Leipeig Verlagsbuchhandlung von J. J. Weber 1865.340 Inhaltsherzeichnizs.
Erstes Capitel.
Das Gaißmädchen und die Stiefmutter.Sweites Capitel.Morgenroth Regen prophezeit .Drittes
Capitel.Hülfe bei großer Noth.biertes Capitel.
Annemareili wird von allerlei Uebel befreit und kömmt sich wie eine Prinzessin vr.
Fünftes Capitel.
Der erste Dienst und der kleine Johanneslein Sechstes Capitel.
Seite
3
12
Hülfe und noch einmal
27
38
51
Der zweite Dienst; oder es ist nicht Alles Gold, was glänzt 64 Siebentes Capitel.Ein
Tröster in hellblauer Jacke ...Achtes Capitel.Ein Spaziergang. Joseph kehrt ein;
Annemareili auch, aber an anderm Ortee 8
30 Neuntes Capitel.Annemareili spart, ein Vetter erscheint am Horizonte ..Sehntes
Capitel.Der Vetter ist auf die Sparkassen nicht gut zu sprechen.alte Bekanntschaft
erneuert sich ..
103
119 Inhalisverzeichniß.Seite Elftes Capitel.Geschichte des Schmidtrudi.
..
126 Swölftes Capitel.
Fortsetzung, oder ein Tyrann vergreift sich an den Menschenrechten des Rudi und bringt
ihn ins rechte Geleise .. 143 Dreizehntes Capitel.
Aussichten zu einer Heirath. Reise in die Heimat bei Sonnenschein. Warum aber Rudolf dem
Annemareili das Päcklein nicht träst.. VVVE dierzehntes Capitel.
Die Schwiegermutter. Herbstnebel. Annemareili giebt nach 174
Fünszehntes Capitel.Ein Stärkrer tritt auf; die Schwiegermutter ebenfalls.. 187
Sechszehntes Capitel.
Genesung. Eine Nückzahlung der Sparkasse, die reich macht.
Auch der Stiefbruder findet einen Meister. 196 Dienen und Werdienen. Erstes
Capitel.
Das Gaißmädchen und die Stiefmutter.XE eigentlich kein so übles Kind gewesen, wenn's auf
seinem Kopfe nicht so gar wie in einer Brombeerstaude ausgesehen und man die natürliche
Farbe seiner Backen erblickt hätte. Denn wußte es wirklich etras vom Kämmen und Waschen,
so war's höchstens vom Hörensagen; jedenfalls hatte es sich nie erkältet dabei, noch
weniger aber erhitzt. Das Mädchen gehörte einem armen Weber, war indeß bei noch ärmeren
Leuten verkostgeldet, weil ihm die Mutter gestorben, noch ehe es zwanzig Wochen alt
gewesen und der Vater seitdem keine Haushaltung mehr führte, sondern im Verding arbeitete.
So sah denn keine Seele zu Annemareili,zeigte ihm nichts, hieß es nichts, als auf der
Waide die Gaißen hüten und etwa im Felde ein wenig Unkraut jäten. Es wuchs wild auf,
glücklich und zufrieden mitten im Unrath, und wenn ihm die Leute auch auswichen,das war
ihm gleich, seine Gaißen leckten ihm doch die 4.
Hände und hatten es nur um so lieber. Es fiel ihm nicht im Schlafe bei, daß es, das
Annemareili, ebenso gut hätte sauber sein können als die andern Kinder im Dorfe. Diese
andern Kinder waren ja auch nicht wie es bei allem Hudelwetter draußen im Freien, saßen in
der Stube auf der Ofenbank oder spielten in Scheunen am Schermen, wenn ihm der Morast über
den nackten Füßen zusammenlief, schliefen in Betten, wenn es neben dem Säustall auf einem
Laubsacke lag und sich nothdürftig mit verdorbenen Lumpen deckte. Aber es wußte nichts
Bessres und war zufrieden, jodelte hell auf,wenn andre Leute schnatterten vor Kälte oder
fast zergiengen vor Hitze und ein kalter Erdäpfel, den es erhielt,oder ein halbreifer
Aepfel, den es fand, waren ihm Leckerbissen, daran es wohl lebte, mit seinen
elfenbeinweißen Zähnen drein fuhr, daß Jedem, der es sah oder hörte,das Wasser im Munde
zusammenlief. Nie eine kranke Stunde hatte es gehabt das Mädchen, und rüstig war's,daß es
keinen Buben fürchtete, nicht einmal ältere als es war. Es hatte kein Camerädchen, denn
den Mädchen war's zu ungeschlacht, mit den Buben aber bekam es gleich Händel, wenn die es
so behandeln wollten, wie sie mit den andern Mädchen umgiengen. Zu des Krämers Heinrich
allein verrieth es einige Hinneigung. Der Heinrich war ein schwächlicher Knabe, und es
schmeichelte dem Stolze des kräftigen Mädchens, ihn gegen seine stärkeren Genossen in
Schutz zu nehmen bei den Streitigkeiten, die sie unter sich hatten. So fielen deßwegen mit des Schmidt Rudi, einem stämmigen Burschen, mehr als einmal hitzige
Raufereien vor, und trug Annemareili in der Vertheidigung seines Schützlings Beulen wie
Taubeneier davon, so lief dafür der Gegner mehrere Tage mit den blutigen Mälern von
Annemareili's Nägeln im Gesichte herum. Für solchen Schutz war der Heinrich natürlich
wieder erkenntlich, vergalt ihn mit Aepfeln,Brot, Nüssen, wodurch sich dann eben ein
gewisses Verhältniß von Freundschaft bildete, das einzige, welches das Mädchen noch mit
Jemand Anderm als mit seinen Gaißen unterhielt.AVDDDD und sorgenlos wie Wenige, aber auch
verwildert wie kein andres Kind im Dorfe. Da änderte sich sein Schicksal, doch nicht
gerade zum Besten. Der Vater heirathete zum zweiten Mal und trieb sein Gewerbe wieder auf
eigne Faust. Natürlich zog nun das Mädchen zu ihm und es schien am Anfang für Annemareili
wohl auszuschlagen, kam es doch wieder in eine Haushaltung und unter Menschen, die ein
wenig zu ihm sahen und es nicht nur mit dem lieben Vieh laufen ließen. Es kostete zwar
genug Schläge bis Annemareili begriff, es müsse jetzt wieder zu Hause bleiben und im Hause
arbeiten, könne nicht mehr von Morgen früh bis in alle Nacht hinein im Freien herumziehn.
Nun hatte es Spuhlen zu machen für den Vater und Tschuder zu spinnen, mußte Wasser tragen,
fegen, hie und da der neuen Mutter an die Hand gehen. Den Winter über wurde es
sogar in die Schule geschickt, lernte aber nicht viel mehr, trotz dem, daß es nicht dumm
war, als was eben beim Durchfahren von einem Ohre zum andern unterwegs hängen blieb: ein
wenig Lesen, Rechnen soweit die zehn Finger langten und Schreiben fast gar nichts.
Von all diesen Plagen sah Annemareili immer nur die Stiefmutter als Ursache an, um so
mehr, da es von dieser auch am meisten gescholten und bestraft wurde. Es war daher nicht
nur besonders übel auf sie zu sprechen,sondern zeigte ihr in seinem Trotze noch seine
Gesinnung durch die geringe Achtung, dadurch, daß es Alles schlecht ausführte, was die es
hieß, und ihr nicht leicht etwas zu Liebe that. Die zweite Frau von Annemareili's Vater
kehrte darum natürlich auch immer deutlicher und rauher die Stiefmutter heraus gegen das
ungezogene Kind, um so rauher als sie ohnehin nicht die sanfteste war, hatte sie doch bald
sogar den eignen Mann der Art unter den Daumen gekriegt, daß er kaum mehr seine Tochter in
Schutz zu nehmen wagte. Gab sich deßwegen Annemareili seinerseits bei Allem wenig Mühe und
hielt sich in nichts gegen die Stiefmutter für verpflichtet, so wurden dafür bei der
wieder die guten Worte selten, es sauste ein Klapf um Annemareili's Ohren, da wo andre
Mütter zu ihren Kindern gesagt hätten: „Hör einmal, Annemareili!“ und Ohrfeigen am Morgen,
Schläge zum Mittag und Prügel für den Abend wurden die gewöhnliche Kost.
So lernte das Mädchen eigentlich nicht viel Andres als die Stiefmutter ärgern, wie
harmlos es früher auch gewesen. Es hatte deßwegen noch nicht gerade ein böses Herz, mehr
ein unvernünftiges, denn mit dem, daß es ja nur gegen die Stiefmutter so sei, glaubte es
sich zum Voraus schon vollkommen gerechtfertigt. Auch die Reinlichkeit machte keine
auffallenden Fortschritte. Wohl gab ihm die Stiefmutter deßwegen alle Schandnamen,dafür
aber selber kein gutes Beispiel in dem Punkte;Schandnamen indeß kämmen nicht, noch waschen
sie,wenn's auch tropft davon, und Annemareili dachte halt gleich wieder: es sagt's nur die
Stiefmutter! und nahm's drum um so weniger an.
Das Leben, das Beide zusammen führten, war demnach kein gar erfreuliches, der Vater, der
zwischen ihnen inne stand, hatte es aber vielleicht noch am allerschlechtesten, denn er
bekam Vorwürfe von beiden Seiten zu hören. Anfangs versuchte er zu besänftigen: das war
Oel in's Feuer, dann schwieg er und nur wenn sein Weib dem Annemareili einen Schemel
nachwarf,oder den Besenstiel auf dem Rücken zerbrach, nahm er sich zusammen und schalt:
das komme ihm doch bald zu arg! Am Ende verließ er seine Arbeit bei derlei Anläßen und
schüttete im Wirthshaus ein Glas Wein auf seinen heimlichen Verdruß. Hierdurch aber ward
nicht nur nichts gebessert, sondern noch verschlechtert,nämlich der Erwerb und um so mehr,
da mit der Weberei ohnehin keine Seide zu spinnen war.Zu Allem kam dann noch,
daß Annemareili ein neues Brüderlein bekam und das Jahr darauf sogar ein zweites. Das
erste Kind das kam, wurde wenigstens von der Mutter mit freundlichen Augen angesehen, vom
Vater nur so halb und halb. Das zweite dagegen,das kaum ein Jahr warten gekonnt, kam
Niemandem willkommen, war's doch bis jetzt schon knapp genug zugegangen in der
Haushaltung! Der Vater seufzte mehr und gieng öfter in's Wirthshaus, darin er freilich
jetzt für einen Halbbatzen Brenz trank, statt des Schoppen Weins von früher. Die Mutter
sah nur um so saurer und unwirscher drein, je freundlicher das unwillkommene Knäblein sie
anlächelte, denn sie erblickte eine neue und überflüssige Sorge in ihm und hätte
jedenfalls lieber ein Mädchen gehabt anstatt eines Bübleins, was sie beim Bestellen
wahrscheinlich übersehen. Annemareili endlich, ja Annemareili war das Einzige im ganzen
Hause, welches dem armen Würmlein noch ein gutes Wort gab, ihm ein freundlich Gesicht
zeigte, es schweigte,wenn es schrie. Wie das kam? War's aus Schadenfreude vielleicht, wie
die Mutter meinte, daß es einen Verbündeten bekommen, der ihm die Stiefmutter ärgern
helfe? Nein, dafür war Annemareilt zu gerade und sein Herz zu unverdorben, wie trotzig es
daneben auch sein mochte; vieleher erbarmte es das arme hilflose Ding, das ja auch Niemand
hatte der's liebte, oder ihm hold war, gerade wie Annemareili nicht. Kurz, das Mädchen
fühlte sich hingezogen zu diesem Stiefbrüderlein, und es nährte es, trug es,
gab ihm den ersten Kuß,den es je einem Menschen gegeben, ja, was das allerauffallendste
war, es wusch es sogar und sorgte ihm für reine Kleidung, freilich nicht rein, ganz genau
was eine Vorgängerin in der Stadt so nennt, sondern ein wenig was ein Annemareili rein
heißen konnte. Darüber indeß empfand das Annemareili doch eine kleine Schadenfrende, daß
der Kleine gegen Niemand so lächelte wie gegen das Mädchen und mochten Vater und Mutter
anwesend sein und die Mutter ihm den saftigsten Lutscher vorhalten, es streckte gleich die
Arme gegen Annemareili,sobald dieses nur in die Stube trat und spornte und schrie, bis es
bei ihm war. Dieses jedoch hatte sich mit all dieser Liebe, der eigenen wie des Bübleins
seiner,doch nicht satt gegessen; das will heißen: als der Verdienst geringer, der Mäuler
mehr und die Bissen darum schmäler geworden, als die Stiefmutter das wenige Brot, das im
Hause war, für ihre eignen Kinder zuerst verwandte,da bekam das Madchen mehr denn ein Mal
empfindlichen Hunger zu spüren. Es war ohnehin stark gewachsen und im Alter dazu, hätte
den ganzen Tag essen mögen,nicht aber des Nachts ohne ein Tünklein in's Bette gehen. Schon
öfter war es drum heimlich über den Brotlaib gegangen, oft aber auch von der Stiefmutter
hart gescholten und bedroht worden deßhalb. Hatte es sonst schon wenig auf die Stiefmutter
gehört, so übertäubte jetzt der Hunger noch vollends ihre Stimme, und eines Morgens, da
Annemareili die Stiefmutter auf der Holzbühne glaubte, stand es auch wieder
vor der offenen Tischschublade, in der einen Hand das Messer, in der andern den ziemlich
zusammengeschmolzenen Brotlaib.Unglücklicherweise trat da von der Küche her die Mutter
unversehens in die Stube und unter einem Schwalle von Scheltwörtern war sie über dem
erschrockenen Mãdchen her, riß ihm Brot und Messer aus den Händen und schlug ihm mit
diesem hart über den nackten Arm. Ein Schrei Annemareil's war Alles: das Blut schoß über
den Arm herunter, dunkelroth und heiß aus einer tiefen Wunde hervor. Die Stiefmutter
erschrak Anfangs wohl ein wenig, aber gleich darauf schalt sie: es geschehe der Diebin
Recht, sie komme doch noch an den Galgen und es sei nur Schade, daß es nicht tiefer
gegangen! Annemareili aber fagte jetzt kein Wort mehr, es wickelte nur seine Schürze um
den stark blutenden Arm und gieng dann zur Thüre hinaus. Denselben Tag zeigte es sich
nicht mehr und Niemand fragte weiter nach ihm.
Von da an ward es stille, sprach fast nichts mehr,gab auch weniger Anlaß zu Streit, den
Arm trug es noch einige Tage lang verbunden und als die Lumpen zum ersten Mal weg waren,
zeigte sich ein halbfingerslanger breiter rother Streifen an der verwundeten Stelle.
Eines Morgens kam das Mädchen nicht in die Stube herunter, es ließ sich den ganzen
Vormittag nicht blicken,die Stiefmutter war an dem Verschlage, drin es
schlief,vorbeigegangen und hatte die Thüre nur angelehnt, das Bette leer gefunden, nirgend
war ein Annemareili zu sehen. Um die Mittagszeit fand es sich gleichfalls nicht ein,
vergeblich hatte das kleine Stiefbrüderlein mehrmals nach ihm geschrieen und endlich,
gegen Abend, auch der Vater gefragt. Sie wisse es nicht und laufe dem Trotzkopf nicht
nach, antwortete die Stiefmutter, war aber gleichwohl ein wenig unruhig, als es auch
Nachts noch nicht zurückkehrte, hatte es sich doch in den letzten Paar Tagen auffallend
stille und in sich gekehrt gezeigt. Und als da der Vater, der im Wirthshause sich Muth
geholt,sagte: das sei ihm doch überlegen, wenn man ihm sein Kind so zum Hause
hinaussprenge, wie es scheine! da ersticke die Frau ihre eignen Gewissensbisse mit einer
Fluth von Vorwürfen und Schimpfreden über die Entwichene, und daß der Schade nicht groß
sei, wenn sie auch gestohlen worden, das aber sei leider nicht zu fürchten!Noch zwei, drei
Tage zeigte der kleine Knabe Ungewöhne,der Vater tröstete sich damit, Annemareili könne es
leicht besser bekommen an einem andern Orte (das gieng ihm aus dem Herzen,) und was die
Ungewißheit über des Mädchens Schicksal betraf, so half ihm über diesen Punkt sein
gewöhnliches Mittel, das er im Wirthshause fand.Daß bei der Stiefmutter die Lücke noch
gerin a2war,versteht sich von selbst.Zweites Capitel.
Annemareili findet daß Morgenroth Regen prophezeit.Annemareili inzwischen war über Berg
und Thal gewandert. Früh mit der Sonne hatte es am ersten Tage sein armseliges Lager
verlassen, war, die Schuhe in den Händen tragend, die Treppe hinuntergeschlichen,vor der
Kammer, drin der Vater und das kleine Stiefbrüderlein schliefen, noch einen Augenblick
stehen geblieben,hatte gehorcht und als es weiter gieng und aus der Hausthüre hinaus,
sachte und verstohlen, wie ein Dieb, da war's mit der Schürze über die Augen gefahren.
Hinten an den Häusern vorbei, über die Matten, um nicht bemerkt zu werden, hatte es sich
schnell aus dem Dorfe gemacht. Auf der Anhöhe, bei den drei alten Nußbäumen, von wo das
elterliche Haus zum letzten Male zu erblicken, kehrte sich Annemareili noch einmal um und
sah zurück. Aber als brenne ihm der Fußboden unter den Füßen, so eilte es auf der andern
Seite den Hügel hinunter und das Haus, das Dorf mit allem drin war verschwunden, der
Kirchthurm mit dem eisernen Kreuze drauf war das Letzte, was noch eine Weile zu
Annemareili hinüber guckte. Dafür aber that sich eine ganz neue Landschaft auf, mit andern
Feldern, andern Dörfern und Bergen, glühend roth strahlte drüber der
Himmel,wie mit Purpur begossen die einzelnen Wölkchen, es war dem Mädchen, als gienge
jetzt vor ihm eine neue herrliche Welt auf, der es entgegeneile; die Pracht aber
prophezeite Regen.
Annemareili rannte getrost in den Tag hinein, achtete nicht einmal des Weges besonders,
so lange dieser nur von heim wegführte, obgleich es eigentlich nach der Stadt wollte, drin
viel Tausend Menschen seien und schon manch ein arm Mägdlein oder Bürschlein sein
reichliches Brot gefunden. Ob nun dieser Weg, den es gerade gieng, dahin führe, wußte es
freilich nicht so genau, es meinte ja. Mehrere Stunden war es gelaufen, trotz dem es ein
warmer Tag war und die Hitze bald in drückende Schwüle übergieng, daß ihm das Gesicht
glühte und die Füße es zu brennen anfiengen. Aber lange achtete es dessen nicht, stärkte
sich mit dem Gedanken an seine Freiheit wieder die müden Glieder und kams ihm gar zu sauer
vor, so dachte es an daheim, wo's ja zum sauren Leben noch Schläge obendrein gekriegt
hatte.
Gegen Mittag jedoch konnte es nicht mehr weiter,hinter einem einzelnen Hofe, ein wenig
von der Straße abseit, setzte es sich in's Gras. Mit geballten Wolken hatte sich der
Himmel dicht umzogen, erdrückend war die Luft, kein Vogel pfiff, kein Mücklein summte, wie
erstickt lag die Natur ringgum, dumpf und stumm, und Annemareili hatte noch nichts
gegessen heute, nur Wasser getrunken hie und da ein Paar Schlücke an einem
Brunnen im Vorbeigehn, war gelaufen so lang es gekonnt, daß ihm sein Herz jetzt wie ein
Hammer klopfte und die verwilderten nassen Haare wirr über's erhitzte Gesicht hiengen.So
lag es da, als die Bäurin des Hofes gerade vom Felde heim kam und an ihm vorbeischritt
nach der Wohnung, verlechzte schier und hatte doch kaum das Herz, die Frau um etwas Essen
anzusprechen, denn geheischen hatte es noch nie, bei aller Armuth nicht. Mit einem Gemisch
von Mißtrauen und Theilnahme blieb die Bäurin vor Anunemareili stehen und fragte mit einem
scharfen Blicke, was es hier suche? Auf die Antwort,daß es müde sei und heute noch nichts
gegessen habe,fragte die Frau weiter, wo es herkomme und hin wolle?Das Eine aber durfte
Annemareili nicht sagen und das Andere wußte es ja selber nicht bestimmt und gab darum
stotternd einen undeutlichen Bescheid, der die Bäurin nur stutziger machte und sie sah es
für eine herumziehende Dirne an, die zu einer der Vagantenfamilien gehöre,welche jetzt die
Gegend unsicher machten. Solche Gäͤste aber sieht Niemand gerne in der Näͤhe seines
Hauses,auch die Bäurin nicht; indeß mit ihnen es ganz verderben durch ein kurzes Abweisen,
scheuen auch wieder viele Leute, namentlich auf dem Lande, aus Furcht vor ihrer Rache. So
schüttelte drum auch die Bäurin wohl den Kopf, blieb auch beständig in der Nähe der
Fremden und schalt einen der Knechte, daß sie immer den Ringgi mitnähmen auf's Feld, er
gehöre an die Kette hinter's Haus! holte aber dabei doch ein großes Stück Brot
und ein Becken Milch aus der Stube, die sie dem zweideutigen Gaste vorsetzte. Annemareili
verschlang die Speise und war im Hui fertig damit, so daß die Geberin jedenfalls zu der
Ueberzeugung kam, möge die Dirne sein wie und wer sie wolle, die Wohlthat sei gewiß nicht
am unrechten Platze gewesen. Die Blicke aber,mit denen die Bäurin das arme Mädchen
beobachtete,die Redensarten, die ihm zu verstehen gaben, daß sie ihm nichts weniger als
traue, thaten diesem doch wehe,um so weher, da sie von Jemand kamen, der ihm Gutes
erwiesen. Denn je seltener Annemareili dergleichen noch erfahren, ein um so
empfänglicheres Gemüth hatte es dafür. Darum vermochte es auch nicht aufzubegehren über
dieses Mißtrauen in seiner Ehrlichkeit, wie es doch so gerne gemocht, aber um so tiefer
wurmte es der Argwohn im Innern. War auch sein Leib erquickt worden, es trug eine
schmerzende Wunde im Gemüthe mit fort, als es sich so bald möglich wieder aufmachte und
für's Essen kleinlaut bedankte. Lange noch sah ihm die Bäurin nach, ob es nicht etwa auf
einem Seitenwege sich zurück gegen den Hof schleiche?
Es gieng hart, bis die brennenden Füße wieder recht im Gange waren, und immer schwärzer
zogen sich oben am Himmel die Wolken zusammen. Als hiengen die alle über seinem Herzen, so
schwer wurde es dem Mädchen zu Gemüthe und es dachte schon etwas häufiger nach Hause als
am Anfange seiner Reise, wo es noch den 16 leichten Muth und die getroste Hoffnung
im Herzen,in allen Gliedern Frische und Kraft verspürt. Die aber waren nun durch die
Müdigkeit und die Hitze und die schwarzen Wolken fast völlig aufgezehrt. Der Abend nãherte
sich und Annemareili wußte nicht, wo übernachten und ob ihm Jemand werde Obdach geben
gegen das Ungewitter? Dieses wenigstens habe ihm daheim nicht gemangelt! dachte es schon.
Da flammte es fürchterlich roth vom Himmel hernieder, ein schmetternder Krach erschreckte
die einsame Fußgängerin und eine geraume Weile noch rollte dumpf und schwer der Donner
nach,als ob Kanonen über eine lange hölzerne Brücke führen.Dicke Tropfen folgten bald, die
Blitze und Donner kamen häufiger, hier, dort, die Tropfen verwandelten sich in Streifen,
die Streifen in Güsse. Verwoöhnt war Annemareili just nicht, darum auch nicht gleich
ausser sich, stundenlang schon war es ja ehedem im Regen draussen auf der Waide gestanden
oder im nassen Grase gesessen bei seinen Gaißen; es stand darum auch nicht besonders
unter, sondern schritt durch das Unwetter keck drauf los, daß ihm bald das Wasser aus den
Haaren troff und den Nacken hinunter rieselte über den erhitzten Leib. Sie that ihm im
Gegentheil wohl, diese Kühlung,und der Tumult am Himmel und auf Erden paßte gerade zu
seiner Stimmung. Das Gewitter dauerte bis gegen die Nacht, wo dann Annemareilt in die Nähe
eines Dorfes kam, triefend von Regen, bespritzt bis an die Schultern von Koth, am ganzen
Leibe keinen einzigen trocknen Faden mehr. Weiter gehen konnte es nicht,Geld
hatte es keines und es war auch nirgends bekannt;so mußte es sich auf die fremde
Barmherzigkeit verlassen.
Es stand im Dorfe; in der untern Stube eines stattlichen Bauernhauses brannte schon
Licht, Vater,Mutter und ein Trüpplein Kinder saßen um den runden Tisch herum, drauf eine
gewaltige Schüssel mit Suppe dampfte, worein Jedes seinen Löffel tunkte. Lange sah ihnen
Annemareili mit hungerigen Blicken zu, endlich faßte fich's ein Herz und klopfte an's
Fenster. Der Mann kam und öffnete: was es gebe? fragte er. Und als das Mädchen um ein
Nachtlager im Stalle bat,schüttelte er den Kopf: er nehme bei Nacht und Nebel niemand
Fremden mehr in sein Haus auf! und damit schloß er wieder das Fenster. Annemareili gieng
verblüfft weiter, klopfte noch hier an, dort an, mit immer leiserem Finger, immer kleinrer
Hoffnung im Herzen und wurde hier und dort noch abgewiesen. Die Fenster schlugen ihm
klirrend vor der Nase zu, an einem Orte flog noch eine Drohung nach, an einem andern, wo
mildre Leute wohnten, dagegen ein Stücklein Brot, als Loskaufsschilling gleicham. Von
mehrern andern Häusern schreckten es die Hunde zurück, die ihm lautbellend gegen die
nackten Füße fuhren und ihm sich zu nähern verwehrten. Noch bei einem der äußersten Häuser
stand unter der Stallthüre ein Mannsbild mit einer Pfeife im Maul; es war dunkel,
Annemareili meinte, es sei der Bauer,denn es wußte nicht, daß nur Knechte aber nie die
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Dienen und Verdienen.
Meister sich erlauben im Stalle zu rauchen, und fragte darum, ob es hier nicht ein
Plätzchen finden könne zum übernachten, um Gotteswillen!
Freilich, wenn du keine Häßliche bist, komm' nur in meine Kammer da neben dem Stall an!
lachte eine rohe Stimme, daß Annemareili erschrak, es wußte nicht warum. Als aber eine
freche Hand nach ihm langte,riß es sich mit kräftigem Stoße los und lief davon,was es
vermochte, und weit von dem Dorfe erst stand es wieder stille; doch die Kniee zitterten
dem starken Mädchen noch, daß es sich kaum drauf halten konnte.
Trüben und geängstigten Herzens wanderte es jetzt weiter, nicht wissend, wo sein müdes
Haupt niederlegen.Da stand an der Straße ein leeres Heuhäuslein, freilich mit hartem
steinigen Boden und von allen Seiten dem Winde zugänglich. Annemareili stieg durch das
verVEcke. Es war eine lange, lange Nacht, die es hier verbrachte, und was Alles in ihm
vorgieng, wäre schwer genau anzugeben, denn es schoß gar Mancherlei durcheinander und von
eigentlichem Schlafe war keine Rede.Eine Weile wurde es noch von dem Gedanken gequält,es
sei in Gefahr hier und eine bisher ungekannte Furcht überfiel es, obwohl es schon oft
nicht besser übernachtet als dießmal, da es noch Gaißen gehütet und doch immer getrosten
Muthes gewesen war. Wehte jetzt der Wind durch die Spalten und Ritzen dürres Laub oder
einige zurückgebliebene Heuhalme über den Boden, so hielt Annemareili lange
und furchtsam den Athem an um zu lauschen, pfiff es gar um das Häuslein oder klapperte mit
einer losen Planke, so fuhr es zusammen. Recht hilflos und verlassen kam es sich vor,
wußte nicht wo Beistand finden und Schutz, da die Menschen alle es abgewiesen. Zum
Herrgott müsse sich wenden wer verlassen und hilfsbedürftig sei, der helfe auch den
Armen!so etwas war Annemareili noch von der Christenlehre her in der Erinnerung geblieben,
es hatte das aber bis jetzt nicht gebraucht, weil es sich weder je gefürchtet,noch auch
besonders hilfsbedürftig oder unglücklich vorgekommen war. Nun aber fühlte es so etwas und
darum dachte es auch an das Wort des Pfarrers und sagte alle Gebetlein her, die es halb
oder ganz auswendig wußte, daß ihm der Herrgott helfen möge und es beschütze in der Nacht,
ihm zu essen gebe und es den andern Tag doch ein Dienstlein oder sonst ein Unterkommen
finden lasse! Neben dem Hunger und der Furcht,die Annemareili litt, begann es bald auch
noch zu frieren in seinen nassen Kleidern, die allmälig an ihm trockneten,darum dem armen
Muödchen diese Nacht noch viel endloser vorkam, war es doch die erste, die es nicht
schlafen konnte! Gegen Morgen erst fiel es in einen kurzen bangen Schlummer, darin es
wilde Träume ängsteten.Es kam ihm vor, die Bäuerin, von der es am Morgen die Milch
erhalten, heiße es ins Haus treten, es könne dienen bei ihr. Wie es aber über die Schwelle
schreiten will, hält es Jemand am Rock hinten, es kehrt sich um,2 *eine
schwarze Gestalt steht hinter ihm und es fürchtet sich, will sich losreißen, da hört's das
Gelächter wieder,das es letzten Abend so' erschreckt und es springt in der Angst nach der
Küche zurück und zu der Bauernfrau.Statt der steht aber plötzlich die Stiefmutter da mit
dem großen Brotmesser und schlägt nach ihm, daß der Schmerz brennend durch seinen Arm
zuckt. Ins Freie hinaus will es jetzt rennen und kommt auf die Wiese, dort bellen ihm
jedoch schon eine Herde Hunde nach mit feurigen Rachen und glühenden Augen, die haben sich
von den Ketten losgerissen, schleppen sie klirrend nach und kommen immer näher. Die Matte
jedoch ist ohne Ende und kein Bäumlein, kein Busch darauf, nur am Himmel droben schwarze
zerrissne Wolken, die bis auf den Boden herabhängen und es finster machen ringsum. Je
schneller Annemareili laufen will, um so weniger kommt's vom Flecke, kann die Beine nicht
mehr heben,alles Springen hilft nichts, immer näher gellt das Geheul,immer näher das
Klirren der Ketten, die Erde zittert,die Wolken versperren den Weg, dumpf rollt der
Donner,Rack! da kracht ein Schlag und Annemareili fährt erschrocken auf von seinem harten
Lager, zitternd und steif an allen Gliedern, im Innersten durchfroren, mit wüstem Kopfe.
In der Ferne rasselte die Post, der Postillon knallte von Zeit zu Zeit mit der langen
gewaltigen Peitsche,das Määdchen rieb sich die Augen, die sich nicht recht öffnen wollten
vor der Schwere, die heute darauf lag und der Hitze, die drin brannte. Es stand auf,
schüttelte seine armseligen Kleidlein zurecht und trat traurig aus dem
zerfallenen Heuhäuslein in die kalte graue Morgendämmerung hinaus. Wenn es brav laufe,
werde es erwarmen und ihm besser werden! tröstete sich Annemareili und lief denn wieder
drauf zu. Aber heute wollte das Gehen nicht so wohl ausgeben wie gestern, schon daß es
alle Halbstunden absitzen mußte, brachte es wenig vorwärts. Das Laufen fieng jetzt an ihm
zu verleiden:es sei weit genug von Hause! meinte es, als wollte es doch nicht ganz die
Heimath aufgeben, in der es wenigstens ein sichres Obdach gehabt. Irgendwo sitzen bleiben
und ausruhen, ein Paar Tage hinter einander, das hätte Annemareili jetzt am liebsten
mögen, so müde war es. Darum beschloß es, am ersten besten Orte sich nach einem Dienste,
wär's auch nur beim Vieh, umzusehen,und bat den lieben Gott, ihm doch ein solch Plätzlein
zu verschaffen, es wollte ihm dankbar sein für's ganze Leben. Wenn nur bald so ein Ort
käme! wünschte es und blickte sehnsüchtig über. die Straße in die Ferne.Da stand hinter
einem Hügel, um den der Weg bog,auf einmal eine stattliche Mühle, die Sonne schien hell
auf die weißen Mauern, in den aufgeräumten und saubern Hof hinein, der Morgenwind fuhr
durch die hohen Pappeln, die davor standen und aus dem Kamin zuoberst auf dem Dache
wirbelte ein feiner blauer Rauch.Unten war ein Fenster offen und Tauben spazierten gurrend
und pickend auf dem Gesimse herum, dahinter aber, in der Stube, stand eine stattliche alte
Frau in schneeweißen Hemdärmeln, die streute den Thierlein Brosamen hin.
Annemareili fragte die Frau, wie weit es noch habe bis nach dem nächsten Orte? und als es
hieß,eine gute Halbstunde, mußte Annemareili ein betrübtes Gesicht gemacht und der Frau
gar nüchtern vorgekommen sein, denn diese fragte: ob's etwa ein Schüsselein Caffe wolle,
es sei noch da? Hätte auch Annemareili gewußt,was Complimente sind, es hätte jetzt keine
gemacht und so lange es heute schon marschiert, war es noch nie so rasch gelaufen als von
der Straße die steinernen Stufen hinauf und bis in die Stube hinein.
Eine gewaltige dreibeinige Caffekanne, spiegelblank,stand noch auf dem Tische neben dem
großen geblümten Milchhafen. Das „Mannenvolk“ hatte erst gefrühstückt und die Großmutter
besorgte nun das Abräumen, währenddem die Kinder und Großkinder schon wieder an der Arbeit
waren. Scheu sah sich Annemareili in der saubern Stube um, als spüre es selber, dahinein
passe es eigentlich nicht recht. Keine Hühner spazierten hier auf den Dielen umher, am
Ofen hiengen keine Lumpen oder Strumpfe zum Trocknen, die Vorhänglein an den Fenstern
waren schneeweiß, die Scheiben blank, den Spiegel mit den großen Kornähren dahinter,
hatten die Fliegen nicht undurchsichtig gemacht, sowenig als sie die Vorhänge um das große
zweischläfrige Bette getüpfelt, auf dem Geschirre über dem Känsterlein lag kein
fingersdicker Staub, im Gegentheil, es war wie Crystall so rein lauter Dinge, welche dem
Mädchen ganz fremdartig vorkamen, wenn es auch nicht genau sagen konnte,
warum. Deßhalb auch mußte die Großmutter es nöthigen zuzulangen,und sie füllte ihm ein
Schüsselein bis oben an den Rand.Das Warme that Annemareili gar wohl in seinem leeren und
durchfrorenen Magen, auch wenn der Caffe trüber und die Milch blauer gewesen wären. Sogar
das Herz thaute ihm auf davon; vielleicht aber war daran auch die Art und Weise Schuld,
mit der die Großmutter zu ihm sprach. Es wußte nicht wie's kam, aber dieser Frau mußte es
Alles sagen, was sie nur wissen wollte von ihm, manchmal ehe sie nur recht gefragt, und
doch hatte es einen Respekt vor ihr wie bisher noch vor Niemandem sonst. So erzählte es
denn, wie es einen Dienst suche und gab nicht undeutlich zu verstehen, daß es gerne hier
bliebe, wenn man es brauchen könnte. Die Großmutter aber schüttelte den Kopf. Wir machen
Alles selber, entgegnete sie, haben niemand Fremden; sieben Kinder besorgen Feld und
Mühle, sie, die Großmutter,rüste das Essen. Alles gehe leichter und in der halben Zeit,
wenn man es ohne Dienstboten machen möge,Keinem sei da etwas zu viel, saure Gesichter gebe
es selten, Verdruß und Streit noch weniger und was gemacht werde, das werde recht gemacht
und nicht halb. Aber wenn sie auch Diensten brauchte, und hiebei sah die Frau das Mädchen
an, daß das meinte, ihr Blick dringe ihm bis in's Herz hinunter, so möͤchte sie
Annemareili doch nicht: Eines, das seinen Eltern fortgelaufen in Unfrieden, bringe keinen
Segen in ein Haus! Und als Annemareili krebsroth wurde und die Augen
niederschlagen mußte, war's als habe die Großmutter Mitleid mit ihm: sie rieth ihm ernst,
aber milde, wie nie noch eine Mutter zu dem armen Mädchen gesprochen, wieder heimzukehren,
nicht um daheim zu bleiben, sondern um in Frieden zu scheiden vom Vaterhause.
So gerührt Annemareili war, diese Zumuthung weckte in ihm all den alten Groll und
Widerwillen gegen die Heimath und es wehrte sich lebhaft dagegen: Die Stiefmutter sei gar
eine böse und würde es nur auslachen und ihre Freude daran haben. Die alte Müllerin drang
hierauf nicht weiter in Annemareili, sondern sagte bloß: mir ist, du müssest noch
allerhand erleben und nicht nur Angenehmes; wohin du aber laufen magst,da denke wenigstens
nur, daß du Einem nicht entläufst und an den halte dich, so wird's dir am Ende nicht so
schlimm gehen, auch wenn du Umwege machen mußt.Jetzt behüt dich Gott, und da nimm dieß
Stück Brod noch auf den Weg! Das arme Mädchen säumte sich hierauf nicht länger, stand auf
und dankte, vor der Thür draussen kam es sich aber wieder doppelt hilflos und verlassen
vor.
Nach Verlauf einer guten Halbenstunde, denn in den Beinen lag's Annemareili heute wie
Blei so schwer, war das Städtchen erreicht, darin das Mädchen sein Heil zu versuchen
beschloß; noch beim Eintritt hatte es seine Bitte um ein Plätzlein dem lieben Gott wieder
in Erinnerung gerufen. Das Städtchen war weder besonders groß noch gar schön und
stattlich: Hühner spazierten über die Straßen, Misthaufen rauchten hin und
wider neben den Häusern, viele der Einwohner lebten von Landbau und kamen auch wie Bauern
daher,nicht wie Herrenleute. Aber gleichwohl vermochte das arme Annemareili nirgend
anzukommen, überall sah man das unreinliche, verwahrloste Mädchen an vom ungestriegelten
Kopfe bis zu den schmutzigen und zerrissenen Schuhsohlen, schüttelte schweigend den Kopf
oder sagte kurz Nein. Als es an einem Orte anhielt: nur als Viehmagd möge man es probieren
mit ihm! hieß es mit einem Blick auf seinen Anzug: sie hielten ihr Vieh reinlicher als nur
so!
Annemareili's Hoffnung, sein Muth schwanden immer mehr; wenn es wieder irgendwo anfragte,
so that es das so kleinlaut, als wisse es zum Voraus, es sei nichts und da trauten ihm die
Leute nur um so weniger und sahn es um so scheeler an. Wer weiß! wäre es keck aufgetreten,
hätte von seinem besondern Ungefäll gejammert, viele Worte gemacht, wie es ein ganzes
Koffer voll Kleider gehabt und ihm die von der Meisterin,welche es mit Gewalt im Dienst
halten wollen, noch nicht herausgegeben, oder ihm sonst gestohlen worden;wie es um seiner
Tugend willen stehenden Fußes aus einem zwölf Neuthalerigen Platze gelaufen, kurz,hätte
Annemareili in dieser Tonart gesprochen, es hätte vielleicht eher ein Unterkommen
gefunden. Aber wie sollte Annemareili jetzt zu so einer Sprache kommen?es war ihm ja ganz
anders zu Muth in seinem Herzen,kam sich selber schlecht und gering vor, wie
so Jedermann im Widerwillen sich von ihm abwandte, denn es sah noch obendrein erbärmlich
aus: das Roth seiner Wangen drang nicht mehr durch die unsaubre Kruste hindurch, die Augen
waren trüb und schläfrig, stand es irgendwo, so mußte es sich halten, anlehnen vor
Müdigkeit. So eine Magd aber stellt Niemand an,denn wer auch nicht besonders auf
Reinlichkeit achtet,der lugt dann wenigstens auf ein Paar kernhafte Arme und strotzende
Gesundheit.Drittes Capitel.
Hülfe und noch einmal Hülfe bei großer Noth.Annemareili wußte nicht was anfangen, noch
wohin sich wenden. Nirgend fand es Aufnahme, war krank,konnte hier nicht bleiben und nach
einem andern Orte nicht hinkommen, keine Seele nahm sich seiner an oder rieth ihm. Auf dem
ganzen Erdboden habe es Niemanden, der es mit ihm wohl meinte! so kam's jetzt dem armen
Mädchen vor in seiner Noth. Als es sich darum weiter fortschleppte auf der Straße, wußte
es nicht, was oder wohin eigentlich es wollte, es hatte nur im Sinne so lange zu gehen,
bis es umfalle und sterbe,Kunn ganz sturm war es im Kopf, sah den Weg unter den Füssen
nicht mehr deutlich, stolperte auf dem ebnen Boden, wie Wellen siedendes Wasser schlugs
ihm an die Schläfe, in die Augen fuhr's ihm wie pures Feuer, daß es zeitweise gar nichts
sah, oder nur schwarz Alles, die Füße zitterten, es gerieth in den Straßengraben ohne zu
wissen wie? Dazu schoß es ihm wie Nadeln durch die Narbe, welche es noch von dem
Brotmesser hatte, der Arm schwoll zusehends, ward roth, steinhart und es klopfte drin wie
in einem Hammerwerke. Immer wilder tobte die Krankheit in Annemareilis Blut,
je länger und je hastiger es lief,es wußte nicht, wem es begegnet war unterwegs, wußte
nicht, wie lange es so fortwankte, kaum des Dorfes achtete es, in das es nun kam, aber wie
es darin hinter das letzte Häuslein gerathen und da auf einem Haufen Späne hingesunken,
das hätte es nimmer sagen können, denn eine tiefe Ohnmacht bedeckte alle seine Sinne.
Lange mochte es so da gelegen sein, ohne Bewußtsein, von Niemandem bemerkt, denn es war
schon finster,als ein altes Weiblein mit einer Laterne aus der armseligen Hütte schlich
nach dem Spänhaufen, darauf Annemareili lag, sich eine Handvoll davon zum Kochen seines
dünnen Nachtsüppleins zu holen. Das gute Frauelein erschrak erst, wollte davon laufen und
Mordjo schreien im Dorfe, als es da im Scheine seiner trüben Laterne etwas wie ein Mensch
liegen sah, faßte sich aber, wie Alles stille war, doch ein Herz und hin und Annemareili
gerade in's Angesicht. Da regte sich das Mädchen, seufzte ein Paar Male tief und schlug
die Augen auf, verwundert und scheu bald die Späne anblickend, darauf es saß, bald das
alte Mütterlein, bald ängstlich in die Nacht hinaus schauend.Die Frau aber, die nun wohl
merkte, daß das fremde Mädchen krank sein müsse und vor Elend auf den Spänhaufen
niedergesunken, half ihm mitleidig aufstehen und führte es in das Stüblein hinein. Anne mareili klapperte im Fieber mit den Zähnen und vermochte kaum sich in die Hütte
zu schleppen. Das Fraueli aber, eine arme Wittwe, hieß es hier in den alten zerfallenen
Lehnstuhl sich setzen, den sie ihm an die warme Kunst gerückt und gieng an den Kochherd
hinaus, ein Häfelein Thee kochend zum Schwitzen. Und als Annemareili von dem Thee
getrunken, da theilte die Wittwe ihr ärmliches Bette und machte aus der bessern Hälfte dem
Mädchen ein Lager am Boden und half ihm aus den Kleidern. In brennender Hitze und dann in
schüttelndem Frost warf sich die Kranke noch lange auf dem Bette herum, bis sie in einen
unruhigen Schlummer fiel, waährend die arme Frau noch spät bei dem trüben Lämplein am
Spinnrade saß und spann, dann aber mit halblauter Stimme einen Psalm las und sich selber
auch zur Ruhe legte.
Am andern Morgen fühlte sich Annemareili allerdings ein wenig wohler als an dem Abend
vorher,aber es war doch krank und der Arm sah gar bedenklich aus und schmerzte bis hoch in
die Schulter hinauf.Der Caffe, den nun die Wittfrau kochte, war freilich nicht der bessre,
aber wär's auch dreimal theurerer gewesen, oder gar solcher, wie ihn nur allein der
Großtürk selber trinkt, er hätte Annemareili doch nicht gemundet, dann soll's ein sicher
Zeichen sein, daß sie wirklich krank sind und nicht bloß in der Einbildung.Das mußte auch
die Wittwe so ansehen, als sie zu dem Mädchen sagte: Ich wollte dich gern
behalten und ein Paar Tage pflegen, wie es Christenpflicht ist, so arm und übelmögend ich
bin, doch das wird nicht so schnell gehen und einen Dokter vermag ich nicht zu zahlen,der
aber ist wohl nöͤthig, zudem fehlt dir hier, beim besten Willen, so Manches was
nothwendig, um dich so bald möglich wieder gesund zu machen und ohne Letze; ich bin eben
nicht für Kranke eingerichtet. Aber von hier nach der Stadt ist nicht gar weit, es giebt
wohl auch Gelegenheit zum Aufsitzen unterwegs, denn heute ist Markttag. In der Stadt
wohnen gute Leute und die haben einen so schöͤnen Spital wie vielleicht mancher Fürst kaum
einen Palast; geh du in Gottes Namen dorthin und bitte, daß sie dich aufnehmen, so bist du
am besten versorgt.
Annemareili meinte, es könne nicht zahlen und sei fremd, da werde man's nicht aufnehmen,
sonst würden schon viele Leute von andern Orten sich auch haben aufnehmen lassen und es
jedenfalls zu spät kommen.
Das mag wohl sein für gewöhnlich, erwiderte die Wittwe, doch du mußt auch ein Vertrauen
haben in die Hilfe unsres Herrgottes und die Barmherzigkeit der Menschen. Ich weiß, daß
schon mehr als ein armes fremdes Bürschlein, ohne einen Rappen Geld in dem Spital ist
aufgenommen, ja noch mit Kleidern oder einem Zehrpfennig auf die Reise entlassen worden;
von Zemandem aber, der auf der Straße dort zu Grunde gegangen, hab' ich noch nie
gehört.Annemareili machte noch einige Einwendungen: es meine, in Spital gehen wäre
nicht gerade nöthig, wenn's etwas Dokterzeug zum Stärken hätte und etwas, das ihm das
Kopfweh vertreibe und den inwendigen Brand lösche und dann für seinen Arm ein wenig
Trusenbranntwein zum Einreiben, so würde ihm bald wieder besser werden. Das Fraueli aber
glaubte das nicht und auf den ersten Schuß treffe es der beste Dokter selten, zudem koste
das Alles Geld. Mach was du willst, schloß sie, aber da fährt der Staudenhans mit einem
Wagen Mist vorbei nach seinem Acker, dem kannst du aufsitzen hinten und dann hast du noch
eine halbe Stunde bis in die Stadt, es giebt vielleicht wieder Gelegenheit!
Halb freiwillig, halb genöthigt stand Annemareili schon vor der Thür und der Staudenhans
ließ es aufsitzen auf Empfehlung der Wittwe, die in der Hütte wieder verschwand, ohne daß
Annemareili nur dazu gekommen wäre ihr noch zu danken für ihre Barmherzigkeit.
Langsam zogen der Stier und der Gaul vor dem Mistwagen und unter dem einförmigen hüst
Lise! und hüst Stern! hatte Annemareili Zeit genug, über seine Lage und seinen Zustand
nachzusinnen, die ihm heute noch viel verlassener und trauriger vorkamen als am ersten
Tage. Annemareili hatte auch gar kein Vertrauen mehr, trotz der Barmherzigkeit, die es
eben erst bei dem armen Fraueli so zur rechten Zeit erfahren.Es erinnerte sich
zwar wieder, daß der Pfarrer daheim gesagt, man dürfe nie verzweifeln, Gott verlasse
Niemanden und sei dann gerade am nächsten, wann's am schlimmsten zu stehen scheine. Ja,
das könne so ein Herr gut sagen in seiner Stube drin und hinterm Ofen, so Einer wisse
nicht was Alles einem armen Mädchen begegnen könne und wie's ihm dann zu Muthe sei, wenn
es zu allem noch so elend erkranke!Ob es denn nicht vertrauensvoll gebetet zu Gott, daß er
ihm ein Plätzlein verschaffe, nur ein geringes? und er habe ihm doch keines verschafft, ja
hab' es noch krank werden lassen obendrein und nun komm' es ärger und immer ärger trotz
allem Beten; wenn es nur schon todt wäre!
Nach solchen Ausbrüchen der Ungeduld und des Schmerzes aber sank dann die lodernde Flamme
des Unmuthes plötzlich wieder zusammen zu einem ganz kleinwinzigen Aschenhäufchen, denn
handkehrum wieder D als daß Gott besonders seiner achten sollte. Ob es leide oder fröhlich
sei, lebe oder sterbe, kümmere auf der Welt keine Seele, geschweige den großen Herrgott im
Himmel, der auf andres zu sehen habe als auf so ein elendes Mädchen. Das sei traurig,
wohl, aber darüber beklagen dürfe es sich nicht, es habe Ihm ja lange genug auch nicht
nachgefragt!
Und bei diesem demüthigenden Gefühle seines Unwerthes, was der erste Schritt der
Erkenntniß ist, sah 38 Annemareili jetzt auch seine Heimath, den Vater, ja sogar die
Stiefmutter mit andern Augen an als bisher.Es hätte nun nicht mehr sagen können, „es ist
nur die Stiefmutter!“ sah auch nicht einzig nur an dieser Fehler und Härten und Flecken.
Waren diese gleichwohl nicht weggewischt, so drückte es jetzt der Balken im eignen Auge
doch viel zu schwer, als daß es gewagt hätte nach dem fremden Splitter zu langen. Da ihm
nicht anders zu Muthe war als, es müsse sterben in seiner Verlassenheit, so drangen ihm
schwere bittere Thränen aus den heißen Augen und nur der Gedanke brachte noch einige
lindernde Erleichterung, daß es doch auch etwas verzeihen konne: das Unrecht, das man ihm
gethan und das es jetzt in seiner Zerschlagenheit so gerne vergeben wollte.
Unter diese trüben Erinnerungen seines Lebens und Treibens daheim mischte sich ein
einziger heller Strahl und fiel dem Mädchen wohlthuend auf's wunde Gemüth, seine Liebe und
Sorgfalt nämlich, die es dem kleinen Stiefbrüderlein erwiesen. Es kam ihm vor, das Kind
müsse gestorben sein, hatte es den Knaben doch drei Tage lang nicht besorgt, und eben
darum müsse es jetzt auch sterben, ihn zu pflegen in der Ewigkeit.Dieser Gedanke war
Annemareilis einziger Trost, seine alleinige Hoffnung, daran hielt es sich, wenn dumpfe
Verzweiflung sich seiner bemeistern wollte, wie denn immer von den hellsten Stellen auf
Erden das himmlische Licht am ersten sich widerspiegelt!Dienen und Verdienen.Oehä!
rief hier auf einmal, mitten in Annemareilis schwere Gedanken hinein, der Staudenhans
seinem Stern und Lisi zu, denn er war an seinem Acker angelangt. Stern und Lisi hielten
still und Annemareili stieg vom Wagen, zu Fuß noch den Rest des Weges zu machen. Da gieng
es freilich gar langsam und mühselig ab Fleck und die schweren Gedanken drückten nur noch
mehr auf die ohnehin so zitternden Beine.Als nun aber plötzlich die Thürme der Stadt vor
Annemareili standen und die unzähligen Häuser sich ausdehnten vor ihm in der weiten Ebne
mit den blauen Bergen hinten dran und den vielen blauen Rauchwölklein, die über den
rothbraunen Dächern schwebten, da fiel dem armen Mädchen doch Alles noch um Vieles
drückender auf's Herz. In dieser großen Stadt, bei diesen wildfremden Menschen,
Herrenleuten obendrein,hier sollte es, das blutarme, kranke, verwahrloste,überall
ausgestossene Annemareili Aufnahme suchen?es, das dem geringsten Bäuerlein für sein Vieh
zu hüten zu schlecht gewesen, es, das keinen Funken Muth,keine Spur von Vertrauen in sich
selbst besaß, das nichts als zur Last fallen konnte? Solches wollte Annemareili durchaus
nicht in den Kopf und es bedauerte schon, daß es der armen Wittwe so bereitwillig
gefolgt:das sei wohl ein gutes Fraueli, aber doch gar unverstäundig und unerfahren!
Ohne Hinderniß, unbemerkt sogar kam Annemareili zum Thor hinein und gieng durch die
langen Häuserreihen hin, mitten unter den vielen Menschen sich doch wie in
einer Wildniß vorkommend. Es fragte nach dem Spital und da wies man es die Gasse
hinunter,dann rechts, dann wieder geradeaus, hierauf über einen Platz, darnach die zweite
Straße links kurz es hätte Annemareili vor der Explication gesurrt im Kopf, wenn der auch
in viel besserm Stande gewesen wäre als er in Wirklichkeit war. Von Zeit zu Zeit wieder
fragen und nur auf die ersten Worte merken jedesmal, brachte das Mädchen noch am Besten
vorwärts und am Ende denn auch soweit, daß es richtig vor dem Spitale stand.Indeß
Annemareili hatte sich alte graue Mauern vorgestellt mit trüben, vergitterten Scheiben
drin und einem zerfallnen Bänklein davor, auf dem Sieche und Krüppel herumhockten. So ein
Haus aber sah es nirgend, sondern im Gegentheil ein langes prachtvolles Gebäude mit hohen
Fenstern und großen hellen Scheiben, das die halbe Straße einnahm, und so, wie es dachte,
daß ein König ein Haus haben müsse. Es fragte darum wieder einen Vorbeigehenden, wo der
Spital denn eigentlich sei? Der lachte und hieß es sich nur umkehren, so steh' es davor!
und wäre das kein bestandener,ernster Mann gewesen, der ihm diesen Bescheid
gab,Annemareili hätte jedenfalls geglaubt, man halte es zum Besten, denn gerade dieß große
königliche Gebäude sollte ja der Spital sein.
Daß dadurch der Muth des armen Mädchens nicht außerordentlich wuchs, sondern es sich noch
einmal ganz
43*ernstlich besann, ob es wirklich hier sich melden wolle,ist ziemlich
wahrscheinlich. Wäre es ein klein wenig wohler gewesen und nicht schier umgesunken vor
Schwäche, es hätte nimmer an der großen Spitalglocke geschellt, denn gleich zur offnen
Thüre hineinzugehen, so frech war es doch nicht. Auf das Läuten,das Annemareili durch alle
Glieder fuhr, kam ein ältrer Mann heraus und fragte es nach seinem Begehren.Es möchte gern
in Spital, habe eine grausame Schwäche und Schmerzen im Kopf und im Arm, antwortete das
Mädchen, nicht wenig erschrocken, daß man ihm das nicht zum Voraus schon ansah.
Wo's den Aufnahmsschein habe vom Arzte, und ob der wegen der Bezahlung unterschrieben
sei, oder ob es Geld habe zum hinterlegen?
Von dem Allem hatte und wußte Annemareili nichts und sah den Fragenden an, ziemlich wie
aus den Wolken herabgefallen.
Eh das Alles in Ordnung sei, fuhr jener trocken fort, könne vom Eintreten nicht die Rede
sein und es solle nur wieder umkehren!
Das hab' es ja wohl gewußt, dachte Annemareili mit einem tiefen Seufzer bei sich im
Stillen, die Wittfrau hab' es mit dem Spital sich nur vom Halse schaffen wollen und nun
sei es übler daran als je:weit weit weg von Hause und mitten in einer großen Stadt, drin
es weder Weg noch Steg wisse und keine Sterbensseele kenne! Und es kam ihm fast vor, der
Mann wolle ihm das Thor der Rettung und Seligkeit verwehren und es in's
zeitliche und ewige Verderben stoßen, wie er es so unter der Thüre abwies.Es kehrte darum
auch nicht gleich um, sondern, im Innersten erregt, mit überströmenden Augen, aber
zugleich auch mit einer verzweifelten Entschiedenheit, über die sich's nachher selber
wunderte, erklärte es, hier bleiben zu müssen, es könne nicht mehr fort! Der alte Mann
indeß war nichts weniger als hart, wenn er auch ein wenig kurz gewesen, da er eben gar
manchen Bescheid den Tag über zu geben hatte, zudem hatte er sich ja bloß an seine
Vorschrift und an die Ordnung des Hauses gehalten. Als nun aber das fremde Mädchen so
nöthlich that und auch wirklich elend genug aussah, hieß er's gleichwohl ihm folgen,
führte es zum Arzt, nachher zur Verwaltung und da war wohl von Bezahlen die Rede, indeß am
Ende vom Liede, und Annemareili selber wußte nachher nicht mehr recht wie Alles gegangen,
am Ende vom Liede wurde die Kranke aufgenommen und in ein Zimmer gewiesen.Viettes
Capitel.Annemareili wird von allerlei unebel befreit und kömmt sich wie eine Prinzessin
vor.Wies Annemareili war, als es in einem hellen großen Saale mit nur wenig Betten und
Kranken sich gebor gen fand, nicht mehr gehetzt ward, sich nicht umherschleppen, nicht
betteln mußte, nur um ein Stücklein trockenes Brot oder ein elendes Lager zu finden, das
kön nen sich nicht viele Leute vorstellen. Es konnt' es selber lange nicht glauben, sich
nicht drein finden, meinte zu träumen. In einem Bette lag's, wie es seiner Lebt age ke
ines gesehen, geschweige gehabt, so weich und so sauber Jedes. Eine besondre Wärterin
reichte ihm Alles, was es brauchte, wie einer vornehmen Frau, Mixtur, Suppe,zu seiner Zeit
ein jedes, gab ihm dabei freundli che Worte, verband seinen bösen Arm, wusch ihm das
Eßgeschirr, bettete ihm, kurz, pflegte es wie eine Mutt er ihr Kind. Und so ergieng's
jetzt dem gleichen Annemareili, das bisher Jedermann im Wege gestanden,nichts als
Schimpfnamen und Scheltworte erhalten, das von allen Menschen verachtet worden und im Un
rathe hätte können zu Grunde gehen, dem man ein jedes
Bißlein Brot mißgoönnt. Hier zum ersten Mal fiel dem Mädchen seine Unreinlichkeit und
Unordentlichkeit auf.Früher hatte es nichts Andres gewußt, hatte nichts Bessres gesehn,
hier aber, wo die Leintücher wie Schnee so weiß, wo ein Jedes sein Plätzchen hatte, das
Geschirr,die Fensterscheiben blinkten, der Boden so sauber war,daß man hätte darauf essen
können, hier wurde Annemareili ganz roth, als die Wärterin seine armseligen unsaubern
Lumpen mit einigem Ekel aufhob und in den Fingerspitzen hinaustrug. Aber nicht nur mit den
Kleidern war nicht Alles in der besten Ordnung, in den wirren Haaren hatte sich ebenfalls
eingeschlichen, was auf einen ordentlichen Kopf nimmer gehört und diese zappelnde
Unordnung hatte sich in dem Gehürst der Haare ungestoört vermehrt wie Mehlthau, wenn die
Sonne in einen Regen hinein scheint. Das, fand selbst Annemareili, gehöre sich eigentlich
nicht und schämte sich deßhalb besonders. Indeß gelang es den wiederholten Anstrengungen
der Wärterin und einen handfesten engen Kamme auch hier Ordnung zu schaffen und der
Verwilderung Einhalt zu thun.
Bei der Ruhe, in dem guten Bette mit der passenden Kost und der sorgsamen Pflege besserte
sich's zwar mit der Krankheit ziemlich bald, das Fieber hörte auf,der Kopfschmerz verzog
sich, die Schwäͤche ließ nach, nur der böse Arm machte noch längre Umstände. Die schlecht
geheilte Narbe hatte sich in weitem Umkreise entzündet und die Geschwulst mußte endlich
eingeschnitten werden.Dieß und ein Dutzend Blutsauger, nachher warme
Ueberschläge, schafften übrigens bald Linderung der gröbsten Schmerzen, die Heilung
dagegen gieng nicht so schnell von Statten. Alle Tage zwar kam der Herr Dokter,manchmal
zwei Mal sogar, an das Bette, sah die Hand an, reinigte sie, drückte auch wohl dran herum,
daß Annemareilt auf die Zähne beißen mußte, dann wurde Alles wieder sorgfältig und
säuberlich verbunden, kurz,zu einer Prinzessin hätte man nicht besser sehen können.
Freundlich war man mit Annemareili obendrein, so freundlich wie mit andern Kranken, und
doch waren solche darunter, die Bürgerskinder waren oder in den vornehmsten Häusern in
Dienst standen und von ihren Herrschaften in zweispännigen Kutschen besucht wurden.Was dem
Määdchen auch besonders auffiel, das war,daß die Herren Dokter alle Tage über sen Befinden
und den Gang der Krankheit etwas aufschrieben, denn daß man je einen Buchstaben von ihm
schreiben würde,hätte es sich nimier eingebildet.
Als Annemareili besser war und nicht mehr nur den grauen Schleim zu essen bekam, sondern
Gemüse,Fleisch und zwei Mal Caffe, mit Zucker sogar, als es das Bette verlassen und
herumgehen durfte, da fieng ein wahres Herrenleben für das Mädchen an. Allerhand war aber
vorher in ihm vorgegangen, der Spruch, der grad über seinem Bette an der Wand stand:
„Glaub'nur feste daß das Beste über dir beschlossen sei!“dieser Spruch hatte zuerst auch
in seinem Kopfe angefangen aufzuräumen, wie die Wärterin und ihr Kamm auf
demselben. Es hatte zuerst freilich nur an sein leibliches Leiden gedacht, wie da Alles
viel besser gegangen als es sich vorgestellt, und es gerade auf dem besten Wege war zur
Rettung, da es gemeint, elend zu Grunde gehn zu müssen und keines Senfkornes groß mehr
Hoffnung gehabt. Dieß war aber nicht Alles,nicht einmal die Hauptsache, das erkannte
Annemareili immer mehr und deutlicher, je länger es im Spitale verblieb. Wie wenig Kinder
sonst mochte das Mäãdchen verwahrlost sein, kannte zur Nothdurft nur die grob gedruckten
Buchstaben, vom Schreiben war keine Rede,von Nähen und Stricken auch nicht, und dieß Alles
verstand doch jedes Andre in dem Krankenzimmer, mochte es nun her sein von wo es wollte.
Dumm hingegen war Annemareili doch nicht, hatte seine gesunden Sinne,war wohl roh und
ungeschult, aber gelehrig und begriff Alles, meist schon am Anfang. Es ließ sich's daher
gerne gefallen, daß ihm die Wärterin auf ein Stück Papier Buchstaben hinschrieb, ihm
sagte, die hießen so und so und nun solle es sie nachmachen. Die Feuerhaken wurden bald
kleiner, die Klexe seltener, man konnte einzelne Buchstaben, die leichtern, richtig
erkennen;kurz, es gieng nicht sehr lange, so lag an einem schönen Morgen die Bibel vor
Annemareili und es schrieb daraus ab. Mit dem Nähen und Stricken giengs freilich
langsamer, denn hiezu brauchte es beide Hände und den linken Arm, den man ihm fest
eingewickelt, konnte es geraume Zeit gar nicht außer der Schlinge tragen. Je
mehr die Wärterin ihrerseits sah, das Mädchen gebe sich Mühe und begehre etwas zu lernen,
mit um so größerm Eifer gab sie ihm zu Dem und Jenem Anleitung, ließ es in der Stube
nachhelfen, sprach wohl auch mit ihm von seiner Zukunft und Annemareili seinerseits hätte
nicht höher geschworen als bei seiner Lehrmeisterin, konnte ihr nicht dankbar genug sein
und vergalt ihr mit dem Einzigen, das es besaß, dem rückhaltlosesten Vertrauen, der
kindlichsten Hingebung. Es bekam selber nun immermehr das Bedürfniß sich nützlich zu
machen, Dienste zu leisten, nicht blos der Wärterin,sondern auch den andern
unbehilflichern Kranken, denn der Geist der Thätigkeit war über das Mädchen gekommen und
es wollte mit dem guten Willen wenigstens von seiner großen Schuld, darin es stand,
Einiges abzahlen.Es war als wolle es zeigen, es sei im Grunde doch kein so hergel aufnes
und verwahrlostes Mädchen, wie es geschienen, sondern mit dem Unsaubern habe es auch sein
strubes und unordentliches Gebaren abgelegt. Darum war es denn bei seinen Mitkranken wohl
gelitten und die Genesenden hatten ihre Freude und eine Kurzweil daran, in Diesem oder
Jenem Annemareili einen guten Rath zu geben, es etwas Neues zu lehren, irgend eine Ecke an
ihm abzuschleifen, denn es ist ein süßes Gefühl sich Jemanden zu verpflichten und dabei
die eigene Ueberlegenheit in ein helles Licht zu setzen. Wie viel darum auch an
Annemareili zu hobeln, feilen und zu polieren war, so genug Hände waren
bereit, es hierin ja an nichts fehlen zu lassen und es gehörte vielleicht des Mädchens
kernige und gesunde Natur dazu und sein aufgeräumter Kopf, um nicht vor lauter guten
Meinungen und Rathschlägen doch irre zu werden und neben dem Nutzen nicht auch eine gute
Portion Nachtheils in den Kauf zu kriegen.
Als endlich der Herr Doktor eines Morgens beim Besuche dem Annemareili erklärte, es könne
nun wieder austreten, da fuhr diesem wohl ein Stich durch's Herz,als fürchte es, nun sei
sein schöͤner Traum zu Ende.Allein das war doch nur so im ersten Augenblicke, gleichsam um
dem Mädchen den Unterschied zu zeigen, der zwischen dem Annemareili sei, das in den Spital
getreten, und demjenigen, das nun denselben wieder verließ.Das austretende Annemareili war
ein ganz andres als das eintretende, auch von Gesundheit oder Krankheit abgesehen. Um von
Außen anzufangen, so hatte sich's,was man sagt, herausgegessen, auf dem Kopfe sah es nicht
mehr aus wie in einem vorjährigen Vogelnest,vielmehr waren die Haare glatt gekämmt,
versteht sich auch unbevölkert, das Gesicht ohne Kruste, so sauber gewaschen, daß die
Backen noch einmal so roth schienen als früher und sogar die Augen lautrer draus
hervorschauten. Die Kleider waren rein, ganz, sahen freilich etwas zusammengelesen aus,
denn ein gut Theil davon hatte es vom Spital erhalten, weil seine Fetzen das Waschen nicht
überstanden hatten und jetzt im Alte lumpentroge ausruhten von den Strapazen.
Die natürliche Gutmüthigkeit, die gesunde Natur lugte dem Mädchen jetzt unverschmiert aus
dem Antlitz und gewann sich das Zutrauen im Voraus, besonders da noch etwas Andres nebenzu
mit herausguckte: so eine Art Muth in die Zukunft, eine gewisse Achtung vor sich, ein
Vertrauen zu sich selber, das Gefühl, es könne und werde noch was Rechtes aus ihm werden,
es sei schon auf dem guten Wege dazu und tappe nicht mehr blind und dumm in der Irre
darnach. Andre Mägde hatte es kennen gelernt, wußte worauf es ankomme, hatte gleich
gemerkt,woran es ihm hauptsächlich gefehlt und darum mit allem Eifer seiner guten Natur
darnach gestrebt. Annemareili konnte jetzt wenigstens stricken und nähen, was Gröberes
war, ja sogar schreiben! wußte was Ordnung sei, was aufräumen, ein Zimmer auslüften und
reinigen bedeute,hatte erfahren was Staub sei und daß man denselben nicht liegen lasse bis
er das Uebergewicht bekomme und abfalle, ebenso wenig als daß man Messer und Gabel nur
ablecke um sie zu reinigen und daß die Teller nicht halb so wasserscheu seien, wie es sich
bisher vorgestellt. Während seines Aufenthaltes im Spital hatte es sich nach einem Dienste
umgesehen, freilich nicht gleich für zwölf Neuthaler, denn wenn es schon zehn Mal besser
war als da es von Hause fortgelaufen, so gab es sich doch nicht für eine Magd aus, die
alles aus dem Fundament verstehe, der auf Himmel und auf Erden nichts mehr zu lernen übrig
geblieben, eine Hauptköchin, im Stricken 45 und Nähen Jeder überlegen, und nur die
Hälfte Holz und Butter wie gewöhnliche Mägde brauchend. Nein,für so Eine, wie es deren zu
Hunderten giebt, stellte sich Annemareili nicht hin, jetzt erst fühlte es ja recht,wie gar
viel ihm noch fehle, es nicht wisse, wie in hundert Dingen noch, welche Andre gleichsam
mit der Muttermilch eingesogen, ihm seine Verwahrlosung nachgieng und es der Nachsicht,
der Weisung, des Unterrichtes fast bei jedem Schritte bedürfe. Jetzt erst sah es auch ein,
warum es als Magd nirgend ankommen gemocht, und es konnte nun den Leuten, die es so kurz
und mißtrauisch abgewiesen, dieß nicht einmal so übel nehmen.
Zu diesem ersten Anfange der Weisheit hatten ihm redlich seine verschiednen
Lehrmeisterinen im Spital verholfen, die es alle mit viel größerm Respekt ansah, als ein
halbjähriger Student seinen Professor. So begnügte sich denn Annemareili in seiner
Bescheidenheit mit einem geringen Plätzlein bet einem jungen, nicht sehr wohlhabenden
Handwerker, der bisher keine Magd gehabt,dessen Frau aber, seit sie ein kleines Kind
bekommen,nicht mehr allein die Haushaltung besorgen konnte.Gleichwohl sah das Mädchen
diesen ersten Dienst in der Stadt nicht viel weniger wichtig an, wie ein General seinen
ersten Feldzug, den er unternimmt. Muth und Vertrauen und doch wieder ein heimliches
Bangen zuweilen und ganz im Innern, ob die Kräfte auch der großen Aufgabe gewachsen, und
wie es gehen werde?dieß sind die Gefühle, welche unter der Feldherrnuniform
mit den Orden drauf so gut das Herz ein wenig schneller klopfen machen, als unter dem
geschenkten und geflickten Tschopen Annemareilis. Dachte da aber Annemareili an seine
frühere Lage zurück und wie es ihm ergangen,durch alle Trübsal hindurch zu seinem Besten,
dann verlor sich jenes Bangen und immer trat an dessen Stelle ein getrostes Vertrauen und
eine herzinnige Dankbarkeit durchwärmte sein ganzes Wesen.
Beim Austritt aus dem Spitale, als es den Abschied nahm, wurde es noch besonders gefragt,
ob es gut besorgt worden von der Wärterin? und ob es mit dem Essen zufrieden gewesen, oder
aber etwas zu klagen habe?in dem Falle solle es Alles herzhaft heraussagen. Auf diese
Frage sah Annemareili Anfangs ziemlich einfältig aus, denn was damit wirklich gemeint war,
verstand es durchaus nicht. Nachher aber, als es sich besonnen über den Sinn, da erschrak
es fast, daß es Jemand so frage; als käme etwas drauf an: noch nie hatte man sich um seine
Meinung bekümmert, keine Seele es je gefragt, ob es zufrieden sei, oder nicht? und hier im
Spital hatte es ja nicht einmal einen Kreuzer bezahlt,war um Gottes Barmherzigkeit willen
aufgenommen und gepflegt worden, wie eine Fürstin so gut, hatte ein Bette gehabt und zu
essen, wie noch nie seinen ganzen Lebtag, war an Leib und Seele aus Unordnung und Schmutz
gezogen worden zu einem ordentlichen Menschen; dieß Alles, und da frage man noch, ob es
zufrieden sei? oder ob es was zu klagen habe? Annemareili konnte das nicht fassen, es
übernahm es, denn sein Herz war ihm durch den Abschied von seiner Zufluchtsstätte ohnehin
schon schwer und bewegt genug; die Thränen schossen ihm in die Augen, Thränen, wie es noch
nie solche geweint, denn es war nicht Schmerz, nicht Zorn,nicht Traurigkeit, sondern etwas
ganz Andres, das sein Innres eigen ergriff und wobei ihm doch gar seelenwohl war.A neuen
Dienst ein. Vieles gab's da zu lernen und besonders von Anfang. Es mußte, wie mam' heißt,
unten durch, in Alles, was in einer Haushaltung mit einem kleinen Kinde vorkommt, die
Finger stecken und bei viel Sorgen und Arbeiten des Tages und auch weniger Ruhe des
Nachts, verdiente es nur einen geringen Lohn,so daß es eine gute Weile dauerte, bis es
sich nur einige Kleider und Wäsche anzuschaffen vermochte. Aber der Lohn war für
Annemareili einstweilen nicht die Hauptsache, sondern die Ordnung, der Fleiß, die
Reinlichkeit,das Erlernen der gewöhnlichen Hausgeschäfte, und darin war seine Frau die
rechte Lehrmeisterin, die nicht bloß sagte, thu Das und Jenes, und dann aus dem Hause lief
oder sich nicht weiter darum kümmerte, nein, sie griff selber mit an, zeigte wie ein Jedes
recht gemacht werde, ließ sich und Andern kein Gras wachsen unter den Füßen, sondern wußte
jede Minute, am frühen 48 Morgen, wie am Abend, zu etwas zu benützen. Annemareili
seufzte mauchmal, aber wurde davon nicht magrer und die freien Augenblicke schmeckten ihm
nur um so besser. Jeden andern Sonntag Nachmittag hatte es für sich, konnte hingehn wohin
es wollte; das war jedesmal ein Freudenfest. Nicht weil es etwa irgendwohin zum Tanze
gieng, oder in lustige Gesellschaft, auf einen Spaziergang, zu einem Glase Wein; nein, an
diesen SonntagNachmittagen wanderte Annemareili nach dem Spitale, zu seiner Wärterin, die
es so wohl besorgt und den ersten Stein zu seinem Glücke gelegt, denn als ein solches
erschien dem Mädchen jetzt sein Loos, wenn das gleichwohl nur in einem strengen Dienste
bestand.Daß es dieser Wärterin zeigte, wie ihre Mühe nicht vergebens gewesen, noch an eine
Unwürdige verschwendet worden, das war seine größte Freude und es hatte das Gefühl, daß
dieß auch der beste Dank sei.
So war Annemareili eine brave rechtschaffene Magd geworden, und wenn es auch keinem
Menschen gegenüber dieß in ein besondres Licht setzte, so that es ihm doch wohl, wenn die
Wärterin dieß und jenes Gute an ihm neu bemerkte und lobte, hatte die es doch auch von
seiner übeln Seite lange genug gesehen! Darum war es denn ebenfalls ein besondres Fest,
als es später, an Kleidern wohl versehen, mit den ersten Paar Neuthalern,die es auf die
Seite legen konnte, in den Spital wanderte,sie sorgfältig aus einem Papier wickelte und
sein Orakel,die Wärterin, fragte, wie es wohl das Geld am besten nach Hause an
den Vater schicken könnte? Im geheimen Rathe wurde beschlossen, es dem Herrn Pfarrer des
Orts zuzustellen, damit der dann nach Gutfinden und worin es am zweckmäßigsten sei, den
Vater daraus unterstütze und die sauer erworbnen Thaler nicht beim Wirthe in's Faß fielen.
Annemareili schrieb einen Brief dazu,worin es auch die Stiefmutter um Verzeihung bat für
den Verdruß, den es ihr so manches Mal gemacht, das kleine Brüderlein aber ließ es ganz
besonders grüßen.Der Brief lag verschlossen vor Annemareili, es blickte lange wie in
Gedanken darauf hin, denn durch das Schreiben war es wieder in die alten Zeiten zurück
versetzt worden. Wie eine andere Person sah es sich die Treppen hinunter, von Hause fort
und aus dem Dorfe schleichen, sah sich unterwegs von Aller Augen argwöhnisch und
geringschätzig angesehen, abgewiesen an jedem Ort, und wie es krank, elend und hilflos auf
dem Spänhaufen lag, dann in Kleinmuth und Verzweiflung, vom Fieber geschüttelt, durch das
Stadtthor einzog und erschrocken vor dem prächtigen Spitale stand. Dieß sah es Alles im
Geiste; es sah aber auch , und seine Augen glänzten wie von einer innern Sonne, die ihm
aufgieng, es sah auch deutlich und mit einem Ueberblick, wie dann doch dieß Alles zu
seinem Besten umgewandelt worden, ohne sein Zuthun und ohne sein Verdienst freilich. Und
wenn es den Dienen und Verdienen.alten Spruch schon nicht wirklich aussprach,
er wurzelte doch lebendig in seinem Herzen und durchdrang es mit der unwiderstehlichen
Kraft der eigenen Erfahrung,der Spruch nämlich: die Wege des Herrn sind
wunderbar!Fünftes Capitel.Der erste Dienst und der kleine Johanneslein.Zwei Jahre
waren es schon, daß Annemareili bei der jungen Handwerksfrau in Dienst stand, obwohl ihm
seine Bekannten am Brunnen und auf dem Markte mehr als ein Mal zugeredet, doch einen
bessern Platz zu suchen, das heißt einen wo es mehr Lohn bekomme oder größere Freiheit
habe, sich nicht so schinden müsse Tag und Nacht und dabei doch nichts verdiene. Es war
zwar nicht, daß das Mädchen keinen Sinn dafür gehabt, größern Lohn zu erhalten oder sein
Loos zu verbessern. Bei der Sparsamkeit, mit der es jeden Kreuzer zur Seite legte in sein
Lädlein und sich das Nothwendige kaum gönnte, mußte ihm ein einziger Neuthaler mehr eine
gewaltige Lockung sein. Und wenn es bis in alle Nacht hinein zu handtieren hatte, und mit
saurer Arbeit dazu, ja, wenn es sich endlich müde zu Bette gelegt und dann erst noch dem
Kinde, das es bei sich hatte, ein Paar Mal aufstehn sollte, da war es keine kleine
Versuchung für Annemareili, von andern Mägden zu hören, wie sie von Abends neun Uhr an in
einem Zuge schlafen könnten bis Morgens um halb
4*Sieben und dabei doch ihren großen Lohn kriegten;oder wenn es sah, wie
diese Glücklichen Stunden lang sich da und dort verplauderten und erst noch jeden zweiten
Sonntag wenigstens frei hatten, abgesehn von dem halben Tag in der Woche zum Arbeiten für
sich,wãhrend ihm jeder freie Augenblick so knapp und spärlich zugemessen war. Mehr als ein
Mal, wenn das arme Annemareili am schönen Sonntagnachmittag oben in dem niedern
Dachstüblein alleine zu Hause saß, das kleine Kind, den Johanneslein, den es zu hüten
hatte,auf dem Arm, und es schaute durch's Fensterlein hinunter auf die Straßen, wo andre
Mägde im grösten Staate, wie Damen, mit fliegenden Bändern, Schwal und gestickten Hauben,
wenn nicht gar Hüten, vorbeizogen nach diesem, jenem Vergnügungsorte, oder es hörte sie
lachen und scherzen unter einander oder mit Handwerksgesellen und Bedienten, Bekannten und
Landsleuten; mehr als ein Mal war sich da Annemareili gar verlassen von aller Welt und
fast unglücklich vorgekommen in seinen dürftigen Kleidern, in dem ärmlichen Stüblein, fern
von aller Erholung und allem Vergnügen. Selbst Neid und Unzufriedenheit waren schon nahe
an sein Herz herangekrochen, darum, daß nur es bei dem schönen Wetter und dem Feiertage
müsse zu Hause sitzen und des Kindes warten, Alles unten so vorbeiziehe und keine Seele an
die arme Magd da oben denke. Es hatte ja auch Sinn für die Lust und Heiterkeit des Lebens,
welche ihm versagt waren, hatte redlich sechs Tage gearbeitet und die Ruhe des
siebenten Tages so wohl wie nur ein andrer Christenmensch verdient.Am Sinne dafür fehlte
es also Annemareili nicht,daß es jenen Reden seiner Bekannten nicht mehr Gehör gab und den
ärmlichen Dienst bei dem Handwerker vertauschte gegen einen einträglichern oder nur
bequemern,jetzt da es doch nicht mehr das ungeschlachte, rohe und unwissende Mädchen war,
dem das geringste Haushaltungsgeschäft, der einfachste Küchendienst, ja nur Geschirr
waschen und Treppen fegen als etwas Neues und Unerhörtes vorkam, oder das Mund und Nase
aufsperrte,wenn es vernahm, man wichse die Schuhe wirklich jeden Tag und sogar bis daß sie
glänzten. Zwar gab es sich noch nicht für eine sogenannte Hauptköchin aus, weil es ja nun
eine Suppe kochen könne, ohne sie zu versalzen,oder einen Eierkuchen backen, der nicht
halb verkohlt oder wie ein Stück nasses Leder so zähe war. Nein,dafür gab sich Annemareili
nicht aus und verlangte darum auch nicht gleich zwölf Neuthaler, Meß und Neujahrgeld nicht
gerechnet, ein Paar Schuh zu sohlen extra und Trinkgelder. Aber gar wohl wußte es, daß es
auf einen größern Lohn, als es jetzt empfieng, könne Anspruch machen, ohne nachher, wenn's
an's Leisten komme, wie ein Stockfisch dastehr zu müssen. Dieß wäre nicht zu fürchten
gewesen und deßhalb hätte es Annemareili auch schon wagen können. Aber neben all Dem hatte
es eben noch einen andern Sinn, der immer wieder über jene Gelüste und
Verlockungen die Oberhand gewann. Die Bequemlichkeit machte bei ihm nicht Alles aus und
auch das Geld nicht Alles. Es erinnerte sich zum Beispiel noch, wie viel es dieser seiner
ersten Herrschaft verdanke, wie die brave Handwerksfrau es aus einem unwissenden
verwahrlosten Wildfang herangezogen zu einer ordentlichen Magd, die nun in Küche und
Haushaltung Bescheid wußte. Es war dankbar genug um einzusehen, wie diese seine
Ungeschicklichkeit mit Geduld getragen, seine Unwissenheit freundlich belehrt, seine
Verkehrtheit zum Rechten gewendet und sich keine Mühe verdrießen lassen, ihm Jedes zu
zeigen und es zu lehren was in Allem der Brauch, auch in seinem Reden und Benehmen, wie
grob und ungeschlacht die von Haus aus waren. Die Frau hieß es bei dieser Zucht deßhalb
nicht gleich Esel und Kuh und Trampelthier oder noch ärger,wenn es etwa Das und Jenes
nicht wußte oder in etwas verstieß, lachte es auch nicht aus, noch weniger lud sie ihm
mehr auf als zu thun möglich war. Und überdieß hatte es ja die Frau selber in Allem nicht
besser, noch machte sie fich's leichter, obwohl sie doch keine von den Stärksten war,
sondern manchmal kränkelte. Sie nahm im Gegentheil Annemareili öfter ein schwer Stück
Arbeit ab, wenn sie merkte, dieses komme nicht wohl zu Schlag damit, oder gönnte auch ihm
eine Erholung, ein Vergnügen, indeß sie als Frau ohne Murren und Poltern that, was
eigentlich Sache der Magd war. Ja, als sich das Mädchen im Winter einmal stark erkältet,
da hieß sies, wie unbequem es ihr natürlich war, doch gleichwohl in's Bette
liegen, besorgte seine Geschäfte und machte nicht nur kein saures Gesicht, noch trieb sie
der Kranken mit beständigem Fragen, ob's denn noch nicht bald besser gehe? den schweren
Angstschweiß aus, sondern brühte ihr vielmehr Thee an, gab ihr von den eignen wärmern
Bettstücken und schonte sie selbst noch einige Zeit als es schon wieder ordentlich gieng.
Gerade wie eine leibliche Schwester wurde Annemareili gehalten und das empfand es gar wohl
und nahm's darum auch seinerseits dann nicht so genau, wog nicht mit der Goldwaage ab, ob
es etwa zuviel arbeite für den geringen Lohn, oder ob es sich bei einer vornehmern
Herrschaft nicht besser befinden würde als bei der gemeinen? Gewiß, in diesen zwei Jahren
hatte es eine mühsame Zeit durchgemacht, aber doch keine böse, und wenn täglich das Wort
an ihm sich erfüllte: im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen! und das
Brot war trocknes, so wurde es ihm doch unverkümmert und von Herzen gegönnt und
ebensowenig auch versäuert, wo dann der erste Bissen schon im Halse würgt und nicht
hinunter will. Das mußte Annemareili allerwegen fühlen: seine Herrschaft habe ein Herz für
seine Leiden wie Freuden und stehe nicht zu weit von ihm entfernt um zu begreifen, das was
ihr wehe thue, das thue auch einer armen Magd nicht wohl. Darum ja fühlte sich Annemareili
in der Familie nicht als eine fremde Person, sondern wie daheim, nahm Theil an Jedem und
that sein Möglichstes zum gedeihlichen Fortgang, den es wie sein Eignes im
Auge hatte. So gieng es ihm denn auch sehr nahe als das einzige Kind, der kleine
Johanneslein, zu kränkeln begann und um so näher, da es den Kleinen bisher zum großen
Theil allein gepflegt und um sich gehabt. Das Büblein war Annemareilt auch sehr zugethan:
wenn schon die eigne Mutter ihn auf dem Schooße hatte, mit ihm spielte, ihn herzte und das
Mädchen kam gerade zur Thüre herein, so zappelte und schrie der Kleine gewiß so lange, bis
es ihn auf den Arm genommen, zum großen Leidwesen der eignen Mutter.Annemareili dagegen
bildete sich freilich hierauf nicht wenig ein, wenn es auch gegen Niemanden etwas davon
verlauten ließ als gegen den Johanneslein selber durch vermehrte Liebkosungen. Dieses Kind
nun erkrankte immer schwerer und nahm zusehends ab, wie wenig bedenklich das Uebel am
Anfang auch geschienen. Lange wollte Niemand an die Gefahr glauben, Annemareili am
längsten nicht, doch immer hagrer wurden die Wangen, die Glieder fielen immer mehr und
mehr ab,auch ungeduldig, empfindlich und launisch wurde der sonst so gut geartete und
zufriedne Knabe. Seine liebsten Spiele sah er nicht mehr an, sogar Annemareilis
Zärtlichkeit und Scherze gewannen ihm kein Lächeln mehr ab, weinte er im Gegentheil doch
ein Mal ärgerlich, als es die Arme aus purer guter Meinung zu erzwingen suchte. Jetzt,
wenn ihn seine Wärterin auf dem Schooße hielt, begehrte er im Bettchen zu liegen und befand er sich im Bettlein, so sollte ihn Annemareili aufnehmen und
herumtragen; kurz, unausstehlich war der Kleine in seinem Kranksein, das er ja nicht
verstand,sondern nur immer meinte: dann werde ihm wohler sein, wann mans ihm anders mache
als ers gerade habe. Aber wäre seine Launenhaftigkeit noch viel größer gewesen, die Mutter
wie Annemareili wären doch gerne nicht ungeduldig geworden, wenn sie nur die Hoffnung auf
Besserung hätten hegen können.
Genügte ja schon ein halbzufriedner Blick, ein bittendes Wort, das der Kleine an die Eine
oder Andre wandte um für lange wieder alle Mühe zu versüßen und die ermüdende Geduld zu
erfrischen. An diesem Krankenlager legte Annemareili die Probe ab von der Stärke seiner
Anhänglichkeit, die keine erzwungne war,noch eine aus bloßem Pflichtgefühl, sondern welche
als natürliche Dankbarkeit rein aus der Tiefe eines unverdorbnen Herzeus kam. Deun jetzt
mangelte ihm nie die Freiheit: lange mochten andre Mägde spazieren gehn, es fiel
Annemareili nicht von ferne ein, von dem Bettlein seines Pfleglings weg zu begehren.
Aengstlich horchte es jeden Augenblick des Nachts nach dem Odem des Kindes, stand
unzählige Male freiwillig auf und schlich an das Krankenlager heran, nur um zu
lauschen,oder dem Johanneslein eine Erquickung anzubieten, wenn er zu wachen schien, seine
Kissen sanft zu recht zu legen und dachte mit keinem Gedanken an alle die Bekannten,die
bis an den heslen Morgen ununterbrochen fortschlafen konnten. Wie gerne würde
es selbst nichts gegessen haben, wenn nur das Büblein wieder Etwas hätte wollen zu sich
nehmen! Ja, aus seinem Lädlein, mit den mühsam zusammengesparten Batzen, langte es sogar
ein Paar Kreuzer heraus und kaufte bei einem unten auf der Straße stehenden
Gipsfigurenhändler eins der Häslein, die so lustig mit dem Kopfe wackelten, einzig um dem
Johanneslein doch eine Freude zu machen und ihm wieder einmal ein Lächeln abzugewinnen.
Aber mit aller Sorgfalt besserte es gleichwohl nicht, im Gegentheil: Jedem mußte es bald
klar werden, daß es mit dem Liebling der Familie zu Ende gieng. Gar traurig sah's da in
der kleinen Haushaltung aus. Hier zu Hãupten des Bettleins lehnte sich die Mutter über ihr
krankes Kind und weinte heimliche heiße Thränen, dort trat Annemareili leise auf den Zehen
mit dem Süpplein für den jungen Patienten in die Stube und nicht vom Rauche allein waren
die Augen so geröthet, die gleich, wenn auch etwas verstohlen, nach dem Knäblein ängstlich
sich hinkehrten. Den Vater sah man am seltensten, er konnte nicht sein einziges Kind
sterben sehen,aber wie nahe es ihm gieng, das zeigte sich am deutlichsten beim Essen, wo
Annemareili nachher fast ebensoviel in der Schüssel wieder abtrug, als es vorher auf den
Tisch gestellt. Wenige Tage noch, die in dieser Beklemmung zugebracht wurden und die bange
Erwartung, die quälende Angst löste sich, erst in heftige und laute, bald
jedoch in stille aber anhaltende Trauer: der Knabe war gestorben.
Etliche Wochen nach diesem betrübten Ereignisse waren Annemareili und die Handwerksfrau
allein in der Stube, die ihnen nun öde und wie ausgestorben vorkam. Die Frau las die
Kleider ihres Johanneslein selig aus dem Kasten zusammen um sie, eingepackt in eine Kiste,
droben auf dem Estrich aufzuheben, da sie hieunten doch nur Platz wegnahmen und die
frische Wunde täglich blutig aufrissen. Bei diesem Anlasse hieß die Frau das Annemareili
mit Gelegenheit jetzt auch nach einem andern Dienste sich umsehen, da sie ja nunmehr Alles
allein besorgen koönne! setzte sie mit einem schweren Seufzer hinzu. Annemareili erschrak
beinahe,als es diesen Bescheid vernahm, so begreiflich und natürlich es ihn auch finden
mußte und so nahe ihm früher oft der Gedanke gekommen war, diesen Dienst mit einem bessern
zu vertauschen. Die Frau bemerkte das und darum stellte sie ihm vor, wie leicht es einen
viel einträglichern Dienst, als es einen hier bei ihr gehabt,werde finden, und daß es ihr
selber schon lange Leid gethan, ihm, von wegen der theuern Zeit und dem geringen Erwerbe,
am Lohne nicht haben zusetzen zu können. Gut gehn werde es ihm gewiß, es habe das an ihnen
verdient, und möge kommen wer da wolle und nachfragen, so werde sie ihm stets das beste
Zeugniß ertheilen und das mit einem guten Gewissen, so viel sage sie ihm offen zum Voraus.
Als Annemareili klagte,es sei nicht bekannt, wisse nicht wie es anstellen,
noch an wen sich wenden? da versprach ihm die Handwerkerfrau sich dafür umsehen zu wollen.
Der Frau Säuberling ihre Lisebeth zum Beispiel reise nach Hause zu ihrer Mutter, die
auszehre; dort wäre ein Dienst wie man ihn nur wünschen könne, wenn da anzukommen
wäre:reiche Leute, wenig zu thun, niemand als Mutter und Tochter; zehn Neuthaler zum
mindesten gebe es dort und auf die leichteste Art von der Welt!
Schön und rosenfarben malte die gute Frau Alles aus und doch war ihr das eigne Herz so
trübe und schwer, denn nun sollte auch noch Annemareili von ihr,die einzige Seele, außer
dem auf der Arbeit meist abwesenden Manne, mit welcher die kinderlose Mutter von ihrem
Johanneslein selig sprechen konnte, welche den Kleinen auch so recht lieb gehabt und ihr
darum befreundet und als ein Trost erschien. Annemareili aber ließ sich das Furwort bei
Frau Säuberling gerne gefallen und wie's beim Anstellen und Anbringen von Dienstboten
geht, bald fand sich Gelegenheit, ein Wort gab das andre und die angehende neue Magd
sollte sich zeigen. Sie gieng auch richtig hin. In dem Säuberlingischen Hause war es
allerdings vornehmer und schöner als bei der wenig vermöglichen Handwerkerfamilie,wo weder
weiße gestickte Vorhänge noch Teppiche zu finden gewesen und man dem Boden eben gar wohl
ansah,wie nicht nur mit gestickten Pantöffelein darauf herum gelaufen wurde, sondern mit
Schuhen, Stiefeln, und 61 zwar tüchtig genagelten. In solch ein Haus war Annemareili
bisher noch nie gekommen, und nun sollte es vielleicht gar drin dienen und wohnen: darüber
erschrak es schier, zu gleicher Zeit aber lief ihm doch auch das Wasser im Munde zusammen.
Als es sich zum ersten Male vorstellte, war die Frau Säuberling gerade aus der Kirche
gekommen, hielt das Liederbüchlein noch in Händen und Hut und Schwal waren noch nicht
abgelegt,vor lauter Eifer und Verwunderung, worein sie des verwittweten Doktors Curio
Verlobung mit der Erzieherin seines kleinen Kindes, einer LandpfarrersTochter,unerwartet
versetzt hatte. So eben hatte sie diese Neuigkeit von einer Freundin erfahren und zeigte
sich nun ganz außer sich darüber, daß der Doktor sich so wegwerfe an eine Magd, hätte er
doch noch ganz andre Parthien machen können! Ihre Tochter, die Jungfer,oder wie man sagen
mußte, Fräulein Emeline, rümpfte das Näslein und gestand, daß sie sich nie viel aus dem
Curio habe machen können, sondern ihn immer für eine gemeine Natur gehalten; es wäre
deßhalb Schade gewesen, wenn er ein anständiges Frauenzimmer geheirathet hätte! Dieß Alles
wurde vor Annemareili verhandelt,das sich durch den verächtlichen Ton fast noch mehr als
durch die Worte selbst in seinem Innern unangenehm berührt fand, ohne indeß klar zu
begreifen, warum eigentlich?Noch peinlicher aber war das Verhör, das es nun selber zu
bestehn hatte: aus welchem Orte es her sei?Was Alles es verstehe und nicht
verstehe? ob es einen Liebsten habe? wo es bisher gedient und warum es fortgekommen? Als
es da Niemanden als nur die Handwerksfamilie nennen konnte, wäre der ganze Handel beinahe
zu Wasser geworden und bloß weil Frau Säuberling selber so in Noth war wegen der
plötzlichen Abreise ihrer Lisebeth und man doch selten „was Rechtes“ in der Zwischenzeit
des Diensthalbjahres finde! entschloß sie sich,eine Magd anzunehmen die bisher nur in
„Burgershäusern“ gedient und es also mit dem Mädchen zu wagen.
Annemareili konnte demnach sogleich eintreten, als ihm vorher noch ein Vorwurf über seine
zu große Jugend gemacht und mit Himmel und Hölle gedroht worden, wenn sich je ein
Mannsbild seinethalben auf hundert Schritte dem Hause nähern sollte. Mit schwerem Herzen
verließ es seine erste Herrschaft: wie sauer ihm bei der manchmal auch der Dienst
geworden, beim Scheiden konnte es doch die Thränen nicht zurückhalten. Es wußte zwar
selber nicht warum? aber es waren nicht einzig die Beklommenheit und das Herzklopfen,
womit es den neuen Dienst antrat, welche ihm seinen Weg erschwerten. Dieß Gefühl hielt
freilich auch nicht zu lange an, Annemareili hätte nicht ein neunzehnjähriges unerfahrnes
Mädchen sein müssen, das sich nun schon als eine gemachte Magd ansah, die ihren schönen
Lohn habe und bei der reichen Herrschaft auf dem besten Wege sei noch mehr, ja eine
Hauptmagd oder eine Kammerjungfer sogar zu werden. Es war nicht mehr das arme
hergelaufne Mädchen, das sich mußte herumstoßen und zu Allem gebrauchen lassen, auf das
Niemand achtete,das nichts verstand, als Gnade und Barmherzigkeit betrachten mußte jedes
freundliche Wort, jedes Bißlein Speise oder jeden Batzen Lohn. Dieses Gefühl, es sei nun
etwas geworden und die Ueberzengung, Jedermann müfse es ihm auch ansehn, was es zu
bedeuten habe, gewannen in Annemareili bald die Oberhand über alle andern Empfindungen und
behaupteten sie eine geraume Zeit, so daß es lange seinen neuen Dienst durch keine andre
Brille betrachtete, als durch diese seiner Eitelkeit und seines Selbstgefühles. Und so
blieb es noch eine Weile von dem falschen Lichte geblendet, als schon hin und wieder lange
dunkle Schatten auf seine Dienstbahn fielen und unter den Rosen die spitzen unbarmherzigen
Dornen hervorstachen. Denn nicht wenig hart hielt es und bedurfte manches empfindlichen
Beweises, bis sich Annemareili eingestand: ach, mit dem beffern, das heißt vornehmern
Dienste sei doch nicht Alles gethan! und hie und da in unbewachten Augenblicken sich zu
sehnen begann nach seinem frühern Leben in dem engen und beschränkten Haushalte der
Handwerkerfamilie. Was änderte es, daß es dieser Sehnsucht einzig das Aushängeschild alter
Anhänglichkeit vorheftete!stak hinter diesem doch gleichwohl die aufkeimende
Unzufriedenheit mit seinem jetzigen Schicksale.Sethstes Caypitel.Der zweite Dienst;
oder es ist nicht Alles Gold, was glänzt.Bei Frau Sauberling hatte Annemareili wohl
groöͤßern Lohn und bessres Essen, auch weniger schwere Arbeit;indeß vom Essen allein lebt
der Mensch nicht, nach schwerer Arbeit aber schmeckt die Ruhe besser als nach leichter und
mit Geld läßt sich nicht Alles kaufen, oft nicht einmal so viel als ein freundliches Wort
umsonst erhält. Dieß sollte das arme Mädchen immer deutlicher und unverkennbarer erfahren.
Sa, schien Annemareili der Haushalt, das Leben und Betragen seiner Herrschaft wohl
vornehm, so mußte es nach und nach immer deutlicher empfinden, wie auch es selber
ebenfalls vornehm behandelt werde, was ihm freilich nicht so schmecken wollte.Nachdem
Annemareili ein Paar Wochen im Hause und nicht mehr der neue Besen war, der Alles recht
kehrt, und ebenso die Frau und Jungfer wieder in ihr altes Geleise gekommen, denn auch
Herrschaften sind neue Besen, da hatte es hundertfältig und tagtäglich die Gelegenheit
sich zu überzeugen, wie nicht Alles Gold sei was glänze. Es war weniger, daß
es sich in den Dienst nicht zu schicken wußte, oder daß ihm derselbe zu schwer fiel: bei
seinem hellen Kopfe und anschicklichen Wesen fand es sich ziemlich leicht auch in das
Neue,begriff bald was gemeint war und weil es wohl aufpaßte, war ihm das Nachmachen keine
Hexerei. Mehr als ein Mal brauchte man ihm selten etwas zu zeigen oder zu sagen und das
Commandieren und Anweisen war ja weder für Frau Säuberling noch für die Jungfer Emeline
eine besonders leidige oder ungewohnte Sache;in dem Punkte hätten sie vielmehr ein ganzes
Regiment Soldaten in Athem halten und den getrilltesten Exerciermeister zu Schanden machen
können. Es fehlte Annemareili einzig an einem Dutzend Hände und einem Halbdutzend Ohren
mehr und es wäre Alles gut gewesen, am Mund und an der Zunge, die diese gehörig in
Anspruch genommen, hätte es schwerlich gefehlt. In der Bibel heißt es zwar nur, Niemand
könne zwei Herren dienen! von zwei Frauen ist nirgend die Rede;wahrscheinlich jedoch nur
darum, weil das eine Unmöglichkeit ist, die sich von selber versteht. Die Beiden waren
wohl gleich wunderlich, aber wann die Eine am Ende eben doch müde werden und nachlafsen
mußte,rückte dann die Andre hervor, noch frisch und mit andern Befehlen, anderm Tadel und
neuen Launen. Hielt die Mutter besonders die Küche im Auge und sah in der Hanshaltung bis
in die kleinste Spalte hinein, daß ia Alles spiegelblank glänze, nirgends ein Stäublein
Dienen und Verdienen. 5 liege, alle Häfelein nach der Größe, denselben Weg
gekehrt, in Reih und Glied standen und gerade soviel Scheitlein Holz unter der Pfanne
braunten, als sie im Sinne trug; so gab hingegen Jungfer Emeline mit ihrer eignen werthen
Person zu schaffen. Und bald riß Annemareili beim Kämmen sie zu sehr an den Haaren oder
scheitelte krumm, bald roch es, wenn es schnell aus der Küche springen und aufwarten
mußte, unausstehlich nach Rauch oder Zwiebeln, die es eben zerschnitten. Ein ander Mal
waren die Schuhe nicht blank genug gewichst,das Bette schlecht aufgeschüttelt und die
Leintücher nicht glatt gezogen oder das Fenster im Zimmer zu lange oder zu wenig lang
offen gewesen; kurz, der Faden gieng da nie aus. Annemareili hatte noch Vieles zu lernen
und Dienstboten müssen sich's einmal gefallen lassen, nach der Herrschaft sich zu richten
und von der fich weisen zu lassen. Dieß war es auch nicht so sehr was Annemareili kränkte,
als vielmehr der Ton und die Geberden, womit derlei gesagt wurde. Sprachen in seiner
Anwesenheit Mutter und Tochter von ihm, so hieß es immer nur „die Magd.“ Die Magd kamn
dieß thun, soll dorthin gehn, muß Jenes ausrichten!Annemareili wußte nun gar wohl, daß es
die Magd sei und wollte keineswegs eine Mamsell vorstellen, auch schämte es sich seines
Standes nicht. Indeß bei solchen Gelegenheiten mit dem Namen sich nennen zu höͤren,welchen
es in der Taufe bekommen, wäre ihm doch lieber gewesen. Es konnte sich zwar nicht recht
sagen warum?aber so kam es sich selber immer wie fremd vor in dem Hause und
als gehöre es nicht herein, als nehme Niemand auch nur ein wenig Antheil an ihm, besonders
da ihm scheinen wollte, dieses Wort werde obendrein mit einer Art von Geringschätzung
ausgesprochen. Es wurde überhaupt Weniges in einem freundlichen Tone abgethan, in
zutraulichem gar nie, sondern meist so, als wäre es wunder welch Vergehen von Annemareili,
das nicht schon im Voraus zu errathen was man zu ihm sagte. Gewöhnlich sah auch Frau
Säuberling das Mädchen, wenn sie mit ihm zu sprechen hatte nur halb von der Seite an,
Jungfer Emeline freilich gar nicht, außer wenn sie recht in Zorn gerathen. War dieses der
Fall, dann wurden die Worte nie sehr abgewogen: das und das sei gut für's Vieh! beim
Lumpenpack wäre Solches der Brauch! ob es im Stalle auferzogen worden? derlei Redensarten
waren weder sehr selten noch von den beleidigendsten, was für eine dicke Haut auch sie
voraussetzten.
Am schlimmsten indeß ergieng es Annemareili, wenn Eine der Beiden sich unwohl befand,
Kopfweh oder Zahnweh klagte oder sonst angegriffen war: da wollten die Launen auch gar
kein Ende nehmen. Bald trat dann das arme Mädchen so schwerfällig wie ein Elephant auf und
schmetterte alle Thüren expres heftig zu,oder, trat es leise ein, so erschreckte es durch
sein Schleichen und plötzliches Dastehn. Der Thee war zu stark angebrüht oder nur bloßes
Lauwasser. Annemareili stand
5 *alle Augenblicke da, hatte Maulaffen feil, machte sich überflüssig, oder
ließ sich nie blicken, zeigte keinen Funken von Theilnahme, ließ seine Herrschaft
verrebeln, kurz benahm sich wie ein völliger Barbar. Und doch hätte von Rechtswegen die
ganze Welt Theil nehmen sollen an dem Nervenkopfweh und den Athem an sich halten und auf
den Zehen schleichen und verweinte Augen haben aus reinem Mitgefühl, geschweige denn nur
so eine Magd.
Freilich, wenn etwa diese einmal krank war, da nahm keine Seele Notiz davon, Niemandem
fiel dabei ein, daß nur ein wenig Schonung ihr gar sehr wohl thäte. Es schien, als müsse
Annemareili entweder gar keine Nerven haben, oder jedenfalls die zu wenig, welche Frau
Säuberling und Jungfer Emeline zu viel besaßen. Wenn es auch den ganzen Tag innerlich
gefroren und kaum einen Löͤffel voll Suppe gegessen, das hinderte nicht, daß es Nachts ein
oder zwei Mal aus dem Bette herausgeklingelt wurde, der Jungfer ein Glas Zuckerwasser
anzumachen, oder den Vorhang besser zu schließen, durch dessen Spalte gerade der Mond in's
Zimmer schien.Waren ihm vor Kälte die Hände aufgesprungen, oder darum nicht aus der kalten
Küche in die Stube hereinkommen, und war es gar Freitag, so mußte auch mit der
geschwollnen Backe gefegt werden, Flur und Treppen, hiegegen war kein Kraut gewachsen. Es
gehörte dieß einmal zur Ordnung: nicht rein mußte es sein im Hause, sondern
gefegt am Freitag, das war die Hauptsache. Wer aber glaubte, Annemareilis Herrschaft habe
darum ein fühlloses Herz gehabt, der würde sich gröblich irren. Er hätte es nur ein einzig
Mal mit anzusehn brauchen, wie das Schoßhündlein, der kleine Ami, gepflegt und bemitleidet
wurde und die zärtlichsten Schmeichelnamen erhielt, und der dringendste Verdacht wäre
sogleich verschwunden. Lief das gute Thierlein gelegentlich zur Thüre hinaus und mußte
draußen warten, bis sie wieder sich öffnete, oder es kratzte dran, so war da des Bedauerns
kein Ende und mehr als ein Mal erhielt die Magd, die oft den ganzen Tag in keine warme
Stube kam, einen scharfen Verweis wegen ihrer Unbarmherzigkeit, bei solchem Wetter den Ami
vielleicht zwei Minuten lang draußen stehn und warten zu lassen.An Ami wurden aber nicht
nur die zärtlichsten Worte verschwendet, sondern er erhielt auch an Essen die besten
Leckerbissen; wenn er sie nur abnahm galt es für eine Tugend! Den Tag über hatte er sein
warmes seidnes Nestlein, am Ehrenplatz beim Fenster natürlich! darin er sorgfältig gegen
jedes Lüftlein geschützt ward, während er die Nacht gewöhnlich zu Füssen und im Bette von
Frau Säuberling selber schlief. Kurz, wäre Annemareili nur der Abfall von all dieser
Fürsorge und Zartlichkeit zu Theil geworden, es würde sich keinen bessern und angenehmern
Dienst haben wünschen können. So aber diente diese Verschwendung nur dazu, ihm seine Lage
um so schwärzer und seine eigne Behandlung um so kränkender erscheinen zu
lassen, denn von sonst rohen
Menschen würde es das Alles nicht so schwer aufgenommen haben, als es hier that, war es
ja nichts weniger als verwöhnt. Und immer greller und empfindlicher stach der Unterschied
hervor zwischen diesem Dienste und dem frühern bei der Handwerkerfamilie, an den es nun
öfter und lebhafter zu denken begann und Vergleichungen anstellte, bald in jedem einzelnen
Falle.Wie manches Mal sehnte es sich im Stillen nach jener braven Bürgersfrau! Hatte es
dort gleich einen mühseligen Dienst gehabt, es war doch auch fast wie ein Familienglied
gehalten worden, das seinen ehrlichen Antheil empfieng an Freud und Leid, am gleichen
Tische mit Allen gegessen und nicht in der kalten oder nassen Küche allein, als wäre es
räudig oder doch von einem schlechtern Teige. Und daß seine Herrschaft selber Alles,auch
Last und Mühsal, mit ihm getheilt, das war ihm ein größrer Trost gewesen als es sich
jemals vorgestellt.Dort war es sich wenigstens wie ein Mensch vorgekommen und nicht wie
ein Hund! sagte Annemareili in seinem Mißmuthe mehr als ein Mal. Es habe wohl viel zu
arbeiten gegeben, aber dann sei man doch zufrieden gewesensmit ihm, hab' ihm ein gutes
Wort geschenkt und ein freundlich Gesicht gemacht und Ruhe gegönnt, von kranken Tagen, in
denen es wie ein eignes Kind besorgt worden, gar nicht zu reden. Hier dagegen,bei aller
Vornehmheit und ein bittrer Strom wallte in des Mädchens Herzen auf und überschwemmte ihm mit seiner trüben Fluth alle Zufriedenheit und allen Muth, sogar die
Billigkeit. Denn je rosenfarbner ihm nun sein alter Dienst erschien, um so mächtiger
schwoll auch der Widerwille gegen den jetzigen und um so schwärzer malte es sich Jedes
darin aus. Ein Mal aber so weit, gieng es bald noch weiter und zu weit, und fand Anlässe
zu Dutzenden um Aergerniß daran und Das und Jenes schwer zu nehmen, was es früherhin
entweder leicht abgeschüttelt, ja gar zum Guten statt zum Bösen gewendet hätte; legte es
doch Vieles, das nicht so böse gemeint war, in seiner Verstimmung in Uebel oder als
beabsichtigt aus. Bei dieser Gemüthsrichtung war es begreiflich, daß das Mädchen immer am
empfindlichsten sich verletzt fand, wenn es von seiner frühern Herrschaft beleidigend
sprechen hörte, woran es Frau Säuberling und ihre Tochter nicht fehlen ließen und jene nur
mit „gemeine Leute“ betitelten oder Annemareili bei jedem Anlaß vorwurfsvoll und
geringschätzig bedeuteten: es befinde sich hier nicht in einer Handwerksboutique, wo Alles
gut genug sei! Seine Anhänglichkeit mochte Solches nicht verwinden und jetzt zu
allerletzt, da es, neben der Gereiztheit über die eigne Unbill, in solchen Vorwürfen
zugleich lebhaft das Unrecht fühlte, das jenen Handwerksleuten angethan wurde. Denn war es
bei ihnen auch etwas knapp hergegangen, so hatten doch überall,bei aller Einschränkung,
Ordnung und Rechtschaffenheit geherrscht und daß die Hausfrau nicht Fünfe grade sein
DDD weniger aber dieses jetzt das arme Mädchen war, das Gott danken mußte,
nur irgendwo unterkriechen und ein Plätzlein finden zu können, wo es vor Elend und Hunger
geschützt sei, um so mehr verbitterte es sich auch und stellte es sich seiner jetzigen
Herrschaft entgegen. Sein Herz erkühlte und es that seinen Dienst mehr nur aus einer
angewohnten Art Schuldigkeit, weil es einmal dafür da und bezahlt war, aber ohne innern
Trieb, der besser aufpaßt als das Auge des wachsamsten Herrn je es vermag, ohne guten
Willen und ohne die innere Hinneigung gegen seine Herrschaft. Ja, an die Stelle von Liebe
und Wärme waren vielmehr Feindseligkeit und Kälte bei ihm eingezogen und es war eine
unnütze Magd geworden, in dem Sinne, wie vom unnützen Knechte die Rede ist, solchem
nämlich, der nichts thut als (wie man sagt) seine verdammte Schuldigkeit. Das sei ja, was
man allein verlangen könne! meinen Viele. Wo aber auf diese Art gedient wird, da bleibt's
nicht lange bei der eigentlichen Schuldigkeit stehn, sondern es wird von dieser
Schuldigkeit immer mehr und mehr weggemarktet und sie schrumpft nach und nach so zusammen,
bis sie,man merkt oft gar nicht wie bald, als nackte Schuld dasteht. Wo man froh, wenn
Etwas nur abgethan ist,und dann nicht lange sieht wie eigentlich, da fehlt es hier
gewöhnlich irgendwo, dort ist Etwas übersehen,vergessen worden: es hat sich halt nicht von
selbst gemacht oder ist nicht gleich auf den ersten Anlauf gerathen!So sehr nur sie selber
an Allem Schuld sind, der Knecht und die Magd, werden sie doch so ungeduldig
oder böse darüber, als geschehe ihnen wunder welches Unrecht!So ergieng's auch dem
Annemareili: die Vorwürfe und Anklagen und Zurechtweisungen hatten es am Anfang vielleicht
öfter ungerecht getroffen, nun aber, nachdem es von der treuen Magd zum verdroßnen
Miethling herabgesunken, mochten sie nur zu oft ihren guten Grund haben. Freilich, wie
viel eigentlich auch davon der Herrschaft auf deren eigne Rechnung zu setzen war,bleibt
eine andre Frage und das Abwägen in solchen Fällen ist schwer: Eins arbeitet eben dem
Andern merkwürdig fleißig vor oder kommt ihm entgegen. Der Tadel und die Vorwürfe trugen
natürlich bei Annemareili nicht viel zur Besserung bei, sie liefen über seine Haut
hinunter wie Regentropfen über eine Oelstande, war ihre Kraft doch schon längst verbraucht
worden, damals nämlich, als man das Mädchen mit Unrecht oder um Kleinigkeiten willen
gescholten. Jetzt, da der Wolf wirklich da war, half alles Schreien nichts mehr,
Annemareili war es zu gewöhnt, glaubte nicht daran, auch wo es hätte sollen und bereute
nur was es jemals davon zu Herzen genommen. Dafür mußte es freilich gewärtig sein, und war
es wirklich, am Ende noch aus dem Dienste geschickt zu werden. Im Grunde war ihm das gar
nicht unlieb,tröstete es sich doch jetzt: Plätze gebe es genug und leicht einen bessern!
Dabei gedachte es Dessen, was es nun zu leisten vermöge und ließ es im Uebrigen beim Alten
bewenden, das heißt, nährte neuen Groll, neuen Widerwillen,neue Gleichgiltigkeit im
Herzen.
Während auf diese Art Annemareili sich seinen gegenwärtigen Dienst so schwer als möglich
schuf, vor lauter Bemühen ihn so leicht als möglich zu machen und sich daneben jene erste
Zeit bei der Handwerkerfamilie wie ein Paradies ausmalte, während dem sehnte sich Frau
Säuberling nicht minder lebhaft nach ihrer frühern Magd,der alten Lisebeth, im Stillen
sowohl als auch laut bei allen möglichen Anlässen. Im Herzen wohl müßte es dieser gethan
haben, hätte sie nur die Hälfte all des Lobes gehört, das sie als die Vortrefflichkeit
selber schilderte, etwas das ihr früher nie eingestanden worden!Begreiflich giengen diese
Erhebungen stets Hand in Hand mit den Klagen über Annemareili. Daß aber dieses gleichwohl
immerfort noch im Dienste behalten wurde,mochte doch seine Ursache darin haben, daß eben
Frau Säuberling derlei Unzufriedenheiten auch etwas gewohnt sein mußte und sie dadurch
nicht so sonderlich angegriffen wurde oder, auf Erfahrung gestützt, nichts Besseres
nachher erwartete.
Gleichviel, Herrschaft und Magd machten sich einmal das Leben herzlich sauer, mit allem
Fleiße. Am meisten litt indeß Annemareili, das ja sonst nichts hatte, woran es sich
schadlos halten konnte, das nur auf sich angewiesen war, nicht hierhin gehen und sich
erholen oder mit Dem und Jenem zerstreuen und wieder erheitern konnte, das »eben einem
fremden Willen unterworfen blieb. Es sah in des Mädchens Herzen bald nicht mehr
allein gegen seine Herrschaft so feindlich wild und unzufrieden aus, diese Stimmung
verbreitete sich auch weiter hin. Eins hieng am Andern, mit oft unsichtbaren Faden,aber
untreunbar. Wenn jetzt Annemareili, in seiner Entfremdung von der Herrschaft, den Dienst
nicht mehr als Hauptsache ansah die ihm am nächsten lag, der Aerger, der Groll, die eigne
innre Unzufriedenheit, die damit verbunden waren, arbeiteten doch an ihm überall und
Gefühle bekamen wieder bleibend die Oberhand, die es seit dem Verlassen seiner Stiefmutter
nicht mehr genährt hatte. Sie machten es unglücklich und verstimmt, auch außer dem
Dienste, gereizt und empfindlich noch gegen Andre als nur gegen Frau Säuberling und
Jungfer Emeline;sogar gegen die Wärterin im Spitale, welche es doch stets gut mit ihm
gemeint und vor der es immer einen so großen Respekt gehabt, daß es bei nichts Höherm
geschworen hätte, als bei deren Aussprüchen. Dieser Wärterin, die es noch immer von Zeit
zu Zeit besucht,hatte es wohl auch über seinen bösen Dienst geklagt:wie es nichts recht
machen könne und so launisch und geringschätzig behandelt werde. Seine Freundin hatte ihm
erst zur Geduld gerathen und nachher, als es sich noch leidenschaftlicher beklagt,
formlich zugesprochen und es an seine frühere Lage und den ehemaligen Zustand erinnert.
Sie schlug ihm auch Stellen in der Bibel auf und wies sie ihm, wie die: ihr Knechte seid
unterthan den Herrn, nicht allein den gütigen und gelinden, sondern auch den
wunderlichen! oder jene, da der Engel zur Hagar spricht, die gezüchtigt von ihrer Frau,der
Sara, davon gelaufen: Hagar, Sarai Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie
sprach:ich bin von meiner Frau Sarai geflohen. Und der Engel des Herrn sprach: kehre
wieder zu deiner Frau und demüthige dich unter ihre Hand! .... Auf Derlei wußte
Annemareili freilich nie viel zu erwidern, darum schwieg es dazu, aber etwas Fremdes legte
sich dabei allmälig zwischen sein bisheriges hingebendes Zutrauen und die Wärterin. Ja es
wurde sogar empfindlich,meinte im Stillen: so eine Wärterin habe lange gut reden, gut
zusprechen, die sitze im Warmen, wisse nicht was Alles eine Magd sich müsse gefallen
lassen, die alle Augenblicke abhängig sei von der fremden Laune vornehmer Leute, welche
nicht wüßten wo hinaus vor Langeweile. Oder es dachte gar: die Wärterin nimmt gegen mich
Partei, sie hält's mit den Vornehmen, und die Besuche im Spital nahmen ab, wurden nicht
nur seltner, sondern auch immer kühler und kürzer,Annemareili konnte es selbst nicht sagen
wie? So war es denn einerseits ganz wieder das alte Mareili geworden,nur hatte es nicht
mehr das harmlose kindliche Herz,das es doch damals bei aller Verwahrlosung und
Verwildrung und trotz Schmutz und Lumpen noch besessen;es schüttelte nicht mehr Alles so
leicht ab oder schlug es in den Wind, sondern ließ sich nun jede Freude dadurch vergällen,
fühlte sich einsam, verlassen und ausgestoßen, mit einem Worte, recht elend und
unglücklich und dieß bei all dem größern Lohne, nach dem es sich einst so gesehnt, und
mitten in dem vornehmern Dienste,um den es bei seiner frühern Herrschaft andre Mägde so
manches Mal beneidet.Sithentes Capitel.
Ein Tröster in hellblauer Jacke.Es war in dieser traurigen Zeit, daß Annemareili eine
neue Art von Bekanntschaft machte. Um Mannsleute hatte es sich bisher wenig bekümmert und
wenn ihm Der oder Jener zuweilen auch ein Compliment gemacht, sich zärtlich gezeigt oder
einen kleinen Scherz erlaubt hatte, so war es Annemareili nie eingefallen,etwas Besondres
darin zu erblicken und ein Gewicht darauf zu legen; gewöhnlich war schon die Minute
nachher Alles wieder vergessen! Fleisch, Brod und Milch wurden jeweilen in's Haus
geliefert und so hatte schon das tägliche Sehen und Verkehren ganz von selbst eine Art
Vertraulichkeit zwischen dem Mädchen und dem Fleischer, Milchmann und Bäcker begründet,
die aber lange bloß eine ganz äußerliche blieb und nichts weniger als innig wurde. Als
indeß Annemareilis Unzufriedenheit sich stets häufiger in einem unwilligen Gesichte,einem
schlechtunterdrückten Seufzer oder in verweinten Augen kund gab, da war es natürlich, daß
jene Bekannten sich nach der Ursache erkundigten und auf ihre Weise Antheil nahmen an dem
Kummer, der nur zu bereitwillig in Anspielungen und Klagen gegen die
Herrschaft sich Luft machte. Der Bäcker vor allen zeigte sich sehr mitfühlend, konnte
Annemareili nicht genug bedauern, machte ein Gesicht gerade als gienge all das Unrecht ihn
selber an, ja noch doppelt, und sprach weiche freundliche Worte, wie nur das
theilnehmendste Herz sie einzugeben vermag. Daß er zwischenein wacker auf Annemareilis
Herrschaft loszog, gehörte nothwendig dazu, um ihm die volle Anerkennung und das ganze
Zutrauen der geplagten Magd zu gewinnen. Und wie ein Pfarrer verstand es der Joseph zu
trösten, was für ein junges und lustiges Blut er sonst war. Annemareili aber schüttete das
Herz stets rückhaltloser vor ihm aus,that ihm doch dieses freundliche Mitleid, jener
beleidigenden Geringschätzung gegenüber, jetzt so besonders wohl und ward ihm ein Labsal
zu einer Zeit, in der es sich allein und verlassen vorkam und von Niemandem geliebt in der
weiten weiten Welt. Doch mit der Freude an dieser Theilnahme schlich sich auch sachte ein
Wohlgefallen an dem Joseph selber ein und es war dem Mädchen bald weniger darum zu thun,
das Herz zu erleichtern, als um das Vergnügen des Zusammenseins mit dem neuen Freunde
selber, in dessen Gegenwart die alte Unzufriedenheit und das bittre Gefühl der
Verlassenheit sich mehr und mehr verminderten. Durchlief doch auch dieser seinerseits
rasch die Stufen der theilnehmenden Seele, des wohlmeinenden Freundes, des
Vertrauten, bis er zuletzt nicht gar weit von der des zärtlichen Liebhabers angelangt
war.
So kam es, daß Joseph gar oft länger unter der Hausthür weilte, als unumgänglich nöthig
war, das benöthigte Brot, oder die Semmelwecklein, abzugeben und daß Annemareili die
Rappen und Batzen schon lange wieder in seinem Beutelchen und das Beutelchen im Sacke
hatte, während doch der Bäcker noch immer bei ihm stand und sie sich eine Menge mittheilen
mußten,das weder auf die Weiße des Mehles, noch auf die Luftigkeit des Teiges sich bezog.
Natürlich blieb es hiebei nicht: es war merkwürdig, wie auch zu andern Zeiten Annemareili
gerade das Brennöl oder der Pfeffer oder Lampendochte ausgiengen und es sich nothwendig
dann just damit versehen mußte, wann der Joseph eben unten am Hause vorbeispazierte; wie
gleicher Weise den Joseph sein Weg so oft am Brunnen vorbeiführte, wann Annemareili eben
Wasser holen wollte und da wartete,nicht anders wie die leibhafte Gefäͤlligkeit, bis alle
andern Mägde ihre Zuber gefüllt.“ Ja, manche Maaß floß noch über den eignen Zuber hinaus,
während dem das Mädchen hinter'm Brunnstock, in noch reichlicherm Gusse als die Röhre das
Wasser sprudelte, mit dem Bäcker von den eignen Angelegenheiten sich unterhielt. Mehr als
ein Mal traf sich's sogar am Abend, wann der messingne Glockengriff noch blank zu putzen,
oder die Steinplatte vor'm Hause der Frau Säuberling zu fegen,die Straße Samstags zu
kehren war, daß auch da wieder der theilnehmende Joseph sich in der Nähe
befand und natürlich eine Weile stehn bleiben mußte um Annemareili doch auch ordentlich
bedauern oder freundlich grüßen,trösten und von seiner Aufrichtigkeit und seinem
Wohlwollen unlerhalten zu können. Und wer wollte es dem armen Mädchen in solchen Fällen
zum schweren Vergehen anrechnen, wenn es den Glockengriff eben Glockengriff sein und ruhig
hängen ließ, in die Steinplatte keine besondern Vertiefungen hineinrieb und das
Straßenpflaster nach Kräften schonte, damit es nicht noch holpriger werde?
Geraume Zeit spann sich dieß Verhältniß so fort,da drohte ihm plötzlich Gefahr von einer
unerwarteten Seite. Vreneli, eine Bekannte Annemareilis, die in der Nachbarschaft diente
und seine Landsmännin war,sagte zu diesem eines Abends beim Wasserholen, als der Joseph
eben erst weggegangen: ich glaube der Bäcker macht dir jetzt den Hof, Annemareili? Hat er
denn die Lene, die beim Goldschmied an der Silbergasse dient,nicht mehr zu seinem Schatze?
Und als Annemareili ein unangenehmes Befremden hierüber nicht ganz zu verbergen vermochte,
fügte die Freundin noch warnend bei: nimm dich nur in Acht, er ist ein Schlimmer und du
wärest nicht die Erste, die er wieder sitzen ließe!Dieß gab Annemareili die Besonnenheit
und den Muth zurück. Es gebrauchte sie um seine Gleichgiltigkeit auszudrücken und die
Versicherung zu geben, an dem Bäcker liege ihm nicht halb soviel als Vreneli meine, er sei
auch
6 gar nicht sein Liebster, bewahre! im Gegentheil!und seinetwegen könne er
sich heute noch an zehn Andre hängen. Man sei noch nicht versprochen, wenn man ein Mal
zwei Worte zusammenrede!
Vreneli war erfahren genug, um das Alles ohne Widerrede anzuhören und nur halbmerklich
auf den Stockzähnen zu lachen und das gerade Gegentheil davon zu glauben. Gegen den Joseph
selber, als es ihn wieder sah, benahm sich Annemareili dann freilich nicht so gleichgiltig
und kühl. Am Anfang zwar wohl auch,that fast, es kenne ihn nicht mehr, verlor kein
überflüssiges Wörtlein, Ihh und Nein war so ziemlich Alles.Aber hinter dieser frostigen
Begegnung brannte ein heißes heißes Feuer, das der Eifersucht, und es züngelte gar bald
durch die starre Decke hindurch in allerlei Anzüglichkeiten und Sticheleien, bis dann
zuletzt die nackten Vorwürfe und die Aufkündung aller Freundschaft nachfolgte und
Annemareili ihren Verehrer hieß der Lene seine Aufmerksamkeiten und Zartlichkeiten
erweisen, dort würden sie besser am Platze sein! Joseph merkte nun was für ein Wind hier
vorbeigepfiffen, aber er war nicht der, welcher vor einem Winde zitterte. Was denn das
bedeuten solle? fragte er wohl verwundert, aber gelafsen wie das gute Gewissen selber. Ja,
er habe einmal die Lene nicht ungern gesehen, sei sogar spazieren mit ihr gegangen. Das
hab er theuer genug bezahlt,Weg und Steg habe sie ihn nachher verfolgt und es sei ihm
schier unmöglich geworden, sich von der verliebten Person wieder loszumachen,
nachdem er gesehen,sie sei nichts als eine Gans, die sich viel einbilde auf ihre helle
Haut und die katzgrauen Augen und auf ihre Gestalt, die mit einem Besenstiel die gröste
Aehnlichkeit habe. Hoffährtige Kleider besitze fie wohl, das sei wahr, aber er trage nur
Mannskleider und keine Weiberröcke, darum hülfe ihm Lenens einziger Vorzug wenig oder
nichts!
In diesem Tone gieng's noch eine Weile fort, der Lene läutete es gewiß Sturm in den
Ohren, Annemareili aber hörte es gar zu gerne, wie über die Nebenbuhlerin losgezogen ward
mit allem Spott und wie der Joseph hoch und heilig betheuerte, nur Narrenthei mit ihr
getrieben und sie zum Besten gehabt zu haben. Es unterbrach ihn deßhalb auch nicht, eine
Weile lang, selbst nachdem der Zorn sich ganz gelegt, sondern spielte noch die Ungläubige
fort und machte mit aller Anstrengung ein recht saures Gesicht, nur um noch neue
Ehrentitel der Lene zu vernehmen und die eignen vortheilhaften Seiten dagegen immer
glänzender herausstreichen zu hören. Nach diesem allem ward natürlich der Friede und das
frühre Verhältniß wieder gründlich hergestellt,ja, Joseph hat nur noch mehr Boden gewonnen
bei Annemareili als vorher. Eine besondre Liebeserklärung oder ein Versprechen erfolgte
zwar auch jetzt nicht zwischen den Beiden, so wenig als dieß früher einmal geschehen,aber
immer mehr hatte sich eine Vertraulichkeit, ein Verständniß festgesetzt, die im Grunde
doch nichts Andres
6 *bedeuteten und es bedurfte sicher nichts als noch eines ganz zufälligen
Anlasses, um unzweifelhaft auch dem Blindesten, wie zum Beispiel dem Annemareili
selber,des Kindes wahren Numen kund zu geben. Dieses Tupflein auf's J ließ denn auch nicht
zu lange mehr auf sich warten.
Wie glänzend für das Verhältniß diese erste Gefahr war abgeschlagen worden, eine zweite
drohte von Seiten der Herrschaft Annemareilis, die mit dem, Frauenzimmern in solchen
Punkten eignen, Scharfsinne schon längst etwas gewittert hatten, ohne aber auf Bestimmtes
gekommen zu sein, da eben der Bäcker durch seine officielle Stellung hinlänglich gesichert
blieb. Annemareili versalzte wohl fast regelmäßig die Suppe, ließ die Milch in's Feuer
laufen, Gemüse anbrennen, war oft nirgend zu finden, blieb bei Einkäufen oder Aufträgen
die dreifache Zeit aus und schien seinen Kopf zuweilen hundert Stunden weit entfernt vom
übrigen Körper zu haben. Dieß Alles weckte nicht nur einen Verdacht, sondern bekräftigte
ihn auch nach und nach bis zur Gewißheit, eine eigentliche Thatsache jedoch kam dadurch
noch nicht an's Tageslicht.
Es wäre vielleicht noch lange so fortgegangen und Frau Säuberling wie Jungfer Emeline
hätten sich vergebens die Köpfe zerbrochen, wenn nicht zufällig eines Abends in der
Dämmerung erstre ihre Magd im Höflein hinten bei einem Mannsbilde überrascht hätte, noch
zur rechten Zeit, ehe beide unter dem vorspringenden Dache des Holzschuppens
vor der Nahenden sich zu bergen vermochten. So waren sie überrascht, eine halbzornige und
scheltende, halb furchtsame Stimme verrieth dieß nur zu gewiß. Frau Säuberling schrie von
Landjägern und Polizei, von Lumpenpack und Kerlen und erhob einen Lärm nicht anders, als
wären Diebe und Mörder eingebrochen in ihr Haus bandenweise; vermochte sie doch in der
Dunkelheit den Verwegnen nicht zu erkennen.Dieser aber, durch das Geschrei in Schrecken
gesetzt,ersah seinen Vortheil, schwang sich beim Holzhaus über die niedrige Mauer und
flüchtete durch die noch offen stehende Hinterthür auf die Straße hinaus und in's Freie,
während Annemareili, verlegen wie ein begossner Pudel, den nun um so saftiger werdenden
Ergüssen und Ausbrüchen der Frau Säuberling Stand halten mußte. Daß Emeline, durch den
Lärm herbeigezogen,über das Unerhörte das sie vernahm, in heftige Krämpfe verfiel,
verbesserte die Lage der Unheilstifterin keinesweges. Emeline sowenig als ihre Mama,
konnte sich ein schwärzeres Vergehn von einer Magd denken, als das einer sogenannten
Bekanntschaft oder Liebschaft und eines Stelldichein „hinterm Haus und Höflein“, wie es in
jenem alten Liede heißt, das immer jung bleibt.Jedes Andre wäre Annemareili vielleicht
noch verziehen worden, nur dieß nicht, besonders auch, wie es in der Strafpredigt
ausdrücklich hieß, weil noch Alles ohne Wissen und hinter'm Rücken der Herrschaft in
Dunkel und Verborgenheit vor sich gegangen! als wäre es sonst der Brauch, bei
Dergleichen einen Trompeter vorauszuschicken. Daß Annemareili eine schlechte Person
genannt ward, eine Dirne, die den Mannsleuten nachziehe und sie locke, die weder Ehre noch
Reputation im Leibe habe, das war gar nicht das Aergste was jetzt das Mädchen zu hören
bekam, auch nicht die Drohung, man werde es mit dem Landjäger zur Stadt hinausführen
lassen, wo es dann seinem „Kerle“ nachlaufen könne!Mochte der erste Unwille und die
Aufwallung, welche Alles in einem viel grellern und nachtheiligern Lichte erscheinen
ließen, mit Schuld sein an diesen verletzenden Vorwürfen, Annemareili, das sich vom
grösten Schreck erholt, war sich gleichwohl zu wenig eines wirklichen Unrechts und einer
Unehrenhaftigkeit in diesem ganzen Handel bewußt, fühlte zusehr all den alten Groll jetzt
mit einem Male in sich aufkochen, um diese Beschimpfungen und Drohungen ruhig
einzustecken. Zugleich aber weckte dieser Angriff,zum ersten Mal ihm selber deutlich, auch
das schlummernde Bewußtsein, es habe den VJoseph wirklich lieb und das Verhältniß zu ihm
sei nicht bloße Freundschaft,wie es bisher gemeint, sondern etwas Innigeres und
Bindenderes. Dieß verlieh aber dem Mädchen jetzt nur um so größern Muth, schämte es sich
doch desselben nicht nur nicht, sondern war im Gegentheile stolz darauf und bereit, tapfer
dafür zu kämpfen. Wie damit Oel in's Feuer gegossen wurde, ist indeß bald errathen.Zu der
Leichtfertigkeit und Zuchtlosigkeit komme nun noch Frechheit und Unverschämtheit! meinten
die Beiden und fuhren um so heftiger über Annemareili her, das natürlich auch
warm ward und sich nicht allein auf die Vertheidigung beschränkte. Kurz, hin und wider
fielen scharfe Hiebe, Keines wollte was schuldig bleiben, ein Wort gab das andre, ja, die
flinkste Feder hätte es bald aufgeben müssen Jedes nachzuschreiben, ein scharfes Ohr sogar
nur Alles zu hören, geschweige zu verstehen,besonders wenn die Zwei oder alle Drei zu
gleicher Zeit sprachen, schrien, schalten. Soviel indeß ward dabei doch ausgemacht und das
Ende vom Liede: Annemareili suchte auf Johanne einen neuen Dienst und Frau Säuberling eine
neue Magd, Punktum!
Auf dieses Hagelwetter trat einige Zeit Stille ein,wie es gewöhnlich geht und Herrschaft
wie Magd sparten ihre Worte, nicht anders als wären sie Gold. Annemareili verrichtete den
Dienst gut, zum Trotz gut, und Frau Säuberling und Emeline tadelten und commandierten
nichts, auch aus Trotz. Wenn sich beide Parteien nur aus anderm Grunde, als aus purer
Unzufriedenheit gegen einander so benommen hätten, es würde sich kein erträglicheres noch
angenehmeres Leben haben denken lassen. Bloß hie und da so ein kurzes schnauziges oder
trocknes Wort, eine halbe Frage, die wie ein Vorwurf klang, zeigten, daß es unter der
ruhigen Oberfläche nichts weniger als heiter und friedlich aussah.Zubald nur kam auch
Alles wieder in's frühre Geleise,beide Theile um ein gutes Stück erbitterter und
feindseliger als vorher, so daß sich ein Jedes im Ernst auf die
Erlösungsstunde am Johannistage sehnte und auch gar kein Hehl daraus machte.
So stand es etwa acht Tage vor Johanne, an einem Sonntag Morgen, da Annemareili bereit
war in die Kirche zu gehen und sich mit seinen Geschäften darauf eingerichtet hatte. Um
einer der gewöhnlichen Kleinigkeiten willen war wieder ein heftiger Auftritt
vorgefallen,am heiligen Feiertage sogar. Das Mädchen, schon im Kirchenputz und das
Gesangbuch in Händen, wurde erst noch tüchtig ausgescholten und ihm das Gedächtniß an
beleidigende Worte und Hader, als Vorbereitung gleichsam zur bevorstehenden
Sonntagserbauung, auf den Weg mitgegeben. Zwar hatte es noch unter der Schwelle Einiges,
das es hierauf schuldig zu sein meinte, herausgeben wollen, aber schmetternd war ihm die
Thüre vor der Nase zugeschlagen worden. So gieng es voll Zorn und Feindschaft wohl in die
Kirche, ob es aber gar viel von der Predigt vernommen und beim Unservater sehr andächtