrerbietiger Stimme. schuldig, Herr Landammann ...“ Sie hüstelte trocken.

„Rosalie wird mich schelten, ich weiß ... Schuldig!Er schnippte mit den Fingern wie über etwas Unverständliches, sagte dann aber schnell und mit vollendeter Artigkeit: „Der Alois gefällt mir. Schnauft er immer so schwer? Na, das wächst er mal aus ... Er ist stärker, als man glaubt. Hab' ich doch selber erfahren,wie er sich wehren kann. Mit dem Vater geht er schlecht und recht ... Denket daran, Frau Spichtiger,Rosalie und ich haben Freude, so oft er zu uns kommt.Gute Nacht allerseits! ...“

Nach einer beschwerlichen Viertelstunde war auch Paul Spichtiger wohlgebettet.

Er geht mit dem Vater schlecht und recht, wiederholte Verena. Das ist es eben. Das sollte er nicht.Sie hielt die Lampe näher und es schien ihr, ob sie sich noch so sträubte, die beiden Schläfer hätten sich noch nie so Zug um Zug geglichen.

Was ist nun das Nächste? fragte sie mutig wie immer und schritt in die Stube hinaus. Frisch,Maschine, das Hemd muß vor Tag fertig werden.

Drinnen aber in der kalten Kammer, im Fensterlicht des Mondes, lagen Vater und Sohn im gleichen Bette und im gleichen schweren Atem nebeneinander, der große und der kleine Schauspieler dieses Tages, und schliefen und taten, als wäre ihre Tragödie schon zu Ende.

14 Ser einiger Zeit schrieb Paul auf Tod und Leben über verzeichnete Skizzenblätter hin: Wie lassen sich Wissenschaft, Religion, Glaube und ähnliche erlauchte Begriffe bildlich darstellen? ... Wie oft und wie vieles hatte er darüber gegrübelt. Jetzt floß es wie ein Bach aus der Feder. Er antwortete glänzend und genau. Man sah die Statuen wahrhaft entstehen,wachsen und gleich einer Frucht sich herbstlich ausreifen.Alle Einwürfe erlagen unter dem wuchtigen Aufgebot von Geschichte und Erfahrung, von antiken und modernen Skulpturen und vor allem von phantasievollem eigenem Philosophieren. Die Blätter schwollen zu hauf. „Das gibt ein Buch,“ schmunzelte Paul. „Am Ende werde ich noch ein berühmter Schriftsteller. Wer weiß, ich bin es schon!“

Sorglich verschloß er das Manuskript in seinem Handkoffer. Aber eines Tages las Verena doch ein erst in Bleistift begonnenes, wirres Blatt auf.

„Hast du's gelesen?“ fragte Paul ängstlich.

„Ich habe es probiert, aber ...“

„Nicht verstanden! Das glaub' ich gern,“ triumphierte der Meister. „Warte nur, bis das Buch in den Fenstern schreit: fünfte, zehnte, dreißigste Auflage!Dann verstehst du es schon. Wo lag es denn?“

„Auf dem Kellertischchen ... neben einer leeren Flasche und einem leeren Glase,“ sagte die müde Frau und betonte mit stillem Vorwurf das böse Wöortlein „leer“.

Paul schwieg. Aber er streckte vom Stuhle aus die Arme nach seiner Gattin empor und lächelte sie kindlich an. In seinen Augen leuchtete etwas wie Kirschen, Spatzenlust und gefahrlos blitzende Juninächte.Ja, wie ein glücklicher Sommer voll Verheißungen auf die kommenden Monate sah er wirklich aus. Bittend hielt er noch immer die Arme hoch und lud Verena ein, jetzt nichts Hartes zu sagen, sondern was sie tadeln sollte oder wollte, in einem stillen Kusse ersticken zu lassen.

Aber Frau Spichtiger kehrte das Blatt um und bemerkte nüchtern: „Es hat noch Weinflecken daran.Und was ist das?“ ... Auf der andern Seite waren wohl sieben oder acht Skizzen für die Sandsteinstatuen,mit Füßen und Köpfen gegeneinander strebend, dargestellt und kreuz und quer hernach durchstrichen.

„Warum arbeitest du denn gar nie mehr am Sandstein, Pauli?“

Der Mann ließ die Arme sinken und der Sommer Stimme erwiderte er: „Es liegt noch zu viel Schnee draußen und ... sieh, da modellier' ich's nun erst.“Dabei wies er auf die beschriebenen Papiere und fing neuen Mut. „Die Skizzen da sind ein blöder Wisch.Weg! Erst schreib' ich klar nieder, wie es sein muß,und dann schaff' ich es so, wie ich's schrieb. Steht es einmal hell auf Papier, dann schaut es dich auch flugs aus dem Steine an. Das Denken, Frau, das Denken ist die Hauptsache. Daß ich es mir lauter vorstelle und lauter sage, das! ... Geh jetzt!“

Und er schrieb weiter auf die verzeichneten Skizzenblätter und lachte manchmal vor Freude an einer mächtig tönenden Periode ganz laut wie ein meisterloser Knabe beim Lesen einer Narretei.„Sieh,“ wandte er sich zur Frau in die Stube hinaus, „das hat noch niemand bemerkt, daß es keine Musik ohne Bildnerei und diese nicht ohne Musik gibt.Jeder große Bildhauer ist ein Musikus und der Meißel ist sein Bogen und der schlafende Stein seine Geige.O in jedem Steine schlummert große Musik ... Alle Künste untereinander sind Stiefgeschwister oder am Ende gar nur Bäschen. Aber Musik und Skulptur sind als Zwillinge zur Welt gekommen. Denn da Gott den Adam formte, entstand die erste Erdenstatue und Erdenmusik im gleichen Hauch. Unser Eltervater atmete, bewegte den schönen Rhythmus seiner Glieder, sprach das erste Wort, sang den ersten Ton ins All, und Wohllaut der Formen und Wohllaut der Töne verschmolz in eine einzige Harmonie. Und so soll es denn immer sein: wer was Rechtes komponieren will, muß es in fester Plastik vor der Seele haben wie eine Statue oder eine dramatische Gruppe oder ein feierlich hinschreitendes Relief. Und umgekehrt muß der Bildhauer seinen Stoff wie eine Musik in Takt und Tempo und lebendiger Tonfolge hören. Seht,“ fuhr Paul selig fort, als hörten viele zu, „seht, lange vor Adam sogar, als das Weltall gehämmert wurde, o welche Symphonie rauschte schon durch den Kosmos! Es rollten die Sonnen als regierende Motive daher, und in funkelnden Trillern tanzten die Planeten um sie, während das Adagio des Mondes durch feuchtes Gewölke umsonst zu ihrem Ringelreihen emporstrebte. Als dann der Schöpfer den Baldachin mit goldenen Firsternen hoch über der Erde festnagelte, damit, wenn alle kleinen Menschenhimmel zusammenbrächen, doch dieser ewigblaue hier oben trostvoll beharre, da, glaubet mir, da scholl der Hammerschlag wie ein rasches, derbes Pizzicato und es spritzten euch Kometenspäne und Splitter ab und flogen als humoristische Zweiunddreißigstel da und dort unordentlich in die großartige Konzertordnungl Gottlob, sie versprühten sogleich und weiter wandelten die Zwillinge Musik und Plastik in urweltlicher Umarmung. Und wieder sag'ich: so soll es heute noch sein. Die Statuen müssen aus einer innern Bewegung heraus musizieren, die Tonwerke aber sollen in all ihrem Flusse doch dastehen wie gehauen und gestochen, zum Greifen nah und wahr.Und das heiße ich nun im Buche: Musik des Marmors und Marmor der Musik oder Gesang des Hammers und Hammer des Gesanges. Oder noch genauer:Harmonie von Schweben und Lasten, von Eilen und Ruhen, von Schweigen und Erklingen, mit einem Wort:Harmonie von Leben und Tod ...“

Ungeduldig wartete Verena den melodischen Tonfall des letzten Satzes ab. Dann hüstelte sie und fragte mit rauher, unbarmherziger Stimme: „Aber wie steht es nun mit dem Porträt des Friedel Herri ...“

„Ach was,“ versetzte Paul mißliebig. „Er sitzt mir ja gar nicht mehr ... Außerdem, ich brächte das Bildnis doch nicht mit Ehren fertig. Der Bursche ist eben nichts als ein großhansiger, leerer Dorfbub. Was kann ich da hineinlegen? Ich überschätzte ihn namenlos.Ach, seine Bauernhosen, die Stulpnase, der ganze Kindskopf überhaupt mit den Rüpelohren und dem ewigen Geschwätz von Rossen und Hunden und jungen Kälbern ... nein, ich bedanke mich ... Doch, Frau,laß mich schreiben ...“„Eines freut mich, du,“ rief er sogleich wieder in die Stube hinaus, „daß ich doch immer am rechten Faden gezogen habe. Wer kann das so leicht von sich sagen? Schon als kleiner Balg ging ich immer wie im Schlafwandel zwischen Musik und Bildnerei. Mit den Jahren ward es mir stets deutlicher, daß ich Eines ohne das Andere nicht treiben könne. Nur konnte ich die Gleichung nicht finden, die verdammte Gleichungl!Ich weiß noch gut, hahaha, wie ich bei Mätteliseppis Orgeluhr stutzte und immer noch pröbelte, als ob bei zertrümmter Form noch eine ganze Musik bestehen könnte.Ich Narr! Dann aber kam das Relief ...“

„Das du doch gar nicht einmal stizziert hast, dü wunderlicher Kauz, nicht einmal stizziert,“ widerredete insgeheim Frau Verena.

„Das Relief! And hier, behaupte ich, wäre die Musik bereits hörbar gewesen, wenigstens für feinere Ohren ... Aber ich gebe zu, ich war noch nicht ausgereift genug, ich mußte noch weiter irren und kämpfen und vor vielen falschen Türen stehen. Aber jetzt bin ich nahe, so nahe, daß mir die Füße, die vielgewanderten,vor heißem Schrecken zittern. O Verena, die Wahrheit geht auf. Siehe, dieses Buch! ... Nein,nein, laß' mich schreiben! Jede Minute ist jetzt eine Gnade ..“Frau Spichtiger setzte sich bedrückt an den Nähtisch und nahm ein Paar Hosen Aloislis zum Flicken vor.Doch wie sie den Faden durch die Nadel ziehen wollte,fand sie das Ohr nicht. Sie netzte den Zwirn und probierte wieder. Aber ihr war, es wimmle vor ihren Augen von tausend Nadelspitzen und Nadellöchern, sie fahre jedoch immer dazwischen. Alles drehte sich um sie herum. Sie stemmte die knochigen Hände gegen den Tisch, bis es vorüber war, trocknete das nasse Stirnhaar und fädelte nun richtig ein. Indessen war ihr immer noch so kraftlos zumute, daß sie die Hosen wieder auf den Schoß fallen ließ. Dann und wann, wenn sie den Atem anzog, ging ein tiefer Stich unter dem Herzen durch. Werde ich wohl diese Hosen noch fertig bringen? dachte sie mit einem ihr sonst unbekannten,unheimlichen Mißtrauen. Wie sonderbar tief und still das stach!

Da sah sie Friedel Herri langsam das Weglein daherkommen. Er hatte eine Schärpe doppelt um den Hals gewickelt und die Ohrlappen der Mütze heruntergezogen. „Pauli, der kleine Herri kommt,“ rief sie flink in die Kammer.

„Nur drei Minuten, um Gottes willen, nur drei Minuten soll er warten,“ flehte der Spichtiger und verriegelte die Türe.

Der Junge zögerte vor der Hausstiege. Er und Alois hatten sich nie mehr angeschaut. Anfangs war das dem Friedel gleichgültig, ja recht gewesen. Nach Xvertieften Respekt erfüllt, und er fürchtete sich jetzt geradezu vor den Fenstern, hinter denen Alois stehen und ihn beobachten könnte.

Aber er mußte hinein. Sechsmal hatte er heimlich geschwänzt, wenn ihn der Vater zur Sitzung schickte.Jetzt aber hieß es: „Entweder bringst du das Bild heute oder ich will überhaupt nichts mehr davon wissen.Auf Weihnachten haben wir abgemacht und jetzt feiern wir in vier Wochen Ostern. Eine nette Lumperei!Mach' Beine, Kerl!“

Der Herri reckte sich hoch und marschierte mit festem Schuh ins Haus. Verena bot ihm einen Stuhl und bat, nur zwei Minuten zu warten. Er fügte sich ungern. „Siehe, wie der Alois die Hosen zerreißt,“ scherzte sie gewaltsam und hielt ihm ein durchlöchertes Knie hin. Beim Anblick dieser wohlbekannten, grauen Hosen ergriff den Friedel plötzlich eine wilde Sehnsucht nach dem einstigen Kameraden. „Er hat ganz recht,“ lobte er, „man muß recht viel Hosen zerreißen.“

Erstaunt blickte Verena zum Jungen, wie er mager und heiß vor ihr saß und die Beine schlenkerte. Die Lippen waren braun geröstet und die Augen rot umrändert. An den Nasenlöchern brannten kleine Hitz-blätterchen. Er spürte auch etwa ein Drücken die Achsel und das linke Schulterblatt hinunter und mochte tageX husteten ja gräßlich, Alois erstickte fast, viele lagen gerade jetzt an der Influenza im Bett, so daß das Mätteliseppi verächtlich in die Lücken der Anterrichts-bank spottete: „Welch lumpiger Nachwuchs!“ Er aber konnte noch rennen, schreien, regieren und wild und böse sein. O er war noch gesund. Bekam er abends Kopfweh bei den Schulaufgaben, so sagte der Vater:„Kopfweh? Narrenstücke! Faulheit, das ist deine Krankheit! ...“ O ja, er war gesund!

Aber die Frau da! Wie spitz ist sie geworden und wie stößt ihre Brust auf und nieder, fast wie bei seinem Hund, wenn er ihn einmal gehsrig herumgehetzt hatte.Und wie fleckig rot war sie an den Schläfen und wie hüstelte sie heiser! Dünn wie ein Stänglein war der Hals. Auch meine Mutter ist krank, dachte Friedel.Aber wie tüchtig und schön liegt sie im Bett. Diese Frau hingegen kann jeden Augenblick umkippen und tot sein. Er sehnte sich weg von ihr und strubelte heftig das junge Haar auf. O er wollte durchaus gesund sein.

„Geht es dir so gut, daß du nur ans Hosenzerreißen denkst?“ mahnte Verena lächelnd. „Du siehst übel aus. Schleppst sicher was mit dir herum und schonst dich nicht. Da wirft es dich plötzlich ins Bett.Die stärksten Bengel brennen am heißesten.“

„O mir ist wohl,“ entgegnete der Bub und warf die dünne Lippe hochmütig auf. „Aber Ihr, es heißt im ganzen Dorf ...“

„Du merkst es eben nicht, so ein Wilder!“ kümmerte sich Verena. „Ich kann dir den Puls an den Schläfen ablesen. Das klopft wie ein Hämmerchen, viel zu schnell. Du solltest isländisch Moos nehmen und warme Umschläge auf die Brust legen und bei solchem nassen Wetter in der Stube bleiben. Es schmilzt draußen und windet. Da hat man sich gleich verkältet,“ schloß sie mit neuem Gehüstel.

„Raufen und Schlitteln und Most trinken, solang man kann!“ großhanste der Junge. „Aber wie geht es denn eigentlich Euch?“

„Du willst nicht hören. So seid ihr alle ...Mir, danke schön, mir geht es recht gut. Ich habe immer Arbeit und schaffe darauf los. Sieh da!“ sie trat die Pedale der Nähmaschine, daß das Rad aufsurrte. Dabei lächelte und keuchte sie und mußte endlich trotz allem Verwürgen zwei, drei Stöße heraushusten. „Das ist nichts. Jetzt hustet alles.“

Ein Weilchen geduldete sich Friedel noch auf dem Stuhle, und es war ein merkwürdiges Bild: dieser Junge, der alle Kraft mit beiden Händen verschleuderte,und diese Alte, die den letzten Rest mit der Faust der Verzweiflung zusammenpreßte.

Die stirbt und weiß es nicht, dachte Friedel, unheimlich berührt, und klopfte hart an der Kammertüre.

„Lieber Junge,“ entschuldigte Paul in blauem Samtwams und in gleichen Pantoffeln und versperrte die Schwelle, „jetzt kann ich nicht. Ich habe viel Wichtigeres ...“

„Dann gebt das Bild, wie es ist,“ schrie der Junge und seine Ohren flügelten vor Zorn. „Meint Ihr, ich könne Vater und Mutter auf den Jüngsten Tag vertrösten ... vorwärts!“

„Da schau, es ist ja kaum angefangen. Alles fehlt noch. Das ist hübsches Gekraus und blühendes Fleisch,irgendein allgemeiner schöner Kerl. Aber kein Friedel Herri. Nein, das wird erst. So geb' ich's nicht.“

Aber Friedel, der das Gemälde schon lange nicht mehr gesehen hatte, fand es heute besonders schön. Es war sein flottes Ebenbild, rosig, augenschimmernd und etwas frech. Was dieser Sonderling noch dazu malte,konnte nur schwächen und entstellen. Er packte das Bild am Rahmen und wollte es an sich reißen.

„So kannst du das Bild umsonst haben, für so was nehm' ich keinen Rappen,“ schwor Paul hochmütig.„So gebt es denn!“Federer, Das Mätteliseppi.

30

„Hände wegl“ herrschte jetzt der Künstler stolz den Buben an. „Was ich herausgebe, soll meine Hand zeigen. Das ist Sirup und Butter. So weit kann jeder Farbenreiber schmieren. Jetzt kommt das Per-sönliche, das Große, das Eigene. Los, sag' ich!“

„Jeder Farbenreiber ... Sirup ... schmieren ...was?“ tobte der Herri. „Also zum Narren habt Ihr mich gehalten ... witsch ... da ... stampf! stampf! ...Jetzt könnt Ihr's behalten.“

Friedel hatte so stark gezerrt, daß die Leinwand sich verzog und oben und unten riß. Da ließ Paul erschreckt los. Der Herri brach den Rahmen übers Knie,schmiß das Werk zu Boden, stampfte darauf und schleuderte es mit dem Schuh zerknittert und zerschlissen in die Ecke. „Da habt Ihr's. Meint Ihr, mit einem Herri könnet Ihr Euch herumnarren?“

Er lief an der entsetzten Verena vorbei zur Türe hinaus.„Gottlob!“ pries Paul zur Frau. „Dieser verfluchte Blödsinn ist vorbei. Jetzt wird mir leicht. Nun kann man schaffen. Laß mich weiter schreiben. Das drängt wie ein junger Wald. In zwei Wochen geb'ich's in Druck.“

Er stieß Verena in die Stube zurück, verriegelte seine Kammer, setzte sich zur Schreiberei, stülpte den Kragen auf und zog den Kopf wie eine Schildkröte ein, wenn sie Gefahr wittert. Dann ging er nochmals zur Türe, ob richtig zugeriegelt sei, und raunte vor sich hin: „Wenn sie mich nur solange leben lassen, bis ich das fertig hab'l Dann tötet mich meinetwegen! ...“Und er sah durch die Fensterscheibe hinaus auf einen schwarzen Baumstamm in der Matte. Dahinter war er einst nachts so erbärmlich gestanden. Der Baum sah unheimlich aus. Es guckte da ein Schatten mit zweizipfliger schwarzer Mütze und metallisch blitzenden Knöpfen hie und da hervor. Halb glich es einem Polizisten, halb einem vermummten Mörder. Sicher, sein Verfolger wartet dort, der Feind, dessen Namen er nicht kennt, aber den er immer und überall spürt, der bereits seine Frau und Kinder bestochen hat, und der ihn packt, sobald er sich aus dem Stübchen wagt ...Er rückte den Tisch vom Fenster, um es nicht zu sehen, beugte sich über das Schreibpapier und seufzte:„Ganz allein ... ach, man läßt mich ganz allein ...Währenddem schoß der Herri wie eine Schwalbe die Wiesen hinauf. Er rannte, ob es poltere oder nicht, die stillen Treppen des Hauses zur Mutter empor. Türen gingen, Mägde riefen, der Vater kommandierte unten, man lief hinter ihm her. Er aber stürzte zur Mutter herein. Sie lächelte ihm mit halbgeschlossenen Augen mild und glücklich zu. Da warf er sich auf sie, begrub sein hartes Gesichtlein in ihrem aufgelösten Haar, küßte sie, wo er nur traf, und weinte: „Da hast mich jetzt! ... Nimm mich! ... Behalt' mich!“„Mein Friedel, mein Friedel!“ Sie liebkoste ihn mit zitterigen, bettweißen Fingern und begrub seinen harten Schädel in ihrem Kissen und wiederholte immer wieder: „Friedel! Du selber! Wahrhaftig, du!“„Ich selber, Mutter! Sag' ... sag' mir jetzt ...nicht wahr ... Du hast mich lieber als hundert allerschönste Bilder von mir?“Im Gang stand flüsternd eine Gruppe Dienstboten.30*„Wer hat ihn hinaufgelassen?“ fragte der Ratsherr Jeremi streng. „Faule Bande, an die Arbeit!“ Mit einer seltsamen Art von Eifersucht und einer noch seltsameren Angst um seinen einzigen Knaben schlüpfte er dann mit seinen grünen Pantoffeln leise in die Kammer und bat seine Gattin milde: „Jetzt ist es aber genug.“Weich, wie man es seiner harten Hand nicht zugetraut hätte, trennte er die Zwei, strich der Frau liebreich das verwirrte Haar aus der Stirne, tätschelte ihr scherzhaft die schmollenden Wangen und führte den wie ein Hündlein winselnden Friedel ruhig in seine Schreibstube hinunter. Als nun der Junge unter Schnupfen und Atemstoßen den Vorfall bei Spichtigers ehrlich berichtet hatte,sagte Jeremi zufrieden: „Das ging über Erwarten gut ... Nun hör' und sei ein tapferer Herriknab: Die Mutter hat eine böse Krankheit im Kehlkopf. Man darf sie nicht küssen, sonst kann man am Ende auch so elend werden. Ihr kann ich's nicht verbieten. Aber dir! ... And jetzt geh und sag' dem Sebast, er solle auf die Viere den Hecht anspannen. Ich fahre mit dir zum Doktor ... Dummes Zeug,“ er schlug sich auf den Mund, „heut ist ja Montag und wir halten Gemeinderat. Also denn morgen!“4*59

R An gleichen Montagabend bestellte das Mätteliseppi zum letztenmal die Reihenfolge seiner Kinder.Es nahm für diese Stuhlordnung wohl die Erfahrungen des Jahres, aber noch mehr ein kleines scharfes Examen über den ganzen bisherigen Lehrstoff zu Hilfe. Die Sache war kapital. Denn das letzte Eramen beim Pfarrer rückte selten nachher noch einen Platz anders.Wie also heute das Schicksal es fügte, in solchem Rang und Schritt ging man am heiligen Tage zum Altar,nahm an allen Prozessionen des Sommers teil, saß die vier Jahre Christenlehre an jedem Sonntagnachmittag so in der großen schwarzwaldigen Marmorkirche, ja, so blieb man im Auge Gottes und im Gedächtnis der Menschen. Es war sozusagen eine Sesselordnung für Zeit und Ewigkeit.

