Vergangene Tage. Eine Basler Familiengeschichte von Elisabeth Hetzel: ELTeC Ausgabe Hetzel, Elisabeth (1835-1908) ELTeC conversion Automatic Script 210 39066

2021-12-14

Transcription UB Basel Scan UB Basel Vergangene Tage. Eine Basler Familiengeschichte von Elisabeth Hetzel Hetzel, Elisabeth C. Detloff's Buchhandlung Basel 1879

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Pasel.C. Detloff's Buchhandlung.1879.15. *230 Druch von Serd. Riehm in Baset.Als wir noch Rinder waren, hingen wir da nicht mit Spannung an den Lippen der Grohmutter, wenn sie uns erzählend das Bild vergangener Tage entrollte?Herblabte Schriflzüge, eine vergilble Stickerei, ein altmodisch Gewand oder Geräthe gaben Zeugniß vom einstigen Dasein längst eutschwundener Gelstalten.Sie traten lebend vor uns; sie freuten sich und litten wie wir. und in Aller Chun und Creiben, im Guten wie in der Unvollkommenheit erwies sich scharf ausgeprägt die baslerische Eigenart und die Anhänglichkeit an die Vaterstadt:Wie war meiun Heimathland Vosl Gold und Rosenhelle!

Pasel, den 9. Juni 1879. J.

Anefang und ende Stant in Gottes Hende.Doenenshein und Regen hatten die alte Inschrift gebleicht, welche kaum leserlich über der tiefen Hausthüre des finstern Gebäudes stand.

Willkürlich zerstreute Fenster, tief und schmal wie Schießscharten, oder eine Reihe von Lichtöffnungen, welche durch dunkelrothe Pfeiler getheilt waren, und im Erdgeschoße massive Eisenkörbe vor den Kreuzstöcken das war die äußere Physionomie des Hauses.

Abends drückte man sich ängstlich an die andere Seite der Gasse; denn unter dem Vordach am Giebel gähnte eine tiefe Höhlung mit dem Krahnen; die sah so unheimlich aus, als sollte etwas Ungeheuerliches darin erscheinen und auf die Vorbeigehenden hinabstürzen.

Wer aber glaubte, dieses grimmig ausschauende Haus DD anzusehen.

Hetzel, Basler Familiengeschichten.

Da flatterten jahraus jahrein an den langen Stangen des Giebeldaches die Hüllen der lieblichsten Geisterbanner,die rothen und weißen Röckchen, die Strümpfchen und Hemdchen aller Kindheitsstadien und schneeweiße Windeln sie fehlten selten.

Darunter spann das Weinlaub um die hellen Fenster mit den bleigefaßten Scheiben und von den rothen, breiten Gesimsen duftete und blühte es in allen Farben.

Treten wir in das Erdgeschoß! es sind drei Räume:ein Magazin, eine Schreibstube und ein Privatzimmer für den Hausherrn.

Im letztern steht ein Fenstertritt mit einem schwarzen Lehnstuhle.

Das Gemach ist schmal und dunkel, die Vertäfelung stumpf und fast schwarz.

Auf den schwerfälligen Schäften an der Wand liegen alte Bände; die meisten Blätter vergilbt und fleckig.

Da sind: Rahn's Eydgenoßische Geschichtsbeschreibung,Baxter's christliche Burgerlehre, Quirsfeld's hystorisches Rosengebüsch, Fortificationes oder remarquable Vestungen von gantz Europa, verfaßt von Sieur de Fer, Conradi Gessneri Teutsches Thierbuch, Voyages historiques de TPEurope par C. Jordan, Les contes chinois à la Hayéeé, Allgemeiner Tugend- und Heldenspiegel von Georg Hagelgans, Des Papstes Sixti Quinti Lebenslauf, Les aventuroes de Télémaque. Biblischer Augen- und Seelentrost, Wurstisen's Basel Ohronikh, und noch viele Andre mehr, wie sie wohl der Zufall während einer Reihe von 3 Jahren aufgehäuft hat. Auf dem schwarzgebeizten Schreibtisch liegt eine alte Bibel mit Klammern. Die Rückwand des Schreibtisches besteht aus vielen kleinen Schubladen mit Messingbeschlägen, welche ursprünglich durch eine Doppelthür geschlossen wurden. Nun stehen die Flügel vielleicht seit Jahrzehnten offen.

Seit dem Tode von Herrn Hanskasper hatte Niemand den Muth gehabt, dieses Gemach zu bewohnen;denn das Gesinde behauptete, er ginge um. Seine Enkelchen sogar wagten nicht, sein Zimmer zu betreten.Die Schuld an dieser abergläubischen Furcht trug großentheils das Bild von Hanskasper. Sobald man unter die Thür trat, leuchtete sein strenges Gesicht lebendig und scharf aus dem Ungewissen des dämmernden Raumes, und die stahlgrauen großen Augen verfolgten mit ihrem Glanz den Aengstlichen bis in den fernsten Winkel; behaupteten doch manche steif und fest, diese Augen wären lebendig und bewegten sich dem Eintretenden zu.Doch wer war dieser Hanskasper, der als Todter in seinem Hause gleichsam fortlebte?In der Schreibstube nebenan hatte er einst als neunzehnjähriger Jüngling stundenlang auf den Fabrikherrn gewartet, ohne sich durch Abweisungen und Drohungen der Schreiber abschrecken zu lassen; war es doch sein entschiedener Vorsatz, in diesem Hause eine Anstellung zu bekommen. 4 Diese Beharrlichkeit wurde erfolgreich für ihn; der Herr, welcher den schönen Burschen wohl gesehen hatte,rief ihn zu sich, und als sich die Thüre des Privatzimmers wieder öffnete, war Hanskasper in den Kreis eingetreten, dessen Mittelpunkt er mit der Zeit werden sollte.

Bei den „Bendelstühlen oder Bendelmühlen“, wie man damals zu sagen pflegte, blieb sein Ehrgeiz nicht bildung. In spätern Jahren hielt er seinen Söhnen vor:ich habe nie ein Plaisir oder Erholung gesucht; jede freie Morgen oder Abendstunde habe ich zum Lernen benützt,und am Sonntag, wenn Andere zum Thor hinansgingen,erst recht.Die grenzenlose Hingabe an seine ehrgeizigen Zukunftsträume legte allmälig eine starre Rinde um des jungen Mannes Gemüthsleben; hart gegen sich selbst,wie gegen andre, fand er in seiner Abgeschlossenheit volles Genügen; er lebte nicht für das, was er war, sondern für das, was er zu werden gedachte. Und er hat nicht umsonst gestrebt.Wer das Bild von Herrn Hanskasper ansah, wußte,mit wem er's zu thun hatte, und Bärbele's Mutter würde hier frisch gesagt haben: „Mit dem ischt nit guat Kirscha fressa.“Breite, hervortretende Stirn, über welche eine unruhige Ader lief, starke Augbrauen und ein Mund, der,ohne zu reden, sprach: „Ich will!“- 53Und doch lag bei aller Strenge ein schöner Zug von Biederkeit und Gradsinn auf diesem Gesicht.Die holde Frau „Ennelin“, Hanskasper's seliges Ehgemahl, sanft und mild, senkte neben ihrem despotischen Herrn demüthig ihr zartes Haupt; ja, sie lächelte gehorsam, weil er die wehleidigen Gesichter nicht ausstehen mochte.Gewiß hatte der Maler ihr innerstes Wesen abgelauscht; war es doch, als müsse ein Seufzer ihre bange Brust erleichtern, als fürchte sich das Bild vor dem andern Bilde.Frau Ennelin hatte nach des Papa's Willen als ganz junges Mädchen geheirathet. Hanskasper, doppelt so alt, hielt sie in seinem Gemüthe hoch in Ehren; doch war er nicht befähigt, ihr zartes Gemüth zu schonen,sondern glaubte ernstlich seiner Pflicht zu genügen, wenn er den „Herrn“ zeigte.In der Schublade seines Schreibtisches fand sich neben mehreren Jahrgängen des Avisblättlein eine Art Tagebuch des Hausherrn, worin er mit seiner originellen störrigen Handschrift häufig Notizen nieder zu schreiben pflegte.Es beginnt mit der Hochzeit.Gott walt's!Gott erhalt's!Gestern, am Zten Brachmonath seynd wir zu St.Peter ehelich copulirt worden. 3

Wenn das mein Mütterlin, das arme Witifrawele erlebt hätte. Ich denke daran, wie sie noch auf dem Todtbett zu mir sagte:

„Hanskasperle, Dir muß es gut gehen; Du hast das rechtschaffen an mir verdienet.“

Aber das hätt sie nicht gedacht.

Es war eine noble Hochzeit, von wegen es der Herr Vatter so haben wollt. Doch geschahe fast etwas mit meiner Hochzeitterin.

Als ich Ennelin in die Kirch führete, wurd sie auf einmal muchtlos (ohnmächtig) und fiele der Frau Dreierherrene,“) so als Gotte und Mueter hinter ihr ging, in die Arme.In den Kirchenbänken streckten die Leuth die Häls und steckten die Köpf zusammen, und der Herr Vatter schalt auf das enge Corsettlin, so Ennelin an hatte, und meynete, dieses wäre Schuld.

Die Dreierherrene aber sagte: „Schwätz nit so dumm,Gevatter! lauff lieber zum Herrn Pfarrer, daß er's kurz macht, weil Ihrs doch pardu haben wollt.

Die Dreierherrene ist mir nicht hold, das merkete ich an ihrem bösen Blick.

Die ODreierherren waren im alten Staate Basel die Hauptverwalter der Finanzen. Die Finanzverwaltung bestand ursprünglich aus sieben Personen, denen im Jahre 1388 noch drei beigeordnet wurden, die später aber als selbstständige Verwaltungsbeamte fungirten. Sie waren die eigentlichen Seckelmeister und hießen „Die Drei“ oder „Dreierherren“. (Ochs II.)

Als man dem Ennelin ein Stuck brennenden Zundel an die Nase hielte, kam sie wieder bei Kräfften.

Das Zimmisessen war in's Herrn Vattern seinem neuen Hauß, und währete von Zimmis um 1 Uhr biß nach Mitternechten, und waren zwei und sechzig Gäst.

Zuerst saßen sie steif und aufsetzig wie die steinernen Apostelen am St. Gallenthor (Münster) am Tisch; hernach aber ging es ganz heydnisch lustig zu. Die Herren und Frauentzimmer warfen sich eingemachtes Obs und Mandelhertzen an die Köpf; die fielen in die Weinkännlein und Saucenplatten, und sprüzeten auf den Tisch,daß man mit Handzwehelen auftrocknen mußte.

Der Unkel Sämmi that einen ergetzlichen Spruch von dem Nutzen und der Fürtrefflichkeit des ledigen Standes,und peroriret ein Gesprech zwischen zwo zänkischen Eheleuten mit Mannen und Wiberstimm.

Neben ihm saß Bäsin Gredelin, die er nicht leiden kann, und da er ihr so viele spöttische Reverenzen machte,fiel er im Suff zur Seiten, und riß die arme Jungfer zur Boden, daß ihr das Bluth von der Stirne loff. Und sie sagten alle, Unkel Sämmi müsse als Revansch die Bäsin Gredelin heurathen.

Von den Musikanten lagen auch zwo unter dem Tisch; die andern spielten jeder sein bsundriges Stucklein,einer ein Menuett, der andere einen Schleifer.

Da bekamen die Frauentzimmer auf einmal genug, und wollten heim; von den Mannen wollt sie aber keiner begleiten und zuletzt gingen sie allein, mit viel bösen Reden fort. 8 Hernach lachten die Mannen so laut, daß mans drei Häußer weit hören kunnte.

Ist mehr als Einem schier übel bekommen.

Zuletzt kunnt keiner im Trinken mehr mitmachen, ich und der Herr Vatter hielthen am längsten auß. Als die Fünfuhrglocke läutete, sagte er: „Hörst Du, wie die Engelein singen?“

Da sahe ich, daß es mit Ihme Zeitt war; er kunnt nicht alleine gehen, ich that ihn zu Bett legen wie ein klein Kind.Als ich auf die Gassen kam, schlug es sechse. Der Haußknecht machte das Geschäfft auf, und ich sahe noch,ob alles richtig ist.

Dann ging ich in mein altes Losament, und schlief biß Nachmittag. Beim Aufwachen wurde mir so gruselig,daß ich mich wieder legen mußt; ich schückte in den Bären, wo sie noch alt Sauerkrautt haben und als ich ein Plättlein Krautt gegessen, war ich wieder gesund.

Hochzeitgaben von denen Verwandten und Freunden.

Von Ennelins Gotte, der Frau Dreierherrene: Eine holzogene dreifachte guldne Kette mit Schloß. Ein Rosettediamantring. Zwei Gemählde mit Guldrahmen, die verstellten, verwunderlichen Liebes-Intriguen des heydnischen,fabulirten Gotts Jupiter vorstellende. Eine Tabatiere,silberverguldet mit 20 Dukaten.Von der Gotten Bäsin Gredelin: Ein silbern Milkhäffelin, zwölf silberverguldete Kaffeloöffeln sambt Porzellingeschirr.

Ohne fernere Namen: Ein Weibertasch von Drap d'or, mit Silber beschlagen und ein ciselirt ungarisch Wasserfläschlein. Ein großer Fauteuil mit Armlehnen und zwei kleine Fauteuils mit gelbem Damast. Eine Portiere von Moquette und ein guldener Pitschierring,zwei Feuerhünd, Schauffelen und Klammeren, ciselirt.Eine Feuillette veritabeln Burgunder von Herrn Hans Parcus, dem Handelsmann. Zwei Tabourets, zwei kuppfer Züberlin. Ein silbervergüldeter Degen von Herrn Haubtmann d'Annone. Silberne Schuh und Jarretiere-Rinklein von Herrn Onophrio Scherb. Ein Clavicordium von Holz und Helffenbein von Jungfrau Chrischona Ritzin.Zwei holländ'sche Malereyen, Landschafften vorstellende.Ein flandrische Tapezerey mit Jägereien von Joh. Rippel's sel. Wittib. Ein eychen Kensterlin, item zwei Kassettlin.Von Herrn Hertzog, dem Herren-Kiefer, ein Stückklein Faß von zehn Saum mit Wappen gezieret. Milton's verlorenes Paradieß mit Kupfferen von Herrn Dr.Thelluson. Ein Bockten von Eychenholz. Ein nußbaumen Couschetlein mit durchwirkter, goldgeblümter Decke mit silbernen Gallonen besetzt. Eine Büffetuhr, welche alle Viertel repetirt. Von madame de Granvillars im Kohlerhoff ein kunstreich gemachtes Spinnrädlin von vergüldetem Messing, so man sambt der Kunkel im Sack tragen kann. (Ist dummes Zeug.) Item eine Nadel mit orientalischen Perlen.

Ein Umbhang, garniert und aufgeziert zu einem Beth à la duchesse, gestückt von der Gugelmännin, des Buchstabengießers ehelich Weib, so vor siebzehn Jahren Ennelin's Nährmutter gewesen.

Die Liste, die noch lange kein Ende nimmt, zeigt uns des jungen Paares stattliche Einrichtung und eine Reihe von Anschaffungen, welche Herrn Hanskasper wohl unwillig machte; denn er fügte bei: kost viel Geld, z. B.eine Kutsch mit carmoisinrothem Sammet ausgefüttert.

Gekauft das Heu ab 8 Tauen Matten am Egelsee vor St. Blasienthor. Ferner „Haber“ und eine tüchene Redingot für den Kutscher, sambt Huth. Die Kutschenpferd, seynd zwo Rapp, hat mir der Herr Vater verehrt.

Heut seynd wir zu der Frau Steinbrüchlerin nach Alt Schauenburg gefahren. Und ein anders Mal: Heut z' Immis gegessen bei der Bäsin Battier.

Gekauft für Ennelin ein fischbeinernes Brüstlin,Brocard mit silbernen Spitzen, kost mich 11 Gulden.

Heute seynd meine seydenen Strümpff von der Bauckerin in Laugen gewaschen und ganz verdorben. Eine welsche JIunngfer, so die Accomodirung und Säuberung versteht,wohnt am Spahlenberg, underhalb dem Meerwunder.

Meine Ehefrau Ennelin hat Beschwärden; ließ ihr ein Gläßlein Wundbalsam holen, so bewähret ist für Hauen und Stechen.

Ennelin den rothen Regenschirm von Waxtuch außgeliehen, weiß nicht wehme. Soll besser Ordnung haben.Ist ins Avisblättlein abzudrucken.

Gewesen mit Ennelin in der Comödi im Ballenhauß: 11 Gefallt mir nit übel, das Sang: Mach's anderst, wand's kannst.Von Frau Dreierherrene geschenkt eine geschnizte Wageln sambt denen Federküssin und Vorzügen und grünem Umbhang. Von der Gugelmännin Schlüttelein und Kappelein und allerhands Kindszeug.

Von der Bäsin Gredelin einen sammtnen Bolly mit silbernen points d'Espagno besetzt.

Gelobt sey Gott! Heute in der Früehe um 3 Uhr wurde uns nach langen Aengsten und Saumnüßen geboren ein Söhnlein.

Die Kientzlerin meynete, es wäre tod, und gab ihme Ruthenstreiche, bis es schrie. Hernach kam es zu Kräfften.

Die Taufe, die wenige Tage später, am Jahrestage der Copulation, stattfand, wurde pompös gefeiert. Herr Hanskasper jammert, daß ihm von dem vielen Gelde,das er bei diesem Anlaß verausgabt, nur „Bauchgrimmen und Hauptweh“ geblieben sei.

Dieser unglückliche Bußtag nach dem Feste ging, zum Heile der Hausgenossen, auch wieder vorüber.

Das Tagebuch wurde in der gewohnten prosaischen Weise fortgeführt, verzeichnete hin und wieder · die Geburt eines Töchterleins oder Knäbleins oder eine Badekur in Schinznach, Oberbaden, Badenweiler.

Einmal trank Ennelin St. Moritzerwasser und Hanskasper Pfäfferser. Ennelin verreiste in einem Sommer sambt den Kindern in komblicher Kutsch nach Seckingen,und der Herr Gemahl besuchte sie auf seinem guten Reuthpferd, welches er „billich“ gekauft um zwanzig Louisd'or.

Chocolat, eau des carmes, Wundbalsam gut für Hauen und Stechen und Rossolis wider die Ratzen und Mäuß, Augsburger Schaurer-Balsam, fo man im AdresseContor (Redaktion des Avisblättlein) haben konnte,Pariserzucker gegen Brustbeschwärden und unterschiedliche Pflasteren figurirten unter den „Hausmittelen“ im Tagebuch.

Mit der allmäligen Vergrößerung der Familie mehrten sich die Ausgaben und die Stoßseufzer über die theure Zeit.

Trotz alledem schien die Nahrung dem Herrn Hanskasper gut zu bekommen; denn der Hosenlißmer Wannenwetsch erhielt manchen Batzen für Erweiterung der Hosen.

Zu jener Zeit wurden auch die beiden Bilder von einem frömbden, niederländschen Mahler gemahlt, umb die horrente Honorantz von 10 Ducaten per Stück.

Herr Hanskasper ließ sich zu dieser Gelegenheit ein neues hochleibfarbenes Wammes sambt Hosen und Mannencorsett machen, mit silberfadenen Knöpf und goldenen Stückereyen und einer Spaniolperrücke, und der Frau Ennelin eine Robe volante von gelbem Damast mit holländschen Spitzen umbsetzt, und eine Gold und Silberdurchwürckte Rosa seydene Weiberhaube mit orientalischen Perlen.Der Maler aber, ein „hartmäulig Mannenvolch“,hat die Kleider schier gar nit schön gemahlet, die doch so kostlich waren. Unter den Stoffen, welche für den Haushalt gekauft wurden, liest man: Baumwollentuch, Leinewath, Camelot,gestraißter Calamander, auch Sammt und Atlas; ein Bärenschlüpferlein für den Sohn Wernhard, ein Halstüchlein oder Würgerlein für das Gredelin, geblümter Perse, 1 Marder für Ennelin, 1 rothe englische Müͤtze mit Fuchs, ein Manteaulettlein von rothseydenem Camelot.

Am breitesten macht sich die Lebwaare. Als Curiosum verzeichnet Hanskasper: Hoher Preiß der Lebensmittelen am 26. Augstmonat 1732. Rindfleisch 11 Rappen das Pfund, Kühfleisch 10 Rp., Kalbfleisch gilt bis 14 Rp.,Schäffenfleisch 9 Rp.; der Butter 21, 22 und 23 Rp.;alter Waizen 6 Pf. 4 Bz., neuer 6 Pf. 3 Bz., Landkernen 6 Pf. 2 Bz.

Im Roßhof auf dem Adelberg ist zu haben 1 Qual.allerhand Obs, Barellen und Pfersich. Levantisch Caffe das Pfund umb u/, thlr. beim Achtel-Zentner.

Alter Frontignac, die große Buteille umb 12 Bz.Bei Herr Iselin, dem Spezierer, nächst dem Urbansbrunnen, seynd zu haben gesaltzene Maqueraux (ist ein delikater Fisch) und bei Herrn Hier. Nörbel: Extra gut süß Lagerbier.Ferner bei Herrn Guth, ohnfern der Rheinbruck,altes schwarzes Kirschwasser, die Maaß umb 12 Bz.Weißer Markgräffer von 1729 umb 3 thlr. der Saum.Der Sack Haber zu 18 Bz.

Den ungewöhnlichen Ereignissen schenkt Herr Hanskassper auch seine Aufmerksamkeit.

Verwichenen Sambstag ist Regina Kercherin, in ihren Diebsbanden die Lieder- oder Schreier-Agathe genannt,des auf die Galleren condemnirten Görg Müller's Weibsbild, wegen vielfältigen Diebstählen und Missethaten mit dem Schwerte gerichtet.

Am 31. Heumonath sahe man in dasiger Gegne umb 10 Uhr einen gantzen Mondsregenbogen, da doch noch 6 Tag bis zum Vollmond waren; er stuhnde gegen Nordosten und ist für etwas seltenes zu achten.

Dann kehren wir in den Familienkreis zurück. Herr Seb. von Brunn soll den Wernhard im Zeichnen, Reissen und Illuminiren underrichten, wofür ihme per 1 Stunde des Tages monathlich 1 fl. bezahlt wird.

Am sten October 1732 erhält Wernhard mit 5 andern fleißigen Knaben bei der Promotion des Gymnasiums ein Colloquium.

Jedenfalls war der eingewanderte Herr Hanskasper bei der bekannten Baslerischen Engherzigkeit der damaligen Zeit von allen Stellungen ausgeschlossen und zu stolz,um dem Familieneinflusse etwas zu verdanken.

Es fehlt jede Aeußerung über seine politischen Ansichten: freilich war auch damals keine sehr bewegte Zeit,und während die Basler lange erfolglos gegen innere Mißstände kämpften, hielt Hanskasper sein Haus und Geschäft wacker zusammen.

Im Sommer des Jahres 1732 wird die nun verwittwete Gugelmännin, weiland Ennelin's Amme, als Hausgenossin aufgenommen: weilen sie ist aus dem Welschland gebürtig, soll sie meine Töchteren nebst der französischen ohnverfälschten Sprach, zur Gottesforcht und schönen Arbeiten anhalten, und sie in schönen Sitten und Tugenden und allen andern, dem Frauenzimmer nöthigen Qualitäten underrichten.

Das „liebe Müeterlin Gugelmännin“ im Hause zu haben, war ein Freudenblick in Ennelin's gedrücktem Dasein; selbst Hanskasper, der sonst vor Niemand Respekt hatte, als vor sich selber, ästemirte die brave Frau „wegen ihrer fürtrefflichen Conduite“.

Frau Gugelmännin reiste für kurze Zeit in ihre Heimath; unterdessen stellte sich der Winter frühzeitig ein.

Herr Hanskasper schrieb in sein Tagebuch: die Vorgesetzten der h. h. Stachelschützen stellen das HaubtSchießend ein, so auf den 6. und 7. Octobris fallen sollte, in Betrachtung des feuchten Wetters, und wegen dem einfallenden Landherbst.Die Hanskasper'schen waren sambt den Kindern in einem Rebberg nächst dem Kappelin vor dem Eschemerthor eingeladen. Frau Ennelin erkältete sich; ihr Gatte, der in seinem Leben noch nie krank gewesen, drang mit seinen „bewährten Hausmittelen“ auf sie ein.

Nun erklärte sie sich geheilt, und der Gemahl gebot,nach einem paar stächelnen Reutherstiefeln zu suchen, so auf dem Oesterrich gesehen worden und einem Vorfahren Ennelins gehört hatten.

Die Reutherstiefel waren aber nimmer da, und weil der Hausherr gerade einen böͤsen Tag hatte, verweilte die ängstliche Frau in dem schneidigen Winde, der zu den Dachlucken hereinblies.

So kalt, däuchte ihr, wehe es auch drunten, und war nicht ihr eigen Eheleben wie ein frostiger Herbsttag?

Bisher war alles nach Hanskasper's Sinn gegangen.Nun sollte er sich machtlos unter eine stärkere Hand beugen. Am gleichen Tag, wie die Gugelmännin zurückkam, schreibt er:

Hienacht stieß mich Ennelin im Bette an und meinete,es sey ihr schier gar übel. Ich hielte sie in meinen Armen, und sie bebete am gantzen Körper, und da ich D00 der Stirn, und seufzete nur, weilen ich sie fragete; hernach wurde es still, und ich erschrack und legete sie auf das Küssen nieder und holete die Gugelmännin. Die riß einen brennenden Spahn aus dem Ofen; wir konnten aber vor Beben die Wachskerzen schier nit anzünden; die Gugelmännin that einen furchtbaren Schrey, band ihr ein Tüchlein unter dem Kinn und eilete jammernd hinaus. Hernach kam sie mit einem frömbden Mann, der rührete Ennelin an, schüttelte den Kopf und ging.

Ich fassete es nicht, und saß bei Ennelin, bis es tagete. Da kam die Gugelmännin wieder, lösete das Tüchlein und sagte zu mir: Sie kehret nicht zurucke;denn sie ist zum Frieden eingegangen. Und legete ihren Kopf auf das Küssin neben meine Ehefrau und schluchzete.

Und da ich Ennelin anfassete, war sie starr und kalt.

Auf einmal stunden die Kinder am Bett, warfen sich darüber und schrien: Lieb Mutterlin; und ich sah es wie im Traum und wußte nicht, daß ichs selber war.

Mir ist wie dem schreyenden Hirth auf denen Höhenen,so sein verloren Lämmlein suchet und nicht finden kann.O Hüther, ist die Nacht schier hin?

Hiemit schließt das Tagebuch und folgt noch ein „Bekenntnuß, für mich selber und meinen Kindern zur Vermahnung“:

Ich, Hanscasper, glaubete das schwerste Herzeleyd,so einen Menschen treffen kann, habe mich geschlagen,als ich inne worden, daß mein lieb Ennelin des Todes verblichen war. Anch meynete ich in Treu und Glauben,daß mein lieb Eheweib ein gut Leben bey mir gehabt hätte, so ich sie als treuer Ehemann rechtschaffen und in Ehren hielte. Hernach muß ich erfahren, daß Ennelin,obwohl sie nicht geklaget ..... (die folgenden Worte waren verwischt) ....

Das kam solcher Maaßen: Meiner Ehefrauen Vetter,der Professor E. wollte examiniren, an welcher Krankheit sie verstorben wäre; ihme war nicht genug, daß er sie nicht wieder lebendig machen konnte; er begehrete mit sambt der Verwandtschaft gewüße Erkenntnuß ihrer Krankheit. Die Arzeten conferirten mitsamm, daß Ennelin lange Zeitt leydend gewesen; so sie vielleicht Gründe gehabt hätte, möchte sie sich wissentlich verstellet haben. Ich sinnete Tag und Nacht und dachte, ob die Gugelmännin, ihr lieb Müeterlin, mehres wissen thäte und fragete sie also: Gugelmännin, so Ihr wisset warum Ennelin mir ihr Leyden nicht geklaget hat, so thut mir aufrichtig Eure Meinung kund. Sie sprach: Was hilft das? Ihr könnt sie doch nicht zurückbegehren. Ich drängete sie, daß sie nicht umbhin konnte, und da sagte sie mir,ich wäre gegen meine Chefrau so rauh gewesen, daß sie sich vor mir gefürchtet hätte.

Habe ich denn meine Ehefrau nicht rechtschaffen gehalten? frug ich, und kunt schier nit reden, daß die Gugelmännin fast Erbarmen mit mir hatte.

Herr Hanscasper, meinete sie, und ich will ihre Worte nie vergessen, Ihr habts treu und ehrlich gemeynet, und Ihr könnet nichts davor, daß Ihr unter rauhen Leuten aufgewachsen seyd. Der Herr Rathsherr ist Schuld, weil er Euch das Kind zur Frau gegeben hat; die Frau Rathsherrin, wenn sie lebete, hät's nimmer erlaubt. Sie sagte zu mir: die Mannenleuth haben alle ein Scheith im Rucken, wenn sie noch so rechtschaffen sind; wollte Gott, daß mein Ennelin einen sanften Ehegemahl bekäme, denn sie ist zärtlich und scheu wie ein Täubelein.Ihr aber kuntet für nichts und wieder nichts hefftig werden; habt Ihr doch wegen jedem Kröß, das nicht steif genug gebügelt war und wegen jedem dummen Knopf die arme Frau geängstet, und. wenn Ihr die Thürfallen hart aufrisset, und so laut und rauh mit ihr sprachet, kunnte sie da Vertrauen zu Euch fassen, wie sonst die Ehefrau zu ihrem Herrn?

Ich sagte zur Gugelmännin, die hinaus wollte:Wartet, ich möchte gern wissen, ob mir Ennelin ein wenig hold gewesen; aber ich bangete schier, zu fragen.

Das merkete die Gugelmännin und sprach: Eure Ehefrau hat Euch geliebet, wenn gleich mit Furcht und Zittern; nun machet an den Kindern gut, was Ihr gefehlet habt.

Der Lux, der Balzer und das Gredelin haben die zärtliche Natur der Mutter; die dürfet Ihr nicht anfahren, sonst sterben sie auch. Der Wernhard hingegen und die andern Maitlin haben Euren unbändigen Stolz,und kommen leicht davon.

Ehe ich aus Eurem Hause gehe, will ich Euch, Herr Hanscasper, noch einen Trost geben: Ennelin lebete in Gott, und vor ein paar Tagen zeigte sie mir ihrer Großmutter Psalmbuch, darinnen sie gern las, und wies mir ein nralt Reimlein, so die Großmama selber hineingeschrieben hatte, und meynete: das ist mein Sprüchlein.Ich holete das Buch; da steht auf dem ersten Blatt:

Ein schwigender mund

Und ein lydender grund

Und ein herz voll mynne Da ist Gott zu aller zitt inne.

Selbiges Psalmbuch soll man mir unter mein Haupt legen, wann ich gestorben bin, ich Hanskasper. Die Gugelmännin bleibt bei meinen Kindern; das ist mein Wille, daß sie in Ehren gehalten wird ihr Lebelang.

Meinen Söhnen empfehle ich, vor der Copulation mein Bekenntnuß zu lesen und im Herzen zu behalten.

Eine jüngere Handschrift hatte mit einiger Malice beigefügt:„Und denen Töchteren auch.“

II.55 M. Hanskasper ist nach seines Ennelins Tode des Lebens nicht mehr froh geworden.

Das liebliche, hellblonde Gredelin starb im 14. Jahre,die andern Töchter wuchsen zu kraftvollen Jungfrauen heran und vermählten sich frühe. Lux hatte der Mutter sanfte Gesichtszüge und zarte Constitution. Aus ängstlicher Vorsicht ließ der Väter den Knaben nicht mehr von seiner Seite und der schüchterne Lux wurde immer stiller und „löschete zuletzt als ein Liechtlein aus“.

Von allen seinen Kindern blieb nur Wernhard bei ihm; in allem war er des Vaters stattlich Ebenbild, auch darin, daß er sich bei Zeiten unabhängig zu machen verstand.

Zwei harte Steine mahlen nicht gut: Hanskasper zog sich erbittert in seine dunkle Stube zurück und ließ 21 den Sohn schalten; als schließlich eine reiche, kinderlose Pathin den kleinen Balthasar zu sich nahm, war er vollends vereinsamt.

Unter den Wenigen, die seine grollende Stimmung in Liebe und Geduld ertrugen, war Onkel Sämmi, der Weiberfeind, der die Bäsin Gredelin geehelicht hatte und mit ihr eine überaus glückliche Ehe führte. Sie allein besuchten noch den alternden Mann.

Wernhard heirathete eine schöne und reiche Tochter aus vornehmem Hause.

Er hatte die kurze, befehlshaberische Weise seines Vaters angenommen; man warnte daher die junge Braut.

Sie lachte nur in sich hinein, und da Herr Wernhard wirklich Miene machte, den Despoten herauszukehren,sagte sie: „Geduld, mein Schatz, ich erwisch Dich schon!“

Die kluge Gertrud hat nicht lange warten müssen.

Kaum war das schöne Paar einige Wochen verheirathet, erschien schon der Gatte mürrisch am Frühstückstisch.

Unglücklicherweise waren die Brötchen angebrannt.Zornig warf er eins auf die Erde. Sogleich flog aus Gertruds Hand ein zweites nach. Scheinbar war sie ruhig; doch klopfte ihr in Wirklichkeit das Herz zum Zerspringen: diese Stunde konnte entscheidend werden für ihr Leben.Zuerst war der Ehgemahl verblüfft; solche Insubordination hatte ihm gegenüber noch Niemand gewagt:„Wir wollen doch sehen, wer Meister wird!“ Frau Gertrud denkt nicht daran, sich zu exkusiren;das ist unerhört! Er setzt die Tasse auf den Tisch, daß sie klirrend entzwei springt.

„Jetzt wird sie nach Weiberart weinen und dann abbitten.“ Durchaus nicht. Frau Gertrud hat ihre volle Ruhe wieder gewonnen. Das Uebergewicht ist immer auf der ruhigen Seite.

Noch mehr. Die schöne Frau kehrt mit dem Arme das ganze kostbare Service vom Tische herunter, und lächelt dazu: „Sieh, Wernhard, ich kann's noch besser!“

Jetzt will er rasend aufspringen; die schönen Hände halten ihn fest. „Da guck' hin“, ihr rosiger Finger zeigt auf die Diele, wo Kaffee, Brödchen, Porzellan in unaussprechlichem Zustande beisammen liegen, „so werd'ich's immer machen, wenn du fluchst und tobst.“

Sie steht auf und schlingt die Arme um ihn: „Jetzt weißt, wo du d'ran bist mit mir; nun sei wieder lieb und gescheit!“

Sie küssen sich, Wernhard mit beschämtem Blick,Gertrud mit schelmischer Miene; sie weiß, daß ihr Löwe gezähmt ist.

Wernhard grollte im Stillen: „Das theure Porzellan!

's ist ein rabiates Weib!“

Eine glückliche Cur war's doch.

In Wernhards Hause ließ der Kindersegen nicht lang auf sich warten. 23 Zuerst kam eine Tochter, „schier wie ein Engelein“,und ganz der Großmutter Ennelin Ebenbild.

Zwei Jahre später folgte ihr ein Schwesterchen; man hatte bestimmt auf einen Knaben gehofft, und der Schwiegerpapa mußte den verdrießlichen Wernhard trösten.

„'S ist immerhin besser, wenn die Flickerinnen vor den Höschenreißern kommen; lasset gut sein, Herr Sohn,wir sind noch nicht am Ende aller Dinge.“

Der joviale Herr hatte richtig prophezeit. Ein Jahr später strampelte ein derber Junge auf dem Spreukissen und wehrte sich mit aller Lungenkraft gegen das „Einbuscheln“, welches in einem vollständigen Umwickeln des Kindes vermittelst einer langen Binde bestand.

Die armen Wesen wurden dadurch der freien Bewegung ihrer Gliedchen ganz beraubt. Kein Wunder,daß sich Hänschen so wehrte! Die Hebamme meinte,das Kind müsse ein Scheit im Rücken mit auf die Welt gebracht haben; solcher Widerstand sei ihr noch nicht vorgekommen.Das ging auch glücklich vorüber. Hans war der Augapfel des Vaters und der Stolz der Mutter. Sein Leben zählte erst nach Monaten; doch saß er stramm auf der Mama Schooß, zerrte ihr das Busentuch aus dem Kleide und biß mit Herzenslust in ihren vollen, weißen Arm. Wernhart neigte sich herab, um Hänschen zu küssen; keck griff der Bursche in des Vaters langen Bart und richtete sich d'ran auf. Gertrud mußte den Gefangenen aus den fleischigen Tätzchen befreien. „Ein schöner Bub ist er doch, gelt Wernhard?“ frug sie lachend ihren zerzausten Mann, während er die überfließenden Augen wischte, und Wernhard antwortete naiv:

„Warum sollte er's nicht sein? sind wir denn nicht alle Beide hübsche Leut?“

Als der Buben immer mehr wurden, kamen schließlich die Mädchen wieder zu ihrem Rechte. Helene mit dem Harfenstimmchen wurde ihrer duftigen Schönheit wegen ein Gegenstand heimlicher Sorge: vielleicht ist das Kind zu gut für diese Welt?

Wernhard mußte immer an sein Lieblingsschwesterchen denken; gerade so hatte das verstorbene Gredelin ausgesehen. Helenchen zeigte aber keine Neigung, die irdische Heimath zu verlassen; sie mischte sich seelenvergnügt in den lustigen Kreis von krähenden, balgenden Buben, und hätschelte das knabenhafte Schwesterchen Anne-Gertrud,welches dieselbe rauhe Kehle hatte, wie die Brüder.

Frau Gertrud wäre vollkommen glücklich gewesen ohne Eines.

Das Gespenst, das sie von Zeit zu Zeit aus ihrem Behagen aufschreckte, sie wachend und träumend verfolgte,war ein Reiseprojekt ihres Gemahls. Noch immer war's ihr gelungen, die Ausführung zu hintertreiben; der Gatte durfte sie doch nicht auf die Dauer von Monaten verlassen, wenn ein Wochenbett in Aussicht stand.

Nun war aber solch ein zartes Hinderniß nicht vorhanden und Wernhard überraschte seine Frau mit dem fertigen Entschluß, auf den Herbst nach Italien zu reisen. 25 Die Gute brachte die Nacht ganz schlaflos zu, während der Handelsherr an ihrer Seite wie eine Sägemühle schnarrte.In Gertruds Kopfe wälzten sich schreckliche Vorstellungen von braunen, zigeunerhaften Weibern, welche schöne Männer stehlen und in fürchterlichen Burgverließen gefangen halten.

Das Morgenlicht vertreibt aber die Hirngespinnste und macht die Gedanken wieder klar. Gertrud hatte in ihrer verliebten Besorgniß doch einen Ausweg gefunden;sie gab ihm Helene mit.

Erst berieth sie freilich den Arzt; das Reisen zu damaliger Zeit war so beschwerlich und umständlich und der Entschluß mußte reiflich erwogen werden.

Der Doctor stimmte bei unter dem Vorbehalt, daß die erforderliche Schonung beobachtet würde. Der Papa der Frau Gertrud nahm natürlich der Tochter Partei und verhieß einen ansehnlichen Beitrag an die Reisekosten.

Noch fehlte Wernhards Einwilligung.

Wie es Gertrud ihrem Manne eingegeben blieb ihr Frauengeheimniß. Der Handelsherr war fest überzeugt, daß der Plan von ihm selbst ausgegangen und aus diesem Grunde von der Gattin genehmigt worden sei; er versprach ihr mit warmem Eifer, das Helenchen zu behüten wie seinen Augapfel, und sie stets um sich zu behalten.Helene legte die kurzen Röckchen ab und war auf einmal ein Jungfränlein im schleppenden Gewande mit der Tasche zur Seite. Ihr Haar, sonst rings glatt am Kopfe aufgebunden und in einen Knoten gesteckt, fiel gelöst und lockig über den Nacken. Der Scheitel stand ihrem Gesichte so wohl, daß die Eltern die entzückten Augen fast nicht von ihr abwenden konnten.

Die körperlichen Uebungen, denen sie sich hingab, der tägliche Reitunterricht belebte ihre Gesichtsfarbe und den Glanz ihrer Augen. „'S ist ganz erstaunlich“, meinte Wernhard, „wie das Maitlin in der Letze schön geworden ist.“Helene bekam auf die Reise ein rehfarbenes Tuchkleid von deutschem Schnitt, das an den Aermeln aufgeschlizt,von den Puffen des blauseidenen Unterkleides durchbrochen war. Ein abgenähtes Chemiset von derselben Veilchenfarbe schloß mit einer Spitzenkrause eng um den Hals.Die lange Reitschleppe war als Tunika aufgezogen und ließ den gesteppten blauen Rocksaum frei; dazu Reisestiefeln aus Corduan mit blauem Aufschlag.

Das Originellste war der Hut, ein gewaltig breitrandiger Filz mit hohem Kopfe, von welchem eine ellenlange, ungebrochene Straußenfeder rückwärts in die Luft starrte. Ein Radmantel mit acht übereinander gelegten Kragen wurde für Regentage beigefügt.

Herr Wernhard in einem Pelzmantel und ein Diener,ganz in Leder gekleidet; das war ungefähr alles, was die neugierige Nachbarschaft erhaschen konnte; denn die Kutsche wurde im Hofe verpackt und über die Koffern und wurstähnlichen Reisetaschen kam ein Schutzleder.

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Me i Der Abschied war hinter dem geschlossenen Hofthore vor sich gegangen: Glück zu!

Von Basel fuhren die Reisenden in ihrer „komblichen Kutsch“ nach Genf; von da theils zu Pferd, theils zu Schiff nach Lyon und Avignon. Herr Wernhard machte gerne gemächliche Pausen, wenn ein vielversprechendes Schild zur Einkehr mahnte.

Helene blieb hellauf wie ein Vögelein. Die Welt war ja so schön.

Ueberall hatte Wernhard Verbindungen, die ihn aufhielten. Von Marseille schifften sie sich nach Genna ein.

Der Weinmonat war gekommen; daheim in Basel entlaubte der Herbststurm die Bäume und jeden Morgen lag ein dichter Reif auf den Dächern; hier auf dem Meere schwelgte Helene auf den wiegenden Wellen und verträumte die lanen Abende im Anschauen der südlichen Sternenpracht. Wie goldne Flocken schwebten die Gestirne in der durchsichtigen Luft.

„O Vater, mir ist's, als senkten sie sich von dem unermeßlichen blauen Gewölbe leise herab zu uns“, und das Mädchen erhob begeistert seine Arme, als wollte es die leuchtenden Himmelskörper umfassen.

„Was ist da weiter?“ erwiderte Wernhard, „es sind Sterne, gerade wie daheim bei uns.“ Der Handelsherr hatte keine Poesie.

Helenens zarte Constitution kräftigte sich wunderbar in der Seeluft; ihr Auge wurde immer strahlender; die schmächtige Gestalt gewann an Rundung und Elastizität. Die Schiffsleute hielten sie für ein höheres Wesen; es war ihnen nicht zu verargen. In ihrer dichterischen Begeisterung schwebte sie wie eine Erscheinung über das Verdeck; jede ihrer Stellungen war von unbewußter Anmuth getragen. Dazu ihr seltsam helles Haar, mit den silbernen Lichtern, das sie wie ein Glorienschein umgab, wenn die Sonne darauf schien. Die glücklichste Fahrt bestätigte den Wunderglauben, daß die heilige Jungfrau es selbst gewesen sei, wenigstens eine Heilige,meinten sie

Der schöne Schweizer wurde mit Auszeichnung aufgenommen, sein liebenswürdiges Töchterchen mit Huldigungen überschüttet. Helene fand sich gelassen drein.

Vielleicht hat das junge Mädchen seine Eindrücke niedergeschrieben und an die Mutter gesendet; in einem Hanse aber, wo man alle nutzlosen Empfindungen gering schätzte, gingen diese Briefe vermuthlich wieder verloren.

Von Wernhards Briefen sind auch nur wenige erhalten.

Seine Stärke lag jedenfalls nicht in der Privatcorrespondenz; er nahm es weder mit dem Style, noch mit der Orthographie genau. Mit der ihm eigenen kaufmännischen Pünktlichkeit erschienen sie zu den vorausbestimmten Zeiten, lakonische Schreiben im Charakter unserer Telegramme:

„Liebe Gertrud, dein brieff zur richtigen zeitt er

„halten, Ich und Helene gesund, geschäffte guth. Haben „treffliches Traktamente, meine Wämsser zu eng, neue „angeschafft. Dito ein hellblau seydenkleid für Helene,„so proporzionniret. Könnte Amouren haben, so viel „als täg im jar, geb nicht Permission. Sagen zu ihr:„bella bionda, und noch mehr dumm zeug.

„Buben daheim sollen brav sein, dito das Maitlin.„Helene ist gottesförchtig und volgsam.

„Ich küße meine liebe Fraue Gertrud.

Dein treuer Wernhard.

„Gieb obacht, daß Herr Abel alltäg ins geschäfft „komt. Ist sehr vonnöthen.“

Vom Carneval schrieb er an Gertrud:

„Helene gestern eingesperrt, so von Masgen mit „Dousseuren und schönen Majen attakiret. Selbsten „ein halb larven angelegt; schöne teufelsweiber auf „den altanen kannten mich doch am langen Barth,„taten süße reden und locketen mich zu ihnen herauff „zu kommen; hatt schier lust, dachte aber an meinen „Verspruch, so Dir heilig in die Hand gelobet und „ging zurucke zum kinde.“

Gertrud in ihrer eifersüchtigen Angst zu trösten:

„Liebe Fraue, hast Dir unnötig geförchtet, wenn „ich nicht brav gewesen wäre, verzellete ich Dirs nicht,„kunntest daran sehen, daß ich treu zu Dir bin und „einzig hold meiner Ehefrauen Gertrud. Brauchst auch „nicht wieder so zu pressiren mit dem schreiben, es „ist frue genug alle drei wochen. Das kind ist in „der letze so still, sagt mir, wölle mit dem Müeterlin „reden. Reisen bald weiter.“

Doch geschah etwas, das ihn veranlaßte, seiner Gattin früher zu schreiben, als er sich vorgenommen hatte; der folgende Brief war nur eine Woche jünger als der vorhergehende:„Hab Sorge um Helene, ist ein jung Sceultore,„gar schön mansbild, so aus marmelstein bildnußen „von heydnischen Göttern, von schönen weibern und „proffeten macht, heißt Don Ludowico, laufft dem „Helene auf schritt und tritt nach, und tut als ob's „die heilige Jungfrau wäre so er anbetete; ist aber „ein klein spitzbüeblin im spil, namens Cupido, hoffe „bleibt zurucke, wann wir reisen; Diener fortgejagt,„taugt nichts.“

Den letzten Brief aus Italien erhielt Frau Gertrud aus Mailand:„Seit acht tagen hier, ist die herrlichst stadt mit „viel häußern und Palästen und Gottshäusern, wo „die Frauenzimmer schon früe in die Kirchen lauffen.„Fast all täg bei Baslern eingeladen; essen das Zimmis „erst z' Obend. Hitz groß, bin ganz braun. Helene „nicht, geht nit aus. Tut was bedeuten, daß so still „sinniret. Komme Gottlob bald heim. Abreise in „dreien tägen.“Man hätte die Räuberbanden gefürchtet, welche die Umgebung des Monte Cenere meilenweit unsicher machten.Da sich aber eine große Reisegesellschaft vereinigte, kam man unter militärischer Escorte glücklich in Bellinzona an.Dort trennten sich die Wege und Wernhard und Helene wendeten sich mit Führern und Saumpferden in's Livinerthal.

Hatte die ungünstige Witterung schon vorher die Cavalcade aufgehalten, so kam man jetzt fast gar nicht vorwärts.Acht Monate lang hatte Wernhard fern von der Heimath ausgehalten, nun kam plötzlich so heftige Ungeduld über ihn, daß er allen Warnungen zu Trotz seine Reise fortsetzte.

Obschon man Anfangs Juni war, lag der Schnee tief auf den Bergen. Gelbliche Fluthen wälzten sich tosend im felsigen Bette des Ticino; manchmal überfloß der Wellenschaum den Saumpfad.

Die wildromantische, herrliche Leventina mit ihren engen Schlünden, Felsenpforten und Wasserfällen war in Regen und Nebel gehüllt, und je näher man dem Gotthardt rückte, je grausiger sah es aus.

Am Eisenkopfe des Handelsherrn prallten jedoch alle Mahnungen ab; barsch wies er alle Bitten um Aufschub zurück.

Als nach einer Sturmnacht die Sonne hell und freundlich aufging, bot er den bedenklichen Säumern doppelten Lohn; und nun ging's von Airolo aus bergaufwärts in den neu gefallenen Schnee.

Wernhard ritt voraus auf einem hohen, starken Pferde; nach ihm kam ein Führer, der Helenens Thier am Zügel hielt; zwei ebenfalls sehr starke Pferde und vier Männer folgten; sie trugen Schaufeln mit sich.

Eine Zeit lang ging alles gut; bei jeder Biegung nickte Wernhard seiner Tochter zu; aber seine vertrauende Miene schwand. Der blaue Himmel hatte sich überzogen und aus den Schluchten klang ein dämonisches Geheul;„wenigstens schneit's und regnet's nicht“, tröstete Wernhard mit lautem Zuruf.

Immer schwieriger wurde der Pfad; stellenweise lag der Schnee so tief, daß das Pferd bis an die Brust einsank.Kaum hätte es sich mit des Führers Hülfe herausgearbeitet, so riß ein jäher Windstoß Helenen den Hut vom Kopfe und warf ihr den Mantel über's Gesicht, um im nächsten Augenblicke umschlagend so gewaltig auf sie einzudringen, daß sie sich athemlos an das Pferd klammern mußte, um nicht in den Abgrund hinabgeweht zu werden.

Das war nur das Vorspiel des Sturmes.

Die starren Schneespitzen bedeckten sich mit einem trüben Schleier und die Führer beriethen unter sich.Dann verbanden sie den Kopf bis auf einen kleinen Theil des Gesichtes und waren den Reisenden behülflich, ihre Mäntel mit Riemen fest um den Körper zu schnallen,die Hände jedoch freilassend, um sich am Pferde festhalten zu können.Es war hohe Zeit; denn die wilde Tormenta brach los. Schneegestöber, spitze Kristalle, mit Regenschauer 33 vermischt, peitschten unbarmherzig das zarte Madonnengesichtchen.Der Führer sprach zu ihr; sie sah ihm die Anstrengung an, sich verständlich zu machen; aber der Orkan verschlang jeden Laut.

Mühsam Schritt um Schritt im Sturme erkämpfend,mußten Mann und Pferd glatte Schneehaufen erklettern,dann wieder herabsteigen in die eiskalte Lache, die bis zum Sattel aufspritzte.

Zuweilen blieb man lange Zeit wie angemauert,ohne das Hinderniß zu sehen, welches sich entgegengestellt hatte. Dann war Helene allein; denn der Führer half die Schneewehe hinwegschaufeln. Sie sah aber nicht über des Pferdes Kopf hinaus, so dicht waren Regen, Schnee und Nebel.

Helene hatte den Hals ihres Pferdes umfaßt und ließ alles stumpf über sich gehen; wußte sie ja nicht einmal, ob ihr Vater lebe. Drei Stunden waren verflossen, seit er das letzte Wort mit ihr gesprochen hatte.

Einen Augenblick konnte sie sich im Schutze des Felsens erholen. Aus den Gesprächen der Führer entnahm sie, daß ein Lastthier gestürzt, wagte aber nicht nachzufragen, sondern empfahl ihre Seele Gott. Sie waren ja noch weit entfernt vom Hospizium.

Der Schweiß des Pferdes troff über ihre Hände und sein dampfend keuchender Athem gab ihr noch einige Wärme: sonst war sie wie abgestorben. In diesem seltsamen Zustande fühlte sie ihre eigenen, krampfhaft 34 geschlossenen Hände wie fremde, ihr nicht angehörende. Sie spürte den Dust des Branntweins, den man ihr einflößte,ohne zu wissen, daß er über ihre eigenen Lippen floß.

Es war die höchste Zeit.

Von den Männern geleitet, auf dem Pferde gestützt,mit wahrhaft mütterlicher Sorgfalt behütet, wurde sie endlich unter das Schutzdach der Herberge gebracht, wo die Wirthe des Hospizes, zwei ehrwürdige Kapuziner,ihre starren Finger auseinander lösten und sie durch die dunstige Gaststube in ein Zimmerchen trugen.

Wernhard war auch ganz entkräftet; stumm lag er auf seinem Lager und schaute zu, wie die frommen Brüder das bewußtlose Mädchen mit duftenden Essenzen belebten.

Er hatte seine werthvolle Habe eingebüßt; seine Tochter war noch immer nicht dem Leben zurückgegeben;doch schien er für alles unempfindlich zu sein. Die Anstrengungen der letzten Stunden hatten auch seine Kräfte überstiegen.

Am dritten Morgen nach Wernhards Ankunft im Hospiz funkelten die Bergspitzen wie durchsichtige Kristalle im rosigen Duft; geblendet mußte man sich abwenden.

Es dauert lange, bis sich das Auge vom schillernden Schneeglanz erholt; die tanzenden, schwarzen Flecke vor den Augen verwirren das Gehirn. Wernhard wußte nicht mehr, wo er stand; er mußte wieder in das Gebäude zurückgeführt werden wie ein Blinder. Die Wirthe schwärzten zuerst Brillen am Rauche,und die neugeworbenen Säumer luden das wieder gefundene Gepäck auf.

Die früheren Pferde, es waren ihrer nur noch drei,da eines zerschellt in der Tiefe lag, konnten wegen übergroßer Erschöpfung nicht gebraucht werden; selbst die Führer lagen krank.

Mit thränenden Augen nahm Helene Abschied vom Herberghause, das hier in kahler, einsamer Höhe so viel Menschenliebe und Hingebung barg.

Selig sind die Barmherzigen!

Fra Ambrogio, der ältere Kapuziner, hatte dem jungen Mädchen ein kleines Andenken geschenkt; dem Herrn Wernhard hingegen ein Schreiben an den Superior von Andermatt überreicht.

Noch einmal blickten die Reisenden um. Die schönen Bernhardinerhunde mit den treuen, fast menschlichen Augen hatten ihnen bis hieher das Geleite gegeben; nun sprangen sie in großen Sätzen zum Hospiz zurück.

Unter dem Vordach stand Fra Ambrogio und beschattete die Augen.

Helene weinte; auch Wernhard war bewegt.

Die junge Reisende entfaltete des Kapuziners Gabe;es war ein Bildchen: die Flucht Mariä nach Egypten;darunter stand in altdeutscher Handschrift: „Daz ewer min engel behüete.“

Die Strecke vom Hospiz bis Andermatt ging ohne besondere Störung von statten. Der einzige Aufenthalt geschah in einem schmalen, in den tiefen Schnee ausgehauenen Hohlweg, so eng, daß sich kaum ein Mann d'rin umwenden konnte, geschweige denn ein Pferd.

Plötzlich befand man sich einer aufsteigenden Cavalcade gegenüber; die Fuührer fluchten; die Reisenden fluchten.

Nach langem Streite mußte die herabkommende Partei nachgeben.

Man zog die Pferde an den Schweifen zurück, bis zu einer Felsenkante, wo der Hohlweg aufhörte. Helene schloß erblassend die Augen; ein paar Spannen weit von ihrer Haltestelle ging es tief hinab wie tief? wagte sie nicht zu schauen.

So dicht mußten sie an ihr vorüber streifen, daß sie jedesmal einen Stoß erhielt; aus Angst wagte sie nicht eher zu athmen, bis der Letzte sich glücklich durchgedrängt hatte; es kam aus hochklopfendem Herzen ihr halblautes:„Gott sei Dank!“Welche Wonne, als das erste Wiesengrün durch die Schneedecke schimmerte! Das liebliche Urserenthal erschien ihr als ein Paradies des Friedens.Pater Antonio, der Superior von Andermatt, war ein älterer, feingebildeter Italienex. Kaum war das Schreiben in seinen Händen, erschien er, die Reisenden in sein gastlich Haus zu führen.

Nach dem Mittagsmahle schlummerte Wernhard und der Pater führte das Mädchen zu seiner bedentenden Sammlung von Gotthardfossilien. Ihr Interesse war 837 nur gering; da öffnete er ein kleines Cabinet, wo auf schön geschnitzten Schäften allerlei Sculpturen standen.

Warum machten auf Helene diese Marmorgebilde einen so heftigen Eindruck?

Der geistliche Herr schrieb ihre lebhafte Röthe und freudige Bewegung der Bewunderung zu.

„Ich besitze sie schon lange“, sagte er schelmisch;„das sind keine Meisterwerke, sondern die Erstlingsarbeiten meines Neffen Ludowico.“

Helene antwortete nicht; sie wußte nun, was sie beim ersten Anblick des Superiors so vertraut angemuthet hatte; es war die Aehnlichkeit mit dem Bildhauer.

Sie stand mit gefalteten Händen und feucht verklärten Augen; ihr Schweigen war beredt genug.

Pater Antonio streckte ihr beide Hände entgegen:„Ich sehe, Ihr kennet meinen Ludowico! aber warum,meine Tochter, warum diese Thränen?“

Wie lange hatte sich Helene nach der Mutter gesehnt,um ihr volles Herz auszuschütten; nun lehnte sie ihren Kopf auf des alten Mannes Schulter und weinte sich aus.Helene war ein thränenreiches Kind.

Pater Antonio hatte den Arm um sie geschlungen und ließ sie schweigend gewähren, bis sie sich von selbst wieder aufrichtete.

„Mein Vater! Ludowico wird mich verachten. O,Ihr wisset nicht! Wir sind ohne Abschied fortgereist und haben ihn noch mit falschen Angaben getäuscht. Ludowico sucht uns vielleicht jetzt in Venedig.“ Sie wendete erröthend ihr Gesicht ab, weil der Pater lächelte:

„Man braucht Euch nur anzusehen, meine Tochter,um zu wissen, daß Ihr das nicht gethan habt, sondern bloß Euer Vater. Seid aber getrost; der Wille Gottes kann Euch doch wieder zusammenführen!“

Der Pater Superior wollte seine lieben Gäste nicht fortlassen. Wernhard hatte jedoch in der Herberge einen Brief von seiner Frau gefunden.

Sie schrieb darin, daß sein Socius, Abel, krauk gelegen, nun aber wieder im Geschäfte sei; auch ist kein Grund, hatte sie beigefügt, die Reise deßhalb zu beeilen.

„Grund genug“, brummte der Handelsherr, „diese Weiber verstehen viel davon!“

Der geistliche Herr ließ sein eigenes Maulthier für Helene satteln; sie war vom harten Gang ihres Pferdes sehr ermüdet. Die Zügel band er am Sattel fest.

„Diesem Thiere könnt Ihr Euch ganz ruhig anvertrauen; es kennt jeden Stein auf dem Wege bis Göschenen und ist zuverlässiger, als der beste Führer.Nun behüet Euch Gott, meine Tochter!“

Helene neigte sich zu ihm und bat flüsternd: „Segnet mich, Vater!“Und Pater Antonio legte seine Hand auf ihren Scheitel.Helene, die ihren Hut nicht wieder bekommen, hatte ein Tuch über den Kopf geheftet; auf der Mauleselin sah D

Wunderbar erfrischt durch das unerwartete Zusammen 89 treffen mit Ludowico's Verwandten, gab sie der schon geschwundenen Hoffnung wieder Raum. Wenigstens erfuhr der junge Freund, daß sie es nicht gewesen, die ihn getäuscht habe.

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben!

Ohne Unfall war man durch das Urnerloch in die Schöllenen geritten. Steil schlängelt sich der Pfad am Felsen hinab. Helene saß aber sicher in ihrem Sattel;ohne je auszugleiten hatte sie das kluge Maulthier bis an die Teufelsbrücke geführt.

Der Steinbogen zitterte beständig vom Donner der Wassermasse; als Helene ein wenig hingeschaut hatte,vergingen ihr beinahe die Sinne; sie klatschte dem Thiere auf den Hals, und es ging weiter. Alle waren vom Wasserstaube durchnäßt.

Schon glaubten sie den gefährlichsten Weg hinter sich zu haben; da begegnete ihnen ein Zug von Arbeitern.

„Kehret um“, mahnten sie, „Ihr könnt nicht weiter!“

Wernhard knirschte vor Ungeduld. „Was ist's? wir sind ja bald in Göschenen!“

„Eine gefährliche Schneewand am Ausgang der Schöllenen.“„Sie neigt sich schon herüber“, rief ein älterer Mann.

„Wann wird sie fallen?“ frug der Handelsherr.

Die Arbeiter sahen sich lachend an. „Wann's ihr beliebt! vielleicht heut, vielleicht morgen.“ Verschiedene 120 Stimmen hatten geantwortet. Wernhard glaubte in ihren Mienen zu lesen, daß sie ihn zum Besten hielten. „Vorwärts!“ rief er.

„Geht nicht“, mahnte ein älterer Mann.

„Kommt mit uns zurück nach Andermatt!“

Wernhard wurde zornig: „Ihr wollt mich chicannieren,Ihr schlechtes Volk? Weiter!“ rief er mit mächtiger Stimme.

„Nun sprecht kein Wort mehr, Herr, sonst geht's an's Leben“, warnten die Führer. Leise schritten sie dicht an der Felswand. Hätten sie in die Höhe geschaut,würden sie doch umgekehrt sein. Es war fast dunkel zwischen den himmelstarrenden Felsen. Das Maulthier hatte sich erst gesträubt; als man's aber am Zügel ergriff, trat es mit lautloser Vorsicht auf.

Jenseits der letzten Reußbrücke vor Göschenen standen alle bis auf Helene; sie waren nun sicher, aber das Maulthier drüben drängte sich zitternd dicht an das Gestein; Wernhard winkte seiner Tochter, eilig abzusteigen und zu Fuß herüber zu kommen.

Es waren nur wenige Schritte zwischen Leben und Tod. Schwer und grau lag die Luft auf allen; die gelbe Masse droben bewegte sich; einer der Führer wies mit dem Arme hinauf.

„Helene“, schrie der Handelsherr, „Hel ... 41 Die mächtige Stimme Wernhards hatte ein furchtbarer Donnerschlag verschlungen. Das Echo rollte in allen Schluchten und Thälern majestätisch nach.

„Heilige Mutter Gottes! erbarme dich unser!“

Dieselben Männer riefen's, die vor einer halben Stunde den trotzigen, hochfahrenden Handelsherrn gewarnt hatten.

Eilig wendete sich der größere Theil abwärts, um den Verunglückten beizustehen; sie wußten's genau: die Wand war gestürzt, und die Reisenden waren gerade an jener Stelle.

Mit Schaufeln räumten sie vorerst einen Pfad, als ein junger Mann athemlos auf sie zustürzte.

Er konnte nur wenig erfahren, und doch wurde er vor Angst fast wahnsinnig.

„PElena mia!“ schrie er auf, als er sich im halbgebahnten Fußweg vorwärts arbeitete.

Lndowico hatte sie nun doch erreicht, aber wie?

Wernhard war in demselben Augenblick, als er seiner Tochter gerufen, fast erstickt: Mund, Nase, Hals, sogar die Augen starrten voll feiner Eisstacheln, die ihm furchtbaren Schmerz verursachten. Das Blut stieg ihm zu Kopfe.

XEDDDD

Endlich konnte er's von sich abschütteln; ach, es war ein trauriges Bewußtsein, das ihm wiederkehrte. Alle standen um ihn, nur Helene nicht, und die Stelle, wo er sie zuletzt gesehen, war leer.

„Es wird sie in den Fluß hinabgeworfen haben“,deuteten sich hinter Wernhard die Arbeiter mit Zeichen;sie wagten nicht, es zu sagen, und durchsuchten scheinbar den Schnee.

Wernhard sah die Schlaffheit ihrer Nachforschung; er bot und bot. In diesem Augenblicke war er nur noch Vater.

Keine Hoffnung mehr!

Dem jungen Bildhauer war die Rettung vorbehalten:Ohne Zögern macht er sich an's Werk, aber ruhig,ohne Hast.

In allen Blicken leuchtet Vertrauen.

Er schnallt einen Gurt um den Leib seines großen,schwarzen Hundes; die Leine giebt er dem Stärksten zu halten.

Dann läßt er sich zur Erde nieder: „Oampione, mein treuer Freund“, spricht er zum Thiere, gerade wie man mit einem Menschen spricht.

Der Hund schaut ihn mit glänzenden Augen an.Ludowico zieht ein Tuch aus der Tasche und hält es ihm an die Nase. Es ist Helenen's.

Der Hund kommt in einen wunderbaren Eifer; sucht hier, dort; schnuppert unter den Schnee.

Er steht: die Spur ist gefunden. Das Thier scheint seinen Herrn zu fragen. Dieser nickt.

Athemlos schauen alle, wie der Hund in den lockern Schnee einsinkt; die Leine an dem Gurt ist stramm gespannt.

Sie läßt nach. Campioneé hat's erreicht. Man hört den lauten Athem des jungen Italieners ......

Nun versinkt auch der Bildhauer; die Arbeiter halten die Stricke, die er um seinen Leib geschlungen.

Drunten kommt die schmutzige Schneemasse in Bewegung.

Ganze Theile lösen sich ab und wälzen sich mit den gelben Wellen der Reuß weiter immer weiter.

Wernhard steht vorgeneigt und blickt starr in das brausende Wasser. Wird nicht das holde Antlitz im Wirbel an ihm vorübertreiben?

Es giebt Sekunden, in denen man Ewigkeiten durchlebt.

„Zieht, zieht!“ ruft Ludowico's Stimme dumpf.

Ruckweise: eins, zwei, drei! Die Männer arbeiten mit Ueberlegung. Der Schweiß strömt über ihre Gesichter.Auf Wernhards Stirn stehen eiskalte Tropfen.

Ein schwarzer, triefender Kopf taucht auf; es ist Ludowico; die Haare hängen in Strähnen über sein Gesicht.Höher; immer höher: seine Arme halten eine geliebte Last. Die Verunglückte ist noch warm; ihre Arme hangen schlaff zur Seite.Wernhard schlägt sich mit den Fäusten vor die Stirn:„Todt! durch deine Schuld getödtet!“

Ludowico war mit seiner Last nach dem Dorfe geeilt;in der ersten Hütte legte er sie nieder und preßte seinen heißen Mund auf ihre bläulichen, kalten Lippen, deckte sie mit seiner Wärme, wie die Henne ihre Küchlein,und rief sie mit tausend zärtlichen Namen.

Wunderbare Macht der Liebe! Helene athmete wieder.

„Sie lebt, Don Wernardus!“ janchzte er dem wankenden Väter entgegen.

Wäre Ludowico berechnend gewesen, in diesem Augenblicke hätte er die früher verweigerte Hand Helenens rückhaltlos bekommen.

Der Bildhauer war aber eine edle Natur.

Er half dem Handelsherrn, der noch immer bebte,ein Lager bereiten. Wernhard fiel sogleich in Schlaf.

Ludowico setzte sich auf einem Schemel zu Helenens Bette; der Hund lag zu den Füßen seines Herrn. Das junge Mädchen erwachte oft aus ihrem Schlummer; dann legte sie die kleine Hand auf des Freundes feuchte Locken;sie mußte sich überzeugen, daß es kein Traum war.

„Vico, lieber Vico, bist du es wirklich?“

Der Gerufene legte den Finger auf ihre Lippen.

Am andern Morgen fiel Helenens erster Blick auf den Hund, der seine Schnauze an ihrer herabhängenden Hand rieb. Campione, der wackere Kämpe, ging sogleich zu seinem Herrn, der am Boden schlief.

Aufspringen, mit ausgestreckten Armen Helene begrüßte ihn mit verschämtem Lächeln hinausstürzen,war Eines.

III.E alte Haus mit dem kleinen Bogenthor und seiner finstern, burgähnlichen Außenseite erlebte wieder einen festlichen Tag. Die große, zahlreiche Familie, die Freundschaft hatten sich zum Empfange Wernhards und seiner Tochter eingefunden.

Ludowico war vom Handelsherrn zu Gaste geladen worden, hatte jedoch dankend abgelehnt und nahm sein Quartier in einem Gasthause.

Er ahnte nicht, wie theuer ihm dies Zartgefühl zu stehen kam, sonst hätte er nicht die Gelegenheit versäumt,als lebendiges Faktum in diesem spröden Familienkreise zu erscheinen.

Wernhard war in seinem alten Hause wieder er selbst. Die Wünsche, die man augenscheinlich an Helenens Ankunft knüpfte, machten die Wagschaale Ludowico's in die Höhe schnellen.„Wer mit der kunst sich neeren wil „Der hatt sorg, mieu und arbeit vil.“So lautet ein alter Reim, den der Handelsherr auch kannte.Ludowico's vornehmer Familienname? „Davon hat man auch nicht gelebt.“

Er meinte es gut mit Helenen, als er ihr den Verkehr mit dem Italiener verbot; des Kindes Wohlfahrt siegte über das drückende Gefühl des Undanks. 46 Frau Gertrud unterstützte ihn; sie war auch praktisch,und die vollen Kasten, die Geldsäcke und das herrliche Haus der Abelsmutter leuchteten ihr besser ein, als die staubige Werkstatt eines Bildhauers. Helene durfte nur die gebotene Hand ergreifen und sie war Herrn Abels vielbeneidete Braut.

Selten begegneten sich die Liebenden, obschon Ludowico mit glühendem Auge, wie ein verwundeter Löwe, durch die Gassen rannte.Traf er sie aber, entfloh sein Zorn unter dem traurig ergebenen Blick, den sie ihm zuwarf: wie ein Lamm schlich er in seine Wohnung zurück und vergrub tagelang den Kopf in die Hände.Die zukünftige Schwiegermutter kam fast täglich:„Abelsmutter“ nannte sie Ann-Gertrud, Helenens jüngere Schwester.

Sie sprach nur von ihrem Einzigen; der Uebername war gerecht.Eines Tages saßen Wernhard und Gertrud noch am Mittagstische; die Kinder waren theils zur Schule, theils in den Garten gegangen. Da that sich die Thür' auf und Helene trat ein.

Sie ging auf die Eltern zu; Mutter wollte sie neben sich auf einen Stuhl ziehen.

„Nein, laßt mich vor Eure Füße fallen, meine Eltern! es wird das Letzte sein, um was ich Euch bitte.“ 47 „Helene! Helene!“ unterbrach sie Frau Gertrud mit tiefem Schreck; „was ist dir, mein Kind?“„Laß mich zum Vater gehen“, erwiederte das Mädchen,dem alles Blut aus Wangen und Lippen gewichen war.

„Lieber Vater, du hast heute den Ludowico, dem ich mein Leben verdanke, fortgewiesen; ich weiß, daß du mich einem andern bestimmt hast. Ich werde aber keinem angehören, als dem Tod.“

Sie sagte es mit leiser Stimme:

„Vater, wenn du mich lieb hast, laß mir den Vico für die kurze Zeit, die ich noch zu leben habe.“

Gertrud ließ ihren Kopf auf die Arme fallen und schluchzte. Wernhard sah starr in des Kindes Gesicht;er fand darin die Sprache der Wahrheit.

Mit beiden Händen hielt er sich an der Tischplatte fest: die Gläser klirrten aneinander und Helenens Stirn lag auf seinem bebenden Knie.

„Du sollst den Italiener haben!“ sagte er endlich mit Anstrengung und verließ das Zimmer.

Eine halbe Stunde später trat Ludowico in's Gemach,wo Gertrud ihre Tochter in den Armen hielt.

„Elena mia!“ rief er; „o meine Mutter!“ Er umschlang Beide zu gleicher Zeit.

Ludowico wußte nicht, daß er seine Aufnahme in diesem Familienkreise einer traurigen Ursache verdanke.War Wernhard abstoßend, was kümmerte es ihn, wenn er doch Helenen hatte. Gertrud zeigte sich mütterlich freundlich und wehrte ab, als er davon sprach, sogleich zu seiner verlassenen Arbeit heimzukehren.

„Wir glauben Euch gerne, daß Ihr ein großer Künstler seid“, sagte sie zu ihm. „Ihr könnt aber die angefangene Arbeit vollenden, wenn Ihr wieder in Italien wohnt. Bleibet!“

Den traurigen Blick Gertruds sah er nicht.

„Ich bleibe bei dir, herzig Kind! Liebe ist höher als Ehre“, tröstete er Helene und küßte die Thränen von ihren Augen.Der junge Bildhauer hatte aber noch eine Eroberung gemacht, seine junge Schwägerin nämlich, Ann-Gertrud,ein unternehmender Backfisch von fünfzehn Jahren.

Als sie Ludowico zum ersten Male sah, stellte sie sich mit den Händen auf dem NRücken vor ihn und guckte ihn so ungenirt an, daß der junge Künstler erglühte und Helene lustig in die Hände klatschte.

Das Resultat der Prüfung ließ nicht lange auf sich warten.Aunn-Gertrud, die sich im Hause viel Rechte herausnahm, brachte bei Tische ihr Gedeck neben dasjenige des Fremden. Dann ergriff sie sein Weinkännchen und hielt die kleine Nase prüfend daran.

Es war mit Landwein gefüllt, welcher den jüngern Kindern und den Dienstboten zum Getränke diente. Die Eltern hatten alten Markgräfler.

Sie ersetzte das Weinkännchen durch ein anderes mit dem besseren Stoffe. Sie that noch mehr, ohne sich um des Vaters Zorn zu bekümmern.

Wernhard hatte das seine geleert; Ann-Gertrud sollte es zum zweiten Mal füllen. Sie trat auch zum Künstler:„Trink aus! es geht in Einem mit dem Holen!“

Ludowico ließ sich nicht zum zweiten Mal auffordern;er setzte an.

Inzwischen wollte Wernhard in der jähen Hitze den Tisch verlassen. Seine Frau hielt ihn aber fest und flüsterte dem Aufgebrachten in's Ohr: „Sei doch vernünftig; mein Vater wird uns wieder andern Wein geben!“Aehnlich machte es Ann-Gertrud mit der Küche; gar oft erschienen Gerichte, die Frau Gertrud nicht bestellt hatte; das Mädchen legte dem Gaste die besten Bissen vor, obgleich der Vater mit den Augen rollte und Mutter hernach zankte.

War ihr Ludowico dankbar? Er merkte es nicht einmal, denn Herz und Sinne waren von Helene erfüllt.Man sagt nicht umsonst: „Er lebt von der Liebe!“

Ann-Gertrud war in den letzten Jahren noch schöner geworden als Helene; sie überragte ihre Schwester und trug ihr Haupt mit Stolz und Anmuth. Ihre burschikose Art, ihr Duzen und die herbe Sprache waren Originali-täten. Alle fesselte das kindliche, treue Auge und die kecke Naivität, und jeder rühmte einen andern Vorzug an dem schlanken Mädchen. Mutter pflegte zu sagen, daß sie immer das Gegentheil von dem thue, was man exwarte. Sie brachte alle aus dem Conzept, ohne je das Gleichgewicht zu verlieren.

Sie wußte auch mit Thieren umzugehen.

Ludowico war kaum in den Familienkreis eingetreten,als sie ihm den Wunsch ankündigte, Held Campione zu sehen.

„Morgen bringst ihn hieher!“ befahl sie.

Helene sprach denselben Wunsch aus; darauf hin wagte es Lndowico.

Ann-Gertrud nahm ihn schon im Hausflur in Empfang. Sie ergriff den Hund furchtlos am Halsband und führte ihn in den Hof. Ueber solche nie dagewesene Frechheit grollte natürlich das Thier; darauf ließ sie sich zu ihm nieder.„Du wackerer Champion!“ schmeichelte sie, streichelte sein lockig Fell und kraute ihm am Halse.

Dennoch hörte er nicht auf zu murren; das Mädchen versetzte ihm dafür einen derben Schlag.

Oampioneé sah sich nach seinem Herrn um; der war hinaufgeeilt zu Helene, von ihm war keine Hülfe zu erwarten; er legte sich nun wedelnd zu des Mädchens Füßen; sie konnte mit ihm machen, was sie wollte.

Ann-Gertrud band ihm ein rothes Mäntelchen um und setzte eine Federmütze auf seine hängenden Ohren;dann zog sie ihn hinauf in die Wohnräume.

„Hier kommt Einer gratulieren!“

Die Gratulation nahm ein kläglich Ende.

Campione war kaum einige Schritte weit gegangen, als er auf dem spiegelglatten gebohnten Boden winselnd niederfiel und seine breiten Tatzen steif nach vier Richtungen ausstreckte. So oft er sich aufrichtete, stürzte er auf's Neue hin.

Mutter schalt; Helene jammerte und Vico herrschte.Umsonst.

Ann-Gertrud bekümmerte sich nicht um den Tumult,ergriff ihn am Halsband und schleifte ihn über die Schwelle.

Draußen neue Verlegenheit; er wollte durchaus nicht die Treppe hinunter.

Das junge Mädchen wußte sich aber zu helfen; sie umwickelte seinen Kopf mit einem dichten Tuche, daß er nicht sah, und zog ihn mit Gewalt hinunter. Das arme Thier leckte ihr dankbar die Hände.

Die Brautleute wurden von den üblichen Besuchen freigesprochen, eine große Gunst, die nicht genug gewürdigt werden konnte. Hin und wieder kamen Verwandte, das liebende Paar anzustaunen. Dann besprach man sich in der alten, umständlichen Baslerart mit Frau Gertrud,während Vico sorglos seine Braut umschwärmte. Die Abelsmutter war auch gekommen. Sie empfand noch immer die Kränkung, daß man ihrem „Einzigen“, dem hübschen, liebenswürdigen Herrn Abel, einen Fremden vorgezogen habe.

„Einen künstlichen Mann kann freilich nicht Jede kriegen“, meinte sie spitz.

Wernhard hatte nach der erschreckenden Eröffnung seiner Tochter Hut und Stock ergriffen und war zum Doktbr gelaufen. Er traf ihn in voller Beschäftigung;der alte Herr bereitete große Logel voll Medizinen für seine Armen. Die damaligen Patienten würden zu unsern winzigen Medizinfläschchen kein Zutrauen gehegt haben.

Der Handelsherr mußte sich gedulden, bis alle abgefertigt waren; kaum hatte der letzte der Patienten die Thüre hinter sich geschlossen, stürzte er auf den Doktor los:

„Zu was seid Ihr Hausarzt“, schrie er ihn an,„wenn Ihr mein Kind sterben laßt?“

Der alte Herr wischte seine Brillengläser und betrachtete ruhig den Tobenden.

„Seid Ihr betrunken oder überschnappt, Herr Wernhard?“ Sie zankten sich eine Weile, der Eine mit zornigen Reden, der Andre mit gutmüthiger Ruhe. Zuletzt wurde der Doktor endlich auch grob.

„Wer ist Schuld, daß das Kind eine Letze davon getragen hat? Wer hat sie beinahe in den Tod gejagt?Ihr seid eine grobe Rasse; Euer Vater war auch nicht anders!“ ......Wernhard fühlte trotz allen Scheltens ein grenzenloses Vertrauen zu diesem Manne.

„Kommt bald, Doktor, nichts für ungut!“ er schüttelte ihm die Hand mit herzlicher und drängender Ungeduld.

Der Doktor rief ihm nach: „Nehmet noch eine Lehre:Man soll in den Brunnen, daraus man trinkt, keinen Stein werfen!“ Für die Liebenden begann eine schöne Zeit. Vico war immer im Wernhard'schen Hause. Er ahnte die Wahrheit nicht.

Wie oft löste er der Braut hellblonde Locken, daß sie wie ein schimmernder Mantel ihre zarte Gestalt umflossen, oder er trug sie in's Gärtchen hinab, bekränzte sie mit Blumen und rief zu Gertrud, die am Fenster zuschaute: „Madonna! kommt herab, Eure Tochter zu bewundern!“

Helene ließ sich von ihm malen; ach, wie sanft und willig kam sie allen seinen Wünschen entgegen.

Es war auch kein rechter Ernst bei der Arbeit.Ann-Gertrud stand hinter ihm und verfolgte jeden Pinselstrich; aus ihrem braunen Auge blitzte glühende Eifersucht.

„Mich begehrt er nicht zu malen“, grollte sie bei der Mutter, „und doch bin ich auch schön. Und wie er Helene anschaut! so hat er mich noch nie angesehen.“

„Ist auch unnöthig“, erwiederte die Mutter, „du bist verdreht, Ann-Gertrud! Jetzt bleibst bei mir! was geht dich der Bräutigam deiner Schwester an?“

Ann-Gertrud gehorchte schmollend; wenn sich aber die Mutter umwendete, war sie wieder bei den Liebenden.

Mit dem Bilde ging es langsam vorwärts, weil Vico, obgleich in der Technik bewandert, zu wenig Uebung im Oelmalen hatte. Der Hauptgrund aber war, daß er jeden Augenblick aufstehen mußte, um sich der Geliebten zu nähern. Da war eine Haarwelle anders zu legen,oder das Gesichtchen hatte sich zu sehr geneigt und mußte in die rechte Stellung zurückgebogen werden. Wie schön lagen die Hände im Schooße; er konnte sich nicht enthalten, die rosigen Fingernägel zu küssen; und wenn er sich wieder von seinen Knieen aufrichtete, gerieth er in den Zauberkreis der blauen Augen. Da konnte er erst nicht loskommen.

Ann-Gertrud schaute mit unbeschreiblicher Spannung diesem Liebesgetändel zu.

„Wenn nur erst das Bild fertig wäre! ... aber da sind die Haare, die er jeden Tag wieder anders macht! ....Es ist zum Verzweifeln!“ ...

Es reizte sie, die Arbeit zu beschleunigen. Eines Morgens, da Vico eintrat, saß sie an seiner Stelle und legte mit dem Pinsel helle Lichter auf die Leinwand.

Auf sie zuspringen, ihr Pinsel und Palette aus der Hand reißen, war Eins.

Mit welcher Zungenfertigkeit fluchte er in Italienisch auf die damigella!

Was that aber die Anstifterin dieser Scene? Sie stand so gleichmüthig dabei, daß den Künstler die Lust ankam, sie zu schlagen.

Jetzt gefiel ihr Vico erst recht.

Der Liebestraum war zu süß, um lange zu währen.Vico sah die Geliebte blässer und schwächer werden.

Die übermenschliche Anstrengung, welche ihm die Schonung Helenens gebot, war an seinen hohlen Wangen ersichtlich. Sein Blick brannte düster; wenn er aber die Schwelle des Krankenzimmers überschritt, kam er lächelnd auf sie zu.Helene durchschaute ihn dennoch. Sie flehte um einen kurzen Kampf, und ihr Gebet wurde erhört.

Als der Herbstwind mit den dürren Blättern spielte,stand ein langer Trauerzug an der Pforte der Peterskirche. Ein Mädchen im Brauttranze wurde in die Gruft versenkt.

Nun ruhten unter demselben Steine die drei idealsten Frauen vom Hanscasper'schen Hause: Ennelin, die Großmutter; Gredelin, ihr Töchterchen, und die bräutliche Enkelin. Zwischen ihnen schlummerte der strenge Stammvater.

Das waren die Letzten in diesem Grabe.

Ludowico wurde nicht mehr im alten Hause mit den rothen Fenstersimsen gesehen.

Eines Tages ließ der Künstler Wernhard und seine Gattin zu sich bitten.

Der junge Bildhauer arbeitete in einem Thorstübchen,dessen Fenster bis an den Boden reichte und in den Stadtgraben hinunter sah. Als die Eheleute eintraten,enthüllte er eine in Lehm modellirte Gestalt: es war Helene als Himmelskönigin.

Die feuchten, grauen Formen belebten sich im vollen Lichte, als Vico den Vorhang wegzog. Helene schien der Sonne entgegen zu lächeln. Frau Gertrud zog rasch den dichten Schleier über's Gesicht; sie wollte ihre Erschütterung nicht sehen lassen.

Der Bildhauer hatte sich weggewendet; er trat erst hinzu, als Wernhard ihm rief.

„Verkaufet mir dieses Bild, Meister Ludowico“,sagte er.

„Darf ich es für Euch ausführen, Don Wernardus?“frug dieser.

Das war nicht nach des Handelsherrn Sinne; im Gegentheil, ihm lag daran, daß der Italiener die Stadt rasch verlasse. Hatte doch Ann-Gertrud, das frühreife,störrige Kind, eben erklärt, daß sie entschlossen sei, Vido zu heirathen.„Ich werde dies Bild durch einen Andern ausführen lassen und biete Euch, Meister Ludowico, diesen Ersatz!“

Er streckte ihm eine Börse entgegen, zwischen deren Maschen Gold glänzte.

Wernhard hatte sich nur mit Widerstreben zu diesem Opfer entschlossen; er meinte zu seiner Frau:

„Der Italiener hat ja bei uns seinen besten Lebetag gehabt; mein Weinkeller weiß davon zu erzählen.“

„Ei, schäme dich!“ sagte Gertrud, „schickt es sich für einen Handelsherrn, wie du, zu feilschen?“

Diese von Gertrud erlesenen 200 Dukaten hatte er dem jungen Manne hingereicht. Wernhard richtete sich stolz auf. Solche Großmuth war nicht alltäglich.

Wernhard! du warst kein Menschenkenner!

Die Börse flog blitzschnell über den Steinboden des Gemaches. Lnudowico griff nach einem schweren Werkzeuge das Madonnenbild sank unter der Wucht des Wurfes zusammen.Das geschah alles in einem Augenblicke.

Leiser Weheruf von Gertruds Lippen. Wernhard aber faßt einen schweren Hammer und tritt mit entsetzlichem Blicke vor den Bildhauer, der mit gekreuzten Armen,sprühenden Auges, mit langsamer, verächtlicher Betonung spricht: „Krämerseele!“

Gertrud hatte sich zwischen Beide geworfen; den Schleier über die Trauerhaube zurückgeschlagen, stand sie wie eine zürnende Göttin vor ihrem Manne. Er ließ sich fortziehen.

Auf der Schwelle lag die verschmähte Börse; schnell bückte er sich und hob sie auf; die vorangeschrittene Gertrud sah es nicht; auch Vico nicht.

Der Bildhauer stand in der Mitte seines Gemaches:die Sonne sank und die glühenden Töne des herbstlichen Abendhimmels flutheten durch das Fenster. Ueber die zerschmetterte Lehmfigur hatte er das Tuch geworfen;ein wahres Leichentuch; er konnte nicht länger hinschauen.

Es giebt ein Uebermaß des Schmerzes, das gefühllos macht. So stand er lange, wie in Stein verwandelt.Plötzlich umfingen ihn Mädchenarme und Ann-Gertrud hing an seinem Halse.

„Komm, lieber Vico“, sagte sie in leidenschaftlicher Aufregung, „ich fliehe mit dir!“

Er konnte es nicht begreifen, bis daß ihm das Mädchenmittheilte, daß ihr Vater tobe und ihn festnehmen lasse, wenn er nicht augenblicklich Basel verlasse.

„Ich gehe mit dir!“ wiederholte sie.

Ludowico lachte spöttisch auf: „Ihr seid von Sinnen,Jungfräulein! Geht heim, Donzella, man wird Euch vermissen!“

„Das ist gerade meine Absicht!“ erwiederte sie heftig.„Sie sollen daheim sehen, daß ich meinen Willen durchsetze!“

„Welchen Willen?“ frug der Künstler gleichgültig.

„Dich zu heirathen, Vico!“

„Mich heirathen! ha! ha! Dieser Plan entsprang wohl in Eurem Kopfe, Jungfräulein!“

„Es scheint so“, sagte sie altklug. „Vater hat einmal gesagt, ich könne nun an Helenens Statt Herrn Abel heirathen. Habe ich dann nicht ebenso gut das Recht,dich, Vico, zum Gemahl zu nehmen?“

„Logisch richtig!“ sagte der junge Mann mit einem seltsam rachgierigen Ausdruck. „Ich möchte aber doch wissen, Donzella mia, warum Ihr mich lieber mögt,als Euern blöden Herrn Abel!“

Ann-Gertrud schwieg. Vico ging heftig auf und ab.„Nun?“ frug er das junge Mädchen.

Sein Ausdruck beängstigte sie; war's Haß oder Liebe?das wurde ihr nicht klar. Sie mußte die Wahrheit sprechen.

„Warum?“ wiederholte sie und sprach mit frommem Ernst: „Weil ich dich liebe, Vico!“

Sie schaute offen, trotzig zu ihm auf; er war wieder blaß geworden; das Auge hatte den brennenden Glanz verloren und die Stimme klang vor Beben tief:

„Jungfräulein! Euer guter Engel war mit Euch.Ich wollte Euch unglücklich machen, wie Euer Vater an mir gethan hat. Aber um Eurer Liebe willen kehret zurück in das Elternhaus!“Er drängte sie von sich weg.

„Gehet, gehet! Ihr habt kindisch geirrt. Doch habt Ihr einen Zufluchtsort. Fliehet zu Eurer Mutter! ...Ach! daß ich noch eine Mutter hätte!“

Er setzte sich auf einen Stuhl und weinte; zum ersten Mal, seit er die Geliebte verloren.Ann-Gertrud faßte es nicht; wenn er weich und traurig war, warum stieß er sie von sich. Sie mußte ihn trösten.

„Lieber Vico, laß mich bei dir bleiben; ich will ja deine Magd sein!“

Statt aller Antwort ging er über die Schwelle und rief die Thorwartsfrau, die ihm aus verdächtiger Nähe antwortete.„Liebe Frau“, sprach er, „bereitet Euch, das Jungfräulein, welches hier seine Eltern suchte, mit der schuldigen Ehrerbietung heim zu geleiten!“

Ann-Gertrud schaute ihn mit Zorn und Trauer an;sie entriß ihm die Hand, die er zum Abschied küssen wollte. „Vielleicht gedenket Ihr später einmal dieser Stunde,Jungfrau Ann-Gertrud. Lebet wohl!“

Ohne sich umzuschauen, ging sie mit der Thorwartin auf die dunkelnde Gasse hinaus.

Einige Jahre später erhielt Frau Gertrud eine umfangreiche Kiste. Wie brummte der Herr Gemahl über die ungewöhnlichen Transportkosten!

Sie enthielt eine reizende Kinderbüste in Marmor,ein verjüngtes Abbild von Helenens Zügen. Lange,lange stand sie davor.

„Wie treu er sie geliebt hat!“

Sie bestellte ein schönes Postament. Wernhard knurrte:„Dummes Zeng!“

Er staunte, als ein Kenner ihm große Summen dafür bot.

Vico war indessen ein berühmter Mann geworden.

Zuletzt wurde er derb gegen den unermüdlichen Kunstfreund: „Wird nicht verkauft! ich sag's Euch zum letzten Mal!“ Zu Gertrud meinte er schmunzelnd:

„Um solchen Preis können wir's selber behalten.Freut mich doch, daß der Italiener ein ganzer Kerl geworden ist.“

IV. Abel, der Gutherzige, beweinte Helene wie eine wirkliche Braut und bereitete dadurch der Abelsmutter,die mit Ungeduld seiner Verehelichung entgegensah, viel Kummer.In seiner Trauer wollte er von ihren neuen Plänen nichts hören.Die kluge Frau rechnete: Viele Tropfen höhlen einen Stein, geschweige denn ein liebebedürftiges Jünglingsherz.Unverdrossen sang sie dasselbe Lied, bis endlich vor den frischen, glänzenden Farben, mit denen sie AnnGertrud schmückte, das blasse Bildniß Helenens zurücktrat.

Abel war so weit, daß er mit heißen Wangen zuhörte, wenn die Mutter von Ann-Gertrud sprach; jetzt mußte er das Mädchen selber sehen. Sie sprach weniger von ihr, sandte ihn aber oft mit Aufträgen zu Frau Gertrud.

Was sie erwartete, geschah; Abel schaute die Zukünftige mit andern Augen an als früher.

Viel zu langsam für die Abelsmutter! Ihr bibelkundiger Gatte hatte sie zuweilen „Treiber Jehu“ geheißen: sie war eine resolute Frau, die gerade auf's Ziel losging.„Du mußt einen Anlauf nehmen, Abel, sonst schnappt dir ein andrer die Ann-Gertrud weg! Machst es gerade wie dein Vater. Der wär' auch überall zu kurz gekommen, wenn ich nicht für ihn gesorgt hätte.“ „Ach Mutter, wer weiß, ob sie mich mag? ich bin klein neben ihr; sie ist so groß und prächtig.“

„Dummer Abel! steig' nur auf deine Geldsäcke!dann bist noch größer als sie! Ihr werdet“, sagte sie voll Eifer, „Ihr werdet miteinander die schönsten Kinder in der Stadt haben.“

Die Mutter bereitete alles vor. Wernhards waren in Uebereinstimmung. Bei Ann-Gertrud war man nie ganz sicher, wessen man sich zu versehen hatte.

Es mußte gewagt werden.

Die kleine, runde Abelsmutter entwickelte eine fieberhafte Thätigkeit, den Bräutigam in spe herauszuputzen.Nun stand er da im reichgestickten Kleide, kostbaren Spitzenjabdt und Manschetten. Die weißen seidenen Strümpfe ließen die rosige Farbe der Haut durchschimmern;am feinen Fuße prangte ein zierlicher Schuh von demselben blauen Seidenstoffe wie das Kleid. Kostbare Schnallen schmückten ste. Die Knöpfe am Anzuge waren von Silberfiligran; diejenigen der Weste von Saphiren.

Als sich der junge Mann im Spiegel betrachtete,mußte er der Mutter Recht geben; wenn er nicht gut empfangen wurde, war's seine Schuld nicht.

Der Friseur erschien, brannte die Locken um seine Stirn und band die Haare des Hinterkopfes in einen Zopf; Abel hatte einen langen, vollen Haarwuchs wie ein Mädchen.

Dann stellte er sich im Pudermantel in den Hausflur, bedeckte mit dem einen Ende der weißen Hülle sein rosiges Gesicht; der Haarkünstler tauchte seinen langstieligen Quast in den zur Linken hangenden Puderbeutel und umkreiste damit den Jüngling.

Wie er da stand, leicht nach vorn geneigt und das Gesicht verhüllt, konnte man ihn für eine Bildsäule der Wehmuth halten.

Die weiße Wolke, die der Friseur durch Anschlagen gegen seine hochgehaltene Hand aus dem unförmig großen Quaste heraustrieb, umgab ihn wie Rauch.

Die Abelsmutter trippelte rings um ihren Sohn;ihre lebhafte Bewunderung war jedoch nicht im Stande,des Freiers Bangigkeit zu vermindern.

„Ach Mutter! die Rede für die Eltern weiß ich auswendig, so oft hab' ich sie memorirt! Aber was soll ich zu Ann-Gertrud sagen?“

„Geh, geh nur!“ schob sie den Sohn buchstäblich vor sich her, bis er den Tritt des eleganten Wagens betrat,„das wird sich von selber machen!“

Ann-Gertrud war zu praktisch, um einer Chimaire nachzuhangen.

Der schöne Italiener war verreissst; eine andre Aussicht trat zu verlockend an sie heran. Die Freundinnen neideten sie nicht wenig um die vielbedeutende Gunst der Abelsmutter.

Es machte ihr aber Vergnügen, die Umgebung in Ungewißheit zu erhalten.

Während man im Prunkgemache den Freier empfing,schleifte sie ihre meergrüne, mit gelber Seide gefütterte Schleppe über die lohbedeckten Gartenwege, pflückte einen Strauß von blühenden Rosen, bückte sich hin und wieder,um ein dustendes Zweiglein oder eine weiße Blüthe beizufügen, und rief zur Mutter hinauf, die am Fenster winkte: „Abel soll herunter kommen!“

Es dauerte nicht lange, so erschien er zwischen den hohen, seltsam geschnittenen Taxuswänden, welche eine durch alle Terassen laufende Allee bildeten. AnnGertrud stand auf einem der untern Absätze und lächelte ihm

Er faßte unter ihrem gütigen Blicke neuen Muth.Vorsichtig die Stufen hinabsteigend, begann er:

„Theuerste Jungfrau! an diesem festlich .......

„Larifari!“ unterbrach sie ihn. „Siehst du diesen Strauß? Für wen hab' ich ihn wohl gepflückt?“

„Soll ich der Glückliche sein!“ frug Abel und streckte die Hand darnach aus.

„Nein, so leicht bekommst ihn nicht!“ schäckerte AnnGertrud, indem sie ihre Schleppe zusammenraffte und einige Schritte rückwärts hüpfte.

Abel war oftmals daran, den Strauß zu erhaschen:er stellte sich auf die Fußspitze.

Schon hatte er ihre Hand erreicht, da wich ein loser Stein am Terassenrande unter seinen Füßen und er fiel in seinem feinen Bräutigamsanzuge in ein Beet mit Suppenkräutern hinab.

Es war nur um wenige Stufen tiefer; doch hatte er den Kopf an die Mauer geschlagen und eine feine blutige Rinne lief über seine Wange. Scham und Verlegenheit preßten ihm eine Thräne aus.

Ann-Gertrud war sogleich bei ihm und stillte mit ihrem Taschentuche das rinnende Blut.

„Armer Knirps“, sagte sie mit theilnehmender Stimme.Am Regenfaß netzte sie ihr Tuch und wusch damit die Flecke am Jabot des Bräutigams; dann bosselte sie mit ihrer warmen Hand an seinem Anzuge und an seinem Haare herum, um alles wieder in Ordnung zu bringen. Er ließ es wie im Traume geschehen.

Als sie ihm, wie einem Kinde, das lavendelduftende Baptistetuch aus der Tasche gezogen und seine Stirne verbunden hatte, setzte sie sich ganz nahe zu ihm.

„Bist du böse auf mich?“ flüsterte sie, und ihre Rehaugen schimmerten weich.

Er antwortete mit einer Gegenfrage.

„Ei, Närrchen“, erwiederte sie, „würde ich dich nehmen, wenn ich dich nicht gern hätte?“

Ann-Gertrud ging hinauf: „Mutter, schick' Abels Kutscher heim! er soll uns Nachmittags abholen: Abel bleibt hier zum Essen.“

„Kind!“ rief die Mutter erschrocken, „auf einen Bräutigam bin ich heut nicht eingerichtet; es ist auch ganz gegen den Brauch.“

„Wir bleiben bis z'Immis im Garten“, berichtete Ann-Gertrud rücksichtslos und nahm eilig etwas aus einem Schränkchen.

Sie rauschte schon die Treppe hinab, als Frau Gertrud

3 auf einen Stuhl sank und seufzte: „Herr du meines Lebens, welch ein Kind!“

Sie griff schnell zum Kochbuche, wo sich noch einige Recepte für rasch zu bereitende Nebenplättchen befanden;dann ging sie selbst zur Hausthüre, vor welcher der Kutscher auf dem Galawagen steif und vornehm auf dem Bocke saß.

Sie gab ihm einige Aufträge für seine Herrschaft.

Als er zurückfuhr, fand die Abelmutter die Kutsche leer; sie sah fragend auf.

„Wir haben allewege keinen Korb geholt!“ meinte der Wagenlenker treuherzig lachend.

Die Braut war rasch in den Garten geeilt; dort klebte sie geschickt ein rosa Heftpflaster auf die trockene Wunde, legte eine gepuderte Haarlocke darüber und gab ihrem Bräutigam einen herzhaften Kuß:

„So, mein Schatz! jetzt sieht's kein Mensch!“

Ann-Gertrud aß mit ihrem gewöhnlichen gesunden Appetit; nicht so Abel, der vor Glückseligkeit kaum etwas genießen konnte.

Aehnlich ging es seiner Mutter daheim; sie flog alle Augenblicke an's Fenster, um zu sehen, ob nicht Abel unversehens heimkomme; ach! sie traute ihm noch nicht recht.

Als die Kutsche vor dem Hause hielt, zitterte die alte Frau so heftig, daß sie sich setzen mußte.

Das Brautpaar trat ein. Nun erst kam wieder Leben in die Abelsmutter: sie fiel dem Sohn in die Arme.

Er flüsterte ihr zu: „Ich bin unmenschlich glücklich!“ 67 Dann küßte sie die sich herabneigende Braut. Ihre Augen konnten von dem schönen Mädchen nicht loskommen.

Jetzt, wo Ann-Gertrud zu ihrer Familie zählte, kam sie ihr noch tausendmal kostbarer vor.

Ann-Gertrud saß gelassen vergnügt auf dem Sopha;neben ihr der strahlende Bräutigam. Wie es mit.der Brautwerbung gegangen, wollten Beide nicht berichten,und doch lag der alten Dame so viel daran. Sie merkte,daß sie in dieser Stunde ihre Macht an eine Andre abgetreten hatte.Mit einem Brautpaare, das nicht von seiner Liebesgeschichte plaudern will, ist wenig anzufangen. Die Beiden hielten sich an den Händen und guckten sich verklärt an.

Die Abelsmutter konnte nicht so ruhig dabei sitzen.

Sie öffnete eine reich geschmückte, mit Messing beschlagene Servante und hob aus seiner Nische einen schwerfälligen Lederbehälter.Es war der Familienschmuck, schon Jahrhunderte alt:Eine prachtvolle Gürtelkette mit Edelsteinen, Armbänder und ein funkelndes Halsband. Sie mußte letzteres versuchsweise der Braut anlegen.

Die Rosetten und Behänge mit ihrer massiven Fassung lagen wie ehrwürdige Reliquien auf dem zarten Busen des jungen Menschenkindes. Die Abelsmutter hatte den Schmuck nie tragen können; er war auf eine königliche Figur eingerichtet.

Herrn Abels Comptoirstuhl blieb unbesetzt; denn das Brautpaar flatterte von Fest zu Fest. „Man muß sorgen“, sagte Wernhard, „daß die Hochzeit bald stattfindet; der junge Maun thut nichts mehr.“

Frau Gertrud sträubte sich aber gegen das Eilen;DVD

Sechs Nätherinnen saßen Tag für Tag in einer Hinterstube, zerschnitten das feine Linnen und ließen die Nadel vom Morgen bis zum Abend auf- und niederfliegen.

Das war ein Geschnatter, welches nur dann verstummte, wenn die Brautmutter in's Zimmer trat und die Löchlesäume, die Steppnäthe, die Gegenstiche und die fein überwendligen angenähten Spitzen prüfte.

Herr Wernhard schalt täglich über die Bande, welche seinen Schreibern schon seit einem Vierteljahre die Köpfe verdrehte; wenn er einen vermißte, brauchte er bloß im Hofe nachzusehen; da fand er ihn gewiß, an die Fenster hinauf äugelnd.

Die Hochzeit wurde mit großem Pompe gefeiert.

Alles lief zusammen, um die Braut und ihre Toilette zu sehen. Ihr Gewand, ein Geschenk des Bräutigams,war schon wochenlang das Tagesgespräch. Es war aber nicht so auffallend; so meinten wenigstens Einzelne, die nicht begriffen, daß man zu einem solchen Brautkleide eines Malers bedurfte.

Abel hatte es nämlich durch einen berühmten Künstler vorzeichnen lassen.

Die Toilette war einfach; doch kostbar.

Ein Einsatz von Silberstoff von der Büste bis auf 69 die Füße, von einem Besatz gelblicher, niederfallender Spitzen eingefaßt. Zur Seite bauschte sich der weiße Doppellevantine des Kleides, in welchen ein zartes Blumenmuster mit Gold gestickt war und in einer faltenreichen,mit schmalem Goldsaum eingefaßten Schleppe endigte.Leicht anliegende, sich an Taille und Hüften schmiegende Form.Das Haar war ansnahmsweise nicht gepudert; in seinen goldschimmernden Wellen lag ein schmales Myrthenkränzchen wie hingeweht, während ein Tuff Orangeblüthen den gelblichen Spitzenschleier festhielt.

Ein ähnliches Spitzengewebe deckte die Brust.

Ann-Gertrud hatte einen gesunden, starken Teint; die Spitzenfarbe gab, was ihr noch fehlte, den duftigen,aristokratischen Hauch. Es war ein Zusammenwirken von Schönheit und Geschmack.

Herr Abel war trotz der Korksohlen in den Schuhen ein wenig unscheinbar neben der herrlichen Braut: Was lag ihm daran?

All sein Sinnen und Denken war auf Ann-Gertrud gerichtet; an ihren Bewegungen hing er mit dem Entzücken eines Musikenthusiasten, der von dem Rythmus eines Tonwerkes hingerissen ist.

Sein Gesicht strahlte, wenn sie ihn anschaute; war sie ihm entzogen, fühlte er sich wie Einer, dem die Sonne untergegangen ist.

Die Abelsmutter konnte sich vor Stolz und Freude nicht fassen; sie sprang von einem zum andern, drückte allen die Hände und ihr runder Kopf nickte unaufhörlich;sie mußte ja alle die Glückwünsche, Worte und Blicke erwiedern.

Unter allen war Ann-Gertrud die Glücklichste, obschon sie ziemlich gleichmüthig aussah.

Wie eine Rose die glühendsten Farben in ihrem Innern verschließt, barg sie ihr seliges Empfinden in der Tiefe ihres Herzens.

Ihrer verstorbenen Schwester bräutliches Verhältniß hatte ihrem Gemüthe einen tiefen Eindruck hinterlassen.Geliebt zu werden, wie einst Helene, war ihr höchster Wunsch.

Glückliche Ann-Gertrud! Alles wurde ihr gewährt;nicht nur Ansehen, Reichthum, gegen welche das Kaufmannskind nicht gleichgültig war, sondern auch die schwärmerische, selbstvergessende Anbetung Abels.

Und sie liebte ihn wieder mit der keuschen Einfalt und kernigen Kraft ihres jungen Herzens.

Abel, in dessen Seele ein ganzer Strom von Entzücken auf und nieder wallte, fand keinen Geschmack mehr am Comptoirstuhl; das war der erste Schatten, welcher auf die Glücklichen fiel.

Der praktische Wernhard tadelte, mahnte, schalt zuletzt.

Die Abelsmutter konnte es nicht ertragen; in ihrer Empfindlichkeit kündigte sie den Austritt ihres Sohnes aus dem Geschäfte an.

Ein Bruch war geschehen, der bei dem harten Kopfe des Handelsherrn unheilbar blieb. 71 Wie abweisend sich die Baslerische Gesellschaft gegen Alles zeigte, was von draußen kam, konnte sie sich doch nicht vollständig gegen alle Einflüsse abschließen. Einzelne Familien hatten französische Vergnügungssucht und einen schwachen Abglanz der Hofsitten im ernsten Basel eingeführt.Ann-Gertrud, welche von ihrem Gatten mit außergewöhnlichem Luxus umgeben wurde, galt als die Krone der Gesellschaft.Wernhard gerieth außer sich: „Der Abel, der unsinnige Mensch, ruinirt sich, und die Alte ist noch verrückter als die Jungen!“

So übertrieben, wie es dem sparsamen strengen Vater erschien, war's freilich nicht; es lag mehr an der Umständlichkeit, womit alles vorbereitet wurde.

Von der Toilette allein zu reden: da waren die hohen Frisuren ein Werk von vielen Stunden.

Hatte man eine Einladung zum Balle erhalten, mußte der Friseur sogleich bestellt werden; vorerst zu einer Conferenz, in welcher der künstliche Aufbau genügend besprochen und der Schmuck gewählt wurde; dann zu einer mehrtägigen Prozedur des Brennens und Wickelns.Am festlichen Tage war die Frau selbstverständlich durch die Sorge um ihre Toilette so in Anspruch genommen, daß alles Andre Nebensache wurde. Sie saß vor dem Spiegel zwischen Riechwassern, Pomade- und Schminktöpfchen, schwärzte die Augenbrauen, rieb die Zähne mit Pasten, kurz, sie widmete ihrer Erscheinung jede nur erdenkliche Sorgfalt.

Wenn eine Dame den Haarkünstler nicht rechtzeitig bestellt hatte, mußte sie sich mit dem Gehülfen begnügen;oder gefiel ihr das nicht, ließ sie sich vom Meister schon einen oder zwei Tage vor dem Feste frisiren.

Die armen Friseure sahen aus wie Schatten, weil sie mehrere Nächte vor dem Balle ihren Schlaf opfern mußten.

Wenn wir die Unbequemlichkeit bedenken, welcher sich die Menschen um einer Reihe geselliger Stunden willen aussetzten, stellen wir uns vor, sie müßten einen ganz besondern Genuß davon gehabt haben.

Wer fände jetzt noch den Muth, eine oder zwei Nächte schlafend auf dem Stuhle zuzubringen?

Dann mußte man sich in der Kutsche kauernd zwischen den Sitzen niederlassen, um die hohe Coiffure und den Putz nicht zu verderben.

Auf diese Weise konnte nur eine Person auf's Mal befördert werden. Besaß man nicht zwei Gespanne,wartete Madame in der Garderobe, bis der Gemahl angelangt war.Am zweiten Tage folgte gewöhnlich wieder ein Fest,um die vielen Umstände und Kosten der Toilette besser auszunützen.

Doch tanzten unsere Altmütter ohne Ermüdung Menuett und Gavotte, machten ihre tadellosen Verbeugungen à la cour, ließen sich zierlich an den Fingerspitzen führen, so frisch und heiter wie am ersten Abend. 78 Dabei wurde ohne Prüderie wacker gegessen und getrunken und Süßigkeiten mit süßen Redensarten getauscht.

„Ma charmante, heut sind Sie mignonne! wie deliziös diese frischen Rosen in Ihrem Haar! .... Ach dieser herrliche Schmetterling! ... Ihm gleich, der an die schönste Blume gefesselt auf und nieder schwebt ist Ihr Servitour, Nadame!“ Der Cavalier legt die Hand schmachtend an's Herz und macht eine tiefe Reverenz.„Auch ich, ma toute belle, ma rose, ich kann von Ihnen nicht lassen!“ ....

Trotzdem sehen wir denselben Schmetterling eine Minute später um eine andre Blume schwärmen. Ueberall wird der Zungenfertige mit liebenswürdiger Aufmerksamkeit angehört; denn er ist den Jüngeren ein Vorbild des guten Tones.

Ann-Gertrud wurde sehr gefeiert, nicht allein um ihrer Schönheit und Eleganz willen, sondern hauptsächlich wegen ihres frischen Geistes, der den herb aromatischen Duft der Waldkräuter ausströmte.

Sie sprühte zuweilen Funken, die plötzlich wie eine Sternschnuppe das Auge blendeten und doch nicht wiederholt werden konnten.Die Knappheit ihres Ausdruckes, die kecke Komik und Naivität machten sie zu der geistreichsten Erscheinung der damaligen Gesellschaft.

Abel, der sich die einzige Lebensaufgabe gestellt, seine Frau zu sindieren, und sie nun durch und durch zu kennen glaubte, wurde oftmals durch ihre ungeahnten Einfälle aus der Fassung gebracht.Ann-Gertrud war ein Original.Sie las nicht; das thaten die wenigsten Frauen damals, und doch kam sie nie in Verlegenheit. Klarer Verstand und Mutterwitz waren ihre Lehrmeister.

Mit der Orthographie hielt sie es wie ihr Vater;das heißt, sie schrieb, wie's ihr gefiel; die Wörter, die ihr wichtig vorkamen, begann sie mit einem großen Buchstaben: die Grammatik konnte dabei nicht zu Ehren kommen.Sie war das Ebenbild Wernhards und hatte dazu Gertruds Klugheit geerbt.Ihre gerade, ehrliche Weise lernt man am besten aus ihrem Briefe kennen. Der Mutter, welche sie nur selten sehen durfte, schrieb sie:„Lieb Müeterlin

Dein Verstoolen briefflein hat mir der Liebe Abel gebracht, Ich habs an Mein Herz Gedruckt als wenns lieb Müeterlin Selber wäre, Ich kann doch Nicht zum Vatter kommen und Abbitten, weil Ich Nichts Unrechz gethan habe und leid auch nicht daß Mein Lieber Schaz-Abel vom vatter Angeschnauzt wird. Die abelsmutter hats einbrokken Sie soll es auch Aufessen.

Mir tut sie Alles zu gefallen was ich Mag, der Abel auch, Das ist die hauptsach. Sag dem vatter,das Ann-Gertrudli hab Ir hagebiechen buggel vom 75 Im Selber g'Erbt, ehr thäts hungern und bettlen lauffen als um pardon Anhalten.

Ich hab Dich So lieb, daß ich Alles um Dich thete, nur nicht falschheit reden, daran mießt Ich Verstikken.Die Abelsmutter ist Leidig weil Keine kinder kommen; wir zwei sind Zufrieden so Unser Einzig kummer ist, daß Liebs Mueterlin so selten aufs guetli kommt. Nechsten Mittwoch sind wir Allein dort Abel und Ich. Komm zu Deiner Ann-Gertrud.“

Wernhard hatte, vom Zeitpunkt seiner Verlobung an,mit Gertruds Vater täglich nach dem Essen ein Spielchen gemacht. Keine Witterung konnte ihn von diesem täglichen Ausgange zurückhalten.

Der alte Herr war Wittwer, führte jedoch ein stillvergnügtes, behagliches Leben mit seiner jungen Adoptivtochter, Claire.

Das Mädchen hatte ein liebreizendes Gesichtchen und ein sonnig helles Gemüth.

Die ganze Familie hielt sie lieb und werth, am meisten aber Frau Gertrud, welche die Pflegeschwester gar gerne mit ihren wilden, stürmischen Buben beglückte. Claire wußte so frisch und heiter mit ihnen umzugehen, daß sie in ihrer Nähe stets gesittet waren, und weder Risse in den Kleidern, noch Beulen und Löcher in den Köpfen heimbrachten. Wernhard mochte das junge Mädchen auch wohl leiden; zuvorkommend kam sie ihm stets entgegen und zeigte so viel bescheidene Freude über seinem Kommen,daß er nicht umhin konnte, sich ritterlicher zu zeigen, als es sonst seine Gewohnheit war.

Claire sah wenig jüngere Männer; ihr machte der schöne, stattliche Wernhard Eindruck und sie schwärmte im Stillen für ihn. Sie kannte ihn nur von der bessern Seite.

Frau Gertrud gebar noch einen Knaben. Welcher Schmerz für die Eltern, die sich auf ihre schönen,gesunden Kinder viel zu Gute thaten: der Kleine kam mit verkürztem Beinchen auf die Welt.

Doch war es nur der Anfang einer trüben Zeit:ein Unglück kommt nie ällein. Gertrud, die schöne,blühende Frau, kränkelte.

Wernhard hatte damals dem Schwiegersohne Abel sein eingelegtes Kapital zurückgezahlt; er hätte es nicht gebraucht, denn die jungen Leute hofften im Stillen noch immer auf Versöhnung; aber sein Stolz litt nicht die Spur einer Verpflichtung Jenem gegenüber.

Der Handelsherr hoffte mit dem Vermögen des Schwiegervaters, der inzwischen gestorben war, jene Opfer wieder gut zu machen. Es zeigte sich indeß, daß ihm nur die Interessen und nicht das Vermögen selbst zu Gebote standen.

Der alte Herr kannte den Familiencharakter zu gut,um seine Enkel nicht vor der väterlichen Despotie sicher zu stellen. Dazu kamen einige ungünstige Geschäftsjahre:

AnnGertrud besuchte heimlich die Mutter; sie konnte diese aber nicht pflegen. Das that Claire, die seit des Pflegevaters Tode wie ein tröstender Engel am Leidensbette Gertruds stand. Sie richtete der Kranken Geist auf, sorgte für die Bequemlichkeit Wernhards und trug den armen Nestling Matthis auf den Händen.

Die scheidende Mutter bat dringend, Claire möchte ihre Stelle vertreten; daß sie mit diesem Gelöbniß ein so schweres Schicksal auf sich laden würde, ahnte die Jungfrau nicht.

„So viel Herzeleid muß auch den Besten aus dem Geleise bringen“, entschuldigte sie, wenn Wernhard ihr daheim anders erschien, als sie sich vorgestellt hatte.

Für egoistische Männer ist es Nothwendigkeit, daß sie durch beständige Ansprüche und Forderungen zur Gewöhnung der Liebenswürdigkeit angehalten werden.

Frau Gertrud hatte ihren Bären, wie sie ihn scherzweise nannte, gleich am Beginn ihrer Ehe durchschaut;sie wußte, daß er ihren Werth nach den Opfern schätzte,die sie ihm kostete, und ließ ihn daher an einem kurzen Fädchen zappeln.

Kein Tag verging ohne Besorgung, ohne daß sie seinen Rath beanspruchte; er wunderte sich oft, wie es Gertrud nur machen wollte, wenn er nicht da wäre;das Bewußtsein seiner Unentbehrlichkeit that ihm so wohl.

Mit der frisch gebliebenen Jugendliebe drückte er ihr die Augen zu. Wenige Monate später führte er, Gertruds Wunsche gemäß, die junge Claire zum Altar.

Die zweite Frau war sanft, bescheiden, nachgiebig:Eigenschaften, welche der Handelsherr nicht ästemirte.Etwas Derbheit wäre ihm willkommener gewesen.

Claire liebte den noch so schönen Mann; war aber seiner Gegenliebe nicht sicher. Zaghaft und befangen trat sie ihm entgegen.

Wernhard gerieth mit erstaunlicher Schnelligkeit in Herrn Hanskaspers Fußstapfen und flößte der feinen Frau Furcht ein. Sie bebte, wenn sie seinen Schritt hörte, oder des Gatten Stimme plötzlich in ihrer Nähe erklang; und wenn er Abends spät aus der Weinstube kam, schreckte sie zuweilen schreiend aus dem Schlafe.

Das reizte ihn zum Zorne.

Der rohen Naturkraft imponirt allein Furchtlosigkeit und starker Wille

Die zweite Frau besaß diese Eigenschaften nicht: „Zu Gertruds Zeiten war er gebändigt; nun aber sähe er aus wie ein brülkender Löwe, der suchet, wen er verschlinge“, so meinte treffend die Abelsmutter.

Die rauhe Wirklichkeit machte die Illusionen in Claire's poetischer Seele welken, wie der Frost die Knospen des Frühlings; ihr blieb nur noch eine gedrückte Existenz zu leben.Wernhard sank immer tiefer. Er ließ sich von denen beeinflussen, die der armen Waise Erhöhung mit neidischem Blicke verfolgt hatten. „Allen Respekt vor Eurer Frauen selig“, sagte eine Gevatterin; „da konnte man zu jeder Zeit kommen:immer war sie heiter und aufgeräumt!“ Eine andre sprach mit süßlichem Tone und lauerndem Blicke: „Das hab' ich immer gesagt; so eine Frau wie Gertrud giebt's nicht mehr. Ach! das Hauswesen! da ging alles am Schnürchen!“ und die Hämische wiegte den Kopf mit bedenklicher, falscher Trauer.

Herr Wernhard mußte sich daraufhin natürlich besinnen, wo das Räderwerk des Haushaltes vielleicht eine Störung erweisen koönnte.

Er paßte um so schärfer auf; wenn man es darauf anlegt, findet man auch das Gesuchte.

Die Dritte sprach von der trefflichen Erziehung, welche die Kinder unter der ersten Mutter gehabt: „Mein Gott“, sprach sie, „so ne junge Frau kann mit einem großen Hausstand wie der Eurige nicht fertig werden;Ihr müßt halt recht Geduld mit ihr haben, Herr Wernhard!“

Und Wernhard, der immer klug sein wollte, merkte die böse Absicht nicht; er zog aus allen Reden einen bittern Stachel und wendete ihn gegen seine sanfte Frau.

Gertrud hatte ein Zaubermittelchen besessen, womit sie ein einbrechendes Unwetter plötzlich ableiten konnte:AV einer Delikatesse, die sie aus dem Hinterhalte ihrer Speisekammer hervor holte. Das Mittelchen hatte sich oft probat erwiesen. Gertrud verfügte aber über einen ansehnlichen Sparhafen von ihrer Mama selig; den besaß Claire nicht. Ihr Eigenthum, des Pflegevaters Vermächtniß, lag sicher in des Handelsherrn Pulte.

Peinlich in seinen Ausgaben, jede Kleinigkeit controllirend, verlebte Wernhard seine Tage bei verletzender Kälte gegen Claire und schnüffelndem Mißtrauen in alle seine Familienglieder.

Wenn er nicht zugegen war, drängten sich die Söhne um die Stiefmutter; in ihren Armen war das weiche Nestchen des kleinen Matthisle, der mit seinen ungleichen Beinchen auf sie zuhumpelte, wenn er sie weinen sah.Wie zärtlich der Kleine sich an sie schmiegte! Kam dann unerwartet der Vater in's Zimmer, so schrie er:

„Ihr fahrt ja auseinander wie eine Schaar Hühner,wenn der Fuchs kommt! .... Conspirirt Ihr gegen mich, schlechtes, undankbares Volk? .... Ihr könnt wohl nicht erwarten, bis ich die Augen zumache? ....“

Claire ging voll schmerzlicher Theilnahme auf ihn zu:in ihrem Herzen bat sie Gott um das rechte Wort. Der Gatte stieß sie aber weg:

„Verschone mich mit deiner Falschheit! Geh! ich kenne dich schon! .... Umsonst erschrickst nicht, wenn ich komme: das ist 8' böse Gewissen!“

Wer wollte sie wiederholen, alle die harten Worte?Und wer beschreiben, was die arme Frau im Laufe ihrer fünfzehnjährigen Ehe litt.

Sie hatte jedoch den rechten Zufluchtsort gefunden. Als Wernhard einer kurzen Krankheit erlag, konnte sie ihm alles verzeihen. Schluchzend stand die früh Gealterte am Sarge:

„Mein Wernhard, trotz allem hast du es doch gut gemeint! So lieblich und friedlich, wie du jetzt im Todtenbaume liegst, will ich mein Lebenlang dein gedenken!“

Sie legte ihre Hand segnend auf seine bleiche Stirn.

V.6 aher Söhne ließen die düstere Vorderseite des elterlichen Hauses niederreißen; mit den finstern, engen Einfassungen und der unheimlichen Aehnestube im Erdgeschoß verschwand zum Theile der starre Familiengeist.Lebenslust und Heiterkeit zogen ein und lachten aus den breiten Kreuzstöcken, und wo vorher Waarenballen in finstern, dumpfigen Räumen zusammengedrängt lagen,tummelte sich bald ein fröhlicher Nachwuchs mit herzigen blauen Augen und runden, rosigen Gliedchen.Großmama Claire wohnte mit Matthis im Nebenhause.Diese Räume waren für ein poetisches Stillleben wie gemacht; sonnige helle Stuben, breite Simse mit Fenstertritten; lauschige, dämmerige Winkel mit Lehnsesseln zum Geschichten-Erzählen.Claire hatte aus dem alten, in die Rumpelkammer verwiesenen Hausrath manches behäbige Stück gerettet und auffrischen lassen. Ihr Geräthe war von allen Formen: der hochlehnige,gothische Stuhl neben dem Tabouret mit den kreuzweis geschweiften Füßen; ein bockbeiniger, gebauchter Schreibtisch an derselben Wand, wo ein massiver holländischer Prunkschrank weit vorspringend in die Stube hineinragte.

Wer eintrat, empfand ein behäbig friedliches Entgegenkommen, als wären diese Gegenstände alle mit Seele begabt.

Wem es aber noch nicht heimathlich war, brauchte bloß die Großmama selber anzusehen, die in ihrem schwarzen Kleide, mit dem blüthenweißen Tülltuche am Blumenfenster saß.

Heiter blickten ihre schönen Augen unter dem breiten Haubenstreif hervor, der sich über ihrem Scheitel krenzte;V von Matthis, der sie nie verließ: „Du hast mich wie ein Vögelein, das aus dem Neste gefallen ist, aufgezogen“,sagte er oft, „das Vögelein verläßt seine Pflegerin nie.“

Die Enkelchen sprachen auch täglich ein; es war ein beständiges Kommen und Gehen.

„Großmama, liebe Großmama! bitte eine schöne Geschichte!“

„Omamal! bitte, bitte!“ klatschte die Kleinste mit;wenn sie auch nicht alles verstand, durfte sie doch auf der Großmama Schooß klettern.

Welche Geschichte wollt Ihr denn, Ihr kleinen Schmeichlerinnen? Etwa die von der schönen Schäferin?“X

„Ja, Großmama! Ja! Omama!“ echote das Schooßkind.

„Wißt Ihr mir noch zu sagen, wie die schöne Schäferin hieß und in welchem Lande sie wohnte?“

„Im Lande Arkadien“, riefen mehrere Stimmen,„und sie hieß Misette.“

„Richtig, Kinderchen! ihr Name war eigentlich Miosotys; das ist auf Deutsch: Vergißmeinnicht; weil der Rasen in ihrem Gärtchen ganz blau von diesen Blüthen war. Die übrigen Schäferinnen nannten sie aber Misette.Ihre Gespielinnen hießen Cyane, Lila, Rosa, Ilge,Viola. Ohne Neid liebten alle Misette, obgleich sie die Schönste war und auch das niedlichste Hüttchen besaß.

Das kleine Häuschen war von Holz und hatte nur ein Stübchen mit schneeweißem Bettchen und einem blanken Tisch. Der stand in der Ecke zwischen zwei Fenstern und rings darum eine Bank.

Noch schöner war das Gärtchen, das an den Berg gelehnt von drei Seiten eine grüne Hecke als Einfassung hatte. Vom Felsen herab sprang ein lustiges Quellchen in eine vertiefte Steinplatte und schlängelte sich als Abfluß durch den Rasen.

Ein kleiner Schuppen mit Strohdach nahm die Heerde wüährend des Unwetters auf; er war ganz zwischen Bäumen versteckt.

Das Reich Arkadien hatte keine Winterstuürme, wie wir. Jeden Tag konnte Misette mit ihren Schäfchen auf die Bergwaide ziehen. Wenn sie am Abend zurückkehrte, wusch sie ihr weißes

Linnenschürzchen, ihren breit umgeschlagenen Halskragen und die weißen Aermel; oder sie bereitete Käse, wozu ein glänzender Kupferkessel zwischen zwei Bäumen aufgehängt war. Manchmal röstete sie ihr Waizenbrod auf den Gluten..Misette nahm keine andere Nahrung als Milchspeisen und Früchte.Von den Gespielinnen hatte jede ihren Lieblingsschäfer,der ihr in frommer Unschuld. dienend zu Füßen lag.Misette hatte jedoch keinen Freund; dafüͤr schenkte ihr das Schicksal einen andern Gespielen.

Einst war eine fremde Schaar von Hirten und Heerden durch das Reich Arkadien gezogen und hatten auf der Heerstraße ein Lämmlein zurückgelassen, das erst einige Stunden alt war und nicht gehen konnte.Misette nahm es zu sich, pflegte es, und weil das Thierchen ein lockig weiß Fellchen hatte, nannte sie es Schneeflocke“. J . Auf, dem Berge, gegenüber von Misetten's Waide,war Brutto, ein häßlicher Ziegenhirt, mit seiner gehörnten Heerde. Fahle Haaxe hingen ihm in die Augen und seine Kleidung war ein struppiges Fell.Er schaute ünmer zu Misette hinüber, welche auf ihrem Rasensitze Schneeflöckchen im Arme hielt oder es wut Vindern und Blumen schmüctte e

Dann nahm er seine Schalmei und blies süße Melodieen, welche der schönen Schäferin in's Herz drangen;doch wenn sie ihn anschaute, wurde sie ihm wieder gram;nur das unschuldige Lämmchen antwortete auf seine Lieder; es konnte aber nichts sagen als: „bä ääh.“

Misette hatte noch andre Anbeter; einen Jäger mit einem großen Hüfthorn und einen stolzen Grafen, der mit dem Falken auf der Hand zur Jagd ritt.

Sie durften ihr aber nicht zu nahe treten; denn der Schäferstand hatte heilige Rechte in diesem Lande.

Bei Nacht legten sie Geschenke auf die Bank vor ihrem Hüttchen, der Jäger Vögel und Wild, der Graf Geschmeide und Stoffe. Aber Misette vertheilte alle Gaben unter die Gespielinnen.

Am Morgen, wenn Misette aufwachte, fand sie auch einen Topf Ziegenmilch, köstliche Früchte oder Beeren und schöne Blumen; sie wußte aber nicht, wer dies gebracht hatte.

Nur einmal war sie vom Klinken des Gartenpförtchens erwacht und sah durch die offene Thür eine herrliche Jünglingsgestalt im Mondschein stehen.Seither träumte sie immer von ihm; denn seines Gleichen war nicht unter den Schäfern.Brutto schaute traurig nach ihr, wenn sie unter den Ihrigen war. Misette blieb allein in der Mitte stehen,ihr Lämmchen Schneeflocke an einem Rosabande, in der andern Hand den Schäferstab, an dessen Schippe der Strauß geheftet war, welchen sie auf der Bank gefunden hatte. Die Gespielen bildeten eine Kette und sangen:„Die schönste Schäf'rin in dem Reich,

„Arkadier! kommt zu grüßen!

„Diese drei und diese drei,

„Sie fallen ihr zu Füßen ......“*)wenn sie das sprachen, faßten sich je drei Schäfer und drei Schäferinnen an der Hand, knieten vor Misette nieder und hernach kehrte jeder mit seiner eigenen Freundin wieder zum Kreise zurück.

Wenn Misette alle Paare geweiht hatte, zerstreuten sie sich und die Schäferin setzte sich traurig nieder. Sie trug ihr aufgeschürztes Festgewand von himmelblauer Seide und auf dem breiten Schaubenhute flatterte das neue Rosaband, das sie auf ihrer Schwelle gefunden.

Auf dem Berge schaute Brutto den Schäferspielen zu;er kannte das Band und die Blumen; denn er selbst hatte sie hingelegt, weil er jede Nacht ihre Schwelle küßte.

Die Zeit war noch nicht da, wo sie ihn erkennen sollte.

Da erschien erst der Jäger und warb bei den Schäfern um Misette. Er versprach, sie in sein schattiges Waldhaus zu führen. Aber Misette willigte nicht ein.

Dann kam der Graf auf seinem stattlichen Pferde mit Dienertroß. Er sprach: „Liebliche Schäferin, wende mir dein sanftes Herz zu und komm mit in mein Schloß!“

Misette wollte nicht Gräfin werden. Darüber war

*) Ein jetzt noch in Basel übliches Spiel. der Graf voll Groll gegen die Holde und ließ ihr bei Nacht den Liebling, „Schneeflocke“, rauben.

Trostlos irrte Misette auf den Bergen umher, weinte und zerriß sich die goldigen Haare. Brutto ängstigte sich,weil sie mit ihrer Heerde nicht erschien; er konnte kaum den Abend erwarten, wo er von seiner Pflicht frei war.

Gegen Sonnenuntergang sah er eine feine Gestalt zu sich heransteigen; sie war es selbst.

„O guter Brutto“, klagte sie, „wie bin ich unglücklich! Schneeflocke ist mir geraubt worden.“

„Schöne Schäferin“, sprach er, „ich werde nicht ruhen,bis ich dir dein Lämmchen wieder in die Arme legen kann. Gehe getrost in dein Hüttchen! entweder komme ich mit Schneeflocke oder du siehst mich nimmermehr!“

Misette brachte die halbe Nacht auf ihrer Gartenbank zu.

Auf einmal hörte sie Schritte: Brutto lag vor ihr auf den Knieen und legte das Lämmchen in ihren Schooß.Sie küßte es inbrünstig.

Nun erst schaute sie auf den Ziegenhirten, der noch immer vor ihr lag. „Ich will dich zum Gefährten nehmen“, sprach sie, „weil du so gut bist. Küsse mich,lieber Brutto!“Sie schloß aber die Augen, weil es ihr graute

Er küßte sie nicht.

Erstaunt blickte sie auf und that einen Freudenschrei.Der Hirte hatte sein rauhes Fell abgeworfen; die fahlen Haare lagen auf der Erde und Brutto war der wunder herrliche Jüngling, den sie beim Mondschein gesehen hatte.Brutto, eigentlich Seladon, galt für den schönsten und reichsten Heerdenbesitzer Arkadiens; er gab sich nicht zufrieden, daß ihn eine Schäferin wegen seines Reichthums und seiner schönen Gestalt nähme; er wollte allein um des guten Herzens willen geliebt sein. Darum hatte er sich häßlich, gering und dienstbar gemacht.

Als die Großmama schwieg, stürzten die Kinder mit Fragen über sie her:

„Hat Misette den schönen Jüngling genommen?“

„Wohnt er auch im Hüttchen?“

„Ist Schneeflocke noch bei ihnen?“

Und lachend antwortet Großmama: „Ja Kinder, und wenn sie nicht gestorben sind, wohnen sie noch dort, alle drei beisammen.“Zuweilen gab die Großmama Claire Extrafeste: ein solches war der Glückssack.

„Morgen, o morgen ist der Glückssack!“

Claire hatte Vorrath von lustigen Dingen geschaffen:Puppen mit ungeschlachten Armen und Beinen, solid in buntem Perse, eine großmächtige gedruckte Tulpe auf dem Latztheil, die andre auf der Hinterbahn des Kleides.

Bälle von roth, grün und gelbem Leder, gefüllte Bonbonnieren mit dem Bilde des Lällenkönigs, Wickelkinder von Lebkuchen, welche in der Magengrube ein goldnes Fingerringlein bargen, gedrechselte Büchschen mit Fingerhut und Nadelbehälter, Taschenmesser, Pfeifen mit silbernen Mundspitzen, Kreisel für die Buben. Es ist unmöglich, alle Herrlichkeiten eines solchen Glückssackes zu beschreiben.Der Sack war oben weit, nach unten wie ein Zuckerhut zugespitzt und mit Trottel versehen, die Oeffnung durch einen Fischbeinreif auseinander gehalten.

So hing er mit Schnüren an der Zimmerdecke.

Die Glücklichen, welchen ein Griff in diese Wundertasche vergönnt war, mußten den Tisch erklettern und ohne zu sehen, den ersten besten Gegenstand herausholen.

War das eine Schadenfreude, wenn einer der Buben die Tulipanenpuppe am Bein erwischt hatte! Er durfte sich jedoch durch Umtausch trösten.

Der liebe Gott schenkte der sanften Claire zum Ersatze für die unglücklichen Jahre ihrer Ehe ein reich gesegnetes und frohes Alter.

Sie wurde der geliebte Mittelpunkt einer zahlreichen Schaar von Enkeln und Urenkeln.

Matthis hielt treu sein Versprechen; er verließ sie nie. Er war der erste in der Familie, welcher Kunst und Poesie liebte. Seine ganze Zeit brachte er mit Aquarellmalen zu oder er las der Mutter aus den Lieblingsdichtern vor.

Ann-Gertrud konnte die Trauer nicht mehr ablegen.Nach ihrer Mutter Heimgang klopfte der Tod im eigenen Hause an. Zuerst starb die Abelsmutter. Ihr ward ein herber Schmerz erspart:

Düster standen die betagten Diener dieses alten, hochangesehenen Hauses beisammen: droben im Schlafgemach der Herrschaft rang ein junges, freudenreiches Leben mit den dunkeln Schatten des Todesthales.

Es mußte erliegen: der letzte Sproß einer stolzen Familie war dahin. Gertrud weinte nicht um Abel:der Schmerz hatte sie versteinert. Von allen, die sie besuchten, empfing sie nur Großmama Claire.

Einmal mußte es doch anders werden.

Was frugen die Menschen nach ihrem blutenden Herzen? war sie doch die gefeiertste aller Wittwen, schön,jung, unermeßlich reich. Wie weiland das Haus der Penelope, wurde das ihre nie von Freiern leer.

Unter den jungen Männern, welche ihr mit Verehrung nahten, wählte sie Balthasar, einen entfernten Verwandten und˖Freund ihres Mannes, zum Ritter. Er konnte ihre Trauer um den Geschiedenen theilen.

Zarte Freundschaft verband diese beiden jungen Leute.

Täglich besuchte er Ann-Gertrud; er brachte ihr Blumen und selbstgedichtete Verse; sie waren jener Zeit gemäß etwas langathmig. Eines davon blieb bis heute erhalten; es heißt:„Gottes schöne Natur, die Spenderin zahlloser Freuden.

„Sie die Gefährtin des Glücks (ruht ihr die Tugend im Arm)„Schafft in des Sterblichen Brust sich einen Tempel der Schöpfung,„Wo in der Tugend Asyl Freundschaft und Liebe sich eint.

„Wie dem verglimmenden Abendroth Hesperus Strahlen entglühen,„Wie in dem Zirkel der Kron' Gemma's Schimmerlicht glänzt „Also glüht an der Tugend Firmamente der Freundschaft J „Sonnenähnliches Licht aus der Verborgenheit Nacht.

Fühlst Du bei nächtlicher Weil, o Freundin beim Anblick der Sterne „Von dem düsteren Hier schmachtende Sehnsucht nach Dort;

„O dann öffne sich Dir der Freundschaft entzückender Himmel „Und die Erde, gewiß! ist Dir ein lieblicher Stern!“

Ob Gertrnd im Stande war, diese Arbeit nach Verdienst zu würdigen, wissen wir nicht. Jedenfalls blieb Balthasars zartes Liebeswerben nicht unerhört; sie wurde seine Gattin.Er hatte die Geduld eines Erzvaters bewiesen; das fünfte Jahr des Wittwenstandes ging zu Ende, als die Hochzeit gefeiert wurde.

Eine Dorffrau sprach einst mit höchster Anerkennung von ihrem Gutsherrn: „Er ist ein ganz niederträchtiger Patron.“ Damit wollte sie seine Herablassung rühmen.

In diesem Sinne sagte man von Balthasar: „ein gemeiner Mann.“ Er war voll Menschenliebe und ein eifriges Mitglied der Gemeinnützigen Gesellschaft und vieler anderer Vereine, welche zu damaliger Zeit die Besten zu den ihrigen zählten.

Nebst seinem humanen Wesen verehrte man ihn als einen der Gebildetsten; er lebte mit den deutschen Dichtern und Philosophen namentlich sehr vertraut.

Frau Ann-Gertrud kam aus dem Gleichgewichte. In ihrem elterlichen Hause hatten die Männer stets demselben engbegrenzten Wirkungskreis in der eignen Familie gelebt. Ihr erster Gatte Abel war ganz in ihr selbst aufgegangen.Nun mußte sie sehen, wie Balthasar über alle hinauswuchs.Zu seinem Standpunkte konnte sie sich nicht erheben:„Was gehn ihn alle diese dummen Menschen an?er hat's ja so gut bei mir!“

„Brauchst du ein Amt?“ rief sie erregt, als er ihr entzückt seine Ernennung zum Forstmeister des Baselgebietes mittheilte; „hab' ich nicht genug für uns Beide?“

Balthasar war glücklich über seine Anstellung. Welche Lust, Berg und Thal zu durchwandern!

Ein neuer Wind wehte über das dürre Feld der Poesie und führte die Geister aus der Hohlheit gemachter Empfindungen in die lebendige Natur hinaus. Dieser frische Hauch entströmte der Feder eines jungen Deutschen,Wolfgang Goethe.

Trotz seiner unbegreiflichen Gegensätze verehrte AnnGertrud ihren Gatten. Seine Sittenreinheit und Herzensgüte wußte sie wohl zu schätzen.

Der Ehebund ward durch blühende Kinder gesegnet;darin hielt die Forstmeisterin an der alten Familientradition fest.

Von dem, was draußen in der Welt vorging, erfuhr sie durch ihn wenig. Klug vermieden Beide den Austausch ihrer Ansichten.

Wenn aber der Gatte mit blitzendem Auge und glühender Wange heimkam und mit einer Stirn voll hoher Gedanken die gewöhnlichsten Dinge sprach, fühlte sie schmerzlich, daß sie nur im Vorhofe seines Heiligthums wohne.

Was ihn bewegte, erfuhr sie durch Andre. Es war der Nachhall des Sturmes, der in Frankreich das Alte stürzte.

Die Bastille fiel am 14. Juli 1789.

Flüchtige kamen in großer Anzahl durch Basel. Die Aengstlichen prophezeiten den nahen Untergang der Welt.

Später folgte die Kunde von des Königs Ludwig XVI.verunglückter Flucht. Kaum über ein Jahr später diejenige des Mordes, welcher an den Schweizer Leibgarden in den Tuilerien verübt worden.

Eim Schrei der Empörung und des Schmerzes entfloh von allen Lippen. Dann begann, in den ersten Septembertagen 1792, die Guillotine ihre blutige Arbeit.

Greuel folgten auf Greuel. Als sich der König mit den Seinen in den Schutz der Nationalversammlung begab, hatte sich das Lamm zum Wolfe geflüchtet. Ludwig und seine Familie wurden in den Tempel gebracht; mit ihnen dreihundert Getreue. Dann begann ein Massenmorden.Am 21. September 4792 wurde Frankreich als Republik erklärt.

Fast mehr als alle blutigen Ereignisse hatte die Einsetzung der Vernunftreligion die gesinnungstreue Forstmeisterin erschüttert ·

„Gott muß Feuer und Schwefel auf sie regnen lassen,wie auf Sodommund Gomorrha!“ riefssie in ihrer Entrüstunge: Ludwigs, des sanften Dulders Haupt fiel am 21. Jannar 1793. Er starb für die Sünden seiner Väter.

Man erzählt, daß an diesem Tage alle Frauen Frankreichs trauerten. Auch viele der Baslerinnen legten schwarze Gewänder an.

Marie Antoinette folgte ihm am 16. Oktober; mit ihr fiel eine große Zahl Märtyrer ihrer Sache.

Darnach gab es nichts Gräßlicheres mehr; man vernahm mit kaltem Blute, wie sich die Schreckensmänner in ihrer Wuth und dem von Mord erhitzten Wahnsinn selber vernichteten.

Das Schwert wendete sich gegen diejenigen, welche es erhoben hatten.

Obgleich sich die Revolution erst neun Jahre später bei uns vollzog, übten doch die Vorgänge im nachbarlichen Frankreich sogleich ihre Einwirkung.

Einer der ersten Schritte war die Aufhebung der Leibeigenschaft am 20. Dezember 1790.

In den neunziger Jahren wurde unsre Stadt durch Aufregungen und mancherlei Bedrückung heimgesucht. Ein französischer Gesandter nahm seinen Wohnsitz hier.

Dann begannen die Friedensverhandlungen zwischen Preußen und Frankreich. Der Baseler Frieden wurde endlich am 6. April 1795 unterzeichnet.

Bedeutende Persönlichkeiten erschienen in Basel, um Verträge aller Art festzusetzen. Auf einem Landgute vor dem St. Johannthor wurde Marie Therese Charlotte,Herzogin von Angoulême und Tochter des enthaupteten Königs Ludwig XVI., gegen französische Gefangene, diese in Riehen, ausgewechselt.

Man kann sich vorstellen, welch ein bewegtes Leben in unserer sonst so nüchternen Stadt herrschte.

Es kam noch schlimmer: die Belagerung des Brückenkopfes von Hüningen.

In der Stadt bebten die Häuser vom Donner der Geschütze und die glühenden Geschoße flogen wie Raketen am Nachthimmel umher.

Nach der Uebergabe des Brückenkopfes an den Erzherzog Karl zogen die Oestreicher und Franzosen aus der Umgebung Basels fort.

Am 4. September 1797 geschah in Paris der Staatsstreich, welcher die royalistische Partei vollständig vernichtete. In Folge dessen kam der berüchtigte Mengaud an des Gesandten Barthelemy Stelle nach Basel.

Bald darauf reiste Bonaparte durch unsere Stadt und wurde mit militärischen Ehren empfangen. Bei der Mahlzeit, welche ihm zu Ehren gegeben wurde, warteten mehrere hiesige Bürger auf, um Gelegenheit zu haben,den Besieger Italiens mit Muße zu betrachten.

Der Forstmeister hatte sich bisher, dem ehelichen Frieden zu liebe, so viel als möglich zurückgehalten; die mit aristokratischen Vorurtheilen ganz verwachsene Gattin 96 verstand seine patriotischen Gefühle nicht. Sie erregten ihren leidenschaftlichen Zorn.

Ihr einziges Streben war, den Gatten wieder für sich eigen zu erringen, und dazu schien ihr die Stellung als Obervogt zu Homburg, welche ihm angetragen worden,ganz geeignet.

Dadurch blieb er dem Einflusse seiner Freunde entzogen und konnte doch seinem menschenfreundlichen, gemeinnůtzigen Sinne leben.

In dieser Hoffnung blühte sie wieder freudig auf;die Kinder konnten den Umzug nach dem schönen Schlofse auf einer der lieblichsten Höhen des Kirchspieles Läufelfingen kaum erwarten; alle Bekannten und Verwandten wurden zum Besuche eingeladen.

Da zerstörte eine einzige Nacht diese seligen Zukunftsträume. Im Januar 1798 ging Homburg mit andern Schlössern des Baselbietes in Flammen auf. P

Die Revolution war ohne Blutvergießen geschehen.

Als ob ein eiserner Reif von des Forstmeisters Brust gewichen wäre, giebt er sich nun offen seiner Richtung hin. Trotz der verdoppelten Liebe und Sorge für die Seinen hat sich eine Kluft zwischen ihm und Ann-Gertrud aufgethan.

Es ist eine Wunde, an welcher der liebreiche, feinfühlige Mann langsam verbluten muß! Die Forstmeisterin verheirathete ihre älteste Tochter Doris mit einem der Söhne von Bruder Hans; es gewährte ihr große Genugthuung, ihr Kind als Gattin in die eigene Jugendheimath einziehen zu sehn.

Ueber den jungen Ehen dieses Hauses schien seltsamer Weise ein Unglücksstern zu walten: sorglos ritt der junge Gatte aus; da scheute sein Pferd und man brachte ihn auf einer Bahre leblos zurück.

Doris blieb nach der Forstmeisterin Willen in des Gatten Heim. Die mütterlich zärtliche Sorgfalt, womit sie die junge Wittwe umgab, bewies, daß ihr Wunsch nicht von Lieblosigkeit herstammte, sondern daß ihm ein bestimmter Gedanke zu Grunde lag.

Dennoch konnte sich der weichherzige Balthasar kaum darein finden. Wenn er seine Ausfahrten in's Baselbiet machte, nahm er sein zärtlich geliebtes Töchterchen verstohlen mit.

An einem schönen Junitage war die hochrädrige gelbe Kutsche am Nadelberge vorgefahren und der Forstmeister hob sein Töchterlein auf den Sitz. Sie schaute wie eine Maiblüthe aus den Trauergewändern. St. Alban wurde gemieden, man konnte nicht wissen, ob's der Forstmeisterin etwa einfiele, an's Fenster zu kommen.

Auf dem Birsfelde stand damals nur ein Meierhof mit einigen Wirthschaftsgebäuden. Alles war angebautes Land!

Weiter! durch die grüne, dichte Hardt, vorüber am rothen Hause. In den Rebenpflanzungen längs der Straße arbeiteten Landleute. Beim Anblicke der gelben Kutsche traten sie herzu: „Grüß Gott, Herr Forstmeister! Glückliche Verrichtung!“Für jeden hatte der freundliche Mann ein gutes Wort.

Doris schlief in der Wagenecke, bis die Kutsche über das holperige Gassenpflaster von Liechtstall so nannte man damals Liestal rasselte.

Dort wurde der Forstmeister vom Pfleger und den Bannwarten empfangen. Während ihn Geschäfte in Anspruch nahmen, ging die junge Wittwe in die Dekanswohnung.

Alles ausgeflogen!Sie kehrte in's Gasthaus zurück und blätterte in Papa's Skizzenbuch; das war sein treuer Begleiter.

Jede Seite war ihr bekannt: hier das „Basler Zankhölzlin“ bei Augst, wo die Holzhacker einen Schlag Buchen ausrodeten und sie selbst als Staffage auf einem umgestürzten Stamme saß, oder das „Kälberwaidlin“ mit Eichen und waidendem Vieh bei Oltingen, der „Katzerucken“ bei Bukten, die „Pfyfferratzen“ bei Höllstein,das „Stumpenhölzlin“ bei Ziffen und andre komisch klingende Namen von Waldparthieen, welche der väterliche Stift gezeichnet hatte.

Beinahe jede Seite enthielt ihr Bildniß, bald als Dame, bald als holzsammelndes Bauernkind.

Hier zwei zusammen geklebte Blätter! was hat das 99 zu bedeuten? Die Seiten waren sauber übereinander gepreßt. Das hat Papa absichtlich gemacht.Doris legte das Buch bei Seite; aber es ließ ihr keine Ruhe: „Wüßte ich doch! Soll ich? ... Nein! ...“Sie feuchtete dennoch ihr Taschentuch und legte es darüber. Lange wollte sich der Gummi nicht erweichen:endlich!Sorgfältig löste Doris die Blätter: glühende Röthe überzog ihr Gesicht. Ein leiser Schrei! Der Forstmeister kam schon die Treppe hinauf. Schnell brachte sie das Buch in Ordnung und wickelte es in ihr Mäntelchen.

Nun ging es weiter bis Bubendorf. Doris hatte heute entschieden Unglück mit den Pfarrhäusern. Auch hier gab man ihr denselben Bescheid: „Alles fort!“

Die alte Magd rief ihr nach: „Sie sind droben im Strübinischen Haus: da ist Kaffeevisite. Geh' Sie doch auch, Frau Doris!“

Die junge Frau war zu bewegt; sie mochte nicht unter die vielen Menschen. Heiß brannte die Sonne vom Himmel: sie öffnete die Kirchenpforte und trat ein.Ihr Schritt hallte laut in dem großen Raume. Das Thürchen des Pfarrstuhles öffnend, ließ sie sich auf der Pfarrerin grünes Saffiankissen nieder.

Es gab nicht viel zu sehen; vor den Kirchenfenstern flogen die Tauben hin und her und ein Schwalbenpaar hatte im Gebälke sein Nestchen gebaut.

Wie viele Male, wenn sie als Gast im Pfarrhause gewohnt, hatte sie das Fenster gegenüber betrachtet, statt 100 auf die Predigt Acht zu geben. Sie mußte lächeln, wenn sie daran dachte.

Im Schlafe hätte sie es nachzeichnen können: da stand unter dem Strübinischen Wappen, das ein Kriegsmann stützte:„Bubendorfs alter Adel ist

Gottsforcht. Tugend adelt jeder Frist.

Förcht und lieb du Gott, du frommer Christ.L. Strübin von Lichtsthal, Priester im Jahre 1525 zu Zyffen und Bubendorf Pfarrherr, im 8Osten Jahre gestorben war beider Kilchen Vorstehender in die 57 Jahre lang.“

Doris war eines liebenswürdigen Empfanges sicher bei den Strübinischen Nachkommen droben. Hier konnte sie nicht bleiben; denn es fröstelte sie in der kühlen Kirche.Langsam erstieg sie den Hügel.

Auf dem halben Wege war ein Gatter von jungen Birkenstämmen; ein grasiger Pfad führte längs der ländlichen Einfassung zu einer Gruppe von Haselstauden, wo ein Sitz angebracht war. Hier wollte sie ruhen.Man hörte das einförmige Geräusch des Grasmähens,hin und wieder durch Dengeln der Sense unterbrochen.Das Aroma der frisch abgeschnittenen Halme stieg zu Doris hinauf.Durch die Haselzweige huschten die Vögelein und von der Welt sah man nichts, als die grünen Wellenformen der nächsten Berge und den breiten Thurm der Kirche,der sich abdachend zu einem kleinern Helme erhob. Die Sonne funkelte in der Goldkugel und dem Kreuze, das auf seiner Spitze stand.

Hatte die Wittwe geglaubt, die Einsamkeit werde ihr die Ruhe zurückgeben, so war das ein Irrthum. Sie empfand nur noch mehr Sehnsucht nach einem liebevollen Wesen.„So jung“, rief sie, „und schon so viel Leid!“ und brach in bittere Thränen aus. Plötzlich wurde sie ruhig,als ob sie auf eine Stimme höre; dann schluchzte sie um so heftiger.

Lange schon hatte ein rosiges Mädchengesicht durch die Zweige geschaut und mit verwunderten Augen das seltsame Gebahren der jungen Wittwe beobachtet.

Nun hielt es sich nicht länger: „Darf ich zu dir kommen?“ Das freundliche Geschöpf, das nicht mehr als zwölf Jahre zu zählen schien, ließ sich auf die Erde nieder, umfaßte Doris Kniee und heftete seine treuen Augen zärtlich in die ihrigen.

„Wer bist du, liebes Mädchen?“ frug Doris.

„Ach, du kennst mich nicht? Ich aber kenne dich schon lange! Vater und Mutter sind da droben“, sie streckte den Finger in der Richtung des Landhauses Strübin;„da hab' ich mich herunterkullern lassen; sie sagen ja alle, ich sei rund wie ein Fäßchen.“

Sie lachte fröhlich und richtete ihre kurze Gestalt auf.

Doris hatte das Weinen schon wieder vergessen:„Ich weiß noch immer nicht, wie du heißest, mein Herzchen?“ „Ich bin Gretchen, das dicke Nestvögelein des Herrn und der Frau Deputatin.“

„Ach das Deputatenkind?“ lachte Doris; „da kenn ich dich freilich auch.“

Beide plauderten vergnügt; die Kleine war voll lustiger Einfälle. „Was hast du, Doris? schon zweimal legtest du erschrocken die Hand auf's Herz! Es thut dir doch nicht weh?“

„Nein, nein! aber hörst du, Gretchen? es scheint Jemand nach dir zu rufen!“

„Ach! das ist Papa! wenn der juchzt, will er seine Dicke haben!“ Sie antwortete mit einem schallenden Tone. Noch einmal küßten sie sich herzlich; dann war sie fort.

Dafür kam ein Andrer, der seine Tochter allenthalben gesucht hatte:

„Ei siehe, da steckst du!“ Er setzte sich auf die Bank und zog Doris auf seine Kniee.

Lange saßen sie flüsternd beisammen, die Tochter an des Vaters Herzen. Als sie den Pfad betraten,trug der Forstmeister Doris mehr, als daß er sie führte.

Am Abend zeigte er seiner Gattin das Bildchen im Skizzenbuche: die Tochter mit einem Kindchen im Arme.Dies Geheimniß war's, das sie ihrem Papa unter den Haselstauden vertraut hatte.

Der Sohn von Doris wurde im Hanskasper'schen Hause geboren, wie es die Forstmeisterin gewunscht; doch hatte er, zu ihrem Leidwesen, keinen einzigen Familienzug desselben geerbt.Hroßmama Claire hielt ihn über die Taufe. Gretchen,das Deputatenkind, durfte an ihrer Seite sitzen.

VI.Mf. es bei den wohlhabenden Familien im conservativen Basel oft vorkommt, hatte sich ein bescheidenes Reis um Hanskaspers blühenden Stamm geschlungen und war in Frenud und Leid mit ihm verwachsen.

Der ehrlichste, fleißigste, Schreiber des strengen Handelsund Fabrikherrn war Onofrio Winkelblech, pünktlich wie eine Uhr, sauber, gewissenhaft.

Herr Hanskasper verstand, treue Diener zu ehren.Er war dem einfachen Manne behülflich, seinen begabten Sohn auszubilden; der junge Winkelblech wurde in der Folge Präzeptor bei den Kindern des Hauses.

Mit der Zeit zeigte sich immer größeres Bedürfniß nach Hauslehrern, und da schließlich jeder Winkelblech in einer späten Ehe einen einzigen Sohn erzeugte, wurde das Amt in der Familie erblich.Ein einziger handelte gegen die Tradition: Bombastus Winkelblech. Seine Eltern waren frühe gestorben und Bombastus hatte Juris studiert. Seine Gönner hatten ihm Unheil prophezeit, weil er vom Pfade der Väter abgewichen war. Sie hatten Recht: sein Hochmuth wurde bestraft.

Als Bombastus es bis zum gradus magisteri gebracht hatte, zeigte sich plötzlich eine bedenkliche Stockung seiner geistigen Mittel. Zugleich war der elterliche Sparhafen erschöpft und der Magister mußte wohl oder übel zum Brode seiner Väter zurückkehren.

Eine bemittelte Tante nahm ihn auf; sein Schwesterchen wohnte schon längst bei ihr. Alle Präzeptorstellen waren damals besetzt; sonst wäre er nicht zur „Bäsi Mohlerin“gezogen, welche keinen Faullenzer um sich ausstehen mochte.

Die schlichte Bürgersfrau konnte weder lesen noch schreiben; dafür war sie praktisch und perfekt in der Kunst des Haushaltens.

Sie hatte in jüngeren Jahren mit ihrem verstorbenen Gatten eine Bauernkneipe gehalten; nun lebte sie aus den Zinsen.

Für die kleinern Beträge, welche sie an Landleute aus der Umgegend zu fordern hatte, nahm sie Butter, Käse,Früchte, Korn. Auf diese Weise erhielt sie billige und vortreffliche Waare, die sie wieder in den guten Häusern absetzte.

Dabei war die Mohlerin ehrlich und nachsichtig gegen unverschuldete Zögerungen. Sie konnte sogar großherzig sein.Ihr Gedächtniß war sicherer als das beste Rechenbuch;sie wußte bis auf den Heller, was sie zu fordern hatte.Winkelblechs Schwesterchen, die hübsche kleine Nanette, 105 hütete sie strenge; sie durfte nie allein aus dem Hause gehen, mußte in den dunkeln Räumen, wo man bei Tage selbst das Oellicht brennen ließ, vom Morgen bis zum Abend arbeiten.

„Das vertreibt die gefährlichen Liebesgedanken“, meinte sie. Am Sonntag nahm sie das Kind zur Kirche; es war ihm streng untersagt, aufzublicken. In die Schule war das Kind nie gekommen.

Nanette war eine zarte Rose, die im Schatten aufgeblüht war; man sah ihr die Zimmerluft an. Dagegen hatte sie vortreffliche Nahrung, so viel sie mochte.

Bruder Bombastus schwärmte für das schöne Geschlecht und hatte doch kein Auge für sein liebreizendes Schwesterchen; er war sogar recht ungeschliffen gegen sie.

„Ich habe dir schon ein paar Mal gepfiffen“, fuhr er sie an, „hast du nichts gehört?“

Nanette wollte sich entschuldigen; da stürzte die Bäsin aus der Thür: „Willst du ihren Arm sogleich fahren lassen, du wüester, langer Labander. Glanbst, man hätt'nichts anderes zu thun, als auf dein Pfeifen herbei zu springen. Wir haben nicht Zeit, den ganzen Tag an den Nägeln zu beißen, wie du!“

Der Magister schlich verdrießlich in seine Kammer zurück. Die Mohlerin hatte Recht mit dem Prädikate:Wüest; obschon es Bombastus nicht einsah. Seine Züge waren im Einzelnen nicht häßlich, doch wie verschoben.Langgestreckte, schmale Stirn, spitzes, blöde verlängertes Kinn. Dabei eine lange, schlottrige Gestalt. Bombastus war mit sich selbst ganz zufrieden; dennoch hatte er drei unerfüllte Wünsche; der erste, etwas Embonpoint, der zweite, eine Frau, und der dritte recht lange, lange Nächte. Schlafen war nämlich seine Seligkeit, seine einzige Leidenschaft.

Der Magister war wieder einmal im Begriffe, eine Stellung anzutreten. Mürrisch empfahl er sich bei der Bäsin, die ihn bis an die steile Treppe begleitet hatte.

„Ihr könnt warten, bis ich wiederkomme“, brummte er im Hinabgehen.

Sie brauchten aber nicht lange zu warten; ehe vierzehn Tage um waren, stand der Bastl wieder demüthig vor der Mohlerin.

Der kurzsichtige Präzeptor war von den derben Förstersbuben wie ein Hanswurst behandelt worden. Eines Morgens kam der währschafte Schwarzwälder unverhofft zu dem Spektakel, bläute seine boösen Rangen durch und entließ den unfähigen Informator.

Die Mohlerin nannte von nun an ihren Neffen:„Wälderbasil“.

Müde und kleinlaut schaute der Magister in den Hof der Bäsin. Es dunkelte bereits; da sah er etwas,das seinen gesunkenen Lebensgeistern neues Feuer gab.

Es war ein junges, dralles Mädchen mit strohgelben Zöpfen, welches mit zurückgestreiften Aermeln Kupfergefäße blank scheuerte, Salome, des Kammachers Tochter.

Wer war glücklicher als unser Magister. Er saß nun vom Morgen bis zum Abend auf der Lauer. Einst hörte er ihre hohe, schneidige Stimme singen:„Keine Kohle, kein Feuer kann brennen so heiß,„Als heimliche Liebe, von der Niemand nichts weiß.“„Das gilt mir allein“, sagte er und richtete sich stolz auf. „Dies Mädchen ist's werth, daß ich's glücklich mache,wenn's gleich nur eines Kammachers Tochter ist.“

Sein einziges Trachten ist von nun an, des Mädchens Liebe zu erwiedern.

Doch wie?

„Wenn ich singen würde? Nein! das geht nicht.“

Er mußte an das wiehernde Gelächter denken, das die Förstersbuben angestimmt hatten, als er es versuchte.

„Man muß die Frauenzimmer caressiren; dann sind sie gleich weg“, überlegt der Magister. Verlegen kraut er sich am Kopfe. „Es ist noch weit bis dahin: zuerst muß ich ihr näher kommen.“

Er sinnt und sinnt; nach langem Kopfzerbrechen endlich ein Ausweg.

Der Förster hatte, wenn er besonders gut gelaunt war, seine Frau zuweilen am Kinn gefaßt. Bei solcher Liebkosung pflegte die fröhliche Wälderin so herzlich mit ihren tiefen Tönen zu lachen, daß es den guten Magister stets nach einem ähnlichen Versuche gelüstete.

Nun freut es ihn, daß er doch im Schwarzwald droben was gelernt hat. Er traut sich ohnehin mehr Grazie zu, als diesem Bären von Förster. Nur muß er sich darauf vorbereiten.

Während mehrerer Tage vergißt Bombastus sein Nägelbeißen. Er übt sich, den Arm zierlich zu biegen und in Ermanglung eines weichen Kinnes die eigenen struppigen Bartstoppeln zu berühren. Eleganz und Grazie kommen ihm zu Hülfe, und nun blickt er gerührt auf die glücklichen Hände, welche eine solche Liebesthat vollbringen sollen.

Der große Tag erscheint mit hellem Sonnenschein;schräg fällt das Licht auf den hohen Giebel des Nachbarhauses. Bastl kann das Ende nicht erwarten.

Endlich der letzte Sonnenstrahl verschwunden!

Eben knöpft er die Weste zu, langsam, feierlich; da erscheint Salome im Hofe, scheuert rasch und verschwindet wieder.„Versäumt, verspätet. Umsonst die lange, heiße Sehnsucht.“ Er muß sich niedersetzen und weinen.

Nun hatte der gute Magister geschrieben und nach seiner zungeschickten Art die Finger voll Tintenflecke gemacht. Wie Thräne um Thräne niederrinnt, wischt er sie mit den Händen weg.

Daß alles Unangenehme zusammenkomme, verlangt die Mohlerin noch seine Begleitung; angezogen ist er ja beinahe.

„Himmel! wie siehst du aus?“ schreit sie ihn an.„Bist in der Farb gewesen?“

Ueber sein Gesicht liefen schwarze Streifen; die Bäsin durfte nur die Hände ansehen ihr gutes Herz hatte Mitleiden mit ihm: „Brauchtest nicht zu weinen“, sagte sie, „ich mein's nicht böbs mit dir. Aber wenn du dich waschen thätst, würd's nichts schaden.“ 109 „Morgen ist auch wieder ein Tag“, tröstet er sich beim Einschlafen. Am folgenden Abend, zwischen Hund und Wolf, das ist in der Dämmerung, steht Bastl neben der bewußten Thür.

Heut ist, zu seinem Glücke, Salome später fertig geworden. Sie muß nun bald erscheinen.

Der Riegel knarrt; die Thür dreht sich kreischend in den Angeln, und mit mathematischer Sicherheit, doch zitternd am ganzen Körper, hebt Bastl seine Hand zu dem Gesichtchen

Nach Jahren lief eine Gänsehaut über seinen Rücken,wenn er an die nun folgende Scene dachte. Nicht Salome war's, sondern die Kammacherin, ihre Mutter.

Kaum fühlt die gallige Frau eine fremde Hand an ihrem Doppelkinn, als sie ein furchtbares Geschrei und Schelten anstimmt.

Alle Fenster fliegen auf, zurück kann Bombastus nicht, denn die Treppe ist besetzt; nun muß er die ganze entfesselte Fluth von Schimpfreden über sich ergehen lassen.

Die Mohlerin ist auch ganz aus dem Häuschen.Zum Magister sagt sie: „Morgen gehst du aus meinem Hause!“ Dann kündet sie der Kammacherin die Wohnung.

Das ist ein Schmettern und Schimpfen in dem Hanse: „An dem allem bist du schuld, Bastl, du Unglücklicher!“Im Avisblatte war eine Informatorsstelle mit sehr geringer Honoranz ausgeschrieben. Die Bäsin gab dem Magister das Reisegeld und er wurde angenommen. 110 Gleich nach seiner Ankunft in Schwarzenberg wurde ihm das Landschreibersöhnlein übergeben. Das „Herrlein“war im Alter, wo sonst eine Kindsmagd genügt; Bombastus brauchte ihm mit seinen langen Beinen bloß nachzulaufen, dann hatte er seine Pflicht erfüllt.

Hier hätte der Magister sein Liebesleid vergessen konnen; denn er schlief nach des Tages Springen und Jagen ausgezeichnet gut; aber das „Herrlein“ verkümmerte ihm den süßen Genuß.

Wenn er am Morgen noch behaglich schlummerte,warf ihm das böse Büblein Schuh und Strümpfe, harte und weiche Gegenstände ohne Auswahl an die Nase.

Noch etwas anderes kam hinzu, seine Ruhe zu stören.

Ein berühmter Basler Augenarzt sagte einst in seiner Vorlesung über Kurzsichtigkeit ungefähr so:

„Die Myopen sind in der Regel sehr verliebt; weil sie die Mängel und Gebrechen am andern Geschlechte nicht sehen, sind sie geneigt, alle Weiblein für Engel zu halten.“Das war unseres Magisters Fall gerade. Wenn er die gestrenge Frau Landschreiberin in ihrer reizenden Toilette bei Tische sah, vergaß er Essen und Trinken und starrte sie an, bis sie ärgerlich rief:

„Er ist ein Esel, Winkelblech!“

Der Herr Landschreiber war ganz anders. Ein trockener Aktenmensch, konnte ihn nichts aus der Fassung bringen,nicht einmal seine kleine, reizende Teufelin.

Man erzählte von seiner Hochzeit, daß er auf einem schmalen Feldweg hinter dem Bräutchen her zur Kirche gegangen sei, wo alles zur Trauung vorbereitet war.Sie rief beständig:

„J will Euch nit!“Er antwortete mit einem gelinden Stoß in ihren Rücken:

„Ganget.“ (Geht nur.)

Sie war in der That, allen Protesten zu Trotz, seine Hausfrau geworden, und was für Eine? Mit Stolz pflegte sie zu sagen:

„Vom Keller bis zum Hohlziegel soll mir mal einer ein Stäubchen zeigen!“

Am Vormittag fuhr die allerliebste Patrizierin wie eine Hexe umher; zur Tafel aber, wo selten die Junker und Aristokraten von Bern fehlten, war sie die schöne Frau Landschreiberin, welche trotz aller Huldigungen so vornehm kühl blieb wie die Gletscher, welche man aus den Fenstern des Schlosses bewundern konnte.

Sie wußte sich auch zu kleiden. Am liebsten trug sie ein weißes Nesselgewand mit blauen Schleifen, schlang ein Band durch die leichtgepuderten aschblonden Löckchen und umgab den feinen Nacken mit durchsichtigen Spitzen.

Denke man sich dazu die matte Perlenfarbe der Haut,den korallenrothen Mund mit den Grübchen und ein großes, azurblaues Auge.

Eisig kalt war der Blick; desto mehr versengten sich daran, die auf sein warmes Aufleuchten hofften. Nutzloses Beginnen, welches mit einer kläglichen Niederlage zu enden pflegte.

Von den lebhaften politischen Tischgesprächen hörte der verzückte Magister gar nichts.

Doch ging es heftig zu; die Bernerherren schrieen und disputirten mit erhitzten Köpfen, als wollten sie die ganze Welt niederschmettern.Bombastus schaute nur auf die Landschreiberin; was kümmerten ihn Rathssitzungen, Verträge und aristokratische Vorrechte, wenn sein Blick auf dem pelzbesetzten blauen Käppchen der schönsten Frau haftete. Im Sammtkleide mit dem Ausschnitt à la Watteau war sie verführerischer als je.

Der Arme wurde von Tag zu Tag farbloser und hinfälliger. Kein Wunder: er vergaß das Essen.

Da half ihm zu seinem Glücke ein Ereigniß aus der Welt der Träume in die Wirklichkeit zurück.

In den ersten Januartagen war der Landschreiber in Bern; da meldete man seiner Hausfrau, es ziehe ein Bauernhaufe mit allen bedrohlichen Anzeichen heran.

Hell auf blitzten die kalten Augen: „Sie mögen fommen!“Die junge Frau riß das Fenster auf und stellte sich mit verschränkten Armen an die Brüstung.

Nun waren sie da und schauten nach oben, wo die wunderschöne Herrin mit beleidigendem Hohne auf sie herab sah. 113 Mehrere Stimmen unterbrachen das allgemeine Murren;sie riefen nach dem Landschreiber.

Die vornehme Dame antwortete mit Schmähungen.

Endlich schrieen sie unten: „Alle, die Mehl in de Haare trage, müend ahe mit em Gring.“ (Alle, die Puder in den Haaren tragen, müssen herunter mit dem Kopfe.)

Außer sich vor Zorn schrie die Landschreiberin: „Packt Euch, Ihr Gesindel, ihr .........“

Ein Stein flog dicht an ihrer Wange vorbei; noch einer: sie wankte nicht.

Der Magister hatte sich ängstlich an die Wand gedrückt; als er aber das Gebrüll der Bauern und das Anschlagen der Steine an das Getäfel höͤrte, vergaß er sich selbst.

Er umfaßte die kleine Frau, der er vergebens zugeredet hatte, bei der Taille, um sie wegzuziehen.

Sie wendete sich jedoch pfeilschnell und hämmerte unter dem wilden Johlen der Menge wie rasend in des Bombastus Gesicht.

„Was geht's Ihn an? Mach Er, daß Er aus dem Hause kommt!“

Zittern überfiel den Armen; er stammelte: „Verzeihung! Frau Nand Nand Nandschreiberin!“

Der Schreck hatte ihn fast der Sprache beraubt.Die kleine Furie aber rief: „Da seh' mal Einer! Das Kameel kann ja nimmer plappern! Fort, sag ich: fort!“

Sie schlug den Thürflügel auf, daß er an die Wand schmetterte.

Gebrochen wankte der Magister hinaus.

In dieser entsetzlichen Stunde hatte er die Fähigkeit verloren, den Buchstaben Lauszusprechen.

Er versuchte seinen Namen zu sagen; umsonst alle Mühe: „O Winkenbnech! ungnücknicher Winkenbnech!

Der Landschreiber war gütiger als seine schöne Ehehälfte; er entließ den Armen mit einer Entschädigung.

Mit blau angelaufenem, zerkratztem Gesichte erschien der Bastl wieder bei der Mohlerin. Sie hatte ein wahres Erbarmen für seine Jammergestalt.

Ueber dem ging ihm ein neuer Stern auf. Die Vorsteherin einer Privattöchterschule erwarb sich den Magister als Rechnungslehrer.

Die Schule war in zwei Lager gͤetheilt: die Aristokratinnen und die Patriotinnen; doch war die Zahl der letztern größer.

Die Professorin hatte die größte Mühe, diese beiden Parteien auseinander zu halten; denn die jungen politisirenden Dämchen wären leicht zum Handgemenge gekommen. Die einen schwatzten von aristokratischen Vorrechten, von der alten Ordnung der Dinge, und gaben sich dabei ein vornehmes Ansehen, die andern priesen Freiheit und Gleichheit, und ließen ihr ga ira auf und nieder steigen; zu dieser Spielerei sangen sie:

„Ah! ç(2 ira, q4 ira, ga ira!„Les aristocrats à la lanterne!“Das jakobinische Lied war in Jedermanns Munde.So thaten sie im Hofe des Schulhauses, als ein 115 hochmüthig aussehender Herr durch's offene Thor eintrat und jeder Schülerin eine kräftige Ohrfeige gab. Ruhig ging er weiter.

Am Fenster ihrer Klasse hatten's die Aristokratinnen gesehen. Das gab einen Jubel! Wie wurden die Patriotinnen verhöhnt!

Binnen wenig Tagen aber war das Lachen auf der letzten Seite; am 22. Jänner 1798 wurde auf dem Münsterplatze ein Freiheitsbaum errichtet; in weißen Kleidern, bestens geschmückt, unter Begleitung von Musik und Kanonendonner, tanzten unsere Patriotinnen mit verschlungenen Händen um den hochaufgerichteten Tannenbaum, von dem Fahnen und Schärpen herabflatterten.

Zuerst war kirchliche Feier im Münster. Diacon Fäsch hielt eine Predigt und auf dem Lettner sang ein Chor der schönften Jungfrauen. Freudestrahlend und begeistert drängte sich die Menge in der überfüllten Kirche.

Wer nicht dem großen Ballfeste beiwohnen konnte,ordnete Abends in seinem Hause und Kreise eine festliche Zusammenkunft an. Wenn zwei sich begrüßten, geschah es unter Umarmungen und Wonnethränen.

Die Professorin lag aber zu Bette; die aufreibenden Zwistigkeiten der Schule hatten sie zu sehr ergriffen.

Ihre strenge Haltung, der dominirende Blick aus den runden Brillengläsern fehlte; nun konnte Bombastus mit seiner übermüthigen Schaar nicht fertig werden.

Wenn er dringend bat: „Sinence (Silence) meine nieben Demoisennen! sonst kann ich Ihnen die Muntipnikation 116 der Brüche nicht erknären!“ schrie die Klasse vor Jubel förmlich auf.

Er lachte zuletzt mit, bis ihm vor Wehmuth die Augen überflossen.

Sie erfanden ganz eigene Sprachübungen, worin Winkelblechs Gebrechen, seine Unfähigkeit, L auszusprechen,die lächerlichsten Sinnlosigkeiten hervorbrachte. Er war so wehrlos wie ein Täubchen.

Als er eines Tages ohne Arg nach Hause ging,blieben die Leute auf der Gasse stehen und deuteten jubelnd auf seine Beine. Die Mohlerin selber mußte vor Lachen niedersitzen; seine Wadenpolster waren mit dicken Shwalgufen gespickt, grüne, rothe, gelbe Köpfe in Glasfluß, die auf den schwarzseidenen Strümpfen bunt abstachen.

Die Mohlerin sorgte jeden Tag, daß der Magister zur rechten Zeit in seine Schule komme; es war keine Kleinigkeit, ihn aus den Banden des Schlafes loszureißen.Gewöhnlich verspätete er sich beim Aufstehen, daß er nur vermittelst seiner längsten Schritte den Vorwürfen der Professorin entgehen konnte.

Eines Tages, wie er mit dem rothen Baumwollenschirm unter dem Arme und krampfhaft gespannten Gesichtszugen um eine Ecke stürmt, rennt er an eine derbe Eierhändlerin. Der Stoß kommt so unerwartet, daß ihr der ganze Korb vom Kopfe fliegt.

„Haarseckelketzer! Haarseckelketzer!“ schreit sie mit vielen nicht zu beschreibenden Prädikaten, läßt ihre schiffbrüchige Waare liegen und lauft zeternd dem armen Bombastus bis in die Klasse nach.

Das giebt ein Hälserecken, ein Kichern. Armer Magister! Umsonst sucht deine Fistelstimme den Tumult zu bewältigen. Je mehr die Händlerin rast, je übermüthiger werden die Schülerinnen.

„Niebe Frau! seid doch stinne! geht zur Mohnerin;sie wird Euch bezahnen!“ Vergeblich!

Endlich kommt die Professorin: mit einem Schlag sitzen die Elevinnen an ihren Plätzen; die zeternde Frau verläßt die Klasse und bald nach ihr kehrt der Magister heim, traurig, langsam, ein Verabschiedeter.

Er hatte kein Glück in seiner pädagogischen Laufbahn.

Die Basler charakterisirt vor allem die unglaubliche Zähigkeit, mit welcher sie an alten Gebräuchen, an Sitten, aber auch an Vorurtheilen hangen. Alte und neue Schriftsteller haben ihre Glossen gemacht über diese Eigenthümlichkeit, die vielleicht sonst nirgends so stark ausgeprägt ist.

Wie reizend schelmisch schreibt Simrock:

„Wenn wir die Basler necken, so ist's um ihre Uhr;Sie sein in jedem Stücke

Um hundert Jahr zurücke

Und vor ein Stündchen nur!“Schon das geringfügige Ereigniß, die Rückstellung der Basler Stadtuhren im Anfang des Jahres 1798, brachte in der That manchen Haushalt in Verwirrung;die alten Leute namentlich konnten sich nicht darein finden:

„Es ist ein Frevel an der heiligen Ordnung!“ stöhnte die Mohlerin. Sie lebte nun in der Erwartung eines schrecklichen Gottesgerichtes.

Ihre Gesundheit war schon durch die vorangegangenen Ereignisse erschüttert. In die neue Zeit konnte sie sich nicht mehr finden.

Es kam immer schlimmer.

Die ehrwürdige Kleidung der Räthe wurde abgeschafft;wenn nun das Rathsglöcklein läutete, sah man sie nimmer mit Baselhut, Habit und Krös und Mantel stolz und majestätisch durch die Gassen schreiten; sondern sie trugen fast gewöhnliche schwarze Kleidung mit Degen.

War von einem solchen Rathe Heil zu erwarten?

Das Schwerste ward ihr bis zuletzt aufgespart: Es betraf eine Ehrverletzung ihres eigenen Hauses, des „Meerwunders“.

Bis jetzt hatten die Leute gesagt: oberhalb vom Meerwunder, unterhalb vom Meerwunder, gegenüber vom Meerwunder. Am glücklichsten schätzten sich die, welche im Meerwunder selbst ein Losament bewohnten.

Jedermann in der Stadt wußte, daß Frau Wittib Cordula Mohlerin, geborene Winkelblechin, die Eigenthümerin des Meerwunders war.

Und nun erhielt bei Gelegenheit einer Einquartirung dieses Meerwunder eine simple Hausnummer.

Sie raffte sich noch einmal auf, um das Schreckliche, an das sie nicht zu glauben wagte, mit eigenen Augen anzusehen. „Wie heißt das schwarze Ding oben an der Hausthüre?“ frug sie den Bastl.

„Sieben“, antwortete er gedankenlos. Sieben, die böse Zahl!

Man hatte die größte Mühe, die Mohlerin über die engen Treppen wieder in's Krankenzimmer zu bringen.Sie verfiel in wilde Phantasieen.

„Laß mich los! böse Sieben! Mein Meerwunder an's Schellenwerk geschlagen! o weh! o weh! An's Schellenwerk! o weh!“ So raste sie, daß man Hülfe holen mußte.

Sie stellte sich nämlich die Sträflinge vor, die früher zum Reinigen der Gassen angestellt wurden, und welche auf der Zuchthaus- oder Schellenhauskleidung eine schwarze Nummer trugen.

So war ihr Haus entehrt.

Bald schalt, bald tröstete sie ihr Meerwunder. Sie sprach mit ihm, wie mit einem gefallenen Sohne: „Liebes Meerwunder, hast du gestohlen? o! wie konntest du mir das anthun! O Schellenwerk!“

Als sie wieder zu sich kam, ging's dem Ende rasch entgegen. Dem Magister gab sie Auftrag, das junge Mädchen, das sie ihm als Gattin bestimmt hatte, zu ihr zu führen.Bis die Botschaft in das Pfarrhaus von Wintersingen gelangte, verging geraume Zeit. Die Mohlerin starb im süßen Wahne, Ursulinen, dem tüchtigsten 120 Mädchen, ihr beträchtliches Vermögen und den besten Mann von der Welt anvertraut zu haben.

Die Geneigtheit der „geniebten Ursunine“ war jedoch bloß ein bombastischer Traum. Sie schlug beides aus.

VII.5.7 9 * grünen Berge herab breitet das liebliche Kirchlein seinen schützenden Flügel über das langgestreckt in eine schmale Thalschlucht gebaute „Wintersingen“.

In das Dorf ist bis heute noch kein schrilles Pfeifen der Lokomotive gedrungen; die idyllisch grüne Abgeschlossenheit von der Welt ist noch dieselbe, wie vor hundert Jahren.Wie damals hüpft der Bach mit fröhlichem Geplätscher durch das Dorf, treibt die Sägemühle, die mit ihrem einförmigen scharfen Tone die träumerische Stille unterbricht.

Derselbe metallne Glockenklang vom schlanken Thürmchen zittert durch die warme Luft und mahnt die Menschen im Felde an die Mittagsstunde.

Den schönsten Ueberblick genießt man von der bedeckten Treppe, welche zum Kirchlein führt. Da kann man in einer langen Perspektive das ganze helle Friedensbild umfassen.

In Waldesgrün und Felsen eingeschlossen freundliche blanke Häuser; an den Fenstern eine reiche Blumenfülle; 121 zwischen den Gebäuden kleine grüne Gärtchen auf hohen Mauern, zum Theil an den Felsen gelehnt. Epheu und glühend rothe Nelken spinnen bis auf die Straße hinab und die üppigen Malvenbüschel streben mit ihren weich gefärbten Blüthendolden in die Luft.

Das Pfarrhaus von Wintersingen war wegen seiner Gastfreundlichkeit berühmt.

Die Jahre haben an seinem Aussehen auch nicht viel verändert; nur die bleigefaßten Scheiben sind verschwunden und helle Tünche hat die rothen Gesimse verdeckt.

Die Linde, welche mit ihrer stattlichen Krone die Fenster des dritten Stockwerkes beschattete, steht mit ihrem riesigen Stamme noch unerschüttert da.

Während alte Denkmäler ohne des Menschen Hand in Staub zerfallen, treibt sie im Gegentheil aus dem Heerde innern Lebens jährlich saftige Zweige, trotzdem Menschenhand sie oft verkürzt und verstümmelt hat.

Geräumig, behäbig ist das Haus schon damals gewesen.

Von der großen Hausflur führten einige steile Holzstufen in die Wohnstube, ein mächtiges Eckzimmer, in dessen Mitte auf vier Füßen ein riesiger Kachelofen sich wie ein massives Bollwerk vorschob. Die Bratröhre war allein ein Schlund, in dem man eine ganze Mahlzeit unterbringen konnte.

Mit Möbeln war sie nicht überfüllt; ein plumper Tisch auf gedrechselten Eichenpfosten, Bänke ohne Lehne,einige Stühle für die Gäste; das war alles. Die Wohnstube diente auch für Kinderlehren und Gemeindeversammlungen. 122 Zur Essenszeit trappelten die großen und kleinen Füße geräuschvoll über die gefährlichen Stufen; wer sich nicht vorsah, kam schneller hinunter als hinauf. Diese Treppe hatte eine so fehlerhafte Construktion, daß man sich auf beiden Wegen blaue Flecke schlug. Eine solche Kleinigkeit störte unsre Altvordern nicht.

Wenn im Herbst der Tag frühe zu Ende ging, saß die zahlreiche Kinderschaar um den Tisch und zeichnete auf dessen Schieferplatte. Die Pfarrerin mußte gesunde Nerven haben; sie hörte das erbarmungslos durchschneidende Griffelkritzen nicht, ließ die Kinder sich necken,puffen, als ginge sie das gar nichts an.

Ruhig nährte sie ihren Säugling; nur wenn der Kampfplatz der Geschwister in ihrem Bereiche war, verabreichte sie ihnen kräftige Ohrfeigen.

Hatte sich das Wickelkind dann gütlich gethan,legte es Ursuline, das Pfarrtöchterchen, in den Rollwagen, der auf kreischenden Rädern hin und hergeschoben wurde.

Dazu memorirte sie ihre Aufgabe für den kommenden Tag:

„Bald des Hirten Lied und bald des Vieh's Gebrülle.

„O ländliche Musik! o angenehme Stille!“so heißt nämlich die Anfangsstrophe eines Liedes von Herrn Christlob Mylius (4 1750): Lob des Landlebens.Später erschien die Bine (Jakobine) mit den zinnernen Milchschalen; die Mutter schnitt mächtige Stücke Brod;das war der Kinder Abendessen.Wie es schmeckte! Indessen kam auch der Pfarrherr; er setzte sich neben Bethli, die Pausbackige, und klopfte mit dem Finger auf den Boden des Zinnbeckeleins. Sie ließ sich nicht stören.Der letzte Tropfen war mit einem Stöhnen des Wohlbehagens ausgetrunken, da faltete die Kleine die Händchen,sah ernst zum Vater auf: „Beten.“

Es war nur ein kurzes Gebet; dafür die Andacht um so größer.

Die Kinder schichteten die Zinngefäße über einander und holten bei Vater und Mutter den Nachtkuß.

Abgestellt die Mühle! Es blieb nichts zurück, als der Geruch von abgewischtem Schiefer und droben Geträppel vieler Füßchen.

Ursuline mußte nun die Eltern bedienen; sie breitete ein Tuch auf das obere Ende des Tisches, ordnete die Teller, die Messer und Gabeln, die Becher. Die Blicke der Eltern folgten ihr; sie leuchteten von stolzer Freude.Ursuline war ein köstlich Mägdlein, schlank, blühend,das Auge klar, die Hand kräftig entwickelt, aber von edler Form.

Das Pfarrtöchterchen lernte beim Vater, half der Bine in Haus, Küche und Stall; alles stand ihr an.

Bei Mutterchen lernte sie stricken, nähen, flicken.Ihre Studien am Nähtisch wurden häufig unterbrochen,theils durch Besuche, theils durch die besondere Affektion,welche der Storch für das Pfarrhaus von Wintersingen gefaßt hatte.

Wenn das jüngste Kind ungefähr ein Jahr zählte, mußte es die Wiege seinem Nachfolger räumen und es DD

Welche Wonne! welch' ein Anfang einer glücksverheißenden Zeit!

Da verging selten ein Tag, wo nicht eine Baslerkutsche vorfuhr, aus deren Kofferchen die herrlichsten Dinge an's Tageslicht befördert wurden.

Ganze Pakete von der Großmama Claire: Wickelschnuren, Jäckchen, Hemdchen, Lätzchen und Häubchen,alles zierlich gearbeitet und mit bunten Bändchen geschmückt, und dann die Schinken, die Confitüren, die Backwerke aller Art!Konnte die Großmama ihrer kranken Füße wegen nicht mehr selber kommen, war ihr Segen desto reicher.Keines ging leer aus.

Wenn wieder Stille eingetreten war, konnte man oft des Pfarrfritze's sehnsüchtigen Wunsch hören: „Mama,bekommen wir nicht bald wieder ein Buschi?“

„Das verhüete Gott!“ rief die Pfarrfrau ganz entrüstet.

Des Tauftages vergessen wir nicht! Das war die Krone aller Herrlichkeit.

Da führte die Rößlewirthin das Scepter in der Küche und das Heerdfeuer brannte mehrere Tage lang.

Die Dorfleute bekamen feuchte Augen, wenn sie nur des Kirchganges dachten.

Welch eine Vornehmheit!

Voran die jüngste Pathin im rauschenden Seidenkleide, den Kranz auf den gepuderten Locken. Sie hielt den Säugling im Arme.

Der hatte natürlich keine Ahnung, daß er in einem so ehrwürdigen mit Goldspitzen verzierten Familienkissen stecke.

Tanten und Cousinen folgten im feierlichen Slaat,die Herren mit Degen und funkelnden Schnallen an den Schuhen.

Und jetzt! Aufgepaßt. Die Dorfkinder verschlingen die Kommenden mit den Augen.

Die Ursel führt Bethli an der Hand; die Große hat eine grünseidene Schaube und ein bunt gesticktes Tüllshwälchen erobert, die Kleine hübsche Schuhe mit Rosetten;sie möchte bei jedem Schritte den Staub vom rothen Leder wischen.

Die Buben stolziren in neuen Mützen und thun, als ob das etwas alltägliches wäre.

Die Wintersinger waren immer wackere Kirchgänger;bei den Pfarrtaufen kam alles, was schreiten konnte.

Feierlich trat der stattliche Geistliche in seinen Pfarrstuhl. Die Augen der ganzen Gemeinde hingen an ihm;und das Taufgebet!

Wenn er es mit einer vollen warmen Stimme sprach, durchströmte alle heiß und beglückend das Gefühl von Gottes Nähe.

Abends durften sich die Dorfkinder, auch die Nußhöfer, bei der Linde versammeln; die seidenrauschende Pathin trat unter sie und vertheilte Lebküchlein und

Anisbrötchen. Zuweilen wagte eines, den knirschenden Stoff zu berühren.

Ursuline wanderte mit Teller und Töpfchen zu den Kranken und Unbemittelten, unterstützt von Bineli, der DD

Die Pfarrerstochter war sechszehn Jahr. Ihr Vater hatte sie dem Sohne eines Jugendfreundes zugesagt;Ursuline sollte Frau Doktorin werden.

Mit Thränen in den Augen sah die Mutter der Kutsche nach, welche ihre „rechte Hand“ nach Basel entführte; als Braut würde sie zurückkehren.

Sie weinte lange und bitterlich; seit einiger Zeit fühlte sie sich kraftlos und entmuthigt, und dazu noch die Trennung von der Tochter.

Die treue Bine, obgleich ihr selbst das Herz weh that, richtete ihre Pfarrfrau wieder auf:

„Das glaub' ich gern, daß man unsre Ursel dort will; so eine findet man in der ganzen Stadt Basel nicht. Weißt Sie, Frau Pfarrerin, als die Tochter Ihr Brautkleid anlegte, dacht ich, so schön sei Sie selber nicht gewesen, und Sie war dohh nicht übel; aber Ihrer Tochter reicht Sie 8'Wasser nicht.“

Die Mutter mußte lachen: „Die Höflichste bist du just nicht, liebe Bine! aber laß gut sein: 8' ist ehrlich gemeint.“

Die Pfarrerin trat noch einmal an die Truhe, wo ihre schöne Jugendgarderobe seit siebzehn Jahren im Dornröschenschlafe lag.

Alles hatte Ursuline probiren müssen: alles zu eng und klein! Die vollen Arme sprengten beinahe die Aermelnäthe, die Schultern fanden keinen Raum, und doch hatte die Pfarrerin eben um ihrer Tochter willen alles so sorgfältig aufbewahrt.

Sie legte mit peinlicher Gewissenhaftigkeit die Gewänder in die Truhe zurück; damals hielten die Stoffe durch ganze Generationen aus.

Da waren ja noch andre Töchter, Bethli und die ganz kleine Mieke.

Ein Tranerschleier lag über dem Hause; die Kleinen frugen immer nach Ursel; die Dorfleute blieben stehen und riefen der Pfarrfrau zu: „Ach Herjes, wo mag unsre Ursel jetzt sein?“ Bine war mürrisch und warf in der Küche alles klappernd zusammen.

Gute Mutter! wir zählen die Thränen nicht, die über deine Wangen herabrollen!

Am dritten Morgen sah die Pfarrerin ein Paar Schuhe vor Ursulinens Thüre stehen.

Wange auf dem braunen Arm, ein glückseliges Lächeln auf den Lippen.

Kann sie ihren Augen trauen? Nicht sogleich.

Zitternd, mit gefalteten Händen steht die Mutter vor der Schläferin:

„Ich will meinen Engel vor dir hersenden?“ ruft sie bewegt und eilt, bei ihrem Gatten das überquellende Herz zu erleichtern.„Sie ist bei Nacht gekommen, bei Nacht alleine auf der Landstraße.“

„Was? wer ist gekommen? doch nicht Ursuline?“

„Eben sie; wenn ich das gewußt hätte! .. und ich schlief, während das Kind alleine draußen war. .. Mein Gott, wie gut du bist!“ rief sie mit heißem Danke.

„Da soll doch gleich ein Donn .......“ brauste der Pfarrherr auf, besann sich aber auf halbem Wege.„Davon gelaufen ist's Maitlin! davon gelaufen! und darüber freust dich noch?“

„Geh doch!“ rief sie; „da hat man wieder einmal 8' Scheit im Rucken! Mit dir red ich nicht wieder, bis du vernünftig bist.“

Die Pfarrfrau ging grollend hinaus.

Im Laufe des Tages erschien der gekränkte Schwiegervater in spe mit dem Bräutigam.

Es lief noch gut ab. Das Heimweh war ja keine Sünde.Am ersten Tage war die zukünftige Braut allen Familiengliedern vorgestellt worden.

Die Musterung geschah etwas schonungslos; Manuel,der junge Verlobte, war selbst davon verletzt.

„Ich begreife, daß du fortgelaufen bist; ich wäre auch gegangen an deiner Stelle“, sagte er zu Ursulinen.

„Jetzt ist das Examen überstanden“, meinte der Schwiegerpapa; „wer wird sich durch ein paar scharfe Augen gleich in's Bockshorn jagen lassen?“„Gefürchtet hab ich mich nicht, Herr Papa!“ erwiederte Ursuline lachend. „Ich bin nur gegangen, weil ich Sehnsucht nach daheim bekam.“

So war's gekommen; als man Abends zu einer Vorfeier der Verlobung auf's Gut Gundeldingen ging,sah Ursuline immer nach ihren lieben Bergen, die sich klar und duftig am Horizonte abzeichneten. Sie konnte sich nicht mehr halten.

Das lange seidene Gewand schürzend, verließ sie den Garten, ohne Abschied zu nehmen.

Sie flog.

Im Gehen lächelte Ursuline vor sich hin. Jetzt hatte die Dienerin ihren Auftrag ausgerichtet: nun fielen alle über sie her.Klar stieg der Mond am Himmel auf; trotz ihrer Wanderschaft über Berg und Hügel fühlte sie keine Müdigkeit.Da ist der Bach des Heimatthales. Ein lauter Jubelruf aus voller Brust!

Die Wellchen, die im Mondenglanz silbern aufsprühen,sie haben den Fuß der Linde am Elternhaus umspült.Nun murmeln sie leise weiter.

Hier die Moosweide; ein Baumstumpf, der von Moos umwachsen, ost der Mutter als Ruhesitz dient.Sie wird leicht müde, die Pfarrerin. „Bald bin ich bei dir, lieb Mütterchen!“

Neben dem Wäldchen vorbei; der Weg liegt tief im Schatten; hernach die offene Wiese.

Kein menschlich Wesen; die Amseln singen in den Büüschen und am Wasser die Nachtigall.

Das Thal verengert sich; da sind die ersten Häuser!

Sie schlafen, alle die lieben Leute!

Ach! wie köstlich das riecht! Von den Rosenspalieren trägt ihr der Nachtthau die süßesten Düfte entgegen.Nichts als das Klappern der Mühle und das Rauschen des Wassers.

Zwischen den Häuserreihen fliegt die junge Gestalt,den begeisterten Blick auf das schimmernde Kirchlein gerichtet. Wie ein Schutzengel leuchtet es ihr entgegen.

Daheim! seliges Wort! Ursuline ist daheim!

Die Scheuer steht immer offen; durch diese kann die Pfarrerstochter in's Haus, ohne Jemand zu wecken.

Die Väter saßen in der Stube beim Weinkrügchen;die jungen Leute plauderten im Garten. Manuel, der Bräutigam, war noch blutjung, aber groß und schlank.Seine schönste Zierde waren die dunkeln Augen, glänzend wie Sternennacht.

„Du bist ein prächtiges Mädchen“, sagte er zu Ursuline, „hast nur einen Fehler!“ Ursuline lenkte seine Aufmerksamkeit fragend auf ihren braunen Arm, von dem Manuels weiße gepflegte Hand komisch abstach. Er ließ ihn doch nicht los.

Manuel schüttelte den Kopf: „Nicht das! Der große Fehler ist, daß du mich nicht magst!“

Ursuline lachte lustig: „Warte nur, bis die Rechte kommt! sie wird dich schon mögen!“

„Was sagen wir aber zu den Eltern?“ frug er bedenklich.

„Weißt du, Manuel, wir wollen's dem lieben Gott überlassen“, antwortete sie treuherzig.

Drinnen schauten die Väter mit Schmunzeln und manchem kräftigem Schluck, wie die Kinder sich haschten.

Bald ward ihnen der Garten zu enge; sie erstiegen die Anhöhe hinter demselben.

Hier weidete Ursulinens Liebling, das Schwärzele,welches ihr als Kälbchen vom Vater geschenkt worden.Das muntere Thier sah kaum seine Herrin, als es mit krumm erhobenem Schweife und komisch eckigen Capriolen auf sie zustürzte Manuel schnell hinter einen Baum.

Ursuline gab der schönen Ungestümen einen schallenden Klaps und sie stürzte übermüthig davon; das junge Mädchen lachte Manuel aus, so silberhell, daß es die drunten hörten und sich vielsagend die Hände drückten.

Sie täuschten sich, die guten Alten.

Brummend gewährten die beiden Väter noch eine Wartezeit. Die vielen Kännchen Wintersinger hatten ihre Wirkung gethan; Manuel und Ursuline mußten auch Bescheid trinken.

Der Rathsherr war schon überselig und kneipte der Schwiegertochter in die Arme:

„Wird Euch schon vergehen, die dumme Sprödigkeit“,flüsterte er ihr in's Ohr, daß es Manuel hören mußte.Der Rathsherr sprachs mit losen Blicken.

Wurden Beide roth; und noch röther, als er den Pfarrer anstieß und auf die befangenen Kinder aufmerksam machte.

Die Zeit des Aufbruches kam; man mußte dem Rathsherrn in die Kutsche helfen; dort begann er einen Monolog, der immer spärlicher ... spärlicher wurde und zuletzt in Schnarchen aufging.

Manuel wollte über den Berg zu einem Freunde.Ursuline gab ihm das Geleite bis auf die Höhe.

Sie schüttelten sich die Hände und das Pfarrtöchterlein sprang leichtfüßig wieder dem Hause zu.

In der Nacht erkrankte eine Knh; die ganze Familie war auf den Füßen; endlich wurde das Thier ruhig; alle schliefen fest; nur Ursuline mußte noch einmal nach ihm sehen.Plötzlich lauscht sie: „War das nicht Hülferuf?“

Sie tritt durch das Scheunenthor und leuchtet auf den Weg: „Wer ist da?“ Ein schwacher Ruf antwortet ....

Manuel hatte sich in einem Wäldchen niedergelassen;die Sonne schien zwischen den Stämmen hindurch und warf prächtige Lichter auf den mosigen Grund. Ihm war vom Gehen heiß geworden; ein wenig auch vom Weine.

Er dachte an Ursuline.

Darüber war er eingeschlafen. Ein furchtbarer Donnerschlag weckte ihn; in der tiefen Finsterniß stieß er an Baumwurzeln; den Pfad hatte er ganz verloren.

Wohl zwei Stunden lang irrte er tastend umher;über seinem Haupte brausten die Wipfel, blendende Blitze um ihn wie ein Flammenmeer; nachher unergründliche Nacht.

Mehrmals hatte er am Rande des Abhanges gestanden; jedesmal zeigte ihm das Wetterlenchten die Gefahr.

Er wollte Feuer schlagen; aber der Zunder war in seiner Tasche ganz durchnäßt.

Endlich fühlte er weichen Boden unter seinen Füßen;es ging sanft abwärts.

Zwischen dem Rauschen des Regens das Plätschern eines Bächleins.

Dort unten Licht! immer d'rauf zu.

Es war Ursulinens Laterne.

Zum Tode erschöpft, lehnte er mit seiner ganzen Körperkraft an ihrer Schulter; sie brachte ihn in's Gastzimmer und zu Bette; er war wie ein schlaftrunkenes Kind.

Kaum vermochte er den stärkenden Trank zu genießen,den ihm Ursuline an die Lippen hielt.

Dann begann ein fieberhafter, ängstigender Schlummer.

Als der trübe Regentag durch die Scheiben blickte,kam endlich die Ruhe. Das junge Mädchen strich die 134 schwarzen Haare von seiner Stirn; sie waren durchfeuchtet und der Athem ging sanft.

Ursuline stand nachdenklich bei ihm: „Was thue ich noch hier ?“

Doch wurde ihr das Fortgehen schwer.

Es giebt Neigungen, die plötzlich aufflammen: „Strohfeuerle“ nennt sie Großmama Claire.Zuweilen kommt die Liebe leise wie der Fruhlingstrieb,der im Verborgenen lebt und wächst. Allmälig durchdringt er das ganze Wesen: ein warmer Regenschauer und die Blüthe ist da.In Ursulinens Liebeslenze waren die widrigen Winde vorherrschend.

Ein Glück war's für die Pfarrfrau, daß sich die Tochter noch eine Wartezeit erbeten hatte. Die Wiege,die seit mehreren Jahren im Dunkel einer Kammer stand,mußte neuerdings neben ihr Lager gestellt werden.

Köbi, der Spätling, brachte alle aus dem Concept.

Die Mutter konnte sein Schreien nicht ertragen; die Schwesterchen hielten sich die Ohren zu; am rathlosesten war der Pfarrherr.Da zog sich Ursuline mit ihm in das abgelegenste Zimmer zurück.Das Kind wurde in aller Stille getauft. Ursuline nahm es ernst mit dem Pathengelübde. Die Mutter krank; die neue Pflicht, die schwer auf ihr lastete: kein Wunder, daß sie über ihre Jahre ernst wurde.

In dem Pfarrhause hörte man nur gedämpfte Schritte und leises Flüstern; Köbi war der Einzige, der keine Rücksicht nahm.

Der kleine Bursche war unersättlich.

Die ersten Monate waren glücklich überstanden. Der Nestling saß nun aufrecht auf der Schwester Schooß; er blieb sonst bei Keinem.

Wenn Manuel kam, mußte er sich die Gegenwart des kleinen Schreiers gefallen lassen. Zuweilen fand er sich sogar mit Scherzen darein.

Er setzte sich auf einen Schemel zu Füßen der Pfarrerstochter und ließ sich von Köbi an den Haaren ziehen oder auf die aufgeblasenen Wangen patschen; dann meckerte der Kleine vor Vergnügen und das junge Pärchen lachte fröhlich mit; sogar die Pfarrerin schlich vom Sopha herüber und stimmte mit ein.

Dennoch kam Manuel immer seltener. Keine größere Gefahr kennt die Liebe, als Verzug: das Warten lähmt immer.Im Pfarrhause fehlten auch sonst die Schatten nicht.Alle Kinder waren wohlgerathen, bis auf Eines.

Das war Ludwig, der Träge, der Unordentliche.

Lude war der Sündenbock. Fand man Scherben,hatte Lude etwas zerbrochen. Die Erdschollen oder Fußtritte in den frischgescheuerten Stuben rührten von Lude her.

Das arme Kind hatte weder Achtung noch Zutrauen zu sich selbst.

Kamen die Basler Verwandten, wurde er aus Vorsicht in's Bett gesteckt; denn er litt an einem „korten Dorm“, wie es Reuter nennt.

Dazu die Verachtung der Geschwister, die Gereiztheit der Eltern.Nach Tische mußten die Kinder ihre Buchsbaumlöffel andere Eßgeräthe erhielten sie nicht selbst abwaschen und in die Einschnitte des Brettes stecken. Da stürzten ihrer zwei, drei auf die Pfarrerin zu:

„Mutter! das Faulthier hat seinen Löffel nur abgeleckt!“

Die angegriffene Frau brach in Weinen aus; den Vater übermannte der Zorn.

Um jede Kleinigkeit wurde er gestraft.

Der Pfarrherr büßte später seine Schuld mit heißen Thränen und Gebeten ab. Nach einem verfehlten Leben starb Ludwig im Elternhause.

Zu seinem Vater sprach er: „Hättet Ihr mich lieb gehabt, würde ich nicht als verlorener Sohn zu Euch zurückgekommen sein.“Unter den Pfarrkindern hatte der Nestling den stärksten Unabhängigkeitssinn; seine körperliche Kraft entwickelte sich in gleichem Maaße, wie die Willensstärke. Im Dorfe herrschte der Enakssohn wie ein König.

Der Vater war zu bequem geworden, um dem kleinen Wildling nachzugehen; die Mutter hatte keine Macht über ihn. 137 Wenn Ursuline nicht zugegen war, band ihn die Pfarrerin mit Bine's Hülfe an den Ofenfuß. Selbst da war er nicht unschädlich.

Magister Winkelblech wollte einst dem Hause einen Besuch machen; wie er aber unter die Wohnstubenthür trat, rief eine herrische Kinderstimme:

„Mach, daß du fortkommst, oder ich werf' dir diesen Stein an den Kopf!“Der Magister flog schneller, als er selber wünschte,über die böse Treppe hinab.

Am gefährlichsten war Köbi, wenn er sich stille verhielt. Wer hat nicht diese Erfahrung schon an den eigenen Kindern gemacht?

Im Pfarrhause war großes Putzfest; der Tüncher hatte die Wände frisch geweißt; droben in den Schlafzimmern wurden Böden und Fenster gewaschen. Indessen war Köbi ohne Aufsicht.

Im Hausflur stand er mit den Händen auf dem Rücken.Eine frische Leinwand soll auf Künstler eine zauberhafte Wirkung üben. Aehnliches empfand Köbi vor der frischgeweißten hellen Wand.

Große Entwürfe wälzten sich in seiner Seele; die kindlichen Wangen brannten im Eifer; das Auge hatte einen Blick, der über das jugendliche Alter des Knaben hinausging.

Endlich holte er in der Küche eine schlanke Kohle,stieg auf die steinerne Bank und zeichnete auf den feuchten 138 Kalkbewurf nach Art der Bilder in der uralten Familienbibel den bethlehemitischen Kindermord.

Den Pfarrherrn reute es fast, das Kunstwerk seines kleinen Sohnes der Vernichtung preiszugeben: Herodes stand mit ausgestrecktem Scepter, kurz und stämmig wie ein Nußknacker; nur hatte ihm Köbi zur Bezeichnung seiner Schlechtigkeit Hörner auf den dicken Kopf gesetzt.

Mit den Gemordeten war er summarisch verfahren;die Köpfe lagen in großen Haufen übereinander, wie das Kraut in Basel zur Meßzeit auf den Marktplätzen, und die Schwerter der Kriegsknechte waren fast größer als diese selbst.Das war eine geniale Composition.Wenn nur Jemand da gewesen wäre, um eine sachkundige Ansicht darüber zu geben!Mit Seufzen sah der Vater diese Umrisse wieder unter des Tünchers Hand verschwinden.

Einmal mußte der Pfarrherr doch der Gercechtigkeit ihren Lauf lassen und Köbi erhielt Angesichts der Dorfbewohner eine exemplarische Strafe.

Hinter der Scheune des Pfarrhofes steht ein Grasgarten mit Obstbäumen und ein laufender Brunnen.Das Plätzchen ist abgelegen und still; dort wurde mancher Geniestreich ausgeführt, der den Augen der Pfarrersleute verborgen blieb.

Ein großer Raum, der früher als Küche gedient hatte, war mit. Kisten angefüllt; hier kletterten Köbi und seine Dorfbuben lustig auf und ab und steckten die Köpfe durch das eiserne Fenstergitter.

Eine Weile war das herrlich anzusehen: als aber der eine sein Gesicht zurückziehen wollte, saß es in den Stäben fest.

Alle fünf wollen miteinander heraus. Umsonst ritzen sie sich Ohren und Backen wund! es geht nicht.

Endlich furchtbares Gebrüll aus allen Kehlen!

Im Dorfe stürzen die Leute schreiend durcheinander:„wo ist's? was ist geschehen?“ Laut weinend suchen die Müͤtter, fluchend die Männer.

Sie sind gefunden! Der Pfarrherr kommt dazu.

Wie er den Chor von heulenden, blaurothen Köpfen fieht, packt er eine Haselruthe und peitscht erbarmungslos auf den Köbi.Die Gefangenen verstummen; entsetzt reißt sich einer durch; die andern wendet und dreht der Pfarrer, bis sie alle befreit sind.

Der Mama zu lieb ließ man ein engeres Gitter machen; es war unnöthige Vorsicht. Die Kinder mieden fortan den kleinen Hof.

Hintennach konnte man schon über den drolligen Anblick lachen.

Ursuline hatte am meisten Einfluß auf ihren Pflegling. Und wie hübsch sie ihn kleidete.

Er brauchte sich vor den Stadtkindern, die hin und wieder zu Besuche kamen, nicht zu verstecken.

Kurze Höschen mit einer Falbel am Knie, einen 140 feinen, gefältelten Linnenstreifen um den entblößten Nacken,auf welchem der hübsche Lockenkopf so sicher und selbstbewußt thronte; das war die stramme, äußere Erscheinung des Pfarrsprößlinges.

Ganz entsprechend war sein Auftreten, offen bis zur Keckheit.

Ursuline hielt ihn für vernünftig genug, um mit zur Kirche genommen zu werden. Ein junger Geistlicher vertrat den Pfarrherrn, der zu einer Visitation verreist war.

Der kleine Bursche im Pfarrstuhl nickte vergnügt den Leuten zu; er kannte sie alle, die Wintersinger wie die Nußhöfer, die schon damals getrennte Sitze inne hatten.Der Kandidat stieg auf die Kanzel; mein Büblein horcht aufmerksam auf die Predigt. Schon ist die halbe Stunde um; der Geistliche spricht:

„Meine Geliebten im Herrn, ich frage Euch, wer wird der Kinder Brot den Hunden geben?“ Weiter kam er nicht.Kobi springt wie der Blitz auf und schreit:

„Du wüester Kandidat! du darfst keine Kinder broten (braten) und den Hunden geben!“ Er schluchzt so leidenschaftlich, daß ihn Ursuline aus der Kirche tragen muß.Dem Kandidaten aber gelang es nicht, die Anerkennung der Gemeinde zu erlangen. 141 Ostern fiel in den Spätfrühling.

Blau spannte sich der Himmel über die grünen Wiesen, welche streifenweise wie flüssiges Gold leuchteten.Der Löwenzahn stand in blühender Fülle und Veilchen am Saume des Gehölzes.

Das schleierartige Grün des aufbrechenden Laubes hing im Walde. Sogar die dunkeln, ernsten Tannen hatten sich mit zarten, sammtartigen Sprossen geschmückt.

Um das Dorf wand sich ein bräutlicher Kranz; die rosig angehauchte Apfelblüthe, das tiefe Rosa der Pfirsiche zwischen weißüberschneiten Birn- und Pflaumenbäumen.

Wie im Sommer schwirrten Bienchen und Käfer um die duftenden Kelche und das festliche Geläute erfüllte das Thal.

Aus der Thüre des Pfarrhauses traten die Confirmandinnen; an ihrer Spitze Bethli im schwarzen Merinokleide mit weißem Tülltuch, ein Sträußchen von Rosmarin am Busen.

Die Dorfmädchen hatten ihre Beginenhäubchen, bunt mit Gold gestickt, mit weißen Seidenschleifen gebunden;ihre langen Zöpfe fielen auf eug gefältelte schwarze Röcke.

Nach ihnen kamen die Knäben, bloßen Hauptes, die Haare kunstlos in Stirn und Nacken fallend.

Im Pfarrstuhle saß schon die Familie mit den Baslergästen. Es gab eine unterdrückte Bewegung durch die ganze Kirche, als der Pfarrherr eintrat; hinter ihm je zwei und zwei die Kinder, auf deren jungen frischen Gesichtern die Weihe des frommen Gelübdes lag. Ursuline schaute mit tiefer Bewegung auf ihre junge Schwester. So wie dieses junge Mädchen fühlte, war ihr auch zu Muthe gewesen; es lagen nur wenige Jahre dazwischen. Damals hatte sie auch den Himmel offen gesehen.

Anderes drängte sich heute in ihr frommes Empfinden.

Es war die Ahnung eines irdischen Leides.

Manuel war in der letzten Zeit seltener gekommen;mit dem Instinkt des Herzens errieth sie, daß etwas Fremdes störend in ihre Verbindung getreten sei.

Ein Mißverständniß? ein Zweifel?

Nein, Ursuline hatte Recht; es konnte nur eine andre Frau sein.„Sinnen junger Gesellen „Wetter im Aprellen“;mit welcher Beharrlichkeit der profane Reim immer wieder in ihren Gedanken auftauchte, hier, im Gotteshause.Sie rang mit ihrem wunden Herzen: „so darf ich nicht zum Tische des Herrn treten!“Schon sprach der Vater das Abendmahlsgebet; er segnete Brod und Kelch.Helle Angsttropfen traten auf ihre Stirn: „O Herr Gott, erbarme dich meiner!“Sie vermochte sich wieder zu fassen.Als sie heimkam, fand sie einen Brief von Doris,ihrer Pathin und Verwandten Ann-Gertrud Tochter:die junge Wittwe forderte sie auf, Manuel freizulassen;sie liebe ihn und wisse bestimmt, daß sich das Herz des jungen Doktors ihr zuneigen würde, sobald die frühere Verlobung gelöst sei.Der Schlag war nun gefallen.Als der Pfarrherr der erschütterten Tochter den Brief aus der Hand nahm, wurde er blaß vor Grimm.

Er wollte selbst nach Basel reisen; doch Ursuline bat ihn, zu schreiben. „Ich sehe ein“, sagte sie mit Fassung,„es ist Gottes Wille, daß ich bei meinen lieben Eltern hleibe.“Heftig braussste der Vater auf; an seiner Tochter Zügen konnte er sehen, wie sie litt. Sie aber sprach:

„Vater, bedenke, daß Manuel kein Vorwurf trifft;ich bin ja selbst an der ersten Zögerung Schuld gewesen.Wenige Tage später kam der Bräutigam. Beim Anblick des milden Mädchens durchbebte ihn die alte Neigung, wie ein holder Klang aus den Jugendtagen.

Noch einmal legte er seine Zukunft in ihre Hand.Ursuline aber besaß die klare Festigkeit und den Stolz der Hanscasperschen.

VIII.Mer Herr Deputat hatte in seiner Tochter Gretchen Stammbuch geschrieben:„Sei Martha! Horch wie Maria!“

In diesen beiden Worten ist Gretchens Weise gezeichnet.

Imponirt hat sie nie; dazu ist sie zu einfach und zu klein von Gestalt.

Idhre Erscheinung zählt unter die Seltenen, die der Himmel herabsendet, um menschliches Leid und Thränen zu stillen. Wie ein Engelsantlitz neigt sie sich über die Kranken; ihre weiche Hand streicht sanft über die fieberheiße Stirn und die bangen Bilder schwinden.

Wo das liebeathmende Wesen eintritt, bringt es den Frieden. „Gretchen kommt!“ Die Geschwister, die sich eben heftig stritten, eilen ihr, einig in der Freude, entgegen; der Herr Gemahl, auf dessen Stirn eine Wetterwolke dräute, heitert sich auf wie ein Apriltag.

Es war kein Geheimniß, daß die Forstmeisterin mit ihrem Gemahl unzufrieden lebte, seit er offen zu den Patrioten übergetreten war. Ann-Gertrud dachte zu ehrlich,um ihre Empfindungen zu verbergen. Die Schlagwörter:„Gleichheit, Freiheit“ durften in ihrer Gegenwart nicht ausgesprochen werden.

Einen „Bürger Balthasar“ kannte sie nicht; wehe dem, der anders wagte, als ihn „Herrn Forstmeister“zu nennen! Grollend trug sie die vielfachen Unruhen, welche die Truppendurchmärsche im Jahre 1798 verursachten.

Im darauf folgenden Jahre rückte der Krieg wieder näher an Basels Mauern.Schanzen wurden erbaut, welche sich längs der Wiese und des Rheines bis zum Grenzacher Horn erstreckten.Gartenhäuser, die schönsten Pflanzungen und Gehölze wurden unbarmherzig geopfert; in den langen Erlen konnten mit Mühe und Noth einige alte Eichen gerettet werden.

Alles lief hinaus, um die Feldlager zu sehen, welche die Franzosen an der Riehen- und Klybeckstraße errichtet hatten.

Besonders die Ingend war von dem kriegerischen Treiben begeistert. Es waren damals 15,000 Franzosen in Basel.

Der Ueberdruß kam nach. Die von Massena auferlegten Contributionen empörten die Basler.

Geachtete Männer wurden mit Verhaftungen bedroht;ein Kaufmann, der sich gegen die Erpressungen auflehnte,in Hüningen gefangen gehalten.

Die Forstmeisterin schien mit jedem Blicke ihren Gatten zu fragen:

„Hast du nun bald genug von deinen Franzosen?“

Er seufzte wie die Uebrigen unter der schweren Last;sein Haar bleichte rasch und seine Haltung wurde immer geneigter.

Wenn Gretchen sein unbehagliches Zusammen sein mit der zürnenden Gattin unterbrach, leuchtete die Freude in seinen müden Zügen auf: „Du bist meine liebe, kleine Zauberin!“ flüsterte er ihr in's Ohr.

Niemand verstand die Forstmeisterin aufzuheitern, wie das Deputatenkind. Sie war dazu die Tochter eines Gesinnungstreuen.

Seit der unerwarteten Zusammenkunft in den Haselstauden bei Bubendorf war Greichen die treueste Freundin don Doris. Sie kam täglich, pflegte Balzerli und entriß die junge Wittwe der Leidenschaft des Stopfens und Flickens, worein sie oft verfiel.

Gretchen war der gute Genius, welcher Doris aus der Nüchternheit des Alltagslebens zuweilen in eine hoöhere Stimmung verlockte. Sie hatte bald die leidenschaftliche Neigung der jungen Frau für Manuel entdeckt; der Forstmeister, der täglich am Krankenbettchen seines Enkelchens saß, ihm Häuser, Thiere, Menschen und Bäume zeichnete, merkte es nicht; das eigene Leid drückte ihn darnieder.

Eines Tages traf die Freundin Doris am Schreiben.

„Du könntest mir helfen, liebes Gretchen“, sagte sie;„du weißt alles besser auszudrücken.“

Gretchen erblaßte, als sie die Zeilen laß:

„Das wirst du nicht schreiben, liebe Doris! das ist nicht möglich!“

„Warum nicht?“ frug Doris gereizt.

„Manuel ist mit Ursuline verlobt; du hast kein Recht,dieses Band zu zerreißen!“ 147 „Bah!“ erwiederte die junge Frau. „Ursuline liebt ihn nicht. Sie kann gar nicht lieben.“

„Und Doktor Manuel? wie wird er einen solchen Schritt anfnehmen? O liebe, liebe Doris, zerreiße diesen Brief!“„Ich habe alles überlegt und bin entschlossen“, sagte Doris; „ich thue es schon um meines kränkelnden Kindes willen.“ Sie täuschte sich selbst.

Betrübt kehrte Gretchen heim, schwankend, ob sie die Freundin länger besuchen solle.

„Vielleicht braucht sie mich nöthiger als je.“

Am andern Tage kehrte sie zur gewohnten Stunde zu der Wittwe zurück.

Von dem Briefe war keine Rede mehr; aber an Doris unruhigem fieberhaftem Wesen konnte sie entnehmen, daß er abgesendet war.

Der Doktor hatte einen andern Arzt zum kranken Kinde geschickt. Doris stand am Fenster und durchbohrte mit ihren Blicken jeden Menschen, der in die stille Straße trat: „Vielleicht, daß einer Botschaft bringt!“ Es kam aber keine.

Wochenlang wartete sie; die Hoffnung schwand.

Der Forstmeister konnte den Zustand seiner Tochter nicht mehr länger ertragen: Doris lachte und schluchzte abwechselnd wie eine Wahnsinnige.

Er holte selbst den jungen Arzt.

So wurde die eigenwillige, verzogene Doris die Gattin Manuels. 148 Gretchen durfte sich auch jetzt nicht zurückziehen; der Doktor schloß sich herzlich an die stets heitere Freundin seiner Frau.„Ist Gretchen hier gewesen?“ war seine erste Frage,wenn er heimkehrte.

„Wir wollen doch Gretchen um ihre Meinung fragen“,wenn es sich um einen Entschluß handelte.

Gretchen wird schon bei Balzerli bleiben“, beruhigte sich Doris, wenn sie ihren Mann auf einem Ausfluge begleiten wollte.

„Das liebe, selbstlose Gretchen“, dachte Manuel im Stillen.

Es war, als ob Gretchen in einem kurzen Zeitraume ein ganzes Leben von Aufopferung und Liebesmühe zu vertheilen hätte.

In der That war ihr keine lange Laufbahn bestimmt.

Mutterhoffnungen versetzten die junge Doktorin in grübelnde, sorgenvolle Stimmung. Sie nahm alles von der schweren Seite.

Gretchen scheuchte alle Schatten von ihrer Stirn,uübernahm jede Besorgung, welche für Doris zu můhsam war, und umgab sie mit der liebevollsten Sorgfalt.

Am Shylvester 1799 war sie zum letzten Male bei Doris. Eigenhändig schrieb sie den sinnigen Neujahrsgruß:vielleicht hat sie ihn auch selbst gedichtet. Er heißt:

„So tritt, o Freundin, jetzt auf Deines Lebens Pfade,„In's neue Jahr mit Dank und Muth.

„Empfiehl Dich Gott und seiner Gnade,

„Was Er verhängt, ist alles gut. 149 „Aus Liebe hat Er Dir verborgen

„Was künftig ist, Glück oder Leid;

„Drum sorg' nicht für den andern Morgen,

„Sei fromm und froh; dies sind die Sorgen

„Des Lebens und der Seligkeit.“

Als Gretchen nicht mehr war, schien der Engel von

Doris Seite gewichen zu sein; sie versank nun ganz in die Prosa des Lebens.

Im Frühling des Jahres 1800 war in der Prunkstube in des Doktors Haus, die nur bei wichtigen Anlässen geöffnet wurde, ein Rumoren von Bürsten, Klopfen,Kehren, daß der Hausherr sein Heil in der Flucht suchen mußte.Doris, die Wöchnerin, dirigirte alles, obschon sie selbst nicht zugegen sein konnte.

Es galt die Ehre des Hauses.

In dem mächtigen Himmelbett mit den geschnitzten Engeln und damast'nen Vorhäugen saß Doris ein paar Tage später in einem brokatnen, steifen Mieder auf einem Schemel.Der Friseur hatte die letzte Locke ihrer künstlichen Haartracht befestigt; da kamen schon die Visiten.

Zuerst die Cousinen und Freundinnen, die in bescheidenen Verhältnissen lebten, mit selbstverfertigten Häubchen, Lätzchen, darin Perlenkränze von Rosen und Vergißmeinnicht eingestrickt waren. Sie legten sie auf die kostbare Spitzendecke des Bettes und traten in den Hintergrund des Zimmers.

Dann erschienen die ältern Damen mit umständlichen Complimenten und kostbaren Gaben, die majestätische Frau Forstmeisterin im goldgestickten Sammtkleide.

Die schöne Climne, Nichte des französischen Gesandten, trat ihr ehrerbietig entgegen, sie zu begrüßen;aber die stolze Franzosenfeindin würdigte sie keines Blickes,so wenig als die lebhafte Lucia, ein broncefarbiges Kind des Südens.Clymonens Heiterkeit wurde dadurch nicht getrübt;Lucia machte eine muthwillige Grimasse.

Beide waren außergewöhnliche Erscheinungen. Die erstere imposant in der vom Maler und Bildhauer David in Paris eingeführten Nachahmung der griechischen Gewandung, Lucia mit dem kleinen schwarzen Krauskopf auf einem zierlich beweglichen Körperchen.

Sie wurden mit der größten Auszeichnung empfangen;die Forstmeisterin war die Einzige, die ihre wirkliche Meinung zeigte. Clymöne achtete sie um so höher.

Nach und nach kam die Elite der guten Gesellschaft,alle mit Ridiküle und Bonbonniere.

Gemäß dem alten Usus der Kindbetterinstuben ließ man sich nach Würde und Rang nieder und schlürfte Chocolat aus zierlichen Schälchen.

Da wurde das Kind mit der Amme präsentirt. Ein Ruf der Bewunderung empfing sie. Die mächtige, braune Guggisbergerin rückte mit ängstlicher Vorsicht auf dem glatten Boden vor.

Breite Schultern und Hüften, blendend weiße Hemdärmel; ein Halstuch mit eingewebten Rosen, das um die Brust geschlungen in Zipfeln auf den kurzen Rücken des Leibchens fiel. Ein Wulst um den Leib; darüber bauschte der gefältelte Rock bis zum Knie; das war die Amme.

Die Guggisberger Waden hatten eine Berühmtheit,welche das stramme volle Bein mit dem schneeweißen Strumpfe und den rothen Zwickeln bestätigte. Es waren auch ansehnliche Füße, die in dem breiten, ausgeschnittenen Lederschuh stacken.

Die Diele knirschte unter ihrem Gewichte.

Der Amme Muth wuchs, als die beiden Täschchen an ihrer Schürze immer schwerer wurden; ihr breites Gesicht ging anf wie eine Sonnenblume.

Dem Kinde, das auf ihrem stämmigen Arme ruhte,wurde auch rücksichtsvolle Beachtung geschenkt; aber was war denn Besonderes daran?

Wo hatte der Doktor dieses schöne, kräftige Weib entdeckt? Das Zutrauen seiner Patientinnen wuchs nun in solchem Grade, daß er viele abweisen mußte.....

Eine andere Ueberraschung wartete auf die Damen.

Magister Winkelblech, der Lehrer des Söͤhnleins Balthasar, hatte zu diesem Anlasse ein festliches Carmen gedichtet. Da er aber den Nürnbergertrichter nicht besaß,konnte das hübsche Knäbchen ohne seine Hülfe nicht durchkommen. 152 „Wie herzig, wie nett!“ rief alles, da Balzerle auf der Schwelle erschien, gekleidet in pfirsichblüthnen Atlas mit Hut und Degen. Behende und gewandt trat das Kind ein; hinter ihm wankte der Magister mit einer Papierrolle.

Der kleine Redner hatte alle begrüßt und wendete sich so, daß er das Bett der Mutter im Auge hatte,ohne den Gästen den Rücken zu kehren.

Winkelblech, der in Todesangst um die Ecken lavirte,erreichte endlich seinen Zögling; es konnte nun losgehen.

Aber der Magister hatte wieder einen Unglückstag:erstens hatte sich eines der Wadenpolster seitwärts verschoben und zum andern hatte ihm die muthwillige Lucia einen vergessen gebliebenen rothen Flederwisch in die Tasche seines grüngestreiften Kleides gesteckt.

Gut war's freilich, daß er mitgekommen; der junge Lateiner hatte seine ganz unverstandene Aufgabe vergessen.

Er mußte ihm fast jedes Wort vorsagen. Dabei machte er eine tiefe Verbeugung nach der andern, die nur Frau Doris zu Gute kamen; der Arme dachte nicht an die hinter ihm sitzende Gesellschaft.

Sie kicherten alle bei vorgehaltenen Schnupftüchern;denn der rothe Wischer auf dem verlängerten Rückentheile machte die drolligsten Sprünge.

Balzerle blieb stecken.

Bombastus: „Nun, Fa..... Vorwärts: Faceb....Weiter!“ Strenge: „Facèébat ut Jnas prophèta

„In ventre borrèndi céli ......“ 153 Mit dem Zöglinge war nichts mehr anzufangen.Er lachte und weinte in einem Athem.

Die Großmama nahm dem Magister das Blatt aus den Händen:„Uebersetz' Er uns das, Magister! Er kann doch meiner Tochter nicht zumuthen, daß sie Latein versteht.“

Clymène war der Sprache mächtig; sie trat hinzu:

„Bitte, Madame, lassen sie ihn lieber nicht übersetzen.“ Sie konnte kaum an sich halten vor Lachen.

Winkelblech hatte sich kleinlaut davon geschlichen; aber der Wille der Frau Ann-Gertrud mußte durchgesetzt werden:„Der Falkensteiner soll herauf kommen.“

Lucia flog die Treppe hinunter in das Gemach, wo die Herren beim Weine saßen. Bald darauf erschien sie mit einem ältlichen Begleiter, der graziös tänzelnd eintrat.

Man sah an seiner Sicherheit, daß er überall zu Hause war.

Verbeugungen nach Rechts; Verbeugungen nach Links.Hier ein leichtes Berühren der Fingerspitzen, dort eine galante Phrase. Der Forstmeisterin nahte er mit einer ehrfurchtsvollen Geberde. ...

Der Falkensteiner war auf alle Tonarten gestimmt;die alten Damen erbaute er durch feinen Hofton, gegen die Jungen war er ein Muster von Galanterie.

Fast sein ganzes Leben hatte er in der Fremde zugebracht; er konnte eine ganze Sammlung von Dosen mit den Widmungen allerhöchster Persönlichkeiten vorweisen. 154 In kunstvollen Bonbonniöres, erlauchten Andenkens,offerirte er feine Süßigkeiten, die er selbst leidenschaftlich liebte.Trotz seiner Jahre war er immer umschwärmt.

In jener Zeit des Mißtrauens und der Reizbarkeit,wo die Meinungsverschiedenheiten ganze Familien entzweiten, war ein Mann, wie der Falkensteiner, sehr gesucht. Er wußte jede Taktlosigkeit zu decken; verwandelte spitze Worte in eine angenehme Phrase, und wenn das nicht genügte, brauchte er nur aus dem Schatze seiner Erlebnisse zu schöpfen; darüber vergaß man jeden Zwist.

.dMon cher“, sagte die Forstmeisterin zu ihm, wir wünschen von Euch die Uebersetzung dieses Carmens!“

Der Falkensteiner las es durch. Plötzlich ließ er sich auf einen Stuhl fallen; sein Lachreiz war fast nicht zu bändigen.

„Meine Verehrtesten“, begann er dann mit mehrmaligen Rückfällen, „die Delikatesse erlaubt mir nicht,dieses Gedicht zu übersetzen, worin der Verfasser den artigen Neugebornen mit dem Propheten Jonas vergleicht Meine Verehrtesten! können Sie in der reizenden jungen Mutter dabei machte er Doris eine tiefe Verbeugung können Sie eine einzige Aehnlichkeit mit einem Wallfische erkennen?“

Glücklicher Winkelblech! Du bist dem Tumulte rechtzeitig entronnen!

Doris war so alterirt, daß sie plötzlich unwohl 155 wurde. Sie mußte diese Festlichkeit mit einer Krankheit büßen.Doktor Manuel schaffte die alte Unsitte ab, mochte Doris später noch so eigensinnig darauf bestehen.

Lucia stieg mit Clymöne in den Wagen. Die gelehrte stolze Dame liebte das unwissende Naturkind.

Die junonische Französin war als Künstlerin bekannt.Man erzählte, daß sie ihrem Meister David öfters ihre Gesichtszüge geliehen habe.

Die Frauen strebten eifrig nach der Ehre, durch die Kunst des berühmten Franzosen verewigt zu werden.

Das griechische Gewand, so auffallend für Andre,trug sie wie etwas Natürliches; ihr Wesen war einfach,ohne Coquetterie.

Wie sie ihr Wohngemach erreichte, legte sie den weichen großen Mantel ab und ließ sich auf ihr Löwensopha nieder. So, den Kopf auf den Arm stützend,mußte man an ein mythologisches Bild denken: Ariadne auf dem Panther.

Zu ihren Füßen saß Lucia und wiederholte in ihrer beweglichen Schalkhaftigkeit die erlebte Scene.

Die kleine Südländerin war. das Gegentheil ihrer bewunderten Freundin. Nicht ein regelmäßiger Zug im Gesichte.Aus den schwarzen Augen blitzte ein Feuerwerk von Schelmerei; sie waren gegen die Nase schräg gesenkt, diese funkelnden, sprühenden Augen.

Ach! und der Unsinn, der aus dem purpurnen Munde sprudelte und mit welch gebrochener Sprache. Sie kannte ja nur die Italienische.

Die braunen Wangen waren in steter Bewegung,hier ein Grübchen, dort ein Grübchen.

Zum Kätzchen fehlte nur das Schnurren. Lucia konnte sich um sich selbst wickeln, so geschmeidig war ihr Körper.

Ueberall wurde sie zu Gaste gebeten wegen ihrer drolligen Munterkeit. Wenn sie tanzte, berührte ihr feines Füßchen die Erde nicht mehr. Den Saum ihres Atlasröckchens hielt sie in der Hand, das Mieder knirschte unter ihren Bewegungen. Mütter und Töchter waren entzückt und erst die Söhne!

Doch begann man sich über das Gefolge von jungen Herren zu entrüsten, welches ihr auf den Straßen folgte.

Wenn Lucia in den Handschuhladen trat, gingen sie alle mit. Die feine braune Hand hat des Verkänfers Wohlstand geschaffen. Kaum konnte er genug Waare aufbringen.

Daheim aber kam die Tante nicht mit ihr aus.Lucia hatte keinen Begriff von einer Basler Haushaltung.Dieses ließ sie nachlässig liegen, Jenes, was heiliger Schonung geweiht war, brachte sie aus dem Geleise.

Am Abend schlüpfte sie aus den Gewändern; dann kam Tante herauf und legte ergeben Stück um Stück auf den Stuhl.

Tadeln und Mahnen war umsonst. Lucia setzte sogar der alten Dame Haube und Brille auf und ahmte sie nach. Als Clymöne verreisst war, folgte sie ihr heimlich.In Basel war's nicht mehr auszuhalten: Einst gefeiert,nun gemieden:Die Welt giebt uns allen Nach Honig bittre Gallen Heute Lieb und morgen Leid Das ist der Welt Unstätigkeit.

IX.Mes Wintersinger Pfarrhaus stand den Gästen wieder offen; die Pfarrfrau hatte sich endlich erholt. Sie kamen gerne, die Basler Freunde.

Der belebteste Tag war der Sonnabend; die Söhne brachten junge Vettern und Studenten mit; es gab oft Nachdenken, wie man sie unterbringen sollte.

Die jungen Leute erschienen während der Betstunde;dann saßen die halbwüchsigen Pfarrtöchterchen zerstreut in der Kirche; wer darauf achtete, konnte ihre außergewöhnliche Unruhe merken. Blank und glatt die Köpfe,frische Halskrausen und Schürzen, heiße Wangen und glänzende Augen.

War der Gottesdienst zu Ende, trippelten sie hinter dem stattlichen Pfarrherrn drein: „Wie langsam heute der Papa ist!“ sagten sich ihre ungeduldigen Blicke.Endlich!

Mit zwei Sätzen ist man durch den Flur im Garten. 158 „Grüß Gott Cousin! grüß Gott Herr Student!“

Eines freut sich über das Andre; da sitzen sie beisammen in der schattigen Laube, kichern und scherzen.

Den Himmel offen zu sehen, ist das glückliche Vorrecht der Jugend!

Bei Tische geht's ernster zu. Es giebt zwar keine Buchslöffel mehr; doch ist die Bewirthung recht einfach.

Die Pfarrersleute schauen mit Schmunzeln, wie's der Jugend schmeckt.

Nun sind die Kinder allein; da geht das Necken wieder an.Winkelblech, der jeden Samstag eintrifft, hängt vor Müdigkeit schlaff in seinem Sitze.

Sie kitzeln ihn mit Federposen: er will die Fliegen wegschlagen. Sie heben ihm die Perrücke vom Kopfe:er fährt ängstlich tastend über den Spitzschädel.

Doch will er überall dabei sein. Sogar auf den Hühnersedel, wo man den Sonnenaufgang betrachten will,muß er mit. Der Magister bestellt, daß man ihn rechtzeitig wecke; denn er ist noch nie auf dieser Anhöhe gewesen.Es geschieht; aber seine Kniehosen waren mit feinen überwendligen Stichen zugenäht; er muß trennen, bis die Leutchen lachend zum Frühstück zurückkehren.

An einem Sonnabend stürzte Köbi mit aufgerissenen Augen und bleichem Gesichte in des Vaters Studirstube:

„Papa! der Magister hat die schwarzen Blattern!“

„Bist nicht gescheit, Kleiner!“ 159 Das Kind betheuert mit fliegenden Worten, daß nicht er allein, sondern der Sepp, der Toni, kurz eine Anzahl Dorfbuben dasselbe gesehen hätten.

Die Bürschlein pflegten des Magisters Nachttoilette von der Linde aus zu beobachten; das wurde bei dieser Gelegenheit verrathen.

Vor dem Pfarrhause standen die Dorfleute; im Hausflur die händeringenden Mägde, und die Studenten stürzten entschlossen herbei.

Ein Gruseln überlief den Hausherrn; die Blattern waren der schrecklichste der Schrecken.

„Vor allem Gewißheit!“ sagte er und pochte an Winkelblechs Thür. Endlich geht sie auf. Der Arme fieht den Pfarrherrn auf der Schwelle, hinter ihm die Gesichter der Studenten.

Vor Scham über seine spärliche Bekleidung möchte er in die Erde sinken.

„Was ist das?“ frägt der Pfarrherr streng, auf die ominösen Flecke an den Beinen deutend.

Den erschrockenen Magister überfällt sein altes Zittern;er kann kaum die Sprache finden:

„Verzeihung, Herr Pfarrer“, stammelt er, „es sind Nöcher in meinen Strümpfen; da habe ich Tinte hingeschmiert.“

Ein schallendes Gelächter aus allen Kehlen, welches sich wie ein Lauffeuer durch das aufgeregte Dorf fortpflanzt.Seltsamer Zufall! Der arme Bombastus sollte in Wirklichkeit der fürchterlichen Krankheit erliegen. Er ließ sich vor seinem Ende einen Spiegel vor das entstellte Gesicht halten:

Ach wie bald „Schwindet Schönheit und Gestalt!“

In Ursulinens hellen Gesichtszügen fand man keine Spuren des Leides; sie war frisch und thätig wie zuvor;nur noch fleißiger, meinte die alte Bine.

Wenn sie mit dem Heurechen auf der Schulter elastisch schreitend vom Berge kam, ahnte man nicht, daß ein Schatten über diese glänzenden Augen gestreift war.

Für den Vater hatte sie stets ein heiter kluges Wort.Als sie mit den Mägden am Bache wusch, ging der Vater mit einem fremden Pfarrherrn vorüber.

„Das paßt doch nicht, mein Kind“, sagte er.

„Papa“, erwiederte sie fröhlich, „du erzähltest uns,daß Nausikaa, der Phäaken Königstochter, am Flusse wusch. Hat es etwa ihrer königlichen Würde geschadet ?“

Lächelnd ging der Papa weiter; der Fremde wendete fich aber mehrmals nach der schönen Jungfrau um.

Die Tüchtigkeit der Pfarrerstochter war in der Gegend sprüchwörtlich; doch blieb sie unvermählt, aus eigner Wahl.

In einem Fache ihres Schreibtisches des zierlich geschweiften Möbels, das Großmama Claire ihr als besonderes Andenken hinterlassen hatte liegt ein Schattenriß, von einem trocknen Myrthenkränzchen umgeben: ihre 161 Jugendliebe, welche sie mit heißen Thränen begrub. Seit jener Stunde öffnet sie das Fach nicht wieder; vergessen hat sie ihn nicht; sie denkt seiner wie eines Freundes.Die Beiden sind sich lange nicht begegnet.

Jahre kamen und gingen. Söhne und Töchter verließen das Pfarrhaus. Der Hausherr fühlte sich krank.Ein Jugendfreund, obgleich selbst von der Gicht geplagt,war zu ihm gekommen.

Ihre Erinnerungen schweiften weit zurück; der Professor lobte die alte, goldene Zeit.

Dann saßen sie Hand in Hand und durchgingen im Geiste die Jahre ihrer Freundschaft; dem Pfarrherrn wurde das Reden schwer.

Er blickte dem grauen Freunde bewegt in's Gesicht:„Nun?“Nach kurzem Schweigen antwortete der Professor:„Bestelle dein Haus!“ Er drückte heftig die dargebotene Hand und verließ das Zimmer.

Ursuline blieb eine Weile mit ihm; dann mußte ihm der Küster in den Wagen helfen; heiße Tropfen hingen in seinen Wimpern.

Am gleichen Tage erschien der älteste Sohn mit einem jungen Arzte.

Der Pfarrherr saß mit sanft gerötheten Wangen im Lehnstuhle; das Mütterchen lief eifrig hin und her, überglücklich, daß sie den Alten auch einmal pflegen durfte;vorher war er nie krank gewesen.

Auf dem schönen Antlitze des Pfarrers war zein so verklärter Glanz, daß Jeder, der eintrat, versucht war,das Knie zu beugen; sie allein sah es nicht.

Bisweilen schlummerte er ein; dann wachte er lächelnd wieder auf, plauderte mit Köbi, mit dem Küster, mit Jedem.„Wie der Vater aussieht“, rief sie entzückt dem Sohne entgegen: „gelt? er wird wieder ganz jung?“

Am Abend brachten ihn die jungen Männer zu Bette; er ließ jedes Kleidungsstück an den gewohnten Ort legen, zog die Uhr auf und war so wunderbar gelassen, daß sein Sohn gar nicht an die Gefahr zu glauben vermochte.

Dann flüsterte er Ursulinen zu: „Mein Kind, nach Mitternacht!“Sie drückte ihr Gesicht in das Kopfkissen: kein Laut entfloh ihren Lippen.

Die Mutter durfte nicht im Zimmer schlafen; sie legte sich in ihrer Tochter Bett.

Den beiden Männern reichte der Pfarrherr freundlich die Hand:„Gute Nacht.“ Das war sein letztes Wort.

Der Arzt hielt seinen Freund zurück, der zuversichtlichh zur Ruhe gehen wollte. Stumm saßen nun Beide am Fußende.

Leise bewegte der Kranke die Lippen; seine Hand suchte etwas.

Drei bis vier Stunden waren bereits vergangen. 163 Beim Scheine der Nachtlampe sah Ursuline das Auge des Vaters offen; es war ein banger Blick.

Sie neigte sich zu seinem Ohre:

„Wenn ich einmal soll scheiden,„So scheide nicht von mir.

„Wenn ich den Tod soll leiden,„So tritt du dann herfür.

„Wenn mir am allerbängsten „Wird um das Herze sein,

„Dann reiß mich aus den Aengsten „Kraft deiner Angst und Pein.“

Mit tiefer, bebender Stimme hatte sie des Vaters Lieblingslied gesprochen.

Die jungen Männer weinten beide.

Des Pfarrers Haupt war zur Seite gesunken. Der Arzt ließ die Geschwister allein.

Ursuline trat an's Fenster: Im Kirchlein droben schimmerte Lichtschein und nun drang das Geläute schon herab. Sein Schall weckte in den Verwaisten einen Schauer von Schmerzen.Im Dorfe blitzte ein Licht nach dem andern auf;mit gedämpfter Stimme riefen sie sich durch die laue,durchsichtige Regennacht: „Unser Pfarrherr ist verschieden!“

Kein lautes Schluchzen; mit gefalteten Händen standen die Dorflente in den offenen Thüren und beteten und weinten leise; und auf den lang gezogenen, klagenden Glockentönen schwebte die entflohene Seele über dem nächtlich stillen Thale.

Die Pfarrerin saß aufrecht im Bette, als Ursuline eintrat: 164 „Ist Jemand gestorben?“

„Ja.“

„Und der Vater?“

„Er schläft.“

Die Pfarrfrau legte sich auf die Seite und schlummerte wieder ein.

Am Morgen schlich Jakobine durch ihr Zimmer; sie glaubte ihre Herrin schlafend.

„Denk dir, Bine, was mir geträumt hat! Mein Mann sei gestorben.“

„Herr Jesus!“ schrie die Magd entsetzt auf und floh zu Ursulinen. Diese eilte zur Mutter.

„Ich weiß genug!“ schluchzte die Wittwe und verhüllte ihr Antlitz.

Wenn sich nach vielen lichthellen, sonnigen Tagen der Himmel verdunkelt, giebt's der Schläge mehrere.

Die Pfarrerskinder waren ganz verwaist und zerstreut, wie eine Heerde ohne Hirten. Köbi zog zu einem ältern Bruder; ein Töchterchen wurde in Pension gebracht und Ursuline bezog das kleine Güetli „zur Treue“,das ihr Magister Winkelblech hinterlassen hatte.

Das war ein bescheidenes Heim, und damals, als Basel noch von Ringmauern umgeben war, abgelegen und einsam, obschon es an einer Straße von Kleinbasel lag, die zu Deutschland führte.

Die ganze Umgebung bestand aus Gärten und Reben, hin und wieder durch ein kleines, unbewohnbares Häuschen unterbrochen.

Wenn der Schnee tief lag, war man von der menschlichen Gesellschaft ganz ausgeschlossen.

Bineli, eine Gespielin aus dem Dorfe, die seit Jahren als zweite Magd im Pfarrhause gewesen, blieb ihrer Herrin treu.

Der Einzug fand im Frühjahr statt.

Mitten im Grünen stand das zierliche Häuschen, das Gebälke mit bunten Malereien geschmückt. Im Erdgeschoße Stall und Futtergang, eine Treppe hoch zwei freundliche Stübchen und eine helle Laube.

Als Licht und Sonnenschein eindrangen, fühlten sich die beiden Mädchen heimisch drin.

An der Treppenthür war die frühere, rundliche Besitzerin abgebildet mit einem Präsentirbrett und dampfenden Kaffeetassen. Auf der innern Seite der Herr Gemahl mit Schmeerbäuchlein und Hängebacken. Beide mit viel Verschwendung von Roth gemalt.

Später ließ Ursuline aus Pietät für Winkelblech dieses magern Magisters Kopf auf den untersetzten Leib des Kaffeewirths setzen.

Hätte sich der arme Bombastus sehen können, der nichts sehnlicher wünschte, als Rundung seines schmächtigen Körpers.

Das Dorfkind Bineli ließ sich beinahe in die Flucht schlagen, als es den schwarzen Affen im rothen Röckchen durch das Laubenfenster grinsen sah. Ursuline konnte sie lange nicht überzeugen, daß das Ungethüm ein harmloser Schmuck des Brunnstockes sei.

Auf jedem Gartenpfosten war eine Curiosität angebracht: hier eine Sonne mit vergoldeten Lättchen als Strahlen, Mond, Sterne von allen Größen.

Dazu kam ein alter grämlicher Papagei in einem Käfig und eine halb ausgehungerte Dogge, welche sich zutraulich an die neue Herrschaft lehnte; die armen Thiere hatte man nur in Zwischenräumen mit neuer Nahrnng versehen.

Gute Bine, neue Schrecken warten dein!

Eines Abends ging das schlichte Dorfkind in sein Kämmerchen: ploötzlich schrie eine knarrende Stimme:„Spitzbube! Spitzbube!“

Ein Glück, daß ihr Lämpchen noch brannte; sie leuchtete unter das Bett und konnte doch nichts entdecken.Immer lauter rief's: „Spitzbube!“ Sie wollte sterben vor Angst; da kam Ursuline, welche eine Ahnung ihres Zustandes hatte.

„Komm sieh, dem Papagei ist die Sprache wieder gekommen!“

Es war fast unglaublich; noch immer sfuhr Bine zusammen, wenn der unglückliche Vogel redete.

Sie haßte das behexte Thier.

An der Laubenwand hing noch der Willkomm, den Winkelblech Ursulinen zu Ehren verfertigt hatte. Der Magister war ja von seinen Hoffnungen nicht abzubringen. Das Häuschen sollte ihr Brautgeschenk sein; der Vertrag bedurfte keiner wichtigen Aenderung; Bombastus war glücklich, daß er ihr doch wenigstens durch sein Legat in Erinnerung bleiben würde.

Die schön ausgeführte Inschrift hieß so:

„Freud und Unschuld leiten Deine Schritte „Gute sanfte Pilgerin!

„Zu der ländlich stillen Hütte

„Eines biedern Gatten hin!

„Hier sei jenes Glück Dir Eigen

„Das Du weise Dir erwählt.

„Wohl dem, der unter schatt'gen Eichen „Mit Wohlthun seine Tage zählt.“Eichen waren es nicht, sondern Linden; der Magister hatte das in seiner Kurzsichtigkeit übersehen, oder dem Reime zu lieb geändert.

Die Bank unter den Linden war in der That ein köstlich Plätzchen; das mußten die Basler Verwandten anerkennen. Ein Tisch stand darunter, den Ursuline fast täglich decken mußte; denn die Jugend war oft zu Gaste bei ihr.In dem weichen Gartengrunde gediehen die Erdbeeren,die Früchte, die Weinreben. Eine lange Obstbaumallee zog sich hinter dem Hause bis zum Heuschober. Da wuchsen Mirabellen, Pflaumen, süße Bergamotten und feine Renetten.Kostliches Gras wartete auf Schwärzele und ihre Nachkommenschaft. Bald standen die Thiere im appetitlichen Stalle an der Krippe, oder lagen kauend; ein erstaunlicher Anblick für die Stadtkinder, dieses knirschende Geräusch.Die Jungfrau wurde sehr geliebt und gefeiert; sie sah bei aller Einfachheit stattlicher aus, als die eleganten Schwestern.

Daheim trug sie selbstgesponnenes Leinen; die Arme bis zum Ellbogen entbloöͤßt, ein blüthenweißes Tuch über den Busen. Die Flechten hatte sie hochgesteckt.

So einfach ihre Kleidung, war sie doch voll Anmuth.Ursuline war sehr gewandt in der Anfertigung derselben;man erzählte, daß sie aus einer Schürze ein Kleid zu zaubern verstände.

Doch sollte sie sich nicht ungestört der Ruhe erfreuen.

Ein Laufbursche hatte ihr eine Summe in Silbergeld gebracht, die sie für eine neu erworbene Wiese auszahlen wollte. Da traf es sich, daß sie gerade einem jungen Manne, der um Arbeit bat, eine abschlägige Antwort ertheilte. Ursuline erhaschte noch einen seiner Blicke,welche prüfend das Häuschen streiften; schon die rasche Röthe beim Anblick des Geldes war ihr aufgesallen.

Nun hieß es auf der Hut sein. Hülfe konnte sie nicht mehr holen; denn sie wohnte zu einsam.

Am Abend fand sie Dogge leblos. Gewiß war sie vergiftet.

Ohne Bineli ihre Sorge mitzutheilen, blieb sie wach;die treue Magd war mit dem Kopfe auf den Armen wie gewöhnlich eingeschlafen. Draußen heller Mondschein; sie konnte zwischen den Brettchen der Jalousien jede Bewegung beobachten.

Auf der Laube ist die größte Gefahr, weil das Birnenspalier fast so gut als eine Leiter erstiegen wird.

Noch ist's zu hell.

Sie hat Recht ... Das Mondlicht wird blässer ....Sollte ihre Angst umsonst gewesen sein?

Horch! ein leises Knistern; es schleicht Jemand herbei.

Die Zweige am Birnbaum knacken .... Ein Kopf taucht auf: sie regt sich nicht . ... Dann blickt ein Instrument zwischen den Rahmen des Fensterladens durch.

Ursuline hat längst den mit Pfeffer dicht bestreuten Mehlwischer in die Hand genommen; bedächtig schiebt sie ihn zwischen die Brettchen des Ladens und nun mit aller Kraft in das Gesicht des Einbrechers....

Ein Wuthschrei; das Krachen des Spalieres und ein schwerer Fall.

Bineli schreit und der jählings geweckte Papagei brüllt mit seiner schnarrenden Stimme: „Spitzbube!Spitzbube!“

Der gefürchtete zweite Ueberfall unterblieb; aber Bineli packte am frühen Morgen ihre Kiste; hier würde sie nicht bleiben, um keinen Preis. Noch am nämlichen Tage verließ sie ihre Herrschaft.

Die Verwandten riethen Ursulinen, in die Stadt zu ziehen oder sich zu verheirathen; an Gelegenheit fehlte es nicht.

Sie war schon halb und halb entschlossen und traf bei einer Schwester mit dem Bewerber zusammen. Ihr Ideal konnte er freilich nicht sein; doch gefiel er der Familie.

Der gefällige Herr bot ihr seine Begleitung an, da es inzwischen spät geworden. Er unterhielt die Jungfrau auf dem Wege eifrig; sie mußte wenigstens seinen guten Willen anerkennen.

Plötzlich läutet die Thorglocke zum Zeichen, daß die Stadt gesperrt wird.

In einem solchen Augenblick springt alles den Thoren zu.

Ursulinens Ritter, als hätte ihn ein Raptus gepackt macht Kehrt und rennt mit dem offenen Schirm zurück; er gelangt mit knapper Noth noch hinein.

Die Pfarrerstochter bleibt mitten auf der Straße im Regen stehen; in der stürmischen Hast hat er sie ihres eigenen Parapluies beraubt. Sie schaut eine Weile den flinken Füßen nach; dann lacht sie von ganzem Herzen:

„Du wärst mir der Richtige! Gottlob, daß ich deiner los bin!“Daheim fand sie Bineli unter dem Vordach der Laube sitzend; das gute Mädchen hatte es daheim nicht ausgehalten; das Heimweh nach der Pfarrjungfer war noch stärker als die Furcht.

Bald darauf geschah ein Ereigniß, das ihnen die Sicherheit und Ruhe zurückgab.

Auf einem Gute an der Grenzacherstraße waren junge Mädchen von sechszehn bis neunzehn Jahren zusammengekommen, um recht ungestört zu spielen. Die Gastgeberin Jenny hatte die Freundinnen in den Garten geführt, wo Wagen und Bettchen und Puppen auf einem Rasenplatze bereit lagen.

Sie fielen mit lautem Geschwätz darüber her und stritten sich auch, wenn zwei auf dieselbe stumme Schöne Anspruch machten.

„Ich bitte dich, Rosa, dieser Wagen ist zu klein für die deinige; er gehört mir!“ und Rosa und Salome rissen beide zugleich an dem Weidengeflecht.

Auf dem Rasen saß eine Dritte und zog ihr blödes Puppenkind aus:

„Wer giebt mir sein Bettchen? meine Kleine geht schlafen.“

Eine schöne stattliche Jungfrau kniet vor der Gartenbank und zwingt Schuh und Strümpfe über ein hartgepolstertes Bein.Das Eifern, Plaudern, Lachen war so kreischend, daß die Tochter des Hauses, die eine Fremde an der Hand führte, nicht zu Worte kommen konnte.

Der neue Gast stand hinter dem Strauche halb verborgen und schaute mit belebten, glänzenden Augen auf die fröhliche Gruppe.

Es waren meist schone Mädchen in anliegenden, hellen Gewändern, Arme und Nacken entblößt, die Büste von Spitzen eingefaßt; die Haare hoch gebunden und Ringellöckchen um die Stirn.

Als sie die Fremde sahen, schauten sie neugierig hin. Adöle sah blaß und schmächtig aus; ihre Wangen rötheten sich heftig unter den verletzenden Blicken der Musternden.Sie zweifelte einen Augenblick daran, daß es dieselben seien, die vorhin so harmlos und unschuldig gespielt.

„Welche odiose Person“, sagte die eine halblaut zu ihrer Nachbarin.

„Horribel“, meinte diese naserümpfend.

„Ich bitte dich, Jenny, wie kommst du zu dieser Bekanntschaft?“ Beleidigender als die Worte selbst war der hochmüthig feindselige Ausdruck, mit welchem sie Adole niederzuschmettern suchten.

Jenny war ebenso entsetzt, als der Gast selbst; wie wollte sie sich vor ihrer Mama verantworten, welche die junge Künstlerin sammt ihrer Mutter so dringend eingeladen hatte.Sie folgte Adeèlen, die sich schluchzend auf eine Bank RV

„Bleib du bei deinen Freundinnen“, zürnte diese,indem sie sich heftig loswand.

„Stoß mich nur fort, Adöle, ich bleibe dennoch hei dir!“„Warum ließest du aber zu, Jenny, daß man mich beleidigte? Geh, deine Baslerinnen sind recht häßlich!“

„Es wird ihnen leid thun, wenn sie dich kennen,Adèle“Ohne auf diesen Trost zu achten, fuhr die erregte Künstlerin fort: 173 „Man hat Mama nicht umsonst gewarnt. Jedermann sagte uns: Wenn sie noch so artig sind an einem fremden Orte, soll man ihnen nicht trauen. Kommt man dann nach Basel, sind sie unausstehlich abstoßend. ...Ja, das hat man uns vorausgesagt, Jenny!“

„Du hast gewiß Recht, liebe Adole; aber du wirst doch zugeben, daß es Ausnahmen giebt. Laß mich mit den Mädchen sprechen; sie werden gewiß ihren Irrthum wieder gut machen.“

„Nein, ich habe schon genug von ihnen. Laß mich fort, Jenny!“ Jenny bat, bis Adèle nachzugeben schien.

Dann trat sie zu den Freundinnen.

„Ist sie fort?“ riefen sie ihr entgegen.

Jenny's rothgeweinte Augen machten sie dennoch stutzen; fie frug:

„Wie konntet Ihr so abscheulich sein? Mein Gott!was wird Mama sagen?“

„Wer sollte auch das errathen? sie sah so gering aus!“ riefen die Mädchen, als sie den bereits berühmten Namen der jungen Pianistin erfuhren.

Man entschloß sich, in corpore abzubitten. Die Welt sollte nichts von ihrem Mißgriffe erfahren.

Sie kamen; die Bank war leer. Addle hatte das Haus verlassen.

Jenny bekam vor Kummer ihre Migraine und mußte zu Bette.

Ihr ward dadurch ein Anblick erspart, welcher die Andern lebenslang wie ein Gespenst verfolgte. 174 Sie standen noch eifernd beisammen, als es bescheiden am Gartenpförtchen klopfte. Zwischen Gartenmauern zog sich ein enges Gäßchen, welches seit jenem Tage „Mördergäßchen“ genannt wird.

Das Klopfen wiederholte sich.

„Machen wir auf?“

Eine sah die andre an: „Geh du!“

Schließlich gingen alle miteinander.

Draußen bat ein netter Jüngling um die Erlaubniß,sein Taschentuch am Sodbrunnen auszuwaschen; er leide an Nasenbluten.

Sie waren diesmal höflicher; wanden sogar den Eimer auf, daß er auch seine Flecke an den Kleidern auswaschen konnte.

Der Fremde bot ihnen an, sie im kleinen Kinderwagen herum zu fahren; nun setzte sich eine nach der andern in den plumpen Holzstuhl, dessen Räder tief in den Kies drangen.

Es war zu amüsant.

Als das gewaschene Schnupftuch trocken geworden,entließen sie den jungen Mann.

Der Vorfall mit Adèle war vergessen; man packte das Spielzeug lachend zusammen, da erdröhnte das Gartenpförtchen unter gewaltigen Schlägen.

Zitternd aneinander gedrängt, beriethen sie, was zu thun sei.

Schon wendeten sie sich zur Flucht nach dem Hause,da rief eine gewaltige Stimme: „Macht auf im Namen des Gesetzes! oder die Thür wird gesprengt!“ Es geschah unter Beben; die Pforte stand offen; schauernd schlugen die jungen Mädchen die Hände auf die erbleichten Gesichter.

Vor der Schwelle lag ein blutüberflossener Mann, die gebrochenen Augen starr auf den Eingang gerichtet, wohin er sich sterbend geschleppt; hinter ihm der nette Jüngling,der den Damen frech und vertraulich entgegengrinste.

Der Beamte schrieb alles nieder.

Sie mußten ja auch den Zweck ihrer Zusammenkunft mittheilen; er konnte ein leises Lächeln nicht unterdrücken.

Trotz alles Weinens und Sträubens wurden die Namen der jungen Mädchen eingetragen.

Sie wurden alle als Zeugen gefordert. Der Verbrecher that sich auf ihre Bekanntschaft nicht wenig zu Gute. Auch die Eltern ließen es an Vorwüͤrfen nicht fehlen.Ursuline und ihre Magd erkannten auch den Fremdling, der auf der Treue Arbeit gesucht hatte.

In seinem Aerger, von einem Papagei überlistet worden zu sein, verrieth er unabsichtlich den bisher geleugneten Einbruch.

Bineli that nun dem alten Vogel alles zu Liebe.Wenn er sein „Spitzbube, Spitzbube“ rief, lobte sie jedesmal sein Genie.

Adole verschaffte sich selbst Genugthuung.

In einem Privatconcerte, wo der jungen Künstlerin große Ehren warteten, kam ihre Rache zum Durchbruch. 176 Der Festgeber hatte sie selbst abgeholt und führte sie stolz im Kreise der Gäste herum; sie sah nun so fein und vornehm aus.

Er winkte einem jungen Mädchen heran und stellte sie Adeole als Tochter vor. Es war diejenige, welche Adole „odiose Person“ genannt hatte.

Einen Augenblick starrte die Künstlerin in das verlegen erröthende Gesicht; dann sprach sie:

„Mein Herr, wenn Mademoiselle ihre Tochter ist,werde ich hier nicht spielen.“

Bestürzt wichen alle zurück. Adèle nahm aber den Arm eines alten Herrn und ließ sich fortführen.

„Was hast du gethan, o Adèle!“ rief die Mutter schmerzlich.

„Après moi le déluge! hörst du, Mama?“

Droben war ein Summen, daß man es auf der Straße vernahm. Der Professor schüttelte bedenklich sein weißes Haupt.

„Sie tadeln mich, mein Freund?“

„Gewiß, Fräulein Adoèle; Sie haben der jungen Dame nicht einmal Zeit zu einer Entschuldigung gelassen und wegen eines kindischen Vergehens die ganze Gesellschaft um den genußreichen Abend gebracht.“

Adèle sah ein, daß sie zu weit gegangen: „Lieber Professor“, bat sie, „bleiben Sie bei uns. Ich werde Ihnen den ganzen Abend vorspielen, um mein Unbehagen zu vergessen.“

Die Wohnung der Damen war gemüthlicher, als 177 man sie in Gasthöfen sonst zu finden pflegt; man sah ihr das Heimelige gleich an. Der alte Herr rückte sich in seinem Lehnstuhle behaglich zurecht.

„Was wünschen Sie, mein Freund?“ Adöle legte ihm verschiedene Noten vor.

„Wünschen? nichts! ich erwarte den Segen, den Sie über mich ausschütten werden!“

Adöle setzte sich lächelnd an's Instrument; der Professor hielt regungslos die Hand über den Augen.

„Lassen Sie mich den bösen Eindruck verwischen, den ich Ihnen heute Abend gemacht habe“, bat sie, als er zur Schonung der Kräfte mahnte: „Es ist ja das letzte Mal, daß ich hier spiele.“

Sie begann von Neuem. Nur mit dem Besten ehrte sie den alten Herrn.

Er sah den kleinen Kopf, den heute eine einfache Blume zierte, mit Glanz und Ehre geschmückt; er träumte,wie sie einst stolz auf den Wellen des Ruhmes steuern würde . . . Dann war ihre Anmuth, ihre kindliche Frische dahin .....

Ihm war, als müßte er sie retten.

Lebhaft sprang er auf:

„Adèle! wenn es Gott zuläßt, daß Sie eine große Künstlerin werden dann beten Sie jeden Abend:„Herr! laß mich nie vergessen, daß alle gute und vollkommene Gabe von Dir kommt ....“ Wollen Sie mir's versprechen ?“

Das bewegte Mädchen reichte ihm beide Dunde. „Eines noch, Adéèle! Hüten Sie sich vor Künstlerlaunen! Sie sind Flecken, welche den Glanz der Sterne verdunkeln.“

Er küßte sie zum Abschied auf die Stirn. Mutter und Tochter weilten noch lange in gedankenvollem Schweigen.

X.e 77

. lon den Ereignissen der großen Welt fast unberührt,lebte Ursuline still und zufrieden auf dem Güetlein „zur Treue“.In ihrem Garten war's oft lebendig von Gästen;da kamen die jungen Vögelein in hellen Gimgamkleidchen und hielten verliebte Zwiesprache mit den Beeren an den Sträuchern und den reifenden Früchten in den Zweigen:Erschien die gute Fee und schüttelte das Bänmlein und die Kleinen füllten jauchzend ihre Täschchen mit den rothbackigen Zuckerpfläumchen.

Nur einmal drohte ihr Verkehr mit den Verwandten unterbrochen zu werden, als gegen Ende des Jahres 1813 beim Anrücken der Verbündeten der gegen Kleinbasel liegende Theil der Rheinbrücke abgetragen wurde.

Bineli kam weinend und jammernd nach Hause. Sie war in Großbasel gewesen und konnte mit knapper Noth die Erlaubniß zur Rückkehr erhalten.

Vergeblich hatte die Familie darauf bestanden, daß Ursuline zu ihr flüchte, wo man sich im Schutze des Militärs und der theilweise verrammelten Thore geborgen fuühlte; auch von Hüningen konnte den beiden Frauen Gefahr drohen: es wurde da viel geschossen.

Aber sie blieb lieber in ihrem Häuschen; an ihre Pforte klopften täglich Arme und Kranke, welche ohne Nahrung und Obdach in der Winterszeit umher irrten es gab so viel unglückliche, arbeitslose Menschen damals; Ursuline half, wo sie konnte.

Im Januar 1814 hielten die drei verbündeten Monarchen unter Glockengeläute ihren Einzug in Basel;die Stadt war voll fremder Truppen und Zuschauer.Das Gedränge auf der Brücke war so stark, daß Manche erst bei Nacht zu den Ihrigen heim konnten.

Mieke, die jüngste Schwester, war nun erwachsen.Sie kam mit erregten Mienen zu Ursulinen.

„Du?“ frug diese, „bei solchem Wetter?“

Sie setzten sich miteinander unter das Vordach der Laube. Der Regen rauschte nieder und die schweren Tropfen spritzten am Rande des steinernen Brunntrogs auf. In Mieke's Gesicht war Sonnenschein; vielleicht auch ein Wölkchen.

Ursuline sah lächelnd die Schwester an: „ein Liebesgeheimniß“, dachte sie. „Man wird's ja wohl erfahren.“

Das junge Mädchen wurde roth und blaß; sie hatte vor der Schwester gar großen Respekt. 180 „Nun Schätzchen, heraus mit der Sprache!“ Sie zog Mieke an sich.

Diese hatte von einem jungen Gelehrten einen Heirathsantrag erhalten. Georg war ein Bruder von Doris.

„Du denkst doch nicht daran?“ rief Ursuline erregt.

„Warum denn nicht, Schwester?“

„In diese unangenehme, hochmüthige Familie, bedenke es doch, Mieke.“

„Ach die Familie, was geht die uns an. Wir werden uns schon eine Eigene gründen.“ Sie sagte es mit Erröthen.

Ursuline mußte unwillkürlich lächeln. Doch schüttelte sie noch bedenklich den Kopf.

„Du kennst ja meinen Georg nicht, liebe Ursuline!“

„Freilich kenne ich ihn. Unlängst kam er in einen Laden; es waren mehrere Frauen darin; dennoch behielt er den Hut auf. dem Kopfe; er dachte nicht daran, zu grüßen. Wie gefällt dir das?“

„Ich würde ihn schon anders drillen“, meinte Mieke Ursulinens Schulter.

„Bitte, red' mir ihn nicht aus. Du weißt noch gar nicht, wie lange ich ihn schon gern habe.“

„Du Närrchen, warum sagst du es nicht gleich?“

„Doris meinte, von Liebe verstehst du nichts; man müsse dir die Sache nur von der vernünftigen Seite vorstellen.“

Ursuline stand heftig auf: „Diese Doris!“.. 181 Am folgenden Tage brachte Mieke ihren Bräutigam.Ursuline sah mit Lachen, wie Georg schon von Weitem den Hut vom Kopfe nahm.

Am Hochzeitsfeste traf Ursuline zum ersten Male mit ihrer Jugendliebe zusammen.

Obwohl sie auf diese Begegnung vorbereitet war,regte sie doch einen wahren Sturm in ihrer Seele auf.

Während der Traurede saß sie an Doris Seite. Wie unfein sah dieses einst liebliche Gesicht ans: „Schönheit,wo bist du hingerathen!“ dachte sie beim Anblick der formlosen Gestalt.

Haß und Zorn stritten sich im Herzen der Jungfrau,daß sie kein Wort von der Predigt vernahm. Sie dachte an Bethli's Confirmationstag: damals gährte in ihr derselbe Groll. Wie dort im heimathlichen Kirchlein von Wintersingen, fand sie auch jetzt wieder den Frieden im Gebet.

Als sie aufblickte, sah sie gerade in Manuels Augen,die warm und voll auf ihr ruhten, mit dem Ausdrucke des innigsten Vertrauens.

Im Laufe des Tages plauderte er mit ihr und bat um die Erlaubniß, sie mit den Kindern auf dem Güetli zu besuchen.

Wie freute es die Jugendfreundin, als er mit den Kleinen erschien!

Am liebsten brachte er ihr sein krankes Esterchen; das arme Kind hatte gekrümmte Gliedchen und geschwollene Gelenke. Sie schrie auf, wenn sie Jemand anrührte;der Vater allein durfte sie auf den Arm nehmen.

Er trug sie mit rührender Sorgfalt durch die Straßen.

In Ursulinen's Gärtchen legte er 'sie auf die dicht aufgeschüttete, sonndurchglühte Gerberlohe und Spitz, der schwarze Wächter, leckte ihre Händchen.

„Hier bleiben, bei Schips“, erklärte sie dem Papa.

Es ward Ursulinen leicht, ihn dazu zu überreden;das Kind war zutraulich und die kräftige Jungfrau hob sie so leicht und geschickt, daß es die kranken Gliedchen nicht schmerzte.

Er überließ die Kleine der Freundin:

„O du Treueste der Treuen!“ rief er und schüttelte ihr die Hände.

Der Kranken that Ursulinens geregelte Lebensweise wohl.Anspruchsvoll war die Kleine nicht: sie lag am liebsten in der Sonne, reckte und streckte die Gliedchen.Daheim hatte man nicht Zeit, mit ihr draußen zu bleiben;da gab es zu viel zu nähen und putzen.

Rührend war die Freude, mit welcher Esterle am folgenden Tage ihr eigen Bettchen begrüßte:

„O mein Kissele, mein herzig's Kissele!“ koste sie und legte schmeichelnd ihre Wange darauf. „Das hat mir mein lieb Schwesterle gestickt! mein weiß Kopfkissele!“

Papa und das Schwesterle im Himmel! in diesen Beiden schien des Kindes liebevoll Herzchen zu leben. 183 Ursuline jauchzte laut, als sie eines Morgens beim Erwachen die dunkeln Mandelaugen des Kindes dicht neben sich sah. Esterchen hatte sich am Rande des Bettchens aufgerichtet.Sie durfte auch im Winter bleiben. Ihr Stühlchen stand am Fenster; sie sah die fallenden Blätter im Winde flattern und jubelte über die Schneeflöckchen, die lustigen weißen Vögelein.

Dann kamen Amseln, Finken, Spatzen auf den breiten Fenstersims und pickten Körner.

Auf dem Vordache lag ein Deckbettchen von Schnee;jeder Baum, jeder Strauch hatte seine weiße Haube. Da schnurrten die Spinnräder im heimeligen Stübchen und Ursuline erzählte Geschichten aus ihrer Jugendzeit.

Ueber Alles gingen ihr die Heldenthaten des Köbi.Da horchte sie mit Mund und Augen und wenn die Erzählerin schwieg, drängte sie: „Und dann? und dann?“

Zur Abwechslung trug man sie auch in den Stall;das war eine Lust. Alle Kinder haben Interesse für die Thiere. Sie kounte den Kühen stundenlang zusehen.

Esterchen war so fröhlich; sie erholte sich zusehends.

Mit dem Frühling kehrte neue Lebenskraft in die kranken Gliedchen; das Kind lernte gehen.Als Köbi in den Ferien Ursulinen besuchte, konnte sie mit ihm durch den Garten laufen.

Er nahm sich mit Zärtlichkeit des jungen Wesens an.

Esterchen sah reizend aus, seit das seidenweiche, schwarze Fellchen auf dem Köpfchen sproßte. Sie trug fortan kein Häubchen mehr.

Indessen saß Frau Doris am Fenster ihres kleinen Stübchens; von dort aus konnte sie bei offenen Thüren Treppe, Eßzimmer und Küche übersehen; in ihrem Straßenspiegel beobachtete sie überdieß die Hausthüre. Obgleich DD schärften Sinnen, doch alles, was vorging.

„Nette, du hast die Kinderstube heut' nicht recht abgestäubt!“

„Doch, Frau Doktorin!“

„Nein! ich seh's am Kleide der Kleinen! da sieh,am Aermel!“

„Hanne! der Suppenhafen kocht bald über.“ Die Hanne springt; es lauft schon zischend über den Heerd.

„Was habt Ihr beide so lang zu schwatzen gehabt?“

„Wir haben Wäsche abgenommen, Frau Doktorin!“

„Das war in der halben Zeit möglich. Bei der Arbeit leid ich das Plaudern nicht.“

Die Mägde grollen: „Sie sieht durch sieben Wände!“

Der Doktor kommt heim. Er tritt in's Zimmer:Statt des Willkomms: „Ich bitt' dich, Manuel! zieh dich um. Du bist bei geringen Leuten gewesen. Fi done!welch ein Geruch!“

Es entging ihr nichts.

Ihrem bedeutenden Regierungstalent war's zu verdanken, daß alles wie am Schnürchen ging; selbst nachgehen konnte sie nicht. Am Morgen brachte das Stubenmädchen die gestrige Arbeit; sie durchging sie Stich um Stich. Wurde sie gestört, heftete sie eine Stecknadel an die Stelle; später nahm sie dort die Durchsicht wieder auf.

Gewöhnlich sah man einen großen Korb mit Stopfarbeit vor ihr; nähen konnte sie nicht wegen ihrer Korpulenz; dafür strickte sie feine Spitzen, durchsichtig und zart wie Spinnenweben.

Einmal grub sie aus einem schweren Stoffe das verschossene Muster mit einer Nadel heraus; wochenlang,Tag für Tag.

Wie anch der Gatte schalt, es half nichts; sie mußte dabei stets die Tropfen aus den angestrengten Augen wischen.

Als Esterchen wieder daheim wohnte, blieb sie doch für die Sommerszeit Ursulinens Gast.

Kaum daß sie ihr Glück erwarten konnte!

In den Hundstagen erschien Köbi, nun ein langer,breitschultriger Bursche mit dem ersten Flaum auf der Wange.

Man nannte ihn jetzt: Jacob.

Der junge Held hatte das kleine Mädchen sehr lieb;er lernte sogar ihretwegen stricken. Jakob war's, der die geforderte Reihenzahl für Esterchen arbeitete.

Ohne diesen miserabeln Strickstrumpf durfte sich das Töchterchen nicht bei Mama sehen lassen.

Und was hatte die Mutter unlängst gedroht?

„Wenn du wieder einmal so viele Fehler und dunkle Ringe an deiner Arbeit bringst, wickle ich sie dir um die Hände und“ Esterchen wagte nicht daran zu denken! „und zünde sie an.“

Wie der Herkules bei der Arbeit schwitzte! Die kleine Omphale dagegen saß kommode im Grase und stützte die Ellbogen auf die Knie.

Ein Hüttchen hatte er ihr gebaut und mit Zierbohnen bepflanzt; nun saß sie inmitten der Ranken und rothen Blüthen, wie eine Schwarzamsel im Nestchen.

Ganze Morgen lang streifte sie mit dem Gefährten durch das verwilderte Dickicht des Nachbargartens, wohin sich seit Jahren kein menschlicher Fuß verirrt hatte.

Eine Lindenallee, so verschlungen und tief, daß beim heißesten Sonnenschein dämmeriger, kühler Schatten darunter wohnte; hohes üppiges Gras mit Sauerampferbüschen, Goldregen und Flieder, eng verwachsen. Wo man hinzutrat, ein undurchdringliches Wirrsal von Zweigen und Ranken.Hier brüteten die Vögel ungestört und Häschen nisteten im Gestrüpp, die in den Winternächten Ursulinens Kohl von den Beeten fraßen.

Und wenn man erst das Brunnenhäuschen sah zwischen amerikanischen Nußbäumen, die eine einzige, engverwachsene Krone bildeten. Mit Moos überwuchert, feuchte Quellenluft ausathmend, stand das verfallene Hüttchen da; auf dem Giebel schwankten zierliche Grashalme und die Thüre hing lose in den Angeln.

Das war ein geheimnißvolles Gurgeln, ein Rauschen von Tropfen, ein singender Klang. „Hörst du, Jacob? die Brunnenhexe! Hu! ich fürchte mich!“„Dummes Esterchen! das ist ein Tropfen, der auf einen hohlen Stein fällt!“

„Nein, nein! 8'ist die Brunnenhexe. Bine hat sie gesehen!“

Jacob nimmt einen Stein und wirft ihn in die Grube. Es plätschert, rauscht, dann wird's wieder still und man hört nichts mehr als das einförmige Gurgeln und die singenden Tropfen.

Wie entsetzt starrt Esterchen darauf hin, ob nicht ein grauenhaftes Gesicht am Rande auftauche. Ihre Fingerchen hat sie ganz in Jacobs Arm eingegraben.

„Siehst du? es ist nichts!“ tröstet der Gespiele; sie wendet sich aber voll Angst um, ob das Unheimliche sie nicht verfolge.

Jacob war ein flotter Student! auf den kastanienbraunen Locken lag keck das gestickte Cerevis; ein weicher Halskragen schmiegte sich um seinen Nacken. Dazu trug er dunkelblauen Tuchrock mit Stahlknöpfen, hirschlederne Beinkleider und halbhohe Stulpenstiefel.

Es war darin keine Genialität; aber seine schöne Gestalt bedurfte der besondern Auszeichnung nicht.

Nach Apoll-Jacob richteten sich die Studiengenossen.Frack und kurze, bunte Weste verschwanden; ebenso das hohe Halstuch. Conrad, ein Comilitone, war sogar mit Vatermördern und buntgefüttertem Rocktragen erschienen. Bis über das Kinn versank das von langen Haaren umflossene jugendliche Gesichtchen in der wulstigen Cravatte. Obschon Kopf und Rumpf Dank dem halsstarrigen Kleiderschmuck nur eine unförmige Masse bildeten, hatte sich bisher Conrad in glücklicher Selbsttäuschung für ein vollkommenes Modenbild gehalten.

Auch er richtete sich nach dem bessern Vorbild und war am meisten über die Verwandlung entzückt.

Ueber diesen Studenten schuf man die seltsamsten Gerüchte. Die weichen, goldfarbenen Locken, die feine Hautfarbe und blauen Mährchenaugen konnten ja keinem gewöhnlichen Menschen angehören.

„Conrad Rottele von Dettenhausen bei Tübingen!“

„Das läßt man sich doch nicht weiß machen!“

Er brauchte bloß den Mund zu öffnen, der seltene Vogel Phönix, und man war über seine Nationalität nicht länger in Zweifel.

Wie er nach Basel gekommen?

Auf die einfachste Weise; es war kein diplomatisches Geheimniß dabei.

Conrad wurde als vermögende Waise im Hause des Dekans jener Universitätsstadt in Pension gegeben; seiner Pflegeschwester zu Liebe, die sich mit einem Lehrer verheirathet hatte, war er mit dem Letztern nach Basel gezogen.

Frau Christiane war klein und rundlich. Wenn man in ihr breites, treuherziges Gesicht blickte, wurde Einem wohl. 189 Beständig hingen ihre beiden Mädchen an ihrer Schürze;sie trugen lange enge Kleidchen, die bis auf die Füßchen reichten.

„Grüeß Gott, Herr Student!“ rief sie Jakob freudig entgegen. „Grüeß Gott oineweg! Noi, wie arrig groß!“

Sie mußte sich anstrengen, um zu ihm aufzusehen.Er setzte sich.

Nun mußte er plaudern; zuerst von seinem Elternhause. Es machte ihr aber Heimweh.

„Oh, s'ischt alles wie bei mir derhoim! oh mei lieb's Städtle!“ rief sie schluchzend.

Conrad konnte die Pflegeschwester nicht weinen sehen!er schlang seinen Arm um ihre Schulter; die langen,auf dem Scheitel getheilten Goldhaare des Studenten fielen auf ihr braunes Gesicht.

„Heul net, Christianele, heul net!“ bat er weich.

Jacob vermochte nicht, seinen Ernst beizubehalten;es war zu drollig. Das merkte eine der Kleinen.

Sie ließ der Mutter Schürze fahren und trat auf ihn zu. Mit dem dicken Zeigefinger an der Nase sah sie ihn verweisend an:

„Heerscht! 8'Christianele heult wieder!“

Es war nicht möglich, ernst zu bleiben. In dieser Verlegenheit fiel Jacob glücklicher Weise seine Uhr ein.

Nun waren die Kleinen ganz eingenommen; auch Fran Christiane trocknete ihre Thränen:

„Geh eins zum Vater; der Herr Student sei komme!“

„Geh du, Luisle!“ sagte die Größere; „i bleib derweil beim Herrn Student!“ Sie drängte sich fest an Jacobs Knie.

Die Kleine wollte ihn ebensowenig verlassen.

Da kam der Vater von selbst.

Auch er war durch des Gastes Größe überrascht.

Schmunzelnd legte er sein mageres Kinn in die Hand und betrachtete von unten herauf den Jüngling, als ob er einen Obelisken anstaune.

Plötzlich begann's in seinen Zügen zu arbeiten. Frau Christiane riß schnell eine Tuchmütze mit breitem Schirm vom Hacken und reichte sie ihm.

Jacob sah erstaunt auf dieses Gebahren. Hinter dem Schirm knackte und schnappte es; er hatte aber nicht Zeit,darüber nachzusinnen; denn schon floß die Unterhaltung leicht von des Lehrers Munde.

Conrad löste das seltsame Räthsel; es war ein Kinnbackenkrampf, der den guten Herrn beim Beginne eines Diskurses überfiel; deßhalb trat er immer redend in die Schulklassen.

Der schöne Schwabe, so nannte man Conrad, erhielt oft Brieschen und Sträuße von jungen Damen; sein sentimentales Gesicht zog sie an.

Er lernte auch Esterchen kennen und schwärmte für die Kleine:

„Das Zuckermäusle, Sammetoigle, das Lieberherrgottskäferle!“

Es gab auf der Treue keinen Baum, wo er nicht ihren Namen einschnitt; darunter ein durchbohrtes Herz. Ursuline mußte ihn zanken.

Die Studenten kamen gern in ihren Garten; wo konnte man schöner sein, als unter den Linden auf der Treue.Die Abendsonne wob goldene Lichter um den blauen Pfeifenqualm und Ursuline hatte köstliches Brod und gelbe Butter aufgetischt. Nun brachte sie noch den kühl angelaufenen Weinkrug.

Dafür sangen sie der Studentenschwester ihre Lieder;wie das unter den Linden schallte! Bine meinte:

„An solchen braven g'studierten Leuten hat der Herrgott seine Freud!“

Conrad war nicht an den Wein gewöhnt; er bekam schon beim dritten oder vierten Schluck einen Schwätzer.

Dann plauderte er alles aus, und je mehr man lachte, je kecker wurde er.

Zuletzt nahm er Binele am Kopf und küßte es; das alte Mädchen wußte sich vor Scham nicht zu helfen.

Einer der Bursche ruft Conrad spottend zu:

„Hülle dich in deine Tugend, wenn es stürmt!“

In ihren Gesprächen ist überhaupt viel von Tugend die Rede. Jeder hat sich ein Symbol zur Richtschnur des Lebens gewählt.

Das war damals so Brauch.

Christoph, der Bedächtige, der nur in Sentenzen spricht, pustet eine mächtige Rauchwolke kunstvoll aus dem linken Nasenflügel und bringt mit trockner Stimme sein Motto vor. Es klingt, als ob Jemand in Holzschuhen über eine Treppe klappert. Welcher Rythmus:„Lebe, wie du wann du stirbst „Wünschen wirst, gelebt zu haben.“Alle lachen, trotz des Ernstes; nur der Bedächtige inmitten seiner Wolken nicht.

Ein hübscher, brünetter Jüngling mit feinem Flaumbärtchen wendet sich gegen Ursuline. Mit zarter Beziehung auf den Namen des Gütchens neigt er sich vor der Studentenschwester:

„Beständig und treu!„Mein Symbolum sei!“.

Sie drängen nun Apoll-Jacob:

„Nenne uns dein Motto!“

Jacob erhebt sich, stützt die Hand auf die Tischplatte und überschaut die kleine Runde.

In aller Augen Fragezeichen.

Jacob thut einen Blick in den Weinkrug, der noch eine Neige enthält. Er richtet sich mit dem Trinkgefäße hoch auf; um seine Lippen zuckt es schelmisch .....

Allgemeine Spannung ..... Ungeduld!

Endlich!

„Brüder! Verlieret nicht die Gegenwart über der Zukunft!“

Er spricht's, trinkt aus und reicht den leeren Krug mit vielsagender Geberde an Ursuline.

„Hab ich's doch gedacht!“ lächelt sie. Die Studenten aber singen in plötzlicher Eingebung den Reim aus Herrn Urian's Lied:

„Da hat er gar nicht übel, gar nicht übel d'ran gethan!“

Des Händeschüttelns will kein Ende werden.

„Hoch! die treue Studentenschwester!

Wie alt erscheint man der Jugend bei vierzig Jahren!

„Hurrah! frischer, kühler Wein!“

Dies Mal gab's heiße Wangen und glänzende Augen unter den Linden.Vom Obstsegen erhielten die Studenten auch ihren Antheil.Es war für die Kirschen ein ungünstiges Jahr. Auf Ursulinens Wiese, unfern vom Güetli, waren mächtige Bäume.Die Jungfrau hatte zwei derselben zum eignen Bedarfe gezeichnet; die andern jedoch einem Händler verkauft.Nirgends schmecken die Kirschen so gut als am Baume;die Studenten ließen sich nicht zweimal einladen.

Sie kommen nicht wieder .. Ursuline will selbst nachsehen.

Eben klettern sie von verschiedenen Seiten herab:mit schwarzen Lippen, schwarzen Händen. Ursuline muß über den Anblick lachen. Noch mehr, da sie selbst einstimmen ... Alles schwarz!

Plötzlich entdeckt sie, daß ein unrechter Baum geleert ... noch einer ... Alle! Sie stellt sie zur Rede:„Diese beiden habe ich Euch angewiesen!“

93

33 Conrad tritt vor: „Verzeihet Sie, die habet mer au z'erscht vorg'nomma!“

Ursulinens Zorn ist entwaffnet.

Beschämt brachte ihr Jacob am folgenden Tage sein Taschengeld; der „schöne Schwabe“ ging von Laden zu Laden:

„Was ist gefällig?“ frug man den hübschen Jüngling.

„Habet Sie net Band, wo Kirsche nei g'wobe sind?“

„Nein, das haben wir nicht.“

Endlich eine Ladendame, die mehr Genie besitzt. Sie sagt: „Ausgewachsene Kirschen haben wir nicht; aber da ist ein schönes Rosaband mit Kirschblüthen.“ Sie läßt das Band von der Rolle gleiten.

„Schön, schön!“ aber mit welchem Maaße kauft man Band?Die Dame nimmt eine Elle zur Hand: „Wie viel wünschen Sie?“

„En Ell!“

„Das reicht nicht zu einem Hute!“

„So gebet Sie mir das ganze Röllele!“

Die Verkäuferin lacht übermüthig: „Das ist wieder zu viel! Wenn Sie sechs Ellen nehmen, junger Herr,dann ist's gerade genug!“

„Sie sind ein wahrer Engel!“ spricht er entzückt:„Gebet Sie her!“Natürlich wies Ursuline beide Gaben ab: Jacob steckte sein Taschengeld vergnügt wieder ein; aber Conrad senfzte: „Was thue ich dermit?“ Er sandte das Hutband mit einem zarten Schreiben an „Sammtoigle“.

Esterchen zeigte die Gabe dem Papa! sie wurde sogleich wieder zurück geschickt; das Brieschen war unerbrochen.Nun wollte der Student verzweifeln.

Es war ja ganz unmöglich, daß Esterchen ihn, den Gefeierten, zurückwies; da steckte des strengen Vaters Verbot dahinter.

Endlich traf er das Mädchen auf dem Schulwege;sie wollte ihm ausweichen; gerade das hob seinen schon sinkenden Muth.

„Wie schön, daß ich Sie treffe, mein Zuckermäusle“,sagte er, indem er sich dicht an ihrer Seite hielt.

„Weil Sie mein Briefle nicht gelesen haben, könnet Sie ja nicht wissen, was drinn steht.“

Esterchen lief unwillig von ihm weg; er eilte ihr nach.

„Höret Sie doch! Höret Sie doch!“ Er war ganz außer sich.In seiner aufgeregten Gemüthsverfassung merkte er nicht, daß er in die Nähe der Töchterschule gerathen.Dieses Institut, im Jahre 1812 von der gemeinnützigen Gesellschaft gegründet, zählte nach mehrjährigem Bestehen schon eine bedeutende Schülerinnenzahl.Esterchens Gesichtchen war von Zorn und Scham tief geröthet. Conrad dicht an ihren Fersen.Hinter ihnen die Schulmädchen mit ihren Arbeitskörben; die Köpfe so nahe zusammensteckend, als es bei ihren umfangreichen Hüten möglich war.

Er hörte das Kichern und neidische Spotten nicht,wohl aber Esterchen: sie kehrte sich glühend um und rief:„Laß mich in Ruhe, widerwärtiger Narr!“

Darauf war er nicht gefaßt! wie sicher hatte er auf Sammetoigle's Gunst gebaut.

Weinend vor Zorn wollte er davon gehen.

Es war bei der alten Post, nahe dem Eingang in's Todtengäßchen.

Wie er sich umwendete, stand er von der ganzen Mödchenschaar eingeschlossen: Tantalos unter den Erynnen!

Mit seinem zuckenden Gesichte, den thränenvollen Augen hundert malitiösen Blicken ausgesetzt! Schlimmer als der ärgste Traum.

Er wünschte, der Rhein möchte seinen Lauf ändern und hier allesammt wegschwemmen.

In seiner Wuth that er das Unglücklichste; er sagte zu Einzelnen:

„Von Ihne hab i au e Briefle kriegt und von Ihne e Sträußle, und von der und der auch. Sie hättet nit nöthig, Andre ausz'lache!“

Heftig durchbrach er die Reihe und stürzte zum Lochbrunnen hinab. O wäre er ein Abgrund gewesen! Das Wasser lief aber harmlos aus den Röhren, und droben an der Treppe standen die eifernden, spottenden Schülerinnen;wie verabscheute er diese giftige Rasse!

Eins, zwei Uhr! Droben im Schulhause ein Klingeln! Die Erlösungsstunde hatte geschlagen. Conrad schlich trostlos nach Hause.

Dem schwarzäugigen, undankbaren Mädchen mußte er eine Kränkung anthun.

Ihretwegen sterben, daß Gewissensbisse sie Tag und Nacht verfolgen! Er schloß sich ein, um ungestörter seine Todesart zu wählen.

Niemand hatte ihn gesehen; daher kam Schwester Christiane spät an die Thür; sie war verriegelt.

„Er wird schon schlafen.“ Sie öffnete den andern Eingang, der sonst nicht gebraucht wurde, und sah ihn rosig auf dem weißen Kissen liegen; die blonden Locken ausgebreitet, die Wangen warm überhaucht.

Am Morgen verließ er frühe das Haus; Kaffee und Weck waren nämlich seine Leibspeise; er mochte seinen Entschluß keiner Gefahr aussetzen.

Es stand in ihm fest, daß er sich aushungern würde.

„In die „langen Erlen“, dort suchen sie mich nicht!“

Kein Mensch war in dem Gehölze; die hohen Pappeln rauschten leise im Morgenwind; ein Bächlein rieselte am Wege: ach! viel zu langweilig zum Sterben.

Noch einmal übermannte ihn der Kummer; er warf sich in's Gras und weinte. Der leere Magen, die Waldluft und Stille schläferten ihn ein.

Christiane hatte schon am Morgen den jungen Landsmann vermißt; sie war jedoch ohne Arg. Als er aber zu Mittag nicht erschien, sandte sie ihren Gatten zu Jacob. 198 Die Fama war nicht unthätig gewesen; alle wußten von der Begegnung beim Lochbrunnen. Gesehen hatte ihn seither Niemand.

„Er hat sich ein Leid gethan!“ jammerte Christiane.....

Conrad rieb die Augen; er wußte nicht sogleich, wie er in den Wald gerathen; da hob er den Kopf.

Arm in Arm kamen seine Corpsbrüder daher; sie sangen:

„Was kommt dort von der Höh!“

Wohin fliehen? es war zu spät. Conrad legte seinen Kopf wieder in's Gras und siellte sich schlafend. Sie schritten vorüber, ohne ihn zu beachten; doch meinte er,ihr anzügliches Lachen zu sehen:

„Sa, sa, der lederne Monsieur Prère!“

Die Liebe zum Leben erwachte wieder; er richtete sich auf dem Ellbogen auf, um ihnen nachzuschauen; da fuhr er zusammen.Nicht sern von ihm stand Jacob und beschäftigte sich mit seinen Stiefeln:

„Siehe, Conrad!“ that er ganz erstaunt.

Er half ihm aufstehen. Dem armen Jüngling wurde ganz übel dabei; er mußte sich fest an des Freundes Arm hängen.

Dieser führte ihn in ein kleines Wirthshaus an der Wiesenbrücke.Blaß lehnte Conrads Kopf an der Wand. Die Wirthin trug einen duftenden Braten auf; er schloß die 199 Augen, um ihn nicht zu sehen; doch bebten seine Nasenflügel vor Begierde.

Jacob aß tapfer; dann ließ er den Freund allein.Vor dem Fenster hörte ihn Conrad mit der Wirthin plandern.

Ohne zu wissen, wie ihm Messer und Gabel in die Hände gekommen, schnitt der „schöne Schwabe“ Scheibe um Scheibe ab; auch das Brod und der Wein verschwanden.Conrad war geheilt. Bald darauf verließ er Basel.

XI.nerhen war nun ein erwachsenes Mädchen; sie hatte die Trauer um die Mutter abgelegt und saß in ihrem hell lila Kleidchen auf der Bank unter den Linden. Das feine Köpfchen trug eine Last schwarzer Flechten und ein Korallenhalsband schmückte den schlanken Hals.

Ursuline hatte die ersten Schoten gepflückt; Ester war eben daran, sie auszuhülsen; in der Jungfrau großer Gartenschürze, die sie zum Schutze ihres zarten Kleides umgebunden, lagen die weichen, grünen Erbsen; sie mußte das duftige Gewächs durch die Finger gleiten lassen.

Während sie nun in ihren Schooß blickte, hatte Jemand leise das Gartenpförtchen aufgeklinkt und stand ungesehen in ihrer Nähe. Wie selig leuchteten seine Augen; in seiner Haltung bebte mühsam zurückgehaltenes Entzücken: sie mußte den warmen Strom fühlen.

„Jacob!“ schrie sie plötzlich auf und wollte die Erbsen in eine kleine Schüssel schütten; aber der Ungestüme raffte sie sammt allem empor, an seine Brust, lief auf das Häuschen zu und hob das junge Mädchen wie ein Kind in die Höhe.

„Ursuline! sie ist mein! ganz mein eigen!“

Gackernd stürzten die Hühner auf die ausgestreute Erbsenspur und verschlangen die zarte Speise.

„Du wilder Mensch, was hast du gemacht?“

Jacob ließ sie nicht los; er drückte Küsse auf ihre Haare, ihre Wangen, ihren Mund; er nahm sein Bräutchen mit Sturm.

Die Gartenthüre klinkte wieder; diesmal war's Papa.

Esterchen stürzt stolpernd in seine ausgebreiteten Arme.

„Wie siehst du aber aus?“ frug der Doktor lachend und besah die derbe, grüne Schürze, über welche das Kind fast gefallen wäre.

„Jetzt gehörst du deinem Freunde Jacob; ist's dir recht?“Ester wußte nicht, wohin den Kopf stecken. Sie flüchtete zu Ursuline; diese köste während der Umarmung die Bänder der Schürze.

Jacob führte sein Liebchen weg; sie gingen in den alten Nachbargarten:

„Weißt du noch, mein Herz, wie wir hier Mann 201 und Frau spielten. Du kochtest und gingst auf den Markt und ich mußte dir Geld geben; schönes Geld:zerfetzte Sauerampferblätter.

Dann kamst du wieder und packtest deine Einkäufe aus und jammertest über die theuren Preise.

„Gerade wie Mama“, lachte sie.

„Und dann verklagtest du deine ungehorsamen Kinder und ich mußte sie strafen, wenn sie wieder das Kleid zerrissen oder beschmutzt hatten.

„Und der theure Schuhmacher; ja, Kinder kosten erschrecklich viel Geld.“

Er lachte leise in sich hinein; Ester hatte ein rothes Köpfchen.

„Ester“, fuhr er fort, „so haben wir als Kinder gespielt; so werden wir's jetzt in süßem, heiligem Ernste treiben .... Aber du sprichst gar kein Wort?“ ...

Als sie wieder zu den Andern zurückkehrten, verklagte Ester ihren Bräutigam wegen der Erbsen.

„Arsuline hatte sie extra für dich gepflückt; du solltest sie morgen zu Mittag essen“, meinte sie zu Papa.

„Strafe muß sein“, sagte der Doktor ernsthaft. „Jacob soll allein am Katzentischchen sitzen.“

„Da will ich doch lieber zu ihm gehen“, lachte Ester.Noch nie ist Strafe erwünschter gewesen.

Das Katzentischchen war ein wenig abseits; es trug seinen Namen mit Recht. Nanni, Winkelblechs schüchterne Schwester, lebte abgeschlossen von der Welt im alten 202 Meerwunder. Als Gesellschaft hatte sie eine Magd und vier schöne Katzen.

Lange Zeit hatte Ursuline vergeblich das alte Mädchen auf's Güetli eingeladen; sie, die nie vor das Stadtthor gekommen, fürchtete sich entsetzlich vor dem Lällenkönig,der auf dem Rheinthor der Großbasler Seite bei jedem Pendelschlag seine Zunge gegen die Brücke ausstreckte.

Zuletzt war die Ueberredung doch gelungen; als Nanni ohne Unglücksfall wieder mit Magd und Katzen heimgekommen war, unternahm sie den Ausflug öfter.

Die vier Katzen thaten die Reise in einem großen Deckelkorbe; sie machten eine ansehnliche Last aus; es wäre der Magd vielleicht zu viel geworden, wenn nicht Ursuline so reichlich aufgewartet hätte.

Majestätisch stiegen sie allemal aus dem Korbe.

Den Vögeln waren diese wohlgenährten Thiere trotz aller Lüsternheit nicht gefährlich; aber sie erlaubten sich bisweilen zwischen Tellern und Tassen zu spazieren, weßhalb man sie an einem besondern Tischchen bewirthete.

Wenn die Kinder sich unmanierlich benahmen, schickte man sie an das Katzentischchen.

Der Winter 1829 kam frühe in's Land; im November fing es an zu schneien; von da an stieg die Kälte fortwährend.Ab und zu kam Jacob; seltener Manuel; sonst wagte sich Niemand aus der Stadt heraus. Bineli hatte die Hände voller Frostwunden; sie schlief im Stalle bei den Kühen; ein früh gealtert, gebrechlich Wesen.Ursuline mußte alle Arbeit thun und daneben noch die weichmüthige, jammernde Magd pflegen.

Die Fensterscheiben waren fest zugefroren wie Blech;wenn Ursuline Wasser brauchte, mußte sie über einem Kohlenbecken die eiserne Brunnröhre erhitzen; sonst fror der Strahl sogleich ein. Todte Vögel fielen aus der Luft; in der Nacht krachte es wie Flintenschüsse; es waren Bäume, die der Frost barst.

Alle Thiere, Hühner, Schweine, auch der Hund waren im Stalle untergebracht.

Zu der Einsamkeit kam noch die Furcht. Der Spitz wurde unruhig, die Kühe schnaubten und draußen lief mit glühendem Auge der Wolf über die hartgefrorene Schneedecke.Ohne Licht brachten die beiden Menschenkinder die endlosen Nächte zu; durch die Klappe, die vom Stall aufwärts führte, drang das Wimmern der leidenden Bine.

Es war die schwerste Prüfungszeit in Ursulinens Leben; dennoch verzagte sie nicht.

Jacob drang jedesmal in die Schwester, mit ihm in die Stadt zu kommen; da war trotz der Kälte Leben.

Auf dem hartgefrorenen Rheine wurden Feste gegeben mit Musik und Feuerwerk, und in Esters Kinderstube war's traulich und warm und heiter.

Aber Ursuline wollte ihre treue Dienerin nicht verlassen; 204 denn ihre Furcht vor dem Hospital war größer, als die vor dem Tode.

Endlich brach die Kälte; Bine ertrug diesen Umschwung nicht mehr; sie war längst schon wie ein Kind,das aus den Händen der Pflegerin Alles empfangen mußte. Ihre letzten Wörte waren Segenswünsche für ihre Herrin.

Der Jungfrau schien Alles zu fehlen, als ihre aufopfernde Pflege nicht mehr nöthig war. Sie fühlte sich zum ersten Male einsam.

Um jene Zeit siedelte sich ein Landwirth in ihrer Nachbarschaft an; bis seine Wohnung fertig gebaut war,übernahm er einen Theil von Ursulinens Arbeit; er besorgte auch ihren Viehstand.

Mühsam schlich sie im Hause umher; die warme Frühlingsluft strömte in die offenen Fenster; an den Wänden lief das Wasser herunter.

Ursuline frööstelte überall.

Eines Morgens war sie unfähig sich zu rühren.Rufen war umsonst; der Nachbar litt an Schwerhörigkeit.Als er die Kühe besorgt hatte, ging er.

Träge schlichen die Stunden dahin.

Zum ersten Male weinte sie aus Muthlosigkeit.

Glücklicher Weise fand der Nachbar auffallend, daß die Milch vom Morgen noch immer im Stalle blieb; er stieg auf der Leiter durch die Klappe.

Nun hatte die Noth ein Ende. Manuel eilte herbei;es war Schmerz und Freude beisammen, als er sie begrüßte. 205 „Nun mußt du dich doch von mir pflegen lassen,du Spröde!“

Mit Jacobs Hülfe wurde sie in Manuels bequemem Wagen in die Stadt gebracht; sie lag mehrere Wochen an der Gliederkrankheit darnieder.

Ein herrlicher Frühling heilte die Wunden, welche der Winter geschlagen.

Der Doktor begleitete jeden Tag seine genesende Patientin auf die „Treue“. Manchmal fuhr Ester mit den Kinderchen mit. Dann nabmen sie den Kaffee draußen.

Manuel und Ursuline standen eines Tages im Zimmerchen droben am offenen Schreibtisch; sie suchten nach alten Familienpapieren.

Plötzlich fuhr der Doktor auf; er hatte in einem Fache seinen Schattenriß gefunden.

„Hast du das wirklich aufbehalten, liebe Ursuline?“frug er in gehobenem Tone.

Sie ärgerte sich über den warmen Strom, der ihr zu Häupten stieg.

„Du hast den armen Kerl im Regen liegen lassen“,fuhr er fort; „da kann man sehen, wie das Frauenzimmer mit seinem Schatz umgeht!“

Der Doktor betrachtete noch immer gedankenvoll den Reim, den er selbst hingeschrieben hatte; er war ganz verwischt. Ein andrer Gedanke durchkreuzte sein Gehirn. Ursuline sah die brennende Frage auf seinen Lippen; das jugendliche Erröthen kam wieder auf ihre Wangen.

„Ursuline, hast du um meinetwillen geweint?“

Er war bewegt; sie antwortete nicht.

Manuel zog sie näher und schaute tief in ihre Augen.

„Wirst du mir's glauben, meine Freundin? Mein ganzes Leben lang habe ich mich nach der Perle gesehnt,die ich Verblendeter fahren ließ. Dein hoher Werth machte mich damals so blöde ....

Als wir uns nach Jahren wiedersahen, wollte ich durch treue Freundschaft meinen Irrthum wieder gut machen .... Da warst du es nochmals, die mich durch Edelmuth fast erdrückte. ... Nein, laß mich ausreden! ....Vielleicht schenkt mir der liebe Herrgott noch ein zehn,vielleicht zwanzig Jährchen. Jetzt komme ich und möchte noch das Beste geschenkt haben! .... Willst du mir's geben?“ ....

Ursuline fand noch immer keine Worte. Er hingegen war ganz beredt:

„Siehst du, mein Lieb, wie warm die Sonne auf uns scheint? obgleich sie schon leise abwärts geht! Willst du der Sonnenschein meines Abends sein, Ursuline meine Gattin!“ .....

44 Die Linden mit ihrem dämmergrünen Schatten haben es den Liebesleuten angethan.

Das alternde Brautpaar brachte alle seine Nachmittage hier zu. 207 „Das ist kurios“, meinten die jungen Naseweisen der Familie; „was kann man sich zu sagen haben, wenn man gleich Großmutter wird?“

Ursuline, die Thätige, konnte jetzt feiern; sie saß Hand in Hand mit dem Bräutigam und beide schauten glückselig auf das Hüpfen der Vögelein in den Zweigen,auf die Bienchen, die um die duftenden Lindenblüthen schwärmten.

„Weißt du noch, Ursuline, wie du die Kühe liebtest?jetzt hast du dafür zwei schöne Pferde.“

„Ja, mein Manuel, der liebe Gott macht mir's recht bequem für meine alten Tage.“

.„Fährst du auch wirklich gerne?“ frug er mit leisem Mißtrauen.

„Versteht sich! Du weißt ja, wie ich mich immer freute, wenn du mich mit Esterchen zur Ausfahrt holtest.“

Ursuline mußte an eine solche Fahrt zurückdenken:Auf der Straße hielt der Schlitten mit Schellengeklingel;das Kind kam in Kaputze und Mantel, sie abzurufen.

„Heut kann ich unmöglich, mein Herzchen! sieh,meine Arbeit leidet's nicht.“

„O laß alles liegen“, bettelte die Kleine fast weinend;„Papa fährt mit den neuen Rappen; er ist erschrecklich zornig.„Zornig? der Rappen wegen?“

„Nein, wegen Mama! Sie hat zu ihm gesagt:Meinetwegen mögt Ihr den Hals brechen! ich fahr' nicht mit. Sie ließ für sich die alten Schimmel einspannen.“ .... 208 So düster hatte sie Manuel noch nie gesehen.

Hui, wie der Schlitten flog!

„Habt Ihr Angst dahinten?“

„Nein!“ riefen beide freudig.

Er wendete sich um und lächelte zum ersten Mal.

Als sie durch den bereiften Wald fuhren der Duft lag wie ein Schleier um das feine Gezweig ließ er die Rappen langsam gehen; der Dampf stieg aus ihren Nüstern; sie wiegten sich wie Tänzerinnen.

„Es sind fromme Thiere“, sagte er.

„Und feurig!“ fügte Ursuline bewundernd hinzu.

Schon ging es pfeilschnell weiter. Esterchen flüsterte:„Schau, wie er lacht! wenn man die Pferde lobt, ist Papa gleich wieder vergnügt.“

„Ein köstliches Paar“, sagten die Leute, wenn Ursuline mit dem Gatten ausfuhr. Die stattliche Frau bat oft um die Zügel; sie hatte eine feste Hand und beherrschte spielend das übermüthige Gespann.

Die Ehegatten sahen sich in Kraft und Frische ähnlich;beide waren von innerem Glücke verklärt.

So fuhren sie im offenen Wagen in die Welt hinaus.

Ach! wie schnell fliehen die Jahre, wenn es der Neige des Lebens zugeht! Die Sonne wollte auch hier nicht stille stehn.

Manuels schwarzes Haupt ergraute. Ursulinens Haar lag in weißen Locken um die Stirn. Die Liebe allein erblaßte nicht.

Von dem Sturme, der im Anfange der dreißiger Jahre die Welt und auch unsre Heimath durchbrauste,merkte man in der heimeligen Stadtwohnung Ursulinens nichts; das Haus war tief; die Gatten weilten in den sonnigen Hinterzimmern. Dahin drang selten das Geräusch der Straßen.

In den untern Stockwerken hausten Jacob und Ester.

Eine zärtlichere Mutter gab's nicht, als „Sammtoigle““; der Herr Gemahl mußte oft mit seiner imposanten Autorität d'reinfahren, weil zwei stämmige, Hanskaspersche Schößlinge mit rauhen Kehlen und trommelfertigen Fäusten zwischen den sanften Schwarzköpfchen aufwuchsen. Bei den Großeltern waren sie immer willkommen.

„Hörst du das Träppeln und Zwitschern, Ursuline?“

„Ja, sie sind schon oben an der Stiege!“ und die stattliche Großmutter öffnete den Enkelchen die Thür.

Das junge Volk fand sich von allen Seiten ein.Manuel hatte noch ältere Söhne und Töchter mit zahlreichen Ablegern und Ursuline Neffen und Nichten. Da war in einem Goffernkistchen süßes Vogelfutter. Jede Woche mußte die Köchin backen.

Abends blieb das alte Paar gerne allein am traulichen Kaminfeuer, oder sie schauten den Sperlingen zu, welche ihr Nachtquartier an der Epheuwand des Gärtchens einnahmen.

Das war ein Gezänk, ein Lärm, ein Geflauer! „Manuel, sieh einmal diesen dicken Spatzen an; das muß ein wunderlicher Heiliger sein! Schau, er probirt's überall; nirgends will's ihm passen: Endlich ist er untergeschlupft!“„Das ist Einer wie ich“, scherzte Manuel; „ist mir auch nirgends wohl gewesen, bis ich spät genug bei meiner Treuen das richtige Nestchen fand!“

Wie er sie mit liebevoller Innigkeit anschaute, kam ein jugendlicher Glanz in seine dunkeln Augen.

Jeden Tag besuchten die Gatten ihre Pferde; die Thiere merkten ihr Kommen gleich und wendeten die Köpfe nach dem Eingang; man hatte sie mit Leckereien verwöhnt.Statt des frühern, tänzelnden Uebermuths zeigen sie jetzt wohlbeleibte Würde und führen ihre Herrschaft im bequemen Trabe durch die Strußen.

Hinter den blanken Scheiben des schönen Wagens aber sitzen die glücklichen Alten; auf ihren Gesichtern ruht der lächelnde Frieden der Abendstille. 7 F