Nun freilich konnte nur einer Erster oder Zweiter sein. Aber welche Möglichkeiten lagen noch zwischen dem Dritten bis Siebenten und Achten! Dann freilich ging es aus dem Lichte der ersten in den Schatten der zweiten Hälfte. Aber auch dorthin spielte der Ehrgeiz noch seine Kämpfe und zwischen dem letzten und vorletzten Sitz war das Gefecht genau so heftig wie zwischen dem ersten und zweiten Platz.

Die meisten Kinder hatten sich fieberhaft auf das Verhör vorbereitet und viele waren mit hastigem Hinund Herblättern erst recht um alle Sicherheit gekommen.Wie Friedel Herri nun ohne Ahnung ins dumpfe Weberstüblein rumpelte, kam ihm seine Anbefangenheit prächtig zugute. Er wußte nicht alles. Aber was er wußte, wußte er frech. Und sein Blut und Gehirn war noch von den Umarmungen mit der Mutter in frischer Wallung. Er wollte glänzen, und was er wollte, konnte er fast immer. Mit freudiger Verblüffung sah die Weberin ihren Vettersbuben tapfer und schlagfertig das religiöse Gefecht durchhauen. Rechts und links schieden Verwundete aus und Friedel stand am Ende in der Entscheidung mit Johannes von Aar und Louis Tonoli um den ersten Platz. Niemand, er selbst am wenigsten,hätte so etwas vorausgesehen.

Das Mätteliseppi haßte den Witz und noch mehr die spielerische Leichtigkeit, womit der von Aar etwas packte und überlegen wiedergab. Auch die Knöpfe und Zwetschgensteine und was davon in übermütiger Vergrößerung durchs Dorf lief und die Mysterien des altjüngferlichen Kleiderkastens in den frechen Tag posaunte,konnte es dem Schlingel nicht verzeihen. Mit aller Schlauheit wollte es darum den günstigen Wind dem Tonoli in die Segel blasen. Wohl mißfiel ihm dessen dürre und kritische Altklugheit. Aber man wußte doch,woran man mit ihm war. Auf die unberechenbar blitzende Genialität Johanns ließ sich nie abstellen. Nein,der Tonoli, der Tonoli! Um so mehr als auf der Mädchenbank die oberflächliche Orla Lomser mit ihrem flinken und scharfen Gedächtnis den ersten Sitz erobert und dem soliden Element in der Weberstube bereits eine Bresche geschlagen hatte.

Und so ging die Jungfer in ihren Fragen aufs Buchstäbliche und Hausbackene los, was den Hannes langweilte, aber dem Louis gerade paßte, als unerwartet als dritter Partner der Herri ins Feld trat. Da ward die Weberin wirr und fühlte ihr steinaltes Herz ungebührlich klopfen.

Denn nie war ihr jemand näher gestanden als dieser harte Vettersbub. Wie sie sechzehnjährig und elternlos zum Onkel Heinrich Herri nach Saldern kam, verlor sie,so munkelte man, ihre Seele an den jungen Sohn Jeremi.Dieser reiche Bursche hätte das kluge und handliche Dirnlein trotz seiner Mäuschenarmut gern zum Altar geführt. Aber der Vater Herri nötigte ihm eine Tochter vom Berge auf, zu deren Erbschaft soviel Wald am Saldernerberg gehörte, daß man eine Stadt damit bauen könnte. Es gibt keine Albumblätter und Liebesbriefe über die damalige Tragödie. Dazu waren die beiden Leutchen zu derb. Eine alte Photographie zeigt indessen die Seppe als ein breit und kurz gewachsenes,aber frischblütiges Wesen, das sich wohl etwas zu steifstattlich trug, dem jedoch der Humor und ein munteres Wohlwollen aus allen Zähnen lachte. Es richtete nun seine doppelkammerige Jungfernbehausung mit so straffen Vorhängen und so hart und blank abweisenden Fenstern ein, daß von drei beglaubigten Freiern der erste schon im Sträßchen umkehrte, der zweite auf der vierten, nach andern erst auf der fünften Treppenstufe sich eines bessern besann, der letzte endlich schon versuchsweise an der Klingel zupfte, aber dann beim ersten Zittern der Diele unter den strammen Jungfernschuhen wie ein Hase auf und davon rannte.

Jeremis Frau starb nach sieben kinderlosen Jahren,nachdem sie am Allerseelentag auf der vereisten Dorfbrücke ausglitschte, davon ein Gebrechen heimtrug und ungebührlich verheimlichte, bis es zu unheilbarem Brustkrebs auswucherte. Lange mußte Jeremi das Maätteli-seppi rufen, bis es endlich, schon ein blühendgelbes Schnäuzchen auf der Lippe und Borsteninselchen allüberall durchs Gesicht, im Herrihofe erschien und die Leidende betreute. In seinen tapfern Armen segnete sie auch tapfer und ohne Augenzwinkern das Zeitliche.

Doch alles Zureden des nun wieder ledigen Jeremi half nichts. Sobald der Sarg weggetragen und der letzte Teller vom Leichenschmaus gespült war, verschanzte sich das alternde Mädchen wieder in seine jungfräuliche Festung.

Dennoch, die bösen Zungen hechelten in jenen Tagen ihren Hanf fleißiger als sonst, besonders da der uneheliche Sebastli als Hüterbub auf den Hof kam, und eine kurze Nase wie Jeremi, aber ein Flachshaar wie das Seppi herumtrug. Dieses freilich wob gelassen an seiner blauen und roten Seide fort, und der Herri heiratete nach langer Brachzeit als Fünfziger nochmals eine junge,wunderliebliche, aber ganz arme Frau. Sie litt schon vor der Ehe schwer an Bleichsucht und hatte erst nach langem Widerstand den Ring mit Jeremi gewechselt.Die ersten Jahre nach Friedels und Hildchens Geburt verliefen leidlich. Dann aber gab es stete Gebrechen in der Kehle und nun lag Luise Herri schon seit langem im Bette, nur durch einen ungewöhnlichen Aufwand von Pflege aus einem Jahr ins andere hinüber gerettet. Da kam denn das Maätteliseppi wieder täglich ins Haus, gegen Abend, um ein bißchen die Last der Kinder abzunehmen, mit ihnen zu marschieren und zu buchstabieren, sie dann in den Flaum zu legen, zu bekreuzen und mit ihnen zu beten; zuletzt ihnen noch scharmante Geschichten zu erzählen, bis sie mit zusammengerollten Gliedern, unter Drachen und Zwergen, aber immer das Jesuskind am kleinen Finger, behaglich einschliefen. Man nannte das Seppi Tante Gotte und verehrte es unmäßig. Als die Kinder größer wurden,kam die Jungfer nur noch selten, um so häufiger erschienen Hildchen und noch mehr Friedel nun im Webstüblein. Mit der Schule und ihrem größern Jugendkreis nahm auch dieser Verkehr ab. Aber man lebte doch gut zusammen. Dem Knaben imponierte das Mannliche und Unabhängige des Mätteliseppi, und dieses nahm mit einer für seine rauhe Art fast unbegreiflichen Zärtlichkeit den harten Bengel, so oft es nur konnte, in Schutz. Oft besann es sich und zog sich derb ob solcher Parteilichkeit am Ohr. Auch jetzt, wo der stolze Liebling so wacker focht, warnte es leise: Hüte dein Blut!Hüte dein sündig' Blut!

Fragen und Antworten gingen hastig hin und her wie das Weberschifflein der aufgeregten Jungfer. Die Kinder waren gespannt, als gälte es ihre Köpfe. Der Herri ging merkwürdig sicher und flüssig auf jedes Thema ein. Im Wörtlichen stand er einen Strich über dem von Aar, im Auslegen einen Strich über dem Tonoli;aber in seiner Spezialität war ihm dieser und jener weit überlegen. Nur besaß Friedel eine gewisse, natürliche Keckheit, womit er oft instinktiv das Richtige traf. Doch war es ein unsicheres Geschäft, zwischen dem trockenen Fleiß Tonolis und dem spielenden Genie von Aars viel auf solche Waghalsigkeit zu vertrauen. Wenn es mit rechten Dingen zuging, mußte er dennoch unweigerlich den Kürzern ziehen.Indessen benahm sich Johannes mit einer spöttischen Nachlässigkeit. Er tat einmal schläfrig und sagte nur das Nötigste, witzelte dann und verschnörkelte seinen Spruch mit krausen Zutaten. Es war, als spiele er Ball mit den hochernsten Examensachen. Das Matteli seppi war erbost darüber und ... freute sich dennoch!So oft es ihn erwischte, wie er die lange, gerade Nase komisch rümpfte und die Zungenspitze blitzschnell zwischen den Zähnen vorstreckte und zurückzog, um den Herri zu äffen, wollte es mit Donner und Hagel über ihn herfahren. Aber jedesmal hielt es an sich: Still! Laß ihn! Es ist sein Schaden!

Der Tonoli dagegen paßte ruhesam auf und gab langsam und sorglich, mit Komma und Puntkt, das haargenaue Gesätzlein. Friedel Herri traf oft prachtvoll ins Schwarze, aber schoß dann wieder fabelhaft daneben.

Der Tonoli wird gewinnen, dachte Orla unfroh.Ach, nur dieser hölzerne Mensch nicht! Lieber der Herri, wenn er mich schon kaum mehr ansieht. Aber am liebsten der von Aar. Er ist so gesund und schön glatt und nobel und spaßt immer so nett mit mir. Was für weiße Zähne er hat, und wie lachen seine schwarzen Augen. Wehr' dich doch, so wehr' dich doch, du feiner Junge!

Wirklich, die Aussichten Friedels verschlechterten sich.In der Gnadenlehre versagte er völlig. Das Seppi schoß sein Schifflein immer wilder durch den Zettel,murrte etwas, kniff die Augen zu einem flachsgelben Schlitz zusammen, stoppte plötzlich und fragte mit nicht ganz sauberer Stimme:

„Im Katechismus seid ihr ziemlich gleich, das heißt, du, Friedel, hinkst um ein Sprünglein nach. Ich frage jetzt aus der Bibel. Wer stolziert als erster Kriegsmann durch die heiligen Bücher?“ Fast erschöpft von der kleinen Frage fiel die Jungfer ins Brett zurück und begann den Kammladen wieder hastig auf und abzuschieben. Das Verbrechen war geschehen.

Die Buben sannen, aber der Herri kraute nur zum Schein im Haar. Denn als er jüngst dem Mätteliseppi sein Soldatenspiel aufstellte, da hat es ihm das Alte und Neue Testament aufgemacht und mit saftiger Anschaulichkeit von den großen Soldaten der Bibel erzählt und von ihren Belagerungen und Siegen. Im Unterricht wurde so etwas nur kurz und lehrhaft gestreift. Hier aber ward es wie ein rauschendes Musik-und Theaterspiel eigens für Friedel aus biblischer Fülle geschöpft und in seine offene, kriegerische Seele geschüttet. Das konnte er nicht mehr vergessen. Hier mußte er fester als die andern im Sattel sitzen. Blitzschnell hatte er den Wink verstanden.

„Der erste Soldat in der Bibel,“ prahlte der Junge mit süß gelispeltem S, „nun, das ist der Erzengel Michael in der Schlacht gegen den Satan gewesen.“

Louis biß sich auf die Lippe vor Staunen, daß ihm das nicht auch eingefallen war.

„Gut! Aber weiter, es rasseln und glitzern noch viele Schwertheilige.“

.David!“ rief Louis.

„Saul, der lange, schöne Saul vorher,“ lachte von Aar.„Wir sind noch lange nicht so weit,“ fertigte das Seppi die Rufer stramm ab. „Friedel!“

„Abraham, der Häuptling aller Stämme, der die Räuber schlug,“ meldete Wilhelm Reinert.

„Du zählst nicht mit, Spitzbub!“ entschied die Jungfer flink. „Also?“

Stillschweigen.

„Ich hab's,“ rief Friedel unvermittelt, eine sonderbare Mischung von Falschheit und Einfalt in den herrlich blauen Augen. „Moses und Josue ...!“

„Sehr gut, und weiter?“

Friedel wartete eine schlaue Anstandspause lang und schrie wieder: „Die Richter.“

„Samson!“ flickte Louis eilig hinzu.

„Ach, vorher kommt doch der mit den Kinnbacken eines Esels, der famose Gideon,“ sagte Johannes und sein gelbweißes Gesicht mit den glatten, schwarzen Haaren und den langen, schwarzen Augen und dem schwärzlichen Flaum unter der langen Griechennase schwamm in eitel Spaßhaftigkeit. „Wie war das eigentlich,Mätteliseppi? ... Ich kann es mir gar nicht vorstellen ein Eselskinnbacken! Das ist kolossal lustig ...“

„Schneid mir keine Grimassen, weißt!“ drohte die Jungfer. „Und weiter, nach Saul und David?“

Friedel nannte einige Könige Judas, Louis meldete die Heimkehr aus Babylon und der Johannes gab den Hauptklapf mit dem grimmigen Judas Makkabäus.

„Aber noch kenn' ich eine Gestalt,“ trug das Seppi vor. „Sie steht neben dem größten Feldherrn der Zeit,schlägt ihn, rettet Heim und Herd und kein Engel mußte auch nur mit dem Daumennagel helfen ... Ihr seid jetzt ziemlich gleich. Wer mir noch dies sagt, sitzt zuoberst. He, die Flinte geladen! He, losgedrückt! ...“In das Stillschweigen hinein ging heftig die Türe auf. Alois trat schwer verspätet, aber mit dem Trotz des guten Gewissens herein. Verwundert sahen sich alle an. Niemand hatte ihn vermißt. Er fehlte ja so oft wegen seinem Asthma. Auch die letzten drei Abende hatte er gefehlt, ohne sich zu entschuldigen. Schlendrian vom Vater! Seit Wochen gefiel der Bub dem Seppi nicht mehr. Er träumte mehr als je und blickte er auf,so lag etwas Prahlerisches und Faules in seinen grauen Augen. Die Jungfer hat ihn mehrmals energisch geschüttelt. Aber ihm war alles einerlei, ein versponnenes Bäumchen, das gleich wieder in trägen Schlummer verfiel. Mit Zangen und Scheren sollte man es zwicken und die blinden Schößlinge abhauen. Der Alte spukt in ihm. Konnt' ich doch Teufel austreiben! ... Aber in Gottesnamen, einen Platz muß er auch haben. Wo soll er sitzen?

Der kleine Spichtiger guckte noch immer umher, fand seinen Platz nicht und merkte endlich, daß ja Stuhlordnung vorgenommen werde.

Da scholl triumphierend von Friedels brandigen Lippen: „Mätteliseppi, du meinst ein Weib. Das ist die Judith, die dem Holofernes den Kopf weghieb und die Stadt Bethulia erlöst hat ...“ Indem er das sagte, setzte er sich ohne weiteres an die Spitze der Bank und glotzte den sitzlosen Alois und die zwei Partner unverschämt an. Sogleich rückte auch Louis,als verstände sich das von selbst, neben Friedel. Von Aar sah forschend zur Weberin: Soll es so sein? Gut denn! ... Er ließ sich mit einer so liebenswürdigen und schelmischen Gelassenheit auf den dritten Platz niedergleiten, daß dieser im selben Augenblick bei Knaben und Mädchen mehr galt, als der erste und zweite.

Aber jetzt brach das Unwetter vom Webstuhl nieder.„Tonoli, frecher Hagel, wer hat dir den zweiten Platz gegeben? Dir mit deinem Klauben und Bröckeln und Wörterstechen? Marsch, mit Johannes getauscht! Den Hans sollte man durchprügeln, morgens und mittags und abends mit einem geringelten Meerröhrlein. Aber das hilft dir nichts, er ist dennoch zehnmal gescheiter als du. Er müßte zuoberst sitzen! Es ist seine Schuld,daß er nur Zweiter geworden ist. Kanisi und Bibel sind halt kein Kirschenmus mit: Mag ich oder mag ich nicht? ...“

Die Jungfer knutterte und knurrte noch ein bißchen wie verrollender Donner. Doch wurde ihr merklich leichter ums Herz. Sie meinte, der Gerechtigkeit sei jetzt Genüge getan, nachdem sie den Tonoli dem von Aar und damit den Fleiß dem Genie geopfert habe.

Nun fiel ihr Auge auf den Spichtiger zurück und wieder wetterleuchtete das lange, breite Rapunzelgesicht.Es reizte sie, wie er so eigenmächtig dastand und mit seinen herausfordernden Mienen bekundete: He, ich will auch gut sitzen, Platz! ... Heftig fuhr sie auf ihn los:„Was kommst du erst jetzt nachgehinkt? Was ist das für eine Schlamperei?“

Alois verriegelte den Mund und schwieg. Wenn man nur wüßte! Seine Mutter hatte diesen Abend immer heftigere Stiche bekommen, an einem daumengroßen Fleck unter dem Herzen, nur immer da, aber durchdringend beim kleinsten Aufatmen. Es schüttelte sie am heißen Ofen vor Frost. Kreideweiß mußte sie beinahe ins Bett getragen werden. Da lag sie nun und auf einmal brannte ihr mageres Gesichtlein im Kissen wie eine rote Flamme. Alois und Hanna weinten wie Verstörte. Lina aber lief zum Arzt nach Goldingen, nachdem sie dem Bruder noch Flanellappen gegeben und vorgemacht hatte, wie er sie der Mutter heiß vom Ofen auflegen müsse. Der Bub sprang nun beständig mit den Umschlägen zwischen Mutter und Ofen hin und her und zitterte vor Angst, als hinge ihr Leben nur noch von diesen heißen Fetzen, vielleicht von einem einzigen zu viel oder zu wenig ab.

„Wenn es keine Lungenentzündung ist,“ preßte Verena tapfer hervor, „dann hab' ich's rasch überhauen.“

Wirklich milderten sich die Schmerzen unter den Umschlägen und mit einem leisen Seufzen schlief Verena ein. Hanna und Alois raunten sich, eng auf einem Stuhl zusammengekoppelt, nach solchem Sterbensschrecken wieder die muntersten Hoffnungen ins Ohr. Ohne über den späten Zeiger zu erschrecken, brach endlich Alois zum Mättelihaus auf. Er trug das Gefühl mit sich,ganz allein die Schmerzen verscheucht, den Schlaf geschenkt, das geliebte Leben gerettet zu haben. Wie schlief sie so fein und mit vogelleichten Atem, da er wegging! Die schlummernde Mutter dort war ihm nun etwas so Zartes und Heiliges, daß er das Erlebte in dieser Bubenstube und im groben Schmähen der Weberin ins letzte Herzwinkelchen flüchtete.

„Bürschchen, Bürschchen! Bist wohl wieder herumgestrolcht ... wie solltest auch nicht? ... Wenn der Alt ... na, so entschuldige dich doch! Hast mir gar nichts vorzumalen?“Alois schüttelte nur den Kopf. Ihm verwuchsen die Zähne vor Trotz ineinander.

„In der letzten Zeit kommst du gerade, wann es dir beliebt, merkst wenig auf, antwortest schwach und gaffst nur ins Blaue. Das fehlte noch, den Aufsätzigen zu spielen. Ja, ja, dieser verflixte Einfluß ... Na, was willst denn für einen Platz kriegen?“

Alois schüttelte das lange, schlecht gekämmte Haar leichthin, als ob ihm gar nichts daran gelegen sei.

„Meinst etwa den ersten?“ spottete die Alte. „Sei froh, wenn du schon auf den Tonoli folgst! Paß nun auf, ich frage dich: Was ist die heiligmachende Gnade?“Der Bub riß die großen Schaufelzähne auseinander,daß es klirrte, und gab die Antwort klar und fest. Auch die zweite, dritte, vierte Frage ward vollkommen gelöst.Denn Alois hatte seit dem Bruderklausenspiel zu Hause wacker repetiert. Er wollte weise werden wie jener Einsame.

Da stocherte das Mätteliseppi ganz hinten in den Sakramentalien und Gebeten herum. Auch da empfing es flotten Bescheid. Nun ruderte es vorne zum Glaubensartikel von der Auferstehung des Fleisches und den vier letzten Dingen. Aber immer stellte Alois seinen Mann.Die Worte waren nicht genau, dann nörgelte die Jungfer;aber der Sinn ward unzweideutig.

„Er macht es ja besser, als der Tonoli und der Hannes zusammen!“ brüllte Joseph Tonoli wild heraus.„Er ist der Erste!“

Von Aar nickte: „Wir können es alle nicht so gut.“

Das Mätteliseppi bekam ein krebsrotes Gesicht und wob fürchterlich. Was sind das für Geschichten? Steht denn heute alles auf dem Kopfe!

Jetzt aber sprang Friedel schlank empor und sagte mit häßlicher Stimme zu Alois: „Wag' es nur, ich stehe dir! Mätteliseppi, fang denn an mit uns Zweien!“

Wieder focht das Mätteliseppi mit seinem Gewissen und zerdrückte das Weberschifflein fast in der Faust.Aber dann fragte es doch:

„Von Maria, der Gebenedeiten, bis zur Eva, der Gott den unverschämten Apfelbiß verzeihe, begegnen wir vielen großen Frauen. Die Judith hat man genannt. Aber es gibt noch eine größere Heldin...welche, Alois ?“

Friedel versengte den Gefragten mit lodernd heißen Blicken. Jedes Wort möchte er ihm auf der Lippe erdrofseln.

Aha, ich soll mit Friedel um den Platz ringen!Und dann neben ihm sitzen allezeit. O und mit diesem Elenden am Weißen Sonntag zum Altar gehen! ...Und sehen, wie er seine lästerlichen Lippen auftut und das allerheiligste Sakrament empfängt! ... Der Lügner,der Verleumder, der Alles-Alles-Allesverderber!.Wie könnt' ich da beten! Sollt' ich nicht fagen: Christkind, geh doch ja nicht dorthin ... oder ... komm nicht zu mir! Du kannst nicht da und drüben sein.Wir hassen uns auf Tod und Leben ... Pfui, wie er mich anschaut, als wäre ich Dreck an seinen Schuhen.Der Affe! Welche wüste, schmutzige, blaue Augen und was für ein verdorbenes Maul! Nein, lieber der Letzte als neben ihm der Erste oder Zweite ...

„Friedel, wer?“

Federer, Das Mätteliseppi.

31 „Du meinst die Makkabäerin mit den sieben Knaben.“

Alois lächelte kalt und stolz. Als ob er das nicht besser kännte. Ein Stuhl hochstufig und golden und darauf der syrische Eroberer. Und rings Generäle und Soldaten und Götzenpriester. Aber vor der Treppe die große jüdische Mutter mit den schwarzhaarigen Jungens. AUnd hinten Brände und Foltern und rußige Schergen ... und ferne das Getrümmer und Rauchen Jerusalems. Sonne scheint. Woher? Vom Venster?Nein, vom Gesicht der Makkabäerin, die einen Sohn nach dem andern unter Lachen sterben sieht und selber zuletzt wie eine lachende Flamme erlöscht. Und dunkel wird es um Antiochus. Schauder faßt ihn. Vor diesem blühenden Sterben sieht er das Leben dürr und kalt wie Winter vor sich und im Königssessel krachen die Bretter ... Frag' nur weiter, Mätteliseppi, und plappere nur zu wie ein Spatz, dummer Herri. Das ist mir alles zu gut, um euch nur einen Brosamen zu geben ...„Weißt du ein anderes großes Weib?“ examinierte die Jungfer den Alois. „Eines, das hat ein ganzes Volk gerettet ...?“ half sie nach.

Wieder lächelte Alois kalt und nagte ein bißchen an den Lippen.

„Denk doch nach! Eine Köonigin sogar! ....Da die Juden in Verbannung .... hm, hm ....Friedel!“„Die Esther am assyrischen Hofe.“

„Alois, Alois!“ warnte die Weberin und wollte ihm jetzt die Antwort möglichst auf die Zunge legen.„Da war doch auch noch ein Weib, das in den Ahren gesichelt hatte ... wie? ... und das die Überbleibsel noch nachgelesen hat ... wie hieß es doch?“

Alois schwieg standhaft. Er sah hochmütig über das eitle Kraushaar des Herri zum Fenster hinaus und den Bergen zu. Wie sie schimmerten im Marzenschnee!Hoch über alles Korn Judäas hinaus. O wie muß man dort oben aus dieser Dumpfheit heraus atmen können!Friedel betrachtete seinen Feind nun aufmerksam.Wahrhaftig, der sah nicht nach Unwissenheit aus. Er begann Unrat zu wittern.

„Die Ruth, hör', die Schnitterin Ruth,“ blies von Aar mit pfiffig gespitzten Munde ein. Doch Alois tat, als verstehe er keinen Buchstaben.

„Friedel!“

„Die Schnitterin Ruth,“ klatschte dieser dem von Aar unwillig nach. Er begann sich seiner Rolle zu schämen.„Genug, Friedel bleibt an seinem Platz. Aber du, kleine Hose, nimm dich zusammen. Ich spaße nicht.Erzähle, wo begegnet uns der Apostel Paulus zum erstenmal?“

Paulus! O jetzt tat es weh zu schweigen. Paulus,der dünne, gebrechliche Jüngling mit dem ungeheuern Schädel, den kleinen grellen Auglein und der breiten,melodischen Lippe ... Wie die Steine durch die Luft sausen und der preiswürdige Levite Stephanus einen um den andern schwächer fängt, zittert, zusammenbricht!Wie der kleine Saul aufpaßt auf jeden Wurf, zürnt,wenn einer fehlt, frohlockt, wenn der andere trifft und

31*den Steinigern ihre verschwitzten und staubigen Oberkleider zurückgibt, als wären es Krönungsmäntel: Cleophas, das ist dein Kittel! Bravo! Du hast ihm das Knie zerquetscht. Aber du, Ben Joannes, hast ihm das Schulterbein gebrochen! Hier ist deine Kapuze!... Und er wirft sie ihm über den Kopf wie eine Cäsarenkrone...

„Oder weißt du, wie Saulus ein Paulus wurde?“

Schmerzlich hebt Alois die Augen zur Diele. Blitz von oben, hingeschmettert Roß und Reiter ... Saul,Saul, warum verfolgst du mich? ... Ein versengter,blinder Mann kriecht zur Stadt zurück ... aber nachher, o Gott, nachher, wie der sieht! Und wie der durch die Erde marschiert!

„Kurzum, erzähle etwas von seinen Missionen, was dir nur einfällt!“

O Herrlichkeiten! Dem Bub aus Saldern wanken die Beine vor Schwäche und Begeisterung. Der Prediger vor erschrockenen Königen ... Halt ein! ... Ein andermall ... Der Prediger mit Ketten an den Händen,einzig frei unter Millionen Ungeketteten ... Zu Athen gleichsam dem Sokrates und Plato die Stirne bekreuzend ... Auf sturmgepeitschten Schiffsbrettern wie in fester Stube disputierend, herumgeworfen von Menschen und Tieren und allen Elementen, schreibend, lehrend,reisend, krank und immer Gesundheit spendend, zornigen Blutes und stets nur Liebe säend, das Größte wollend und auch das Kleinste vom Boden auflesend, zuletzt sein schneeiges Haupt dem Beile bietend, nachdem es sein Genie und seine Ansterblichkeit längst der Mensch-heit geopfert hat. O Paulus, was sind die Cäsaren an dir gemessen? Was ist das Kapitol im Vergleich mit deinem selbstgewirkten Wanderzelt?

Wie von Sinnen steht Alois da. Es plagt und stört ihn gar nichts mehr ringsum. Die dunklere Hälfte der Bank spricht ihn schon mit bübischer Freude als ihresgleichen an. Die andere Hälfte glotzt ihn starr an und die vordersten erwägen, daß es da nicht mit rechten Dingen zugehen kann.

„Komm, sitz zu mir,“ ladet ihn Joseph Tonoli mit seiner alten, rauhen Zärtlichkeit ein.

„Ich frage dich zum letztenmal,“ erscholl es vom Webstuhl. „Wenn du nicht alles weißt, so sag' wenig-stens, was du weißt.“

Nein, dachte Alois, keinen Buchstaben. Ich käme neben Herri zu sitzen. Lieber am letzten Platz. Dort wird der große Paulus neben mir sitzen.

„Fertig!“ entschied die Jungfer. „Du kommst als Fünfter neben Wilhelm Reinert. Und du darfst zufrieden sein, daß ich dich nicht weiter bergab jage! ...“

Nach dem Unterricht verhandelten die Kinder noch in Gruppen am Muättelibrunnen die erstaunlichen Ereignisse der Webstube. Der Herri sah erschreckend müde und verhetzt aus. Er trat vor Alois hin und forderte unheimlich: „Ist es wahr, was die sagen, daß du mit Fleiß geschwiegen hast?“

„Glaub', was du willst,“ erwiderte Alois tonlos und wandte den Rücken.

„Ich will es wissen!“ Der Herri schüttelte ihn am Armel. „Ich will es wissen, du Lügenzapfen, du Bettelbub, du ... du ... dein Vater ist ein Schmierer,ein ...“86*„Rühr' mich nicht an!“ schrie Alois grell auf und stand frei vor Friedel. „Ja, ich hab' geschwiegen, weil ich lieber zuunterst beim Teufel sitze als zuoberst bei dir ...“

„Warum ... warum?“ keuchte Friedel sprungbereit.

„Weil du stinkst wie ein Aas ..stinkt ... du ...“

Im Nu waren die beiden zu einem Knäuel verwickelt, stießen, kloben, bissen sich und hakten die Knie ineinander. Sie sprachen nicht. Stumm waren sie vor Wut und keuchten nur wie wilde Stiere und der Geifer floß ihnen aus den Zähnen. Einige Mödchen schrien:„And das wollen Erstkommunikanten sein!“ ... Mehrere Buben wollten das Paar trennen. Aber der Respekt vor solchem Zorne war zu groß. Sie traten als andächtige Zuschauer zurück. Nur von Aar ging lächelnd um die Rauferei herum, indem er Knie und Hüften wie im Tanze wiegte. Da schoß ihm eine Schelmerei in die glänzendkühlen Augen. Er lief an den Trog,füllte den großen Schöpfer, und ehe jemand wußte wie und was, goß er den eiskalten Sprudel den Zänkern über die brennenden Köpfe. Die ließen jäh los, pusteten und prusteten und schüttelten sich wie Hunde und wischten die Augen und gingen beschämt, aber mit ungelöschter Wut schleunig ihres Weges heim.

Als Alois in die Stube trat, war es schon finster,aber die Lampe war noch nicht angezündet. O Wunder,die Mutter saß schon im Lehnstuhl am Ofen, hübsch umwickelt, und erklärte Lina und Hanna, sie habe den Anfall völlig ausgeschwitzt. Im Nebenzimmer ging

4 Paul mit unregelmäßigen Schritten hin und her, wie immer, wenn er sich etwas überlegte.

„Wie seid ihr nun gesetzt?“ fragte Verena mit unglaublich dünner Stimme. „Wo sitzest du? Ich hoffe,weit, weit oben ...“

O Himmel, wie sah jetzt alles auf einmal anders aus! Vor der Mutter gab es einen ganz andern Stolz als vor Friedel Herri ... Wie hatte er das nur eine Minute vergessen können!

„Der Erste bin ich nicht geworden,“ erwiderte er mühsam.

„Schade!“ lispelte die Mutter bloß. Aber wie klang dieses „schade! Wie der Riß in eine Glocke.

„Bist du also der Zweite?“

„Auch nicht!“

„Der Dritte?“ Jetzt tönte es schon nur noch wie Scherben.

„Ach, Mutter, ich bin ja nur der Fünfte. Aber ich hätte ganz gut der Erste sein können. Es ist meine Schuld ...“

„Was ist denn das wieder?“ fragte Hannchen komisch. „Muß man durchaus der Erste sein?“ Es zog sein Näschen kraus und formte die rundlichen Bäcklein zu einem herausplatzenden Gelächter. „Ich für mich möchte lieber fünft sein.“

„Fünft,“ wiederholte Verena, „das ist wie Tausend und Millionen. Das ist nichts Besonderes.“

„Soll der Aloisli denn etwas Besonderes sein?“fragte Hanna mit hübscher Dummheit im Auge.

Betroffen hielt die Frau inne. Etwas Besonderes!Sieh da, wie ich mich ertappe! Wahrhaftig, der Gof hat recht! Wie bin ich nur darauf gekommen? Nein und nein, nichts Besonderes! Ganz recht: der Fünfte!Wir haben schon genug Besonderes im Hause ...Sie hielt inne und alle hörten auf den ungleichen, wilden Schritt des Vaters hinter der Türe.

„Ja, Alois,“ flüsterte sie dann versöhnlich und strich ihm den Strubel glatt, „werde nur wie Hunderte und Tausende ... ein frommer Kaplan oder ein braver Schullehrer ... oder ...“

„Nein, Mutter, ich schwör' es dir, ich gebe etwas Besonderes, etwas ganz Eigenes ...“

„Das darfst du nicht, Kind,“ flehte Verena, „das ist nicht gesund. Ich war dumm, als ich an den ersten oder zweiten Platz dachte. Nein, nichts Besonderes!Sieh!“ Sie zeigte durch das Dunkel zum Zimmer,wo der Vater so sonderbar auf und ab schritt und mit sich lebhaft disputierte.

Aber ich will, aber ich will, knirschte es in Alois.Nicht wie dort, hinter der Türe, dieses Marschieren und Mitsichselber-plaudern und ewige Pröbeln ...so nicht! O, ich weiß schon wie. Und der grüne Ranft und die Rathausstube und das eidgenössische Glockengeläute stieg wie ein Fest vor ihm auf.

Als die Kinder der Mutter ins Bett halfen, das Nachthäubchen sorglich umbanden, den heißen Krug vor die Füße schoben und ihr die Milch im Anterteller kühl bliesen, kam endlich auch Paul herzu. Seine Äuglein blinzelten voll Unruhe. „Geht es besser?“ fragte er.„Gut, gut!“ fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, als sei nur eine Mücke über die Frau hingeflogen. „Aber wo seid ihr denn alle, wenn ich einmal krank bin?“ Seine Stimme bebte unnatürlich. „Was fehlt der Mutter noch? Schlafen soll sie, das ist alles. Doch ihr schmeichelt und streichelt wie Narren um sie und würdet sie gern aufessen. Aber an mich denkt niemand. And ich bin viel kränker als Verena.O, ich,“ er griff ans Herz, „ich leide hundertmal mehr,jeden Tag, jede Stunde und ihr wisset es nicht. Wo seid ihr? Habt ihr mir Umschläge gemacht, heiße Krüge, Tee, seid ihr zum Doktor gesprungen ...?“

„Aber Väter,“ bemerkte Lina ruhig und drückte beschwichtigend Pauls Hand, „wenn dir übel würde und du in Fröste fielest und umsänkest wie die Mutter nachmittags, dann könntest du sehen, daß wir ... Aber man sieht dir doch jetzt nichts an ...“

„Eben, eben, das ist das Traurige: Ihr seht es mir nicht an. Ihr wollet nichts merken. Wenn ich mich dann strecke und kalt werde, dann seht ihr es mir vielleicht an. Ich klage eben nie, ich zeige nichts, ich kann nicht seufzen, ich ... o ...“ Mit verstörten Mienen wanderte er im Zimmer herum.

„Aber Pauli,“ bat Verena schonend.

„Nichts, Pauli, nichts! ... Wisset, einmal ging ich auf einer heißen, unendlichen Straße. Nichts sah man als plattes Feld mit abgeschnittener Streue. Es gab nicht Mensch, noch Tier, noch Baum, noch Brunnen.Da ward mir elend. Das Herz stand vollständig still.Ich fiel mit dem Gesicht mitten in den Staub der Straße, konnte nicht wegkriechen, mich nicht einmal umkehren. Und ich spürte, wenn ich jetzt einen Tropfen hätte, einen einzigen Tropfen, wäre es auch nur Wasser,so würde ich aufleben. Sonst geht es zu Tode mit mir. Ah,“ schrie er auf und umkrampfte Lina, „war um seid ihr damals nicht gekommen, du nicht und Verena nicht, niemand, nicht einmal für ein wenig Wasser! ...“

„Wie konnten wir denn wissen, Vater ...“ griff Alois ein.

„Papperlapapp, eben das, ihr wollt nicht wissen,wo ich bin und leide. So pflegt ihr mich ... Ich aber lag und lag da und jeden Augenblick konnte Roß und Wagen daherrollen und mich zerstampfen. Wo waret ihr? ...“

Frau Verena gab den ungeduldigen Kindern ein Zeichen, zu schweigen.

„Zuletzt hörte ich weiß Gott woher zwei Mädchen durch die Stoppeln herkommen. And eines sagte: Schau den Mann da, wie er wimmert. Er hat keine Mutter,sonst läge er nicht mitten in der Straße. Sie hätte ihn aufgehoben ... Was Mutter, lachte das andere,er hat nicht einmal eine Frau, sie würde ihn abstauben und sauber waschen. Oder weißt du, wenn er wenigstens Kinder hätte, dann brächten sie ihm zu essen und zu trinken, daß er stark würde und selber aufstehen könnte. So wollen wir denn, komm ... Und die zwei Bettelgofen auf fremder Straße haben mir geholfen.Denn ich habe ja keine Frau ... und keine Kinder ...und werde zuletzt doch auf der Straße sterben ...“ Er stürzte wie irre nach seiner Kammer, schlug die Türe zu und drehte den Schlüssel.

Als Alois zu Bette ging, schlief der Vater schon und ein regelmäßiger Schnauf aus den offenen Lippen machte das Barthaar leise auf und nieder wehen. Der Knabe besah sich die Schrammen vom Kampfe, reckte den mageren Leib, hob die Arme hoch und atmete in tiefen, herrlichen Zügen die kühl zum Fensterchen herein quillende Luft. Und er dachte dabei immer an jenes Besondere, was es wohl wäre. Als er sein Häuflein Kleider auf den Stuhl legte, da sah er plötzlich wieder den jungen Saul die Gewänder der rasenden Steiniger hüten. Oder nein, das war Paulus, der Greis, wie er den Mantel und das Oberkleid abzieht und zur Erde wirft, als ging er schlafen wie gestern und vorgestern.Das Beil blitzt durch das römische Abendblau und Himmel und Erde jauchzen: „Sieg! Sieg!“ Ein Besonderer, ein Unsterblicher braust himmelan.4727

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OD Influenza grinste mit fiebrigen Augen und schlaffen Lippen durchs Land und der Goldinger Doktor Stockmann war schon über dreißig Schwellen gelaufen, ehe er nachts um die Zehne endlich die Spichtigersche heimsuchte. Er klopfte und horchte am magern Frauchen herum und lachte dann: „Um einen Floh ruft Ihr unsereinen wirklich nicht. Jetzt verschreib'ich Euch eine braune, bittere Mordsflasche. Davon nehmt Ihr alle Stunden einen währschaften Suppenlöffel voll und bleibet mir ruhig zehn Tage im Bette!“

„Zehn Tage!“ jammerte Verena.

„Das Wenigstel Ihr habt einen Anfang vom Heim lichen Stich) gehabt und nun rasselt und reibt das Brustfell auch noch wie ein alter Dudelsack mit. Da heißt es aufpassen. Das verträgt keinen Spaß. Ihr Salderner meint, euere Lungen seien doppelt genäht und gefüttert, das reiße nicht bis zu Methusalems Tagen.Doch, doch, es reißt auch!“

„Ich fühle mich doch so wohl,“ widersprach Verena.

Der Arzt lächelte vielwissend. „Der Bub im Herrihaus sagt das auch und fiebert doch derweilen wie eine Feuerkohle.“

Alois horchte auf. Eine unruhige, süße Freude packte ihn. Hab' ich es ihm nicht prophezeit? Wenn der Schlingel es nur nicht gleich überhaut! Mit einem angenehmen Gefühl von Überlegenheit und Rache schlief er ausgezeichnet ein. Am folgenden Tage suchte er sogleich Friedels Platz in der Schulbank. Der stand

9 mundartlich für eine Art tückischer Lungenentzündung.wirklich leer. Diese Lücke fiel ihm aber jetzt, er wußte nicht warum, als eine besondere, unheimliche, drohende Leere auf. Man befaßte sich gerade mit Schweizer Geographie. Darin stand Friedel allen voran. War er doch mit seinem Vater in jeder Sommerferie weit die Städte hinab und die Pässe hinauf gereist. „Ja,wohin geht er denn, wohin?“ rief Lehrer Meinradi verzweifelt, „unser stolzer Grimselpaß? Da sieht man,wenn der Herri fort ist ...!“ And alle blickten auf den leeren Platz. Dem Alois erschien er nun schon so gespenstisch, daß er kaum noch recht hinzublicken wagte. „Wie heißt denn der Wasserfall an der Straße?Ein wahrer Höllensturz ... Dummköpfe! Der Friedel hätte längst geschrien: Der Handeckfall! ... He, Alois,komm zur Karte und zeige mir das weltberühmte Wasser.“Der Knabe mußte an Friedels Platz vorbei. Er bog,so weit er konnte, herum. Es könnte ja mit Geisterhänden nach ihm greifen ... es? ... was? wer?...ach, der Herri ... sein Gespenst! ... Hier, Herr Lehrer, ist der Handeckfall ...

Abends im Anterricht benahm sich auch das Mätteliseppi anders als sonst. Vor allem hatte es ein nasses Tuch um die Stirne gebunden und schlug den Webladen nur sachte auf und nieder. Es blickte mürrisch vor sich hin, und der leere Platz behagte ihm gar nicht.„Macht doch nicht einen solchen Spektakel!“ rief es beim kleinsten Geräusch. Es spitzt die Fuchsohren nach allen Seiten und rief unversehens: „Was hast du da hinübergerufen, du Bubenschmeckerin, vorwärts!“ Orla schaute harmlos mit seinen gelben Augen auf die Jungfer und schüttelte die Haarschnecken. „Jetzt sind wir zwei die Ersten, Hans, ich gratuliere ... das hat das Cheibemeitli gerufen,“ verklagte Joseph Tonoli höhnisch. Andere bestätigten es. Doch Orla verzog keine Miene. „Das ist doch wahr,“ sagte sie, „was habt ihr denn gegen mich ?“

Da überlief dem Alois die Galle und er schrie:„Du bist eine Hure. So, jetzt weißt du es!“

„Was schwatzest du für Dreck?“ drohte das Seppi nun von seiner Höhe herab. „Ich will dir Hure sagen!Weißt du, was das ist?“

„Recht gut weiß ich das. Eine, die allen Hosen nachläuft. Und so, Mätteliseppi, schwänzelt die Orla dem Herri nach und wenn der krank ist, dem Hannes,und weiter dem Louis ...“

„Pfui!“ Der Tonoli spuckte sich vor die Holzböden.

„Und nachher dem Neinert und ...“

„Schweige! Sind das nun Erstkommunikanten?Lieber Gott, was für ein Geschlecht von Disteln und Nesseln wächst mir da auf ... Nichts weißt du, gottlob,gar nichts, dummer Stoffelbub ...“

„Mätteliseppi, willst du glauben, wir haben daheim am Ofen eine Hure gemalt und einen Spruch dazu ... Gesteinigt werden solche Weibsleut', verstanden, Orla?“

Der Jungfer ging eine biblische Spur auf. Und ward sie auch gesteinigt, sag'?“ examinierte sie scharf.

Jetzt wurde Alois rot bis unter die Haare und schüttelte ein verlegenes Nein.

„Warum nicht?“

Der Spichtiger stotterte: „Es kam halt Jesus Christus... und sagte: Wer von euch ohne Schuld ist, werfe ...den ersten Stein!“

„Herrlich, herrlich! Jetzt warte einmal!“ Die Weberin grübelte im Fadenkörblein, das zu Häupten vom Balken hing, und nahm einen Zettel hervor. „Und das? Diese verrückten Lirumlarum-Verse? Bist du damit nicht selber um die Orla geschwänzelt und hast den Gof angesungen wie ein Frosch den Mondschein?und so was wirft Steine!“

Man lachte und johlte. Mit unsäglicher Verachtung riß das alte Mädchen das Gedicht in Fetzen. „Knie hinaus!“

Die Stunde rollte diesmal langsam wie ein schwerer Stein durchs Stüblein und rollte besonders wuchtig über das kleine Spichtigerherz. Also Friedel hatte dem Seppi das Gedicht gegeben. So ein Ankläger, Feigling, Hinterrücksling, Allesverderber! Da kniete Alois nun in einer heißen Lauge von Schande vor aller Augen.Alles spottete ihn aus, das stille, blöde Hildchen ausgenommen. Aber was galt das? Der Sepp faustete ihm drohend zu und der Reinert spuckte ihm an die Schuhe. Ach, könnte er in ein dunkles Ecklein flüchten!Aber dort im dunkeln Ecklein lag ja seine Mutter schwerkrank. Und in einem andern dunklen Ecklein brütet,sein Vater an unmöglichen Dingen herum und verkroch sich wie eine Spinne. Nirgends ist Schutz. Und dieses Mätteliseppi, diese Gerechtigkeit aaf dem Webstuhl, die so sauber und offen einem die schwarzen und weißen Fäden des Lebens zum Mustertüchlein verwebt und vor die Augen breitet, es will den Alois nicht mehr kennen. Seit Wochen bekomme ich kein gutes Wort mehr daher. Es findet nichts als Schlechtigkeit an mir ... Ich bin ja schlecht! Aber nicht so schlecht, daß mich alles mit Füßen stößt. Wartet nur,ich knie nicht lange, ich stehe wieder auf. Und dich,Friedel, treff' ich zuerst. Ich hab' nicht Ruh', bis du vor mir liegst wie ein Nichts.

Am Schlusse der Stunde sagte die Weberin: „Jetzt wollen wir fünf Vaterunser beten; der Friedel hat eine schwere Nacht gehabt.“ Es stieg vom Sitze herab,drückte dem Hildchen tapfer die Hand, kniete zu Boden und betete vor, indem es mit den kühlen Augen gleichsam einen Heiligen nach dem andern auf den Tapeten festpackte und in den Chorus hineinkommandierte. Heftig antworteten die Kinder. Der liebe Gott hatte noch selten so ein energisches Gebet vernommen. Aber es gab ein Loch darin. Alois blieb stumm. Er brachte es nicht über sich, für den Feind zu beten, daß er bald aufstehe, wieder glänze und spotte und ihn unter den harten Schuh drücke.

Hildchen Herri wollte dem Alois auf der Treppe etwas zuflüstern. Aber der machte so böse Augen, daß es davonlief. In der Gasse standen die Kinder noch in Gruppen herum. Nachdem man gewettet hatte, Friedel komme schon in drei Tagen wieder, wogegen andere behaupteten, in drei Tagen läute man ihm das End',sagte Klausi Irchel, des Gemeindeschreibers Bub, er müsse noch sein Altärchen rüsten, er feiere in einer Stunde ein großes Fest. Diese hübsche Nachahmung des Gottesdienstes war in der Fastenzeit überall im Schwunge. Man lud sich gegenseitig dazu ein, und es war eine besondere Ehre, als Zelebrant oder Prediger zugezogen zu werden. Der Reinert besaß ein grünes und ein schwarzes Meßgewand, der Klausi auch noch einen versilberten Kelch und seine Mutter schenkte ihm alten Wein und schnitt ihm Oblaten zur Messe. Dem von Aar gehoörten sogar Inful und Bischofsstab. Man feierte das Kirchenjahr wie im Kalender. Aber die kindliche Ungeduld konnte nicht anders, als manchmal plötzlich eine Weihnachtsfeier oder einen Karfreitag mitten in eine leere Woche versetzen oder an einem grünen Ferialtag ein erstklassiges Marienfest begehen.In diesen Tagen nun, in die bereits die samtdunkeln Schatten der Passion und ein goldenes Dämmern von Ostern vorausfielen, klingelte das Messelesen der Knaben besonders eifrig durchs Dorf. Es schellte und verspritzte Kerzenflämmchen und verschüttete Wein und mundorgelte dazu und machte überzählige Knickse von morgens bis abends, und wenn der von Aar Peter und Paul feierte und Friedel am gleichen Tag Sankt Georg, den Drachentöter, hochhielt, aber Klausi Allerseelen beging und Alois den gesteinigten Stephanus anrief, sang der kühle Reinert den drei Eisheiligen das hellste Gloria und man durfte sagen, daß an einem und dem nämlichen Tage das ganze Kirchenjahr mit Kreuz und Fahnen über die Salderner Altärchen dahinzog.

Klausi bat die Tonoli, den von Aar, Orla und Hildchen zu seiner Feier. Alois müsse predigen und der Reinert mit seiner hohen Metallstimme das Hochamt zelebrieren. „Du, von Aar, bist der Bischof und sitzest auf dem Thron. Vergiß Stab und Inful nicht! In einer halben Stunde kommt ihr, dann ist alles bereit. Vielleicht gibt uns sogar das Mätteliseppi selber die Ehre ...“

Federer, Das Mätteliseppi. 32

Kaum war der Irchel weg, so ermunterte Wilhelm Reinert die Tonoli: „Also, jetzt!“ Joseph flüsterte dem Alois etwas zu und zog den Verblüfften heftig mit.Die Vier gingen die dunkelnden Wiesen schweigend hinunter, schlichen ums Schulhaus, pfiffen Lehrers Meinradi heraus, und nach einigem Zureden und gegen drei hübsche Schweizerbatzen verschwand der Kleine und kam mit den Schlüsseln zum Schulzimmer zurück. Auf den Zehen ging es nun in den dämmerigen Raum. An der Schwelle wollte Alois nochmals zurück. Aber Sepp Tonoli, der unheimlich schnaufte, stieß ihn vorwärts,und Louis sagte leise und kalt: „'s ist ja alles Aberglaube und nichts mehr!“

Sie saßen in die hinterste Bank und schauten unverwandt nach vorne, wo Friedels Platz war. Die Fenster gaben noch ziemlich hell und man sah in ihrer Lichtung gerade vor Herris Sitz die Dolde eines Oleanderbäumchens schattenhaft schweben. Aber in den Ecken lag Nacht und die große Wandtafel schien wie eine schwarze Wolke in der Luft zu hangen. Die Landkarten an der Wand verschwammen und das Lehrerpult sah wie ein Gerüste aus. Ein schwarzes Totengerüste, dachte Alois und schmiegte sich eng an Joseph.

„Was für ein Unsinn!“ murmelte Louis.

„Schweig!“ herrschte ihn der Bruder an. „Jedes Wort ist gefährlich.“

„Wir warten, bis es stockfinster wird,“ flüsterte Reinert. „Erscheint er dann noch nicht, so bleibt er am Leben.“

„Er wird kommen,“ keuchte Joseph, und Alois fühlte, wie die Hand des Kameraden von Schweiß tropfte.„Er muß ... st!... was ist das ...?“

Das Dunkel ward dichter und schwamm vor Alois her und hin und seine Augen wurden blind und schwammen mit. Und es war, als klinge die Finsternis und spiele eine leise, schläfrige Musik wie von fernen,unzähligen, kleinen Geisterstimmen. Joseph atmete furchtbar. Sein ganzer Körper zitterte. Unwillkürlich fiel dem Spichtiger jener dumpfe Abend an Felizitas' Leiche und das seltsame Gebaren des Knaben ein. Was hat denn der mit den Toten zu schaffen? fragte er sich schaudernd. Er hätte sich jetzt gerne von Joseph losgerissen und wäre aus dem Saale gelaufen, aber der Gedanke, auch nur einen Schritt an diesem Ort allein zu tun, lähmte ihn fast.

Er hatte bis jetzt die Schuluhr noch ticken hören.Jetzt ging es im allgemeinen Summen des Dunkels unter. Dieses Dunkel wirbelte und sauste wie ungeheure Ballen Gewölke ins Gesicht und war doch still und weich wie Flaum ... Dort, ganz vorne, gab es jetzt einen dunkeln Punkt ... meiner Seel', am Sitze des Herri ... war es das Dunkel selber oder war es die Oleanderstaude oder ein Nebel vor dem Fenster ...?

„Gehen wir!“ brummte Louis. „Welcher Blödsinn für nichts und wieder nichts da zu hocken.“

In diesem Augenblick zuckte und schauderte es durch Josephs lange Knochen. Er sträubte das Haar, steifte den Hals zurück, seine Augen kugelten glasig vor und die Lippen zogen sich fest an die Zähne: „Jetzt ...da ... sitzt er ... o Gott ... er schreibt etwas ...

32*nein, er nimmt das Lineal ... er kehrt sich um ...o ... o ... zeigt ...“

Alois sah wie gebannt auf den Fleck. Er sah aus wie ein zur Erde gebogenes Gebüsch oder wie ein Schüler, der etwas am Boden sucht und kaum den Rücken über den Schreibdeckel emporwölbt... Aber jetzt hob es sich wie ein Bäumchen im Nebel ... wuchs,streckte etwas rechts und links aus ... Äste ... nein,Arme, Hände, alle zehn gespreizten Finger ... es dreht fürwahr den mächtigen Hinterkopf ... ein Gesicht ...redet nicht ... aber sieht und winkt zu sich ... wen?wen? ... Seppel fällt mit schaumiger Lippe dem Alois in die Achsel. Der schreit hochauf: „Dort! Seht ihr! Der Finger ... Der lange Totenfinger ...“

„Wo? Gar nichts ist dort.“ Louis geht ruhig aus der Bank und durch die schmalen Sitze nach vorne.“

„Bleib um Gottes willen! Zurück! Sieh, wie es dir nickt ... fort ... fort ... ich sterbe ...“ Alois sieht entsetzt die gemütliche Figur Louis' vorwärtstappen, gerade in die nach ihm tippenden Finger Friedels, des Friedel,der wie Stein und Bein dort sitzt, dürr und still, und sie alle töten kann ... Aber so sieh doch, Louis steht jetzt mitten im Gespensternebel, fährt mit den Ellbogen hin und her und unter seinen Fäusten verduftet der Schein. Es wird klar rechts und links, das hölzerne Pult, das Oleanderbäumchen, das nüchterne Fenster und der kahle Sitz. „Da seht,“ ruft Louis unheilig laut durch die Finsternis und setzt sich krachend auf Friedels Platz nieder. „Wisset ihr was, ihr habt euer Gehirn gesehen. 's ist so ein dünner, fader Nebel.“

Es ist wirklich nichts. Was man vor Angst nicht alles sieht und hört!

„So! und jetzt?“ fragt Louis zurückkehrend. „Bin ich tot? Greift mich an! ... Schändlich, was ihr für Hasen seid!“ Er nieste, zog das Tüchlein hervor und schneuzte sich schmetternd die Nase. Dieses so irdische Geräusch machte die ganze Spukseligkeit platzen. Allen ward klar, wie närrisch man gewesen. O so niesen und so die Nase schneuzen muß man! Der Reinert und der Alois zogen das Nastuch hervor und schneuzten sich unter Trompetengeschmetter. Dann rieben sie dem Sepp mit den gleichen drei Nastüchern das erkaltete Antlitz wieder warm und sauber. Sie warteten, bis er sich von seinem Anfalle erholt hatte. Bald erhob sich Joseph denn auch, schupfte zornig die Helfer von sich und schritt hochaufgerichtet und sinnend den anderen voraus ins Freie. „Ich gehe heim,“ sagte er und machte mit seinem langen groben Finger eine Bewegung gegen den Mund. Alle verstanden und nickten. Wer sollte eine Silbe erzählen?

Indessen war bei Klausi alles hübsch zum Gottesdienst eingerichtet, aber schwarz. Darüber staunte man zuerst. Als jedoch der Klausi sagte, es gelte als Totenfeier für Friedel, nahm man es ruhig hin. Was tut das? ZSeder hatte schon für sich selber sogar das Requiem gesungen.

Johannes von Aar saß bereits auf seinem Throne.Aber die Mitra stand nicht gut auf seinem weltlustigen und kavalieren Gesicht. Den Krummstab hielt er lässig wie einen eleganten Spazierstock und schrieb hie und da Schnörkel damit in die Luft. Doch wie die Geistlichkeit nahte und vor ihm hinkniete, bot er mit Würde den Finger zum Kusse, aber lispelte: „Nicht beißen!“Reinert las nun die Messe, während Alois in einem kurzen Nachthemd und in tapetener Stola vor seiner Kanzel das Wehen des Geistes wartete. Hedwig Irchel und ihre Freundinnen Regine Rohrer und Mathilde Schälig sangen das Kyrie eleison, Klausi spielte auf der Mundorgel dazu, was leider immer ein Walzertempo gewann, und Louis fingerte auf der Schwegelpfeife. Dazwischen schrie Reinert ein nie vernommenes,ganz ungeschichtliches Latein mit beständigen Säkula Säkulorum und mit einer verdächtigen Eile nach dem Weine im Gläschen. Gewiß festierten alle mit innigem Ernste, und ihre Seelen atmeten wahrhafte Tempelluft.Aber weil es so junge, lustige Seelen waren, flog das Irdische mit hinzu, ähnlich wie Käfer oder Schmetterlinge durch die Kirchenfenster in den Weihrauch und Kerzenschein des Meßaltars flattern und in solcher Ewigkeit ein buntes Schwänzlein Zeit und Weltlichkeit sehen lassen. So konnte man denn mit frommer Über-zeugung das Heiligste nennen und gleich wieder einen Spaß sagen und dem Zelebranten unversehens ein Schlücklein Wein aus dem Gläschen stibitzen.

Alois wartete, bis das Evangelium versungen war.Würde überkam ihn. Sowie er Kerzen, Altäre, Meßkleider sah, ging alle Welt an ihm verloren. Dann fühlte er wie ein Priester, ein ungesalbter, aber doch wie ein Priester. Er konnte nicht mehr Gleichgültiges schwatzen. Kein Scherz verfing weiter an ihm. Das,was ihn seit den ersten Vernunfttagen ohne sein Zutun erfüllte, kommandierte, begeisterte und ihn nie mehr, auch in allen Bübereien und Gelüsten nie mehr verließ, übernahm ihn dann geradezu wie ein heiliger Rausch: die Sehnsucht nach den Mysterien des Glaubens, der Süße des Altars, den Schlüsseln des Tabernakels, den Ehren der Kanzel, den Finsternissen und Lichtern des Beichtstuhles, kurz der Hunger und Durst nach dem geistlichen Leben. Die Totenfeier hier störte ihn gar nicht. Er vergaß, wem sie galt. Die Kirche stand jetzt da und trauerte und geleitete eine zitternde Seele zum Richter.Die Mundorgel scholl ihm denn auch wie ein Dies Irae und Louis' Pfeife wie die Posaune des Jüngsten Tages. Ergriffen stieg er nach dem Evangelium auf den Sessel, verneigte sich vor dem Bischof und begann,indem er sehr gut und in allen Treuen die näselnde Stimme des Pfarrers nachahmte:

„O Tod, o Tod! Was ist das für eine Trauerl ...Alles so schwarzl ... Ja so, unser Freund ist gestorben.Wie sollen wir da nicht jammern? Und wir alle müssen auch sterben ... und es stirbt der letzte Mensch ...o Gott ... und dann wird es leerl! ... Aber was ist der Tod? Beim Tode,“ hier ahmte er die schöne,erklärende Fingergeste des Pfarrhelfers nach, Daumenspitze auf Zeigfingerspitze, und gab die Antwort des Katechismus: „Beim Tode scheidet die Seele vom Leibe und erscheint vor Gottes Gericht ... etzetera ...und ach etzetera .... Habt ihr auch schon an das gedacht, meine Teuern? .... Wie liegt er da im Sarge! .... Requiem aeternam .... steh auf, steh auf, Lazarus! .... Nein, er kann nicht mehr ....Dominus vobisecum .... Er ist im Himmel oder in der Hölle ....“„Oder im Fegfeuer,“ korrigierte der Bischof gebieterisch vom Throne.

„Ja, oder im Fegfeuer ... das brennt, huil ...aber erst die Höll'l Geben wir acht. Schon viele sind drunten ... Der reiche Prasser und der König Salomon und Kain und Judas und der Satan selber sogar ... Requiem aeternam ... Nicht einen Tropfen Weihwasser kann man ihnen zuspritzen. Weg von ihnen zum Himmel! Der Verstorbene war eigentlich doch ein guter Mensch ...“

„Passiert!“ lächelte der Bischoff. Die Mädchen kicherten und unbemerkt konnte Zelebrant Reinert einen Schluck Wein erraffen.

„Er hat mit uns gelebt und gewirkt und gesündigt wie wir und Karten gespielt, den Kreuzjaß sogar, und zu viel gegessen und elend gerauft ... und er hat ...ja, er war rot wie Scharlach vor Laster ... aber ...“

„Nicht so lange,“ rief Klausi von der Orgel herab und Louis blies das Wasser aus der Pfeife. Der Bischof klopfte mit dem Stabe.

„Beten wir also, bis er sitzet im Schoße Abrahams und uns winket ... in Säkula Säkulorum ...“

Das Hochamt musizierte weiter. Alle tranken vom Weine, alle genossen ein Stücklein Oblate, der Bischof immer zuerst. Dann ward das Rauchfaß geschwungen und der Altar inzensiert, alsdann der Bischof, und es ging lange, bis er genug hatte und sagte: Deo gratias,...dann der Zelebrant, dann die andern, auch Hedwig und Regine und Mathilde. Alois aber stand im Geiste noch immer auf der Kanzel und donnerte ein paulinisches Wort nach dem andern in die Millionen hinunter.

Und wie das Sinnlose und Kunterbunte, was er gepredigt hatte, in seinem Kopfe eine schöne logische Form und einen ergreifenden Sinn ergab, so war ihm auch jetzt nicht anders, als ob beim letzten Segen des Priesters die ganze Welt sich bekreuze und die gesegnete Arme Seele wie ein entwischter, schneeweißer Vogel in die Höhe schieße.

„Ordentlich, ganz ordentlichl“ lobte das Mätteliseppi und trat aus der Türöffnung unerwartet herein.Im dunkeln Korridor hatte es mit der Frau Gemeindeschreiber still zugehört. Es rühmte und tadelte nun und zupfte zurecht. Das Gloria hätte man nicht singen dürfen und es sei zu oft geweihräuchert worden. Aber das Latein habe einen famosen Stich ins Römische gehabt. Doch keinen Tanz mit der Maulorgel mehr!Lieber eine vaterländische Weise. Die Melodie von AV Credo, dem tapfern, kriegsbereiten, könne man vom Sempacher Schlachtlied den Ton anstimmen. Für das Agnus Dei würde sich dann etwa ‚Weißt du, wieviel Sternlein stehen‘ eignen. Der Reinert mache die Genuflexe zu wenig tief. Bis an den Boden, verstanden! ...Und der von Aar muß die rechte Hand zum Kusse bieten, nicht die linke. Nun, es war ganz passabel.Aber die Predigt, herrjel ... Hier wandte die Jungfer sich hart gegen den noch ganz geistestrunkenen Alois.„Schau', ich glaubte deinen Vater zu hören. So ein Durcheinander und Oh und Ah und Ach! ... Und wie, der König Salomon in der Hölle? Wer hat dir das verkündet? Und der Kain? Wie kannst du so fabeln? Überhaupt, soll man beim Tode so ein Gejammer machen und alles verdammen und nichts als Hölle sehen? Ihr meint den Friedel, Kinder. Na also, wie kannst du ihn dann so schwarz malen? Ist das christlich? O ich weiß, wie schwarz deine Gedanken gegen den armen Friedel sind. Ein Heid' bist du. Der Christ soll frohlocken in der Totenpredigt und den Himmel auftun und die Engel heruntersingen und die Gebenedeite zeigen und mit ihnen allen lachen, daß wieder ein armer Staubschlucker Adam ein ewiger Freudenreich geworden ist oder es doch bald wird, sofern man nur viele, starke Rosenkränze für ihn betet und gewaltige Messen liest.Aber ihn nicht so Knall und Fall zuletzt mit einem Fingerknips in Abrahams Schoß spedieren, wie ein Seiltänzer! Nein, Alois, ich sehe wirklich wenig von einem künftigen Geistlichen an dir. Du hast nicht einmal Amen gesagt ...“

Das Seppi drehte sich um und ging. Alois tastete an seinen Westenknöpfen auf und ab. Aus allem Jauchzen seiner Seele hatte ihn diese trockene, ungerechte Hexe wieder in den Staub hinuntergezogen.O wie tut es mir unrecht! Habe etwa ich immer vom Wein getrunken und allen Schund getrieben? Ernst war es mir. Der Friedel! Gar nicht in den Sinn ist er mir gekommen. Es freilich meint, ich sollte ihn wie einen Heiligen lobpreisen. O es paßt zu ihm.Beide machen es mir gleich schlecht. Ich hasse sie alle beide. Und es sähe wohl gern, wenn ich nicht Geistlicher würde. Aber der Herri und der von Aar dürften seinetwegen sogar Bischöfe werden. O du! Du bekommst mich nicht! Die ganze Welt kann mir im Wege stehen, ich springe darüber und werde Priester.Und das Seppi und der Friedel sollen mich noch einmal auf der Kanzel sehen und zuhören, wie ich ihnen die Kutteln erlese ...

Das Mätteliseppi aber sprach unter der Türe möglichst trocken: „Mit unserm armen Friedel steht es schlimm.Er hat Blut erbrochen. Man bringt ihm die erste heilige Kommunion wohl bald ins Bett. Dann könnt ihr mitkommen, aber im Sonntagsgewand, jedes mit einer Kerze und mit einem Kränzlein auf dem Haar.Ich werde es euch dann noch präzis anzeigen.“

„Ich gehe jedenfalls nicht mit,“ beschloß Alois finster.2.55 338

17

ährend Frau Verena die Stunden zählte, bis W sie wieder aufstände, zählte Paul die Stunden,bis er ins Grab fiele. Er weidete sich am Gedanken,wie dann alle unheimliche Verfolgung in seinem Rücken aufhöre und wie man an der Leiche plötzlich wie bei Alexius“ Tode seine Größe erkenne. Man würde das Manuskript neben ihm finden, das jetzt niemand drucken will, aber um das sich einst die größten Verleger streiten werden. Ach, um als Großer erkannt zu werden, muß man erst sterben. Nur den Toten glaubt man. Und Paul stellte sich in prickelnder Selbstquälerei vor, wie die Leichenrede tönte, wie der Beethovensche Trauermarsch erklänge, wie man einige Seiten aus seinem Opus vorläse, wie viele weinten oder mit reuigen Mienen ihm in den Sarg nachtrauerten und wie er das alles merkte und darauf erwidern, ja nochmals ins Leben zurückspringen könnte, aber schwiege und sich um keinen Preis aus seiner Ewigkeit in den lumpigen Erdentag zurückrufen ließe.

Tat ihm dann aber das Geringste weh, so rührte ihn gleich Todesangst. Er ging nie zu Verena. Ich würde sie zu stark aufregen, schützte er vor. In Wahrheit fürchtete er sich vor Ansteckung und dachte oft an Flucht. Besonders diesen Frühling, wo es so viel regnete und nebelte, dachte er gern an Italien, das Land seiner Sehnsucht. Er war erst bis Mailand gekommen. Seit er so hitzig Musik und Plastik in einen Teig knetete, sprach er immer vom Land des Bel Canto und des Marmors. Dort müßte man gesund werden. Die Verfolgung hörte auf. Alles wäre gut und rein und jedes Genie würde in seiner Bedeutung erkannt und gefeiert. Aber hier in diesen trüben Bergen geht man zugrunde, bevor es recht Sommer wird.Bedenklich rasch, dünkte ihm, wuchsen seine Fingernägel, wie nur bei Sterbenden oder Modernden. Und so oft er die vielen weißen Flecklein darauf sah, erschauderte er und beschnitt die Finger bis aufs Fleisch, damit solche Kirchhofblumen verschwänden. Aber sie kamen immer wieder. Ist schon jemand in diesem Hause gestorben? fragte er Lina einmal. Das Haus ist alt, ich denke schon, bekam er zurück. Nun erkundigte sich Paul nach den frühern Mietsleuten, wo sie wohl schliefen.Die greise Totenbeterin erklärte unbarmherzig, daß sie genau in seiner Bettecke schon viermal Leichenwacht gehalten habe. Nun rückte Paul jede Nacht sein Bett anders und schlief am liebsten auf dem Sofa in der Stube. Einmal bot er dem Oberknecht Sebast ein paar Fünffränkler, wenn er den Birnbaum vor dem Hause umhaue. Er gebe zu viel Schatten in die Fenster.Es war aber der Mann mit der zweizipfeligen Mütze und den Metallknöpfen hinter dem Stamme, der Pauls Seele mit Wahnsinn beschattete. Aber auch zum Stubenfenster wollte er nicht mehr gern nach den Sandsteinen hinausgucken. Einmal weckte er nachts Alois: „Geh schnell und schau', ob die zwei Mörder noch dort stehen !“ ... „Welche, Vater?“ fragte Alois schlaftrunken. „Die grauen, schweren, mit den ungehobelten Koöpfen vor dem Fenster, die mich töten wollen.“Alois ging. Er sah im Mondlicht die zwei geduldigen Klötze stehen und gleichsam auf den Besuch ihrer Seelen warten und fragen: Kommen sie bald? Wo sind sie?Warum finden sie uns nie? ... „Sie sind fort,“ meldete Alois geschickt. „Gottlob!“ rief der Vater erlöst. Aber gleich fiel er ins Gegenteil und jammerte: „Gestohlen!.. . o nun hat man mir alles gestohlen, mich selbst gestohlen. Ich selber stecke ja in den Steinen. Meine Seele wohnte immer dort. Nun haben sie mir die Seele gestohlen! ...“

Ofter wollte Frau Spichtiger den Arzt rufen. Aber Paul entlief immer. Doktor Melchior erkannte längst,dieser Künstler gehöre in eine Irrenanstalt. Doch er wollte während der schweren Krankheit Verenas die Sache auf sich beruhen lassen. Nachher dann aber rasch!

An einem Sonntagnachmittag fühlte sich Verena sonderlich wohl und dachte: Wüßte der Doktor nur,wie nötig das Aufstehen für mich wird! Das Bett ist für reiche Damen. Es verhätschelt. Mich macht es wahrhaft kränker ... Sie kleidete sich mit zitternden Füßen an und ging in die Stube hinunter. Lina und Hanna waren in der Kirche. Alois litt an Asthma und saß am Fenster. „Komm,“ sagte sie, „es ist ein so milder Tag. Wir sitzen hinter das Haus auf die Bank.“ Er führte sie und nun saßen beide still nebeneinander. Am Berge vor ihnen war schon der halbe Schnee geschmolzen. Groß, laut und weiß stürzten die Bäche durch die Runsen hinunter. Still flogen die ersten Schwalben herum. Im magern Gartenbeet zuckte schon schüchtern etwas Grünes Hervor, gleichsam den Finger am Munde: Verrat mich nicht! In den fahlgelben Matten aber standen überall Schneeglöcklein,Schlüsselblumen und Anemonen wie in sonntäglicher Feldandacht still. Alle Wege waren leer. Die Luft duftete von Erlösung der Wasser und Erden. Es schwebte der Friede des Sonntagnachmittags über dem nahen Dorfe und seiner Kirche und schwamm leise, leise zu ihnen herunter.

Aber mit einemmal wehten so fern von der Kirche her auch Orgelspiel und Vesperpsalmen leicht wie ein Traum mit. Das Auf- und Abschwellen der Verse gewahrte man deutlich, und alles Hehre und Süße solcher uralten, morgenländischen Hirten und Königslieder kam über die nordische Wiese und ihre alten Birnbäume wunderlich schön dahergesummt. Verena legte die Hände in die Schürze und betete auswendig die fünf Psalmen leise vor und Alois antwortete auswendig. Beiden ward bei diesem Beten unbeschreiblich wohl. Es war ihnen, als sprächen Berg und Wald in den Höhen und die Hänge ins Dorf hinunter und jeder Baum und Bach die Psalmen innerlich mit.Ohne Zweifel, Himmel und Erde sangen eine unhörbare Vesper. Dabei ähnelte der Stuckliberg, bis zu den Hüften noch im Schnee, einem riesigen Kirchensigrist im kurzen Chorrock. Das Tal war lautlos wie ein Kirchenschiff, die Bäume mit ansetzenden Knospen glichen jungen Fähnlein des Herrn und aus den frischen Äckern stieg ein wundersüßer Weihrauch auf. Die Wasser hoch am Berg gaben das Orgelspiel dazu. Etwas Sakramentales ging durch die Lüfte. Wo. wo aber war der Priester?

„Der Herr hat es geschworen und es wird ihn nicht gereuen,“ betete Verena im 109. Psalm sehr langsam und sehr ernst und blickte Alois an. „Du bist der Priester ewiglich nach der Ordnung des Melchisedek.“

Der Knabe erschauerte. Er schloß die Augen vor blendendem Licht, Überall glänzte nur Weißes um ihn,Chorhemden, Altartücher, weiße Kaseln, silberne Wachs-lichter und die Hostie reiner als Schnee. Er suchte die Hand der Mutter und küßte sie. In diesem Augenblick wußte er, daß er ein Priester werde. And die Mutter wußte es auch, denn so mächtig konnte keine irdische Leidenschaft küssen. Und sie wußte, er werde sich bemühen, werde stolpern und irren, aber wieder aufstehen und vorwärtssuchen und endlich finden. O er wird finden!

Alois wollte etwas herausschreien, einen Schwur oder noch etwas Stärkeres. Aber Verena legte den Zeigfinger auf die Lippe, und sie vesperten weiter und hörten das Echo ihrer Worte wie eine tausendfältige Musik sozusagen aus der Ewigkeit wiederkehren.

Gegen Abend, als Verena mit allen Gefühlen der Genesung im Bette lag, hörte man eine Harmonika vor dem Hause. Ein grauer, verwilderter Italiener musizierte um Almosen. Er ging ohne Hut, und aus der linken Hose grinste ein Holzstumpen. Paul war in seiner Kammer über Mittag eingeschlafen. Dann hatte er sein Manuskript durchlesen und mit den nötigsten Reisesachen in einen Rucksack gepackt. Das tat er fast täglich. Jetzt öffnete er schnell das Fenster und lauschte mit großer Rührung der Musik. Der Baß, o dieser unergründlich schwermütige Baß im Instrument! Es sind nur immer die zwei Töne einer Quart, aber was darin liegt! Er klatschte dem Ztaliener zu, forderte mehr, lud ihn zuletzt zu einem Glase Wein in die Stube. Zwar verstand er nur ein paar Brocken Italienisch, aber hörte dem voll anschwellenden Geplauder des Musikanten mit ganzer Seele zu. So oft dieser gefühlvoll schrie: Si, si, Italia, la bella, antwortete der Spichtiger mit genaner Nachahmung des schwärmerischen Tones: Ja, ja, Italia la bella! und goß neuen Saft in beide Gläser ... Kennst du Michelangeloꝰ? ...Ohe si, Michelangelo, lachte der andere ... PDanteꝰ ...Oredo io... divina Comedia, splendida, magnifica...un capolavoro ... Paul wiederholte diese Worte. Sie waren Musik für ihn. Beim vierten Glas dachte er:Welch ein Glück, wenn ich mit diesem Manne nachts aus dem häßlichen Gebirge nach dem Süden entfliehen könnte. Aber ach, er hat ein hölzernes Bein!

Am folgenden Tag wollte Verena durchaus die Flickarbeit an Aloisens Hosen vollenden. Sie ließ sich Faden und Nadel und Fingerhut ins Bett geben, aber wurde nur mit großer Anstrengung fertig. In der Nacht fielen sie plötzlich hohe Fieber an. Gegen Mitternacht ging es in die Vierzig. Der Atem wurde schwer.Es war klar, daß sich das Wasser in den Höhlungen des Brustfells vermehrt hatte und jetzt auf die Lunge und das Herz drückte. Die Kinder wechselten alle zwei Stunden mit Wachen ab. Frau Verena lag auf dem Rücken, die Augen weil offen zur niedrigen Zimmerdecke gewandt. Alois saß von ein bis drei Uhr neben ihr und reichte ab und zu aufgewärmte Milch mit Kognak und betete vor Angst Vaterunser auf Vaterunser. Da sagte Verena mühsam: „Alois, ich kann es dir ja jetzt ... schon sagen ... der Landammann Horat hat jüngst wegen dem Studieren mit dem Rektor gesprochen ... Du darfst gleich nach Ostern ans

Federer, Das Mätteliseppi. 33 Gymnasium gehen .... es kostet nichts ... Die Bücher bekommst du geliehen ... und das Mittagessen umsonst ... Geh bald einmal zum Rektor und danke schön, ... vergiß es nicht! ... Aber jetzt sag', für was betest du so wild?“ ... „Für dich, Mutter!“ erklärte Alois und brach in Schluchzen aus. Verena ließ die Arme auf die Federdecke fallen und bemerkte schwach:„Ach, für mich! ... bet lieber für den Vater ... mir ist geholfen . .. aber ihm, ihm! ...“

In den ersten Tagen der Verschlimmerung wollte der Arzt eine Punktion zwischen den Rippen vornehmen.Bei der Hinfälligkeit des abgearbeiteten und verzehrten Frauchens stand er davon ab und reichte Mittel zur Hebung der Kraft und zum innerlichen Abgang des Brustwassers. Manchmal klopfte Paul an der Türe und fragte von draußen, wie es gehe. „Muß sie sterben?“ flüsterte er zu Alois und sah voll Gespensterfurcht in die Türritze. „Alois,“ fragte er einmal bei solcher Gelegenheit und zeigte ein altes Buch, „nicht wahr, wer Latein kann, wird auch das ZItalienische flink verstehen? Ich habe diese alte Grammatik im Kasten gefunden. Hör einmal, wie das klingt:

„Per me si va nella città dolente ...“

„Ich muß jetzt der Mutter Arznei geben,“ erwiderte Alois kurz, kehrte sich um und schloß die Türe vor der Nase des Vaters zu.

„Città dolente!“ deklamierte Paul erzürnt. „Ja,das ist eine Stadt der Schmerzen, dieses Saldern, diese heillosen Berge, diese Krankenzimmer, diese gesamte Luft ... puhl ... Und wie sie mich abfertigen, als existiere ich gar nicht mehr!“Er lief in seine Kammer. Da lag der verschnürte Reisesack. Er hob ihn am Niemen. Wie leicht! Das ist gar kein Gewicht. Das ist fast eher wie Flügel.Wer das anlegt, muß fliegen könnenl Paul schnallte das Bündel um, nahm den Stock in die Hand und ging wie auf einer Landstraße im Zimmer auf und ab. Plötz-lich stand er am Fenster still, schrak heftig zusammen,floh in eine Ecke und verharrte totenstill. Er hatte etwas Zweizipfliges mit rotem Kragen und Metallknöpfen gesehen. Der Verfolger!

Aber am nächsten Morgen war Paul Spichtiger spurlos verschwunden. Die Geschwister kamen sofort überein, der Mutter dieses Unglück so gut und so lange sie könnten aufs schlaueste zu verheimlichen.

Verena aber schaute mit offenen Augen zur Zimmerdecke und während sie sonst immer noch das Hauswesen vom Bett aus geordnet und von da Essen und Kleiderkasten und Geldsäckel und Blumentöpfe regiert hatte,ließ sie von dieser Nacht an alles gehen, wie es wollte,kümmerte sich um nichts mehr, genoß, was man ihr gab und sann dann wieder unbeweglich in die Zimmerdecke hinauf. Nur hie und da sagte sie freundlich zu den Kindern: „Grüßet mir Paul! Ich lass' ihm eine gute Nacht wünschen.“

33*

18 De Mätteliseppi bürstete und striegelte seine Klasse auf das pfarrherrliche Examen zurecht. Gegen Alois war es merkwürdig rauh. Aber es mußte wohl überhaupt an einem Schnupfen oder Ärger leiden, daß es keine Geschichten mehr erzählte und nicht das magerste Späßchen trieb. War es nicht bei der Sache, daß es so oft ein Stück Seide zurückweben mußte und die Antworten der Schüler überhörte, oder ist es allein der kranke Friedel, woran es allen Humor verloren hat?

Alois hatte vernommen ... und wie erbleichte er dabei! ... daß sein Vater an jenem Theaterabend vom Mätteliseppi aufgegriffen und der Polizei übergeben worden war. Dieses Gerücht war erst ruchbar geworden,als der Finkenstrich des Spichtiger im Dorfe zu reden gab. Er habe eine Kette an den Füßen und Handschellen getragen wie ein Zuchthäusler.

Sobald ihm Louis Tonoli das ruhig auf dem Heimweg aus dem Unterricht erzählt hatte, war Alois ohne Anklopfen in die Mättelistube zurückgesprungen und bleich wie ein Schneemann, aber mit brennenden Muskeln, vor die Weberin hingestanden. Er riß den Mund zu einem Viereck auf und konnte zuerst keinen Ton hervorbringen. Aber in seinen Augen lag etwas wie Gericht und Tod.

Das Mätteliseppi stutzte, knickte etwas ein, aber rief dann streng: „Grobian du, so ohne Klopfen rumpelst herein ...“„Ist es wahr, Mätteliseppi ... das vom Vater ...mit der Kette ... und den Handschellen ... dem Landjäger .. .? Ist es wahr?“ brüllte er unsinnig und riß die Alte am Ledergurt.

Die Jungfer zuckte mit den flächsernen Wimpern unsicher ein paarmal blitzschnell auf und ab und sagte dann barsch: „Es hat ihm gehört, zehnmal für einmal!“

Alois schlug die Hände vor Abscheu zusammen. Jetzt schossen die Worte nur so auf die Zunge: „Und weißt du, Mätteliseppi, daß mein Vater auf ein liebes Wort dir wie ein Hündchen gefolgt wäre? Aber du hast geschimpft wie immer und da ward mein Vater böse und da hast du die Polizei geholt, als ob er gemordet hätte ... Seide weben kannst, aber darum sind deine Hände so grob, als müßtest immer arme Sünder anbinden und henken ... Ja ... das sag' ich! ... O weh, Handschellen meinem Vater ... du ...“ Er drohte der Alten mit den Fäusten vor das Gesicht hin.

„Geh hinaus! So redet man nicht mit mir ...“Erdfahl lehnte sich das Seppi an den Webbaum.

„Und weißt du, Mätteliseppi, daß mein Vater seit der Zeit nicht mehr recht im Kopfe ist? ... Daß er immer einen Verfolger im Zweispitz, mit Metallknöpfen und rotem Kragen hinter sich sieht? ... Und daß er uns sicher deswegen fortgelaufen ist und am Ende noch irgendwo verunglückt? ...“

„Fable nur!“ donnerte jetzt die Jungfer fürchterlich los. „Ihr könnt es beide gleich gut. Lug auf Lug wächst dir aus dem Maul. Einen Mordiorausch hat der Pauli gehabt und ohne mich wäre er im Schnee eingeschlafen und erfroren. Gerettet habe ich ihn ...Aha, jetzt wirst wieder klein! ... Hast denn gemeint,solche Leute fasse man mit seidenen Handschuhen an?Weil es just dein Vater ist? ... Wie sagst? Nicht recht im Kopfe? ... Das war er schon lange ... und du bist es auch, sonst würdest du anders mit einer alten Jungfer und Lehrmeisterin reden. Schäm' dich ... und sofort hinaus ...!“

Von diesem Auftritte an haßte Alois das Mätteliseppi so sehr, wie er es einst verehrt hatte. Er tat,als sehe er es nicht, grüßte nie, gab mürrischen Bescheid und manchmal überraschte die Alte den Buben bei einem Blicke voll eisgrauen Hasses. Was sie von nun an lehrte, glaubte der Knabe freilich im angeborenen Respekt vor der Sache. Aber aus ihrem Munde verlor es alle Kraft und allen schönen Glanz. Tust du das etwa? fragte er jedesmal und verneinte leise. Und predigte, ansonst das Jesuskind nicht einkehren möge,und wie es betonte, man müsse aller Feindschaft und Rache entsagen und sich mit den Mitmenschen absolut aussöhnen, bevor man zum Altar gehe, und wie es Christi eigene Worte hiezu anführte: da hielt es der arme Bursche einfach für unmöglich, je die heilige Kommunion empfangen zu können. Denn der Jungfer und ihrem saubern Lotterbuben, dem Friedel, würde er nie die Hand zum Frieden geben. Sein Gesicht wurde finster, seine Seele war es noch mehr. Er nagte die Unterlippe blutig und marterte sich seither unaufhörlich mit dem Gedanken, daß Christus die Sanftmut selbst sei und ein so verwildertes und racheschnaubendes Herz wie das seine von sich weisen werde. Und du willst mein Priester werden, würde der Heiland sagen, und dem Frieden dienen und verbinden und sühnen, du, der du selber jetzt immer zerreißest und aufreizest und nicht einmal mit zwei einzigen Menschlein einen ordentlichen kleinen Frieden zustande bringst! ... Tag und Nacht verfolgte ihn dieser Vorwurf und rieb seine Nerven auf.

Eines Tages fragte ihn das Mätteliseppi, als hätte es seine Seelengefechte durchschaut, mit einer gewissen Schonung in der Stimme: „Alois, kann der Mensch alles, durchaus alles verzeihen?“

Alois hustete, schnob, wurde rot und blau und bröckelte endlich aus innerstem, trotzigem Wahrheits-gefühl heraus: „Nein, das kann niemand!“

Das Mätteliseppi prallte zurück und verlor alle Überlegung. „So lauf deinem Vater nach und sag' es dem zuerst! ... Er wird lange Ohren machen, daß sein eigen Fleisch so richtet ...“

Alois sperrte das Maul auf vor Entsetzen über eine solche Roheit. Aber er war geschlagen. Seine hellgrauen, gutmütigen Augen hatten längst Schatten bekommen. Nun aber gähnten sie oft wie Spalten aus weiß Gott welchem unheimlichen Abgrund der Seele auf.

4 **

So gram Alois der Webjungfer war, am Ende saß sie doch immer als gewaltige Katechetin und Respektsperson vor ihm, und so hart ihre Rede klirrte, das fühlte der Instinkt des Buben heraus, es war doch solid und fest geschmiedetes Eisen und hatte Spitz und Stiel. Hie und da beim feindseligen Angaffen der Alten,wenn er diese geschickten, kühlen Äuglein so furchtlos herumzappeln, den Zahn so gefährlich wackeln und dennoch niemals vom Posten weichen sah, wenn er dieses straffe Haar, diese unverwüstliche Stirne, die derbe, aber freundliche Nase betrachtete und dem lustigen Schnurrbärtchen beim Reden auf und ab folgte, wenn er dann diese altjüngferliche Stimme hörte, die so bieder und traulich und aus unsträflicher, goldener Sicherheit heraus predigte und wenn er scharf aufpaßte und dann aus aller Trockenheit dieses komischen Geschöpfes etwas versteckt Warmes und Herzliches, wie heimliche Goldkörner aus dem Geschaufel und Gekiesel eines Steinfeldes, herausglitzern sah; besonders aber, wenn er an den paar Runzeln der Alten herumstudierte und ihm diese Furchen von einem langen Arbeitsleben, von viel Einsamkeit und Schweiß und wohl auch von manchem allein durchfochtenen und schwer gebrochenen Trotz erzählten: dann ertappte sich der grimmige Knabe bei einer immer freundlicheren Miene, einem leisen Mitleid, einem schwachen Lächeln sogar, ja einer unausgesprochenen, kindlichen Abbitte. Aber dann sammelte sich auch seine ganze Empörung gegen Friedel. Der war der Teufel. Der betörte das Mätteliseppi. Der hatte die Fußketten und Handschellen von der Jungfer Seppe zuerst ganz insgeheim erfahren, hatte sicher Stillschweigen versprochen und des armen Vaters Schande nun dennoch, ungebessert durch Bett und Fieber, an die große Glocke gehängt. Der Allesverderber!

Mehrmals hatte das Mätteliseppi am Schlusse der Stunde verkündet, daß der Herri die Klasse grüßen lasse. Immer hatte es beigefügt: Alle zusammen und einen jeden besonders! Nein, dachte Alois verstockt,mich sicher nicht!

Zuerst hatten etliche Gespanen den Friedel besucht.Dann ward es plötzlich verboten. Wie befremdete es darum den kleinen Spichtiger, als die Weberin ihn einmal an der Türe zurückhielt und ihm ernst riet: „Du könntest einmal zum Friedel. Er hat es mir aufgetragen. Ihr müßt doch einmal ins Reine kommen.“

In der Nacht rutschte Alois in schwerer Not im Bette herum und seufzte nach irgendeiner Erlösung. Wie kann ich dem Heiland entgegengehen, wenn ich so stolz und zornig bin? ängstigte er sich. Aber die ... die ...gehen auch zum Heiland, reden mit ihm, predigen ihn ...und tun doch unrecht und hassen und drücken! O was ist das für eine Welt!

Er rief sich alles Weh vom Herri ins Gedächtnis und es schwoll ihm wie ein Salzmeer über den Kopf hinaus. AUnd so einer ruft mich! ... der Heuchler!Warum? Hat er noch nicht genug? Will er mir noch vom Bette aus die Zunge strecken? ... Die Augen troffen ihm von Tränen. Er suchte nach einem Tüchlein und fand keines in den Hosen. Da zog er die Lade, wo seine Wäsche lag. Wie er so im Dunkel unter dem Weißzeug herumtastete, griff er unwillkürlich tiefer und tiefer, bis in den hintersten Winkel ... ist es wohl noch da? ... und zog einen vertrockneten, mit Flecken übersäten Fetzen hervor: das Nastuch, womit sich der Herri auf dem Eis das Blut abgewischt und worein er dann so elend gespuckt hatte.

Warum habe ich es doch nicht weggeworfen? sann Alois bedrückt. Er sah die vielen dunkeln Flecken. Sie fingen an zu leben und aus frischer, nasser Röte rief ihm jeder Blutstropfen zu: So unschuldig bist auch du nicht ... Das zum Beispiel hast doch du gemacht,Alois, oder?Der Arme zog unwillkürlich das Tuch an sein Gesicht. Duftet Blut so fein? Herris schönes, kühnes Blut? Ach, auf einmal strömten die Tränen wieder und noch reichlicher, weil er einen solchen lieben Menschen hassen mußte. Er drückte die Lippen auf den Lappen von Fleck zu Fleck und schwor: Ja, morgen geh' ich. Er hat ja ein so rotes, wildes Blut. Was kann er dafür? AUnd ich hab' so ein dickes, schweres Blut. Was kann ich dafür? Gott im Himmel, morgen geh' ich.

Er trat ans Fenster. Die Nacht war von einer unsäglichen Stille. Unbegreiflich fern stand der Himmel und machte das Land weit und träumerisch. Man hörte den Frieden der Welt atmen. Er atmete vom Berg, vom See, aus jeder Matte und jedem Gras.Und doch war es nur ein Atem, aber ein großer, wie eines Riesen, der müde und zufrieden ruht. Alois atmete diesen Schnauf der Welt mit. O, ich Tropf,was habe ich für dummes, kleines Gezänke angefangen und mir damit fast den Frühling verdorben. Wie konnte ich nur? Friede, Friedel Das Tüchlein am Herzen schlief er wie ein neugebornes Kind ein.

Aber am nächsten Tag goß es einen lauen, grauen,süßen Aprilregen übers Land und wie man eine harte Faust rasch mit Kitzeln und Kosen aufzwingt, so sprang nun allenthalben die verstockteste Natur in Knospen auf.Man sah das Gras förmlich wachsen. Doch Alois wurde von diesem Regen wunderlicherweise kraft- und mutlos. Stube und Gesicht des Mätteliseppi kamen ihm heute finsterer als je vor. Zaudernd ließ er den Tag verstreichen und den nächsten auch. Das Mätteliseppi sagte nichts. Doch es beobachtete ihn unablässig und schien die Seelenkämpfe von seinem dunkeln und zerwühlten Stirnlein zu lesen. Aber dann wandte es sich unverhofft mit aller Schroffheit ab. Am dritten Abend endlich, nachdem er die Zeit über kaum gegessen und geschlafen hatte, lief Alois zum Herrihaus. Schon stand er mit furchtbarem Pulsschlagen vor dem Tor und ergriff die Klinke, als ihn das Wappen am Mittelblatt so erschreckte, daß er innehielt. Es war nichts als ein schönes Gesicht mit gesträubten Locken und runden Augen, das ihn heillos anglotzte und ihm eine lange Zunge streckte. Aber diese Zunge, diese Zunge! Wieso?Was ist das? Diese rote, schmale, spitze Zunge ...wo hatte Alois sie doch gesehen? Halt, richtig, schon als kleinem, verlaufenem Büblein hatte Friedel ihm die Zunge gestreckt. Und damals schon gab ihm das Mätteliseppi eine Ohrfeige ... Man hält mich zum Narren!Ich gehe nicht ...

Aber zu Hause wuchs Aloisens Unruhe nur noch mehr. Er suchte beim Zubettegehen das zerknitterte Ol-bild Friedels unter dem Haufen Skizzen und Pröbeleien hervor. Er kleisterte die Risse von hinten mit Klebtaffet zusammen, strich Firnis darüber und spannte die Leinwand in einen festen Rahmen, wie er das vom Vater her gut kannte.

Zwei Tage später hielt das Mätteliseppi den Buben neuerdings zurück und sagte: „Mach' mir einen Lätsch!)wie du willst! Aber geh sogleich zum Friedel! Hörst denn nicht, wie er schreit? Sonst sucht er dich als

) frummes Gesicht, Trotzkopf.arme Seele und läßt dir dein Lebtag keine Ruhe mehr!Gehl!“ Und es stieß ihn mit Knie und Ellbogen unwillig zur Türe hinaus.

Verzweifelt kehrte sich Alois nach der Jungfer zurück und schrie: „Du hast gut sagen: Geh, geh! Mach'ins Reine! ... Mach' du zuerst ins Reine ...!“

„Was, was?“ lärmte ihm das Seppi nach. „Wart'doch, Alois, ein Wort!“ Aber der Bub rannte voll Scham ins Freie hinaus und ging eine Stunde später nun wirklich zum Herri. Er trug die gerollte Leinwand unter dem Arm. Hildchen öffnete ihm freundlich die Kammertüre. Ein leises Herein klang, und Alois stand vor seinem in Haß und Liebe unvergeßlichen Friedel.Aber was für ein Friedel! Er kannte ihn anfänglich kaum, so farblos und aufgedunsen war sein Gesicht. Nur zwei Glühtlein glosten auf den Wangen.Die Nasenlöcher und der Mund waren vom Brand wie mit brauner Rinde überkrustet und die Oberlippe,hoch und straff gezogen wie ein Milchhäutchen, ließ die kleinen Kieselsteinzähne kahl wie bei einem Gerippe aus dem Munde starren. Die Hände waren unglaublich weiß und verschwollen. Der Hals schien überlang und zeigte an der Schlagader den Puls mit der grausamen Deutlichkeit einer Uhr. Nur die Augen loderten noch rund und blau aus diesem vom Tode gezeichneten Kopflein.Friedel bewegte keinen Finger, sondern nickte nur zufrieden mit den Augen, Alois solle ganz herantreten.Doch zwei Schritte vor dem Bette blieb der Junge wie angewurzelt stehen. Ein süßlich ekler Geruch von den Medizinen oder von den Ausdünstungen des Patienten spülte ihm entgegen.

„Fürchtest du mich?“ flüsterte Friedel und zeigte bei jedem Wort seine kleinen, nackten, grinsenden Zähne.„Ich tue dir doch nichts. Ich könnte jetzt keine Fliege töten, sieh,“ er versuchte die Hände von der Decke zu heben. Sie waren gelähmt und wächsern wie bei Toten.Den Alois überfiel die Erinnerung an die tote Felizitas in Hildmanns Stube. Wenn Friedel die Augen schlösse, er gliche ihr ganz. Nur an den blaugeäderten Schläfen arbeitete es in Muskeln und Nerven wie von tiefem, ernstem Überlegen.

Alois offnete den Mund, um endlich guten Abend zu sagen. Aber er blieb wie versteinert stehen. Jetzt winkte Friedel irgendwohin und Alois sah, daß Hildchen und noch jemand die Augen wischend aus der Kammer gingen und die Türe geräuschlos schlossen.

„Alois,“ sagte jetzt Friedel langsam und viel kräftiger, „du hast gesagt, du habest nicht Ruh', bis ich vor dir liege wie nichts ... wie nichts, hast du gesagt ...Bist du jetzt zufrieden?“

Alois hob die eine Hand voll Verzweiflung empor und ließ sie wieder fallen.

„Was hast du hinter dem Rücken versteckt? ...Doch keinen Stecken!“ Wieder grinste sein Gesicht in halbem Lächeln. „Das rat' ich dir nicht ...“

„Ich werde wieder gesund, das weiß ich schon,“fuhr er unter Pausen fort. „Du kommst halt wieder unter den Sattel ... Aber vorher muß ich Frieden machen ... sonst bessert es nicht ... Und das ist gar nicht die Hauptsache ... Aber morgen darf ich die erste heilige Kommunion empfangen ... Früher als ihr alle ... und heute abend muß ich beichten ... Da hab' ich dem Ernst Ilsig gerufen, daß er mir die vielen Püff' und Prügel verzeiht ... Und der Müller Joseph,dem ich den Weichselstock zerbrochen habe, hat mir einen schönen Zettel geschrieben ... Der Tschöggi ist auch dagewesen ... Er hat ja den Arm wegen mir gebrochen ... wir haben ihn gut bezahlt ...“ ein kleiner Hochmut verzerrte die Herrilippe, „sehr gut bezahlt! ...Sein Vater hat gesagt: ‚So kann er auch dem Karli und Toni einen Knochen brechen ...‘ Aber ich tät' es nie mehr ... nein, nein. Der Tschöggi wollte zuerst nicht ans Bett, gerade wie du. Aber ich hab' gebeten,bis er kam ... Komm du auch! ... So ist es recht! ...Und schau' ... so wie dir hab' ich ihm die Hand genommen und gefragt: Willst mir nichts von allem mehr übelnehmen? ... Auch nicht das Anspucken ... weißt,mit dem Fünfliber ... Alois, Alois, ich hab' dich so gern ... So drück' mir die Hand fest, noch mehr, daß ich's weiß! ... Du hattest mich doch auch heillos gern ... bist mir wie ein Hündli gefolgt ... drück die Hand fest! ... Ich selber kann nicht ... Ich ess'und trink' ja nichts, bin teufelsschwach ... drück', sag'ich ... Jetzt, jetzt ... glaub' ich's ... laß los ...das tut verflucht weh ...“

Alois schluchzte und kniete vors Bett und küßte Friedels Hand wirklich fast wie ein Hündli.

„Also wegen dem Gedicht ... hast du mir das auch verziehen? ... Und daß ich deinen Vater verschimpft und das vom Landjäger ausgeschwatzt hab' ...bitte, sag' ja! ... Das Mätteliseppi hat mir gesagt,ich solle nicht mit dir gehen ... es sei um deinen Vater nicht sauber ... du schlagest ihm nach ... du steckest am Ende an ... da bin ich immer böser geworden ... Verzeihst du, sag', ... auch das viele am Ohr und Haar Reißen und ... ja, auch daß ich dem Vater den Helgen verstampft hab'? ... Willst du das alles vergessen? ... Bist doch auch etwas schlimm gewesen mit mir und hast ... Aber dem Mätteliseppi sag' nichts von dem! ... 's ist wie ein Reibeisen und meint es doch gut ...“

„Sag' jetzt nichts mehr, Friedel,“ brachte endlich Alois zerknirscht hervor, „ich kann dich nicht so reden hören. Ich bin der Schlechte gewesen. Schon lange hätte ich zu dir kommen sollen. Du mußt mir verzeihen, du. Ich bin so stolz und weiß doch gar nicht warum. Du weißt allerenden warum du prahlst. Aber ich, so ein Bettelbub ... und vielmals hab' ich noch selber angefangen ...“

„So soll es jetzt verziehen und vergessen sein ...“beschloß Friedel.

„Da hab' ich etwas für dich mitgebracht,“ sprach Alois demütig. Er rollte das Bild Friedels auf. Es zeigte noch immer gerümpfte und gerissene Stellen. Aber das Gesicht prangte in seiner Morgenfrische um so schöner aus der Verwüstung. „Das schenk' ich dir,Freund, lieber; der alte Zbind, der Tapezierer, kann es mal leicht herrichten ...“

Friedel strahlte vor Entzücken. „Geh dort hinüber ... zur Türe dort! ... Klopf' zuerst!... Sobn..Meine Mutter ist dort ... zeig' es ihr! ...“ 3 Was war das für ein Fest! Die Mödchen in weißen Röcklein, die Knaben in dunkeln Hosen, alle mit Kränzen im Haar und einer Kerze in der Hand,knieten um das Bett herum, und Friedel lag wie ein Engel in den köstlichen Linnen und empfing das heiligste Sakrament. Lehrer Meinradi aber hatte fein Harmonium in den Korridor gestellt und spielte eine leise Melodie in die Stube hinein. Und alle Kinder wünschten:Wären wir doch an Friedels Stelle! Jetzt hat der Heiland ihn gar noch zuerst besucht. O ja, er hat den ersten Platz, wirklich den ersten Platz gekriegt.

An der Wand hing Friedels blühendes Bild in einem Rahmen. Der wirkliche Herri war wie ein erloschenes Feuer dagegen und dennoch viel schöner als dies rot und weiß und goldblonde Gestrichel da oben.

„Wie wär' es doch,“ betete der kleine, etwas blöde Tschöggi und guckte mit heiliger Neugier auf die Goldkapsel, aus der der Pfarrer die Hostie nahm, „wie wär'es, lieber Jesusknab, wenn du jetzt hier gerade auch uns heimsuchen wolltest, nicht erst am Weißen Sonntag?Es ginge doch in einem und würde dir eine große Mühe ersparen ...“

Aus dem funkelnden Geschirr, wo noch andere Hostien lagen, schien es zu singen: „Kleiner, lieber Tschöggi und ihr alle, meint ihr, ich käme nicht gern sogleich?Ihr könnt gewiß am Weißen Sonntag nicht würdiger daknien als heute. Aber wenn wir darüber reden sollen,so bringt mir erst das Mätteliseppi. Wo steckt es ...?“

In der Tat, es war nicht da.

Die nächsten Werktage gingen tonlos und lichtlos in der Webstube dahin. Alle Kinder glaubten, das Seppi sei krank. Sein Haar war nicht stramm gekämmt und der Silberlöffel stak schief im Zopf. Das war zum mindesten ein Ereignis, wie wenn sich der Kirchturm neigte und schief über Saldern hinge.

Nur Alois bemerkte das nicht mehr. Er war wieder voll Sonne und segnete gleichsam alles, was er ansah,auch das einsilbige Mätteliseppi und seine dumpfe Stube,mit seinen hellsten und seligsten Blicken. Die Jungfer ertrug ihn so nicht. Sie wandte sich ab wie ein Schatten,der das Licht fliehen muß und doch immer beim Lichte bleibt.

Jeden Abend ging Alois zu Friedel. Er mußte ihm alles brühwarm hinterbringen, was im Dorfe und in der Schulpause vorging, wer im Hosenlupf gewann,ob der von Aar nun endlich auch ohne Anlauf und Stecken zwei Meter achtunddreißig weit springe. Daß Orla Lomser vom famosen Johannes den Laufpaß bekommen habe und nun dem Louis Tonoli nachlaufe,machte die beiden hellauf lachen. Vorzüglich aber erzählte Alois Histörchen aus der Weltgeschichte, von Seipio und Alexander, von Gustav Adolf und Wallenstein, aber auch, wie Bischof Athanasius die Kaiser übertrumpfte, den Häschern auf dem Nil entwischte, in der grauen Wüste und in den Weltstädten, auf dem Thron und hinter einer Kastentüre immer der gleiche,größte Mensch seines Jahrhunderts war ... Aber mehr als so ein Bischof interessierte den Herri eben doch,was ein Hannibal geleistet hatte.

„Wenn ich gesund bin, werden wir den punischen Krieg spielen ... ich will aber Scipio sein,“ gebot Friedel.

Federer, Das Mätteliseppi.

34

„Und ich Hanniball!“

„Nichts da, du bist mein Schildträger und hast mir den Trinkbecher zu reichen und an meiner Seite zu fechten. Von Aar wird Hannibal sein. Den wollen wir bei Zama gehörig durchbleuen und ringeln.“

„Das geht nicht, Friedel. Hannibal ist entkommen.“„Dummes Zeug, ich werde ihn fangen und nach Nom schleppen und er muß meinen Siegeswagen ziehen,einen Ring in der Nase. Da kann er dann vor den Meitschi tänzeln!“

„Erzähl' ihm nicht so wilde Sachen, das paßt nicht mehr,“ rügte der Ratsherr einmal beim Weggehen. „Er redet nachts davon und bekommt nur stärker Fieber.“

„Aber Friedel zwingt mich ja!“

„Zwingt!“ äffte Jeremi spöttisch nach. „Bist du denn so ein Waschlappen! ... Erzähl' ihm vom heiligen Aloisius und Alexius ...“

„Das mag er nicht. Aber jetzt weiß ich etwas, das vom Knaben Tareisius.“

„Wovon handelt das?“ fragte der Ratsherr argwöhnisch.„Ein Römerbub,“ entgegnete Alois. „Er muß den Gefangenen das heilige Sakrament bringen und wird dabei von Gassenbuben erwürgt ... geduldig wie ein Lämmchen ...“

„Wie ein Lämmchen so geduldig ... das mußt du dem Friedel sagen, gerade das! Er will mir auch gar nicht ans Sterben denken ... Werd' du nur ein Geistlicher, Alois, ich geb' dir gern einen schönen Batzen daran. And die erste Messe lies mir für den Friedel,gelt?“„So viele, viele heilige Messen, Herr Ratsherr,“gelobte Alois feurig.

Die folgenden Tage konnte er nicht mehr zu Friedel.Dem Sterbenden war es ins Gehirn gefahren. Er tobte und schlug aus und schäumte und fiel dann in völlige Besinnungslosigkeit. Und erst jetzt kam das Mätteliseppi wieder und wich nicht mehr vom Bette.Es ließ sich schlagen und anspucken und am Haar reißen und schwieg und ordnete und hielt sachte, sachte den Wütenden danieder und betete ihm vor, doch nicht mehr mit jener scharfen und schartigen Stimme, womit es sonst die Weiberseite in der Kirche regierte, sondern mit einem tiefern und geruhigen Tone, der wie Schlummerweise den Tobenden nach und nach in Schlaf lullte.Halbe Nächte kniete es am Bette, von einem Schluck Tee lebend, und betete. Als es sich einmal zufrieden erhob und flüsterte: „So, Friedel, das war der erste Rosenkranz, in den du mir nicht hineingepfuscht hast,“da bemerkte es, daß er ohne Seufzen und Zucken verschieden war. Die Ahr hatte eben die dritte Morgenstunde geschlagen. Auf seinem halboffenen Munde vertrocknete ein Schäumchen. Ruhig, wie man ein gelesenes Buch zuklappt, schloß das Mätteliseppi dem Toten Lippe und Augen. „Die schönsten Augen, die ich mein Lebtag gesehen habe,“ sagte es am Morgen,„und gaben schon nicht mehr das leiseste Fünklein Licht.Ins Diesseits natürlich,“ fügte es bei, „denn sie strahlen jetzt auf die andere Seite mit aller Sonnen- und Mondenpracht der Ewigkeiten.“434*Alois Spichtiger lief am nächsten Tag im Dorfe auf und ab und ihm schien, sein Schritt halle wie in einem verödeten Hause. Nur irgendwo an einem Küchenfenster lachte jenand. Da schrie er gewaltig hinauf:„Wisset Ihr denn nicht, daß der Friedel tot ist ...3

43*

19 Gerr wollte Alois am Karsamstag nachmittag in den Pfarrhof zum Examen gehen, als ihm der Briefträger einen Brief zuschwenkte. Es klebte keine Marke darauf, sondern am Rande stand: Amtlich.Irrenanstalt Pepperis. „Tu du auf, mir zittern alle Finger,“ bat er Lina. Sie erbrach also den Umschlag mit sicherer Hand und las vernehmlich: „Paul Spichtiger,gebürtig aus Bachnang, wohnhaft in Saldern, Bildhauer und Zeichnungslehrer, ist in der Nähe von Gallikon durch die Ortspolizei in Verwahr genommen,vom Arzt untersucht und auf behördliche Anordnung unserer Anstalt zur Pflege übergeben worden. Er leidet an einem schweren Herzfehler und noch mehr an einem hochgradigen Verfolgungswahn. Vorgestern gelang es ihm auszubrechen. Er ward in erschöpftem Zustand wieder eingebracht. Wir möchten Ihnen nun, verehrte Frau Spichtiger, mit diesem Berichte die Versicherung geben, daß Ihr Gätte bei uns in der zweckmäßigsten Behandlung steht, aber dürfen gleichzeitig doch nicht verhehlen, daß sein Zustand wenig Hoffnung übrigläßt.Wir werden Sie, wenn nichts Ungewöhnliches eintritt,je zu Ende des Monats über das weitere Befinden Herrn Spichtigers unterrichten ...“

Sonderbar, diese Zeilen erschütterten die Kinder gar nicht. Für sie war der Vater schon lange, lange irre gewesen. Aber die Mutter? „Was macht er auch?“fragte sie zehnmal im Tage ... Er arbeitet jetzt an den Standbildern ... Aber ich höre doch nichts. Ich müßte doch hämmern hören ... Gerade darum hat der Vater die Blöcke auf die andere Seite des Hauses spedieren lassen ... Welche Figur hat er denn begonnen? ... Die Wissenschaft!... Ach, warum nicht lieber die Religion? Das wäre für uns alle jetzt nötiger ... Wir wollen es ihm sagen, versprachen die Kinder.

Ein andermal: Sind die Bilder bald fertig? ... Ja,Mutter ... Wie sieht denn die Religion aus? ...Sie hat, fabelte Alois, das Evangelium auf der linken Hand aufgeschlagen und hebt die Hostie darüber ...Die Hostie? Darf man so etwas schnitzeln? ... O ja,es ist wunderschön ... Kinder, sagt ihm doch, er solle DWas nützt die Hostie am Stein? Er selber soll kommunizieren ... Er ging ja gestern, Mutter, und darauf hat er herrlich gemeißelt ... Wirklich? Ich kann es fast nicht glauben ... Kannst den Pfarrer fragen,Mutter, logen die Kinder ... Also endlich, endlich,pries Verena. Wie lange ging er mir nicht mehr zur Beichte und Kommunion! Jetzt wird es also doch noch Ostern. Gottlob, daß ich das noch erlebe. Pauli und ich, wir müssen bald einmal miteinander reden,gründlich reden ...

Sonst kümmerte sich Verena um rein nichts mehr und ließ die Kinder unbefragt schalten und walten.Aber Paulis Name wollte nicht erlöschen auf ihrer langsam verglühenden Lippe.

Manchmal öffnete Lina laut Verabredung das Fenster und Alois stand mit dem Hammer an der Hausecke und schlug in einem Takte, den er vom Vater her im

9 die gebotene Beichte und Kommunion auf Ostern.Ohr trug, auf einen Pflasterstein. Hörst du, wie der Vater sich befleißt? sagte dann Lina. Es geht der Westwind. Der trägt jeden Schlag herüber. Bald darauf kam Alois gelaufen und verriet, der Vater habe jetzt das Gesicht der Religion prächtig vollendet, Finger und Füße auch. Das Gewand sei nun bald gehauen.Und sobald die Statuen fertig wären, käme er zur Frau herauf, um viel mit ihr zu besprechen. Vorher wage er nicht.O er soll schaffen, schaffen, schaffen! ermunterte die Kranke. Denn es wird hohe Zeit und wir haben einander wirklich viel zu sagen.

Sollten wir der Mutter nicht allmählich Kunde geben, wie es mit dem Väter steht? fragte Alois.Wenn er stirbt, muß sie es doch wissen ... O ganz und gar nicht, wehrte Lina. Erst wenn sie gesund wird ... Aber wenn er ihr dann einmal nachts erschiene? ... Alois, hör' auf! ... Oder, oder ...ja, wenn die Mutter auch wegstirbt? .... Dann weiß ich etwas, sprudelte Hanna in die Bestürzung der älteren Geschwister hinein. Achtet wohl, dann begegnen sich beide auf der Milchstraße oben und kennen sich zuerst im neuen Kleide nicht und grüßen sich. Jäso,bist du auch schon da? ... und du auch? ... Dann können wir ja gerade miteinander gehen. Es ist schöner zu Zweien ... Ach ja, fabelte Alois weiter, dann stolzieren sie Arm in Arm durch die Sternblumenwiesen zum Sankt Peter hinauf. Sie sind schon lange nie mehr miteinander so spaziert und sagen einander nun alles, was sie hier unten nicht recht sagen konnten oder vergessen haben. Wenn dann Sankt Peter sich schwierig macht und dem Vater absolut kein Billett geben will, dann stupft und stößt die Mutter eben so lange und reißt die Tür so weit auf, daß beide mitsammen durchschlüpfen. O ja, die Mutter wird dem Vater in den Himmel helfen ... mit ihrem Billett!

Mit so frohernsten Gedanken ging Alois ins Eramen. Der Pfarrer Molin saß im Wams bequem auf seinem Polster und fragte leicht und nickte schnell und sagte häufig: Scharmant, scharmant! Ihr kennt ja alles. Saubere Klassel...

Auf dem Ofen schlief die sorgenlose Katze und aus dem Garten klang das Pickeln und Schaufeln des Gärtners. Man fühlte sich behaglich. Und morgen gibt es dazu noch Ostereier und übermorgen ist auch noch Feiertag. Nur weiter examiniert, 's ist ein Spaß.

Das Mätteliseppi hatte versprochen, so zeitig als möglich zu kommen. Es mußte nur noch schnell die Seide vom Baum abrüsten. Als aber die Türe aufging, kam nicht die breite Jungfer, sondern schmal und bleich wie eine Kerze der Neupriester Berchtold Schalch in die Stube, derselbige, der am Weißen Sonntag die erste heilige Messe lesen und den Kindern die Kommunion spenden wird, ein Salderner wie sie, aber jetzt über alle Dörfer der Welt hinaus ein Gesalbter des Herrn.„Hopla, da kommt ein junges Messer,“ spaßte Antonius. „Schneide du einmal unsern Käse an und schau, wie das Mätteliseppi ihn ausgezeichnet geschwungen hat. Wir stehen bei den Sakramenten.“

Der junge Mann, der vor kurzem aus dem Seminar gekommen war und sich jetzt in aller Stille auf seinen größten Tag vorbereitete, griff mit blankem Eifer zu.Er trug keinen gemütlichen Frack, sondern einen langen,blitzsauberen Talar mit zahllosen Knöpfen und einem seidig flatternden Gurtband um die Lenden. Die Kinder hatten den Studenten früher nur den Telegraphenschalch genannt, weil er so lang und hager war, und hatten wohl auch ein paar Ohrfeigen dafür gekriegt. Jetzt sagten sie immer noch untereinander: der Telegraphenschalch hat mich gesegnet, ich hab' dem Telegraphenschalch die Hand geküßt, der Telegraphenschalch hat mir ein Helgelein geschenkt ... Aber Telegraphenschalch hieß jetzt mehr als Kaiser und König. Alois verschlang ihn mit Augen voll Hunger und Neid und Andacht zugleich.

Berchtold Schalch fragte also, wie viele Sakramente es gebe und wie sie gespendet würden. Das war leicht.Aber er fragte hochdeutsch und kühl wie ein Buch, nicht wie ein warmer Mund. Man konnte darauf nicht gleich antworten. Man zitterte ein wenig und wurde schnell verwirrt.

„Wie viele Sakramente kann ein Christ empfangen?“fragte er plötzlich, wie aus einem Hinterhalt hervor.

Die einen sagten drei, andere vier.

„So zähle sie auf, von Aar!“

Dieser plauderte und plätscherte fröhlich los: Man wird getauft, eins, man beichtet, zwei, es kommt der Chrismer), man kommuniziert, drei, vier, man hei ...heira ... heiraspelt...“ Alles lachte.

„Respekt, Jungens,“ fuhr der Primiziant mit hohem i) der firmende Bischof.Tenor drein. „Sag's du besser, Tschöggis Theodul, glaub'ich ...“

„Und man wird krank und bekommt das heilige Ol ... macht sechs ...“

„Also wie viele Sakramente?“

„Ja, sechs, ich hab' es an den Fingern nachgezählt,“bestätigte Hedwig Irchel. Im gleichen Moment trat das Mätteliseppi kraft seines Amtes ohne Klopfen herein. Der Pfarrer schob ihm einen Sessel hin und machte: pst! Die Jungfer krachte auf den Sitz nieder,aber kräuselte beim Anblick des examinierenden Jünglings ein bißchen die flächsernen Brauen.

„Nun aber behaupte ich, der Apostel Petrus habe alle sieben Sakramente empfangen. Saget, wie konnte er das?“„Natürlich,“ versetzte Louis Tonoli, „er hat noch die Priesterweihe empfangen.“

„Aber dann durfte er doch nicht heiraten,“ widerlegte der von Aar.

Das Maäͤtteliseppi schlug die Schuhabsätze vor Aufregung aneinander.

„Also wie?“ fragte der Neupriester ungeduldig.„Was, das wißt ihr nicht? And ist so einfach ...Kein einziger? ... aha, Alois Spichtiger, nicht?“

„In den ersten Christenzeiten wurden nicht bloß ledige Leute zu Priestern geweiht, auch Witwer oder solche, die mit Einwilligung der Frau dem ehelichen Leben entsagten und in den Dienst der Kirche traten.Die hatten dann das Sakrament der Ehe und der Priesterweihe empfangen, also wie Petrus alle sieben Sakramente.“Das Mätteliseppi atmete auf.

„Endlich!“ bemerkte der Neupriester ohne Lob.„Das hättet ihr alle gleich sagen sollen ... Etwas anderes: Was hat der Apostel Johannes geschrieben ?“

„Ein Evangelium! ... Briefe! ...“ schwirrte es hin und her.

„Sonst nichts? ... So rede doch einer!“

Stille. Louis Tonoli schüttelte den Kopf. Wie dumm der Telegraphenschalch fragt! Sauber nichts kann man antworten.

„Mir scheint, ihr habt das nicht gut studiert,“tadelte Berchtold. Das Exramen mit seinem glanzvollen Anfang schien ein grämliches Ende zu nehmen. Der Ruhm der Mättelistube stand in Frage. Voll Sehnsucht sahen die Kinder nach der behaglichen Katze auf dem Ofen, die von all dem heißen Examen nichts wußte und nichts brauchte.

Da trat Alois einen Schritt vor und rief: „Die Geheime Offenbarung, auch Apokalypse genannt!“

Berchtold nickte leicht und peinigte weiter: Und wo hat Johannes diese Apokalypse verfaßt? Wo hat er diese wunderbaren Gesichte gehabt? ... Also?...Etwa in Jerusalem?“

„Daheim,“ meinte Klausi Irchel.

„Das ist eine blöde Antwort ... Man soll nicht reden, bevor man alles wohl überlegt hat. Merket euch das! Also wo? Wo?“

Niemand wollte etwas wissen.

„Es war eine Insel ... ich hab' es euch einmal so im Vorbeigehen gesagt,“ half das Mätteliseppi mit zuckenden Lippen. 4*Alois warf die Finger auseinander, als könnte er es fast sagen: „Po ... Pot ... Pat ... Patom ...Patmos !“

„Wo liegt dies gestotterte Patmos? .... ach,“rügte der Primiziant, „das wißt ihr wohl auch nicht? .... Habt ihr denn keine Bibelkarten?“Fragend streifte er das Mätteliseppi als die Haupt-schuldige.

Himmel, wer vergißt, was jetzt geschah? In einem Krach schmiß das Mätteliseppi den Sessel zurück, stand bolzgerade zwischen die beiden Geistlichen und die Kinderherde und begann:

„Mit Vergunst, hochwürdiger Herr Primiziant,ein kurzes Wort .... Ich habe jetzt dreißig Jahre die Kinder unterrichtet und alle Pfarrherren haben sie ordentlich unterwiesen gefunden. Es sind tüchtige Menschen geworden, darunter ein Kommissari, fünf andere Weltpriester, ein Professor im Kollegi und zwei Kapuziner .... und Ihr selbst, Hochwürden, Ihr selbst!“„Schon gut, schon gut!“ näselte der Pfarrer.

„Lasset mich fertig reden ... es muß herausl ...Ich weiß nun ungefähr, was für die Erstkommunikanten zu wissen Gebot und Brauch ist, aus dem Canisi, der Bibel und dem Auslegbüchlein. In dem Stück wissen Euch meine Kinder keinen Tupf weniger als die Goldinger und als die in Chur oben beim Bischof und sogar als die zu Rom vor dem Heiligen Vater ...Aber freilich, wir sind ein Bauernvolk und sitzen in den Bergen und haben einen kurzen Winter. Dazu bekommen die Kinder einen Haufen Schulaufgaben und sollen sonst noch Vater und Mutter daheim helfen.Da muß ich mich denn auf das Passende und Prak-tische beschränken, Herr Primiziant. Wo die Insel Patmos liegt und wieso der heilige Petrus alle sieben Sakramente empfangen hat, nein, Herr Primiziant,solche Sachen habe ich die Kinder nicht gelehrt. Das sind Raritäten und Spitzfindigkeiten. Ich aber habe ihnen das gute tägliche Brot zu geben und keine Raritäten ...„Ihr, Hochwürden, seid noch jung. Ihr kommt frischgebacken aus dem Seminar und habet noch keine Praxis. Na, da begreife ich Euch. Aber wenn Ihr dann einmal zehn Jahre Kinderlehre erteilt habt, werdet Ihr auch uns begreifen. Und dann fraget auch Ihr Euere Klasse nicht mehr nach Patmos und dem Schwarzen Meer und solchen Raritäten. Ihr seid dann froh,wenn die Kinder wissen, daß der Apostel Johannes das großartigste Evangeli und darinnen den Satz geschrieben hat: Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt ...“ Indem die Jungfer dies betete,bog sie, wie man es bei dieser Stelle immer tut, das Knie und alle Buben und Mädchen mit ihr. Der Pfarrer zog das Käppi und nur der gescholtene Neupriester stand da und wußte nicht, wohin mit dem Gesicht und den Händen. Er war zu Tode verschüchtert und ließ den geschorenen, blonden, kleinen Schalcherkopf tief niederhangen.

„Verzeiht mir, Hochwürden ... 's ist ohne Spitz und Stachel gesagt ... aber ich hab' es doch müssen sagen ... denn das ... das ...“ wahrhaftige Tränen traten der Jungfer in die Augen, „das sind eben meine Kinder ... AUnd jetzt, Hochwürdiger, seid so gut und gebt uns den Primizsegen!“

Sie warf sich zu Boden und alle Kinder mit ihr.Der Primiziant aber schlug mit zitternden Händen ein ganz kleines, demütiges Kreuz über diese Schäflein und ihre Hirtin und flüsterte kaum hörbar: „Benedicat vos omnipotens Deus Pater et Pilius et Spiritus Sanctus“ ...„Amen,“ wispelten die Kinder.

„Amen,“ donnerte das alte, siegreiche Mädchen.

Auf dem Heimweg bat es Alois in die Webstube.Es setzte sich neben ihn auf die Bank und sagte:„Alois, das hast du heut gut gemacht. Du hast die Klasse gerettet. .. du mußt am Weißen Sonntag der Erste sein ... absoluti.“

Entsetzt sprang der Knabe auf: „Der Friedel ...der Friedel selig ist ja der Erste. Rede nicht sol ...Er bleibt der Erste!“

„Alois,“ fuhr das Mädchen leise fort und schaute den Jungen genau an, „was ist das? Du hast ja schon eine tiefe Runzel in der Stirne. Viel älter siehst du mir aus!“Alois schüttelte den Kopf und suchte verwirrt die Runzel. War es nicht begreiflich? Sein Freund tot und seine Mutter am Sterben. Wie sollte er da nicht alt sein?„Hier ist ein Evangelibuch,“ fuhr das Seppi tapfer fort und zeigte mit dem Finger auf ein bestimmtes Blatt.„Lies mir das vor. Ich knie ab. Du nicht ... nein,nein ... denke, du seiest Priester ... Ich knie nicht vor dir. Ich bin viermal älter. Aber ich knie vor der Wahrheit ... lies jetzt!“

Alois las und erbebte. Denn es kündete vom Weibe, das gesteinigt werden sollte und wie Christus hinzutrat und sagte: Wer von euch ohne Schuld ist,werfe den ersten Stein! Das Mätteliseppi neigte sich tiefer und tiefer fast bis zum Estrich. Und jetzt verstand Alois die Büßerin.

Nachdem er geendet, begann sie aus der Tiefe:„Ich, ja ich habe Steine geworfen. Und doch habe ich Jesus schon hundertmal rufen hören: Nur wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein. Und ich warf immer und immer Steine, und einer hat auch deinen Vater und einer dich getroffen. Sieh, da saß ich in meinem Webstuhl und wob, als wäre alles Gerechtig-keit unter meinen Händen. Und war so vieles Scheinheiligkeit! Alois, ich bitte dich, verzeih mir im Namen deines Vaters und deiner braven Mutter! ...“

Dem Knaben entfiel beinahe das Buch. Er wußte um Gottes willen nicht, was tun.

„Ich hab' den Friedel abgöttisch geliebt und euch allen vorgezogen. Ich war im Examen parteiisch. Ihn hab' ich gestreichelt, euch war ich hart wie ein Hammer.Und so alt muß ich erst werden und er muß sterben,bevor ich den Unfug einsehe!l Wenn man nicht gewoben hat, wie ich wob, dann verwarf ich's. Als ob es nicht auch anders gutes und vielleicht noch viel besseres Tuch würde. Ich Esell Wenn mir Gott nur alle harten AUrteile verzeiht, sonderlich gegen deinen Vater und gegen dich! ... Der Friedel hat mir noch in den letzten hellen Augenblicken von dir erzählt und aus deinen Geschichtlein von Tarzisius und Sankt Laurenz und den Einsiedlern und dem Prinzen Aloisius.Und da sah ich, daß du doch nicht ins Blaue schwärmst,daß du die heilige Kirche liebst und ein festes Bild und Ziel hast, sonst könntest du es einem Sterbenden nicht so klar mitteilen. Deine Art ist nicht meine Art,aber 's ist eine löbliche Art. Das hat mir der Friedel gesagt. Und er hat mir noch am letzten Abend geschworen, du werdest Geistlicher, ganz gewiß, und lesest für ihn die erste Messe ...“

„Auf Ehr' und Seligkeit.“

„Er hat es mir geschworen und Sterbende lügen nicht. Also werde ein guter Priester und ich helfe dir bis dahin und nachher hilfst du mir ... Sind wir jetzt im Reinen? Kann ich aufstehen?“

„O Mätteliseppi,“ flehte Alois und suchte die Alte emporzuziehen, „da ist nichts zu verzeihen. Du hast vielmal recht gehabt, ja, fast immer ...“

„Deine Mutter liegt schwerkrank. Und ihr Leutchen seid noch Gofen. Also wenn ihr mich nötig habt,so ruft mich. Ich komme gern am Abend. Bei Licht web' ich nie. Ich möchte dann bald einmal das Bild am Ofen sehen ... Und ist es Gottes Wille und muß deine Mutter ... so weine doch nichtl ... dem Friedel nachfolgen, dann will ich bei euch ein bißchen die Mutter vertreten. Die Frau Landammann hat mich schon darum gefragt und ich hab' es gern versprochen ...“

Mühsam erhob sich die Greisin, spreizte dann die breite Figur und rückte sich wieder soldatisch auf. Sie schüttelte Aloisens feuchte Hand und gebot bereits in leisem Kommandoton: „Sag' mir Großmutter, wie es der Herri so oft gesagt hat!“ ... „Also, Großmutter,“lachte Alois durch die nassen Wimpern, „komm sogleich mit mir zur Mutter hinunter und koch' uns eine Mehlsuppe. Der Lina brennt sie immer an, aber auch jedesmal!“

Federer, Das Mätteliseppi.

35 20 rau Verena starb in der Osterwoche. Sie hatte F gelächelt, als die Glocken am Karsamstag abend wieder erwachten, und gesagt: Jetzt darf ich noch Alleluja singen. Dann ward sie ernst und redete fast nichts mehr. Kaum nickte sie Ja und Nein. Sie lag so still, daß man an ihren warmen Füßen zwar merkte,sie sei noch auf Erden. Aber ihr kühles Gesicht schien schon im Nordlicht der Ewigkeit zu leuchten.

Am Mittwoch gegen Vesper, als Alois mit dem Ränzlein aus der Schule geradeswegs in ihre Kammer lief, bemerkte er eine leichte Nöte auf ihrer Stirne und ein sonderbares Geräusch beim Atmen, wie wenn man etwa den Schlüssel in einem alten verrosteten Schloß dreht. „Wie ist dir, Mutter?“ besorgte Alois bange.Sie musterte ihn vom Kopf bis zu den Füßen, schloß dann die Augen und gebot leise: „Zieh jetzt endlich andere Hosen an! Es ist Frühling. Ich habe sie sauber geflickt!“ Dann ruhte sie wieder regungslos und röchelte nur leise. Alois packte das Grauen. Er wollte zur Türe hinaus, um Lina zu rufen und den Pfarrer zu holen. In diesem Augenblick drehte sich der Schlüssel noch einmal, es krächzte leise, das Schloß zersprang, die Türe flog auf und das Licht der sieben Himmel strömte der entfahrenden Verena Spichtiger wie ein großes Alleluja entgegen.

Der folgende Sonntag hieß nicht bloß der Weiße Sonntag, weil der Primiziant die erste heilige Messe las und wie ein Verklärter strahlte, nicht bloß weil die Priestergewänder schimmerten wie Schnee an der Sonne,nicht nur weil die Kinder mit weißen Kränzen und Schleifen Christum empfingen und das Jesuskind, in der Hostie als wie in einem weißen Wölklein sitzend,gleich einem Blitz von Seele zu Seele fuhr, und nicht nur weil sogar das Mätteliseppi ein weißseidenes Brusttuch und die hellsten Silberlöffel trug und von Alois zu ihm her und hin ein wunderbarer, weißfüßiger Friede ging, sondern noch ganz besonders darum, weil der kleine Spichtiger ganz deutlich an der Spitze des Zuges,gerade vor dem schmucken Johannes von Aar, einen weißen Engel mit gefalteten Händen und Friedels schönem großen Schritt vorangehen sah und weil derselbe Spichtiger beim Zurückgehen hinten in der Elternbank einen andern, noch weißeren Engel erblickte, der ihm zufrieden zunickte und rief: Brav, brav, hast nun doch andere Hosen an. 's ist ja Frühling, Alleluja! ...Seine verklärte, selige Mutter!Unter Frau Landammanns Patenschaft und Mätteliseppis tapferer Großmütterlichkeit waren die drei Waisen prächtig geborgen.

Zwei Sonntage später hielt das Volk der Dörfer und Berge seine große Tagung ab, um für ein Jahr das schöne Vaterländchen zu bestellen. Mit Trommeln und Pfeifen und den Standesweibeln in weißroten Mänteln rückten die verschiedenen Ortschaften gegen Mittag auf dem Goldinger Burghubel auf.

Aber kein einziger Zopf war dabei. Hosen und nichts als Hosen, dunkle, feiertägliche, weltregierende.

Hinter den stimmgewaltigen Männern folgten als eifersüchtige Zuschauer die Buben der sieben Dörfer und prügelten sich zur Ehre des gemeinsamen Vater

35*landes und zum besondern Glanze ihres Kirchspiels schon am Fuße des Hügels glorios durch.

Alois ging vereinzelt mit dem Salderner Harst.Er trug ein schwarzes Trauerband am Ärmel. Aber in seiner Seele flog das gelbseidigste Fähnlein in einem Sturme vaterländischer Begeisterung auf und nieder.So oft er Landammann Horat so stattlich im Sonnenlicht voranschreiten sah, so oft die Trommelschlegel wirbelten und die Holzpfeifen den uralten Marsch aus den lombardischen Feldzügen bliesen, wehte den Buben die frühere, kriegerische Luft der Historien an. Nach den nachdenklichen Trauertagen und den vielen geistlichen Vorsätzen erwachte hier auf der lustigen Straße noch einmal der irdische Ehrgeiz im Jungen und ihm zitterte das Haar und dehnten sich die Muskeln und spreizte sich der Mund, um Welt! Welt! zu schreien und Welt! Welt! mit allen zehn Fingern zu packen. Kommandieren, zu oberst sitzen, mit regierenden Stiefeln auf den Globus stampfen: o wie wunderbar! Es lebe die Schweiz, es lebe der Kanton Unterwalden, es lebe sein unbesieglicher Landammann Horat, es lebe die Kraft,die Wildheit, die Herrschaft, die schöne gelbe Sonnenglorie des Lebens!

Droben auf dem Rücken des historischen Hügels sammelte sich das ungeheure Volk und blickte noch, ehe es an seine großen und kleinen Hausgeschäfte ging, wie von hohen Fenstern in seine Heimat hinaus. O wie glühend guckten die zwei jungen grauen Spichtigeraugen mit!

Schönes Vaterland! Zu oberst auf den nahen Bergen glänzte noch etwas tauender Schnee. Aber an der südlichen Luke, zwischen ergrünenden Alpenweiden,funkelten die ewigen Firne des Berner Oberlandes in den Kanton herein und mahnten den Ring der Maänner, ihr freies Recht heute mit ebenso lauterem und hohem Sinne zu erfüllen. Und alle die Tausende wollten es. Alte Banner flatterten über ihnen, Fahnen von Sempach und Nancy und Marignano und Morgensterne und Hellebarden und Schilde blitzten ums obrigkeitliche Zelt. Die alte, große Zeit schlug jedem ins Blut.

Talabwäris lächelte der hübsche Fluß durch die Gräser. Die Dörfer um den See machten hochfesttägliche Augen, Buchen schimmerten wie grünes Feuer aus dem uralten Tann der Hänge. Hoch oben zwischen zwei Bergketten winkte im Sattel ein Kapellchen und aus der Schlucht dahinter meinte man im Augenblick, da die Geistlichkeit das Heiliggeist-Lied anstimmte,der Baß des Kommissari allen voran, den ehrwürdigen Landesheiligen emporschweben und die Landsgemeinde segnen zu sehen. Es war aber nichts als ein weißes,zergleißendes Wölklein.

Alles stand im sonnigen Mittag entblößten Hauptes da und hörte die meisterliche Rede des abtretenden Landammanns Zirw und wartete auf die andere Rede,wo der mächtige Horat den Mitbürgern grollend ihren Undank vorwerfen und, da sie ihm das eidgenössische Ehrenamt genommen, ihnen nun auch das kantonale eines Landammanns vor die Füße werfen und weiß Gott vielleicht mit all seinem großen Vermögen aus dem Lande ziehen würde. Viele griffen dabei an ihren Beutel und dachten: Der Landammann, so mag er eben gehen! Aber seine Steuerkraft so groß wie hundert Habliche zusammen, die können wir nicht entraten.Zehntausende gehen uns verloren. Und verkauft er Alpe und Wald dazu, hunderttausend alte schwere Franken.

Aber Nikolaus Horat, der mit Louis Durr stillstehender Landammann war und an den nun wirklich wieder für ein Jahr die Reihe des Regierens kam,Nikolaus Horat klagte mit keiner Silbe, sondern sowie ihn übungsgemäß ein Ratsherr zum regierenden Landammann vorschlug, erhob er sich stracks im Herrenzelt,trat kerzengerade vor und sagte ohne Geschmeichel und Geheuchel ganz einfach: „Ich bin ja wohl am Remigi siebenzigiährig. Aber wenn mich das Vertrauen des Volkes beehrt, fühle ich mich diesmal noch jung genug und nehme das Amt fröhlich an.“

Sogleich erhoben sich viele beifällige Rufe. Alois lachte vor Entzücken in seine Bubenseele hinein. Aber der kleine und ewige Oppositionsmann Maria Knirsch,an einem Loöwenzahn im Munde lutschend, heischte das Wort und schrie: „Ihr lieben guten Landsleute wisset doch, wie selbiger Landammann Horat hier im letzten November zu Bern schnurstracks gegen unser ganzes Volk geweibelt und gestimmt hat. So einen Widerist!)können wir doch wahrhaftig nicht brauchen oder wir schlagen uns selber maultot. So mein' ich denn, Landammann Horat müsse zuerst einmal Farbe bekennen:ob rot oder schwarz oder gar zweifärbig wie meines Nachbars, des Stiegelpeters, falsche Katz ... nicht lachen! 's ist mir so heilig ernst als den Herrschaften y Gegner. da oben im Gezelt ... And er müsse uns gerade jetzt ins Gesicht sagen, ob er fortan denkt wie wir oder immer wieder verkehrt und letzköpfig wie bisher. Das mein' ich halt ...“

„Das soll erl ... Jawohl! ... Das gehört sichl ...“lärmte es durcheinander. Die schweren politischen Geschichten vom letzten Herbst und Winter erwachten wieder und der treue, aber so schnell aufgeschreckte und die Zähne fletschende Hund namens Volk, der die Schwelle der Heimat hütet und dabei leider manchmal einen Ehrenmann für einen Spitzbuben und, ach, leider noch öfter einen Spitzbuben für einen Ehrenmann hält, dieser gute, grobe Hund fing an zu brummen und die Luft mit seinem gewaltigen Gebelle zu erfüllen.

„Den Landammann Durrl“ riefen viele ... „Nein,“schrien andere, „probiert es einmal mit dem von Seilern!“ ... „Altlandammann Durr! ... der Louis Durr!“ ...

„Den Horat! den Horat! den Horat!“ pfiff das Spichtigerstimmlein dünn ins Löwengepolter dieser Demokratie.Halt du's Maul,“ schimpfte ein junger vierschrötiger Bauer nebenan, „grüner Maulaff dul!“ und gab ihm einen Puff mit dem Knie. Es war von Holz!Aha, der Kleinmarr, der im Spital am Sterben lag,weil er das brandige Bein nicht verlieren wollte, bis der Horat, sein Vormund, ihn einfach festschnallen, einschläfern und operieren ließ. Das trägt er ihm heute noch voll Haß nach.

„Wenn ihr mich fragt,“ meldete sich der Horat wieder, „ob ich noch einmal für die neue Verfassung stimmen würde, so sage ich: Ja. Und wenn ihr fraget:Ist dir dieses Ja denn mehr wert als der Landammann?so antworte ich: Der Landammann ist mir das Zweithöchste in der Schweiz. Aber als das Höchste in diesem lieben, tapfern, herrlichen Vaterland steht mir das Gewissen. Und mit meinem Gewissen sagte ich als guter Eidgenosse Ja und wiederhole ich hier auf diesem Fleck noch einmal: Jal“

Ein furchtbarer Rumor entstand, worin die unsinnigen Bravos des Spichtigerleins wie Mücken ertranken. Der Landammann blickte gelassen in das tausendfache schwarzweiße Durcheinander von Köpfen und Fäusten und zeigenden Fingern. Aber es machte ihm schwül und wirr. And da hob er den silberhaarigen Röomerkopf zu den weißen Zinnen gen Mittag und da ward ihm schnell wieder leicht. Er grüßte sie und rief ihnen wohl zum hundertsten Male leise zu: Habt keine Angst, meine hohen Brüder. Auch ich beuge den weißen Kopf nicht. Gleicher Schnee, gleiche Ehre!

Endlich rang sich eine solide Stimme durch und erklärte ehrlich: „Liebe, gute Landsleute, wir wollen doch einen Landammann, der ein Wort und Gewissen hat,nicht einen, der mit zwei Zungen spricht. Wer für unsern stillstehenden Herrn Landammann Horat ist, der erhebe die Hand!“ ... Wie ein Wäldchen junger,weißer Birken im Wind hoben sich die Hände und schüttelten sich in der Luft. Auch der unberufene kleine Alois. Aber da hieb ihm einer von hinten den Arm herunter, daß es krachte, und drohte: „Willst etwa ins Käfig?“ ... Dem Bub zerrann aller Mut. Käfig,Fenstergitter, gestreifte Hosen, Ketten an den Füßen,Sandschaufeln am See, ehrlos! ... Ist es denn so gefährlich, für den Horat zu stimmen? Wohl bin ich noch nicht zwanzigiährig. Aber für Necht und Wahrheit ... sind da nicht zwölfe genug? ... Alois sah wie die Weibel indessen mit den Fingern zählten, zusammentraten, verglichen und meldeten: „Siebenhundertzehn!“ ... Da ließ er mutlos den Kopf sinken. Nur siebenhundertzehn! Das ist zu wenig. Nein, nein, das ist nichts, diese Politik! ...

Jetzt rief eine mächtige Stimme: „Wer für unsern stillstehenden Herrn Landammann Louis Durr ist, bezeuge es gleichfalls mit seiner Hand!“ ... Wieder rauschte es durch die Luft und nicht mehr wie ein Wäldchen, nein, wie eine große, breite Birkenwaldung hoben und schüttelten sich die Hände. Landammann Durr war überwältigend gewählt. „Emil,“ hänselten ein paar Studenten den jungen von Seilern, „über deinen Vater braucht man gar nicht erst abzustimmen.“ Der Jüngling antwortete nicht. Hochmütig zeigte er ihnen nur seine langen, weißen Zähne, kräuselte den dünnen Mund,sog Luft in die schöne, gerade Nase und dachte mit kaltem Blick über die Köpfe weg: Schwatzt euer Blech!Aber ich will nicht schwatzen, sondern schaffen, schaffen,schaffen, bis ich dort oben in der Mitte stehe und euch alle meistere. Aber dann sollt ihr mich fühlen! ...Und er lief sogleich heim und löste eine schwere geometrische Aufgabe, die man am Gymnasium noch gar nicht durchgenommen hatte, rasch und kaltblütig auf den ersten Anlauf.

Wie Alois diesen Jüngling mit zusammengebissenen Lippen in einer wunderbaren Selbstherrlichkeit weggehen sah, sagte er sich: Der hat genug. Ich auch! Ade Welt! Wie bist du dumm. Ich weiß etwas Besseres! ... And er lief, ohne nach links oder rechts zu sehen, den grausamen Hügel hinunter.

Nikolaus Horat hatte weder jenen jungen Cäsar,noch diesen kleinen Asketen, noch das Rauschen des Handmeers für Louis Durr gehört. Er sah wieder zu den weißen Häuptern und fühlte ein anderes, noch größeres Rauschen: die kommende Zeit mit ihren Adlerschwingen. Sie wird ihm recht geben ... Oder ist es gar die Ewigkeit, die alle Zeiten löscht und Altes und Neues zum Plunder wirft? ... Ratsherr Jeremi mit der schwarzen Trauerschleife am AÄrmel stupfte den Landammann endlich und sagte trocken: „Ihr könnt wieder sitzen.“Horat entfärbte sich ein wenig, nickte dann freundlich irgendwo ins Anbestimmte und flüchtete den Blick zu den makellosen Gipfeln zurück.

„Der hat aber noch gute Augen,“ sagten die Bauern, das Gesicht mit dem Hut vor dem blendenden Mittag und Firneschein schirmend. „Der schaut euch wie ein Falke mitten in die Sonne.“Nikolaus Horat ging nach der Landsgemeinde nachdenklich und immer langsamer seinem Dorfe zu. Es war Vesperzeit, da die übrigen Herren im Rathaus tafelten und Reden hielten. Es ward ihm schwer. Er fühlte die Ode vieler kommenden Tage voraus. So oft er aber zu den Schneebergen schaute, den silbernen Wetterhörnern vor allem hinten im Süd, dann wurden die Füße wieder leichter und der Schritt elastischer und er betete: „Verge, mit euch! Unsern Schnee soll niemand besudeln ...“

Er stand einen Augenblick still. Der Wind trug die Vesper der Kapuziner aus den Chorfenstern über die Wiesen bis zu ihm in die Straße herüber: „Levavi oculos meos in montes, unde veniet auxilium mihi.“) ... Ja, ja, immer hätte man das sollen, zu den Bergen aufschauen ...

Weit unten in der Straße folgte Alois glückselig nach. Er hatte nun genug von Politik und anderem Gelumpe gesehen und war ehrerbietig und über Horats Los ganz zerknirscht ins alte Kollegiumgebäude getreten,um sich dem Rektor vorzustellen und ihm Dank zu sagen. Im obern Gange hingen alte Bilder von Päpsten, Bischöfen und Klosteräbten mit bunten Wappen darunter. Anno Domini 1203, hieß es irgendwo.Gott, welche Zeit! Damals gab es ja noch keine Herri und von Seilern und keine Landammänner, aber Priester und Päpste. Der dritte Innozentius zepterte an jenem Tage über die Welt ... Dem Alois schauderte vor Respekt. Aber er fühlte sich seltsam glücklich, fast heimisch hier. Ein Pater brevierte den Gang daher und führte den Knaben in die Rektorstube. Bücher, nichts als Bücher und welch alte, schöne Luft dazwischen!Der Magnifikus saß an einem Pulte und schrieb mitten in einen großen Haufen Papiere wunderbar sicher und großzügig hinein. „Aha, da kommt nun eben doch noch unser Paterlein,“ scherzte der Ehrwürdige. „Schon

Ich habe meine Augen zu den Bergen erhoben, woher mir Hilfe kommt. 120. Psalm.A

1 gut, schon gut .... gar nicht zu danken .... Also morgen um sieben Uhr präzis da sein .... und dann studieren, potztausend studieren, daß die Hosen krachen ... Es muß was Tüchtiges herauskommen ...Der Mutter selig zulieb, gelt? ... Weißt nichts Neues vom Vater?“ fragte er dann leiser und kraute ihm gütig ins Haar ... „Der liebe, arme, geniale Kauz! ...Der Abald schabt jetzt an den Sandsteinen ... Aber dein Vater hätte es ganz anders herausgerissen, viel großartiger ... der liebe, arme Mann! ... Pater Rupert,gebet dem Jungen jetzt schnell die nötigen Bücher und ein paar von Euern famosen Studentensprüchlein! ...Den Pauli wollen wir ins Gebet einschließen ... Va-leas!“ Mit einer majestätischen Handbewegung entließ der Greis die beiden. Dem Knaben aber kühlte es das Herz wie süßes Ol: Der arme, liebe, geniale Kauz!Ach, wann hatte er je so von seinem Vater reden hören?Wie ganz anders schwatzte die Gassel Und doch war dies der wahre Name seines Vaters: Armer, lieber,genialer Kauz! Dieser Rektor ist wahrhaft ein feiner Mann, ein Magnifikus. Er soll einen braven Studenten an mir erleben, hurra!

Bald eilte Alois mit seinem Pack Bücher unter dem Arme die Straße nach Saldern hinauf. Diesen Weg wird er nun mit solchem Weisheitskram viele Jahre tagaus, tagein standhaft wie ein Soldat abmarschieren. Ofter guckte er in eines der Bücher, roch am ehrwürdigen Papier, schloß geizig die Deckel wieder zusammen, um in der Stube dann alles weidlich durchzustöbern.

Und jetzt sah er auch den gleichen, herrlichen Ewigschnee von den Bernerketten her ins abendliche Tal leuchten. Aber er redete sie in seiner blonden Jugend ganz anders als der Horat an: Grüß' euch Gott, ihr schönen Schneeberge! Nun geht es auch mit mir in die Höhe. So gratuliert mir doch! ... Tut nicht so stumm und hoffärtig, he, gratuliert mir doch! ...

Es war ihm vor Übermut gar nicht mehr wohl im geraden Straßenlauf. Er setzte über den Hag zum See hinunter und lief dem Bord entlang. Es gibt dort eine Stelle, wo Felsen und dunkle Kiefern jäh ins Wasser fallen. Der See wird hier ungeheuerlich grün,weil sein Grund kaum einen Schritt vom Ufer in unabsehbare Tiefen hinunterfällt. Nur auf einem schmalen Kieselband kommt man da durch. Hier saß Alois, legte die lieben Bücher auf den Boden und überließ sich den Wundern dieser einsamen Stunde. Und es flüsterte im Geblätter und simsimmte im Gras und hauchte über die Wasser und es schattete und machte Riesengebärden vom abendblauen Berge herüber. Der Pilatus spann sich in rätselhaftes Dämmern gegen die Ebene, ferne Kirchenglocken ließen träumerisch ein paar Stundenschläge fallen,im Himmel schwamm wie in einem Meer von Frieden ein einziges stilljauchzendes, rosiges Wölklein und ein bleicher Stern erwachte. Dem Alois wurde wie als Kind, da er mit den Tonoli am See spielte. Er fühlte Wasser, Wind und Waldgeraune und alles Geheime drum und dran nicht wie außerhalb, sondern wie innerhalb seiner Seele und daß er zu ihnen und sie zu ihm gehören wie Luft und Atem. And er dehnte selig die Glieder und vergaß sich mehr und mehr und wünschte nur immer so zu fühlen. Da sah er die Bücher neben sich und erschrak. Nein, jetzt wollte er sie nicht sehen,noch kennen. Sie störten ihn. Sie brachen das Schweigen und zerrissen die Ahnungen und Geheimnifse. Er mochte jetzt nichts wissen, gar nichts, aber alles fühlen wie als Kind, Wind und Wasser und Sonne und Engel und Tier und Hölle und Himmel,alles, alles und so, nur so, kindlich allwissend sein.Es wurde unvermerkt finster. In den Berghäusern jenseits des Sees erglommen die Fenster. Das Wasser lag schwarz da, dieses unheimliche, gefährliche, berückende Wasser, und schien ihn einzuschläfern und leise an ihn heranzukriechen. Ganz nahe hörte er ein merkwürdiges Geräusch. Er stand auf. Ach sieh, da lappte ja eine Geiß Wasser aus dem See. Ganz nahe war ihr Stadel. Sie trippelte seltsam herzu und glotzte ihn an mit ihren nassen, fragenden Augen, aus denen die Nacht noch einmal so schwarz und drohend schaute:Wie, Bub, fürchtest du dich nicht auch? ... Da packte ihn ein wilder Schreck. Was ist das? Bin ich nicht eben der Mutter aus der Stube entlaufen, weit aus dem Dorf weg, allein, ein Knirps? Wo steck' ich, was tu' ich? Und diese Geiß, ich kenne sie gut. Wegl ...Er kletterte aufs Geratewohl das Gestrüppe empor und gelangte aufatmend in die einsame, bleiche Landstraße zurück. Und, gelobt seid ihr, da waren sie noch immer,die schneeweißen Wetterhörner und leuchteten ... von erloschener Sonne noch oder von kommenden Sternen ...tapfer zu ihm nieder. Sofort kehrte Mut und Gefaßtheit ins Herz zurück. Er schämte sich. Wie konnte ich so träämen? schimpfte er. Ich habe wohl geschlafen.Nein, nein, jetzt heißt es wach bleiben und studieren ...Herzlich drückte er die Bücher an sich ... Ich muß wissen ... wissen ... dich und dich und dich wissen!Er bohrte die Augen durch die Finsternis nach allen Seiten, wo es ein solches Dich geben müsse. Alles schien ihm ein Dich zu sein, das er kennen und nennen wollte.

An der Haustüre stand und äugte scharf wie ein Nachtvogel den Weg hinaus: das Mätteliseppi. „Endlich, endlich, du Lumpazi Vagabundus,“ schalt es mit grober Güte und griff wie zum Spaß nach dem langen Spichtigerrohr. Und sogleich erinnerten sich beide in derselben Sekunde an ihre erste wunderliche Begegnung.

„Großmutter,“ entschuldigte sich Alois und breitete die vielen Bücher vor ihm auf dem Tische aus, „ich habe am See gelegen und wirklich zu tief ins Wasser geschaut. Das tut mir nie gut. Dann verträum' ich mich ganz. Aber zu den Schneebergen hinauf werd'ich jetzt immer gucken, das ist das Rechte. Dann merk'ich, daß ich mich nicht so sinken lassen kann, weißt, so ins Wasser und Träumen, sondern daß ich strapazieren und klettern und schwitzen muß ...“

„Ja, das mußt du,“ betonte die Alte mächtig.

„Bis ich auf einem solchen weißen Gipfel stehen kann. Komm ans Fenster, Mätteliseppi, und schau',wie sie noch immer glänzen.“

„Alois, Alois!“ schmetterte die Jungfer, „muß es denn gerade ein Viertausender sein? Konnte ein Hügel nicht genügen? Bedenk, dem Horat ist sein Kirchhubel noch zu hoch geworden.“

Aber Alois überhörte die Alte und staunte an diesem überirdischen Schnee im Nachtdunkel empor. „Der Tschöggi,“ sagte er leise, „hat eigene Einfälle. Er behauptet, daß diese Hochgebirge nachts, wenn die Menschen nicht mehr lärmen, die Gedanken unseres lieben Herrgotts hören, weil sie ihm so nahe sind, und daß sie davon so heillos erglänzen ... Was hört jetzt wohl der Weiße, der Höchste dort?“59

*.. . Und am selben Abend und zu solchen weißen Gipfeln empor wie der Horat und der Alois sah Paul Spichtiger und er war der Seligste von den Dreien.

Ihm war die große Symphonie gelungen: Religion und Wissenschaft ... Aber man hatte ihm die Noten versteckt, bald in den Estrich, bald in den Keller des Irrenhauses und zuletzt, da er sie immer erschnüffelte,über die Alpen nach Italien verschickt. Dorthin muß er sie suchen gehen. Und eines Nachts gelang es ihm,mit der Verstellung und Berechnung nicht eines Narren,sondern eines Siebenweisen aus den Mauern zu entfliehen. Über Tag hielt er sich versteckt und marschierte bei Sternenlicht, klopfte an einsamen Häusern und erzählte den guten Leuten, wie man ihn einsperrte und mißhandelte, so natürlich und so klug, und zeigte ein so kindliches Gesicht, daß man ihm überall Geld und Proviant und einen guten Reisesegen weitergab.

So pilgerte er durchs nahe Bündnerland auf und ab den Schwellen Italiens zu. Und an eben diesem Landsgemeinde-Sonntag erklomm er einen wilden und meist nur von Schmugglern begangenen Paß, der aus dem letzten Schweizerdorf ins erste lombardische führte.Die frische, freie Luft tat ihm gut. Er war von einem zum andern Tag stärker und seiner Sache sicherer geworden, lief wie ein Reh, ertrug Kälte und Hunger und überschaute die ganze Flucht von Station zu Station klar und nüchtern wie ein Reiseführer.

Im hintersten Hause des Hochtales hatte man ihn liebevoll bewirtet, aber ihm entschieden vom Weitergehen abgeraten. Es liege noch zu viel Schnee auf dem Joch und dräue bis Sonnenuntergang große Lawinengefahr. Auch sei das Barometer tief gefallen und es könne leicht auf den Abend in den Höhen schneien.Paul Spichtiger tat, als wolle er dem Rate folgen und nur nach dem Mittagessen ein wenig gegen den Sattel hinauf den Ausblick genießen. Es hing eine alte Geige an der lärchholzenen Wand. Er stimmte sie und zog ein paar so erschütternde Akkorde her und hin, daß die Hospizleute ihre Pfeifen ausgehen ließen und einander anschauten und der Padrone dachte: Ich will nicht Edoardo Forni heißen, wenn das nicht ein verkappter und berühmter Musikant ist! ... Paul bemerkte das Staunen. Es tat ihm wohl. Er legte den Bogen auf den Tisch und versprach unter süßem Saitenzupfen: „Heut abend spiel' ich euch auf, soviel ihr wollt.“Dann bog er ins magere, letzte Gehölze und, kaum gesichert, fing er an zu rennen zwischen Gerölle und Staudwerk und altem, grauem Schnee, an einem von Lawinenschutt überdachten Flusse empor, bis er in den eigentlichen Winter des Hochgebirges kam, wo weiß und rein und still der Paß zwischen den Abstürzen unter ungeheuern Schneelasten dahinging und das Flußwasser still und klein in seinen tiefen Wiegen schlief. Vier Stunden

Federer, Das Mätteliseppi. 36

4 lang rannte er so und blickte steif zu den zwei niedern Gipfeln, zwischen denen oben am Sattel der Paß sich durchwinden und dann ins blaue Italien hinunterhüpfen mußte. Von Weg und Wegspur war nichts zu sehen.Nur hie und da konnte man die sprungweise, langlinige Fährte eines Wildes beobachten. Vor Juni ging keine gescheite Seele diesen drei Meter hoch verschneiten Pfad.

Die wunderbarsten Töne begleiteten Paul. Immer tiefer sank er in den aufgewärmten Oberschnee, strappelte sich wieder mit seinen kurzen Beinen heraus und lief nun am Gefels, wo die Schicht härter schien, in immer wildere Einsamkeiten. Nichts als Schnee, steilen Granit und zwei, drei Wintervögel gab es da. Noch fühlte er nicht die geringste Müdigkeit. Der gute, rote Wein vom Hospiz, ein Vorbote des kommenden Traubenlandes, hatte ihn unsäglich erquickt. Aber nie schaute er zurück. Nie horchte er auf. Er wollte den Mann mit dem Zweispitz, dem roten Kragen und den Metallknöpfen nicht sehen, der ohne Zweifel ihm nachspionierte.

In Bächen rann der Schweiß von ihm und gefror im Bart sogleich zu schönen, kleinen Kristallnadeln. Der Wind fing an von den Gräten zu pfeifen. Die Luft war still geworden, und an den hintern, höhern Gipfeln gingen graue Schleier nieder, Nebel oder Schnee. Und es wollte und wollte nicht vorwärtsrücken. Immer noch gleich fern stand das so nahe scheinende Paßioch. Aber freundlich winkten die beiden grauen Felspfeiler rechts und links aus dem Schnee. Alleluja, ihr seid es, meine lieben zwei Statuen Religion und Wissenschaft! Dacht'ich's doch, daß ihr mitkommet! Jetzt ist alles gut.Ab und zu fiel ihm kühlend eine Flocke auf die Stirne. Manchmal leckte er etwas Schnee, und wenn der wachsende Wind sein langes, schwarzes Haar aufwirbelte, lachte und dankte er. Zuletzt mußte er sich aber doch setzen. Es flimmerte ihm vor den Augen und das Herz tat so seltsam. Er wurde stiller. Das Sitzen dünkte ihm immer schöner. Flocken wehten um ihn. Rein und reichlich fielen sie nieder wie große Blätter und sangen die gleiche Musik, die er selbst in sich trug. Waren es Notenblätter? Er schloß die Augen, um es besser zu vergleichen. O ja, es war das nämliche Finale, ruhig, voll, leuchtend von Frieden,mit einem gedämpften Untergrund von Baßgeigen und Cellos. Auch die Geige vom Hospiz klang herein. Und jetzt horch, o heilige Gewalt, die Religion zu Häupten sang mit. Ihr Sopranpart flammte und brannte wie Fackeln. Die Wissenschaft gegenüber antwortete mit einem demütigen Alt, und zwischenhinein wirbelten Flöten und Klarinetten und Geigen so tausendsfein wie das flüsternde Schneegeflocke da. Wie schön .... o wie einzig ... man spielt meine Symphonie ... ich bin also in Italien ... gib mir die Hand, Religion, daß ich mich halten kann ... mir schwindelt vor Glück ...die andere, Wissenschaftl ... Ja, das muß Italien sein,so blau und grün und marmorweiß überall! ... Und dieses schöne Volk, wie es zuhört! ... Und diese hunderttausend Instrumente ... und ich ... ich hoch am Pult ... dirigiere ... eins, zwei, drei ... eins ...langsamer ... langsamer ... aufgelöst ... piano ...pianiss ... i ... iss ... i ...

Als die Hospizleute den Mann zum Vesperbrot

36*einladen wollten und seine Flucht gewahrten, eilten sie ihm sofort auf den Skiern nach. Sein liebreiches Gesicht und das Kindeslächeln in den schwarzen Vagabundenaugen und sein heiliger Strich über die Geige hatten es ihren rauhen Herzen angetan. So ein lieber,großartiger Luftibus durfte nicht verunglücken.

Aber da Paul Spichtiger wieder in der Hospizkammer lag und dann in der Eisenbahn und dann wieder in seiner Zelle, wußte er nichts anderes, als daß ihn Schnee umflocke, daß die gewaltigen Statuen rechts und links ihn treu umstehen und ihre Partien singen und daß er dirigiere und daß es sang und klang ...sang und klang ... hinüber nach Italien ... oder in die Ewigkeit. Mondenlang lebte noch zum Scheine dieser Mensch, der auf dem Bergjoch im Angesichte des gelobten Landes und im Genusse seines wohlgelungenen Lebenswerkes wirklich gestorben war.

... Es blitzen viele weiße Scheitel in unser liebes Schweizerland hinunter, der eine des unverwüstlichen Mätteliseppi, der andere des klugen und kargen Herri und ein dritter des einsamen Horat und der vierte des Pfarrers von Euwe und so noch hundert andere. Sie wachen und hüten und halten hoch die Ehre des Landes.Aber die schönsten von allen bleiben doch unsere Alpenhäupter. Mag die Zeit da unten in den. Tälern am brüchigen Webstuhl ihre Menschen und Seiden weben und blond und schwarz und katzengrau und allerenden silberweiß färben und dann wieder blond und wieder weiß ... o die Majestäten da oben behalten ihre unbefleckte, ewige Farbe und Standhaftigkeit, und nichts imponiert ihnen, als wenn je und je an ihren Gipfeln vorbei und hoch darüber ins Jenseits hinaus eine Schweizerseele, des Scheines und Plunders ledig, in ursprünglicher, nackter Ehrlichkeit von den Menschengerichten weg zum Gottesgerichte emporschwebt. Dann neigen sich die höchsten Spitzen ehrerbietig, denn das ist noch höher als sie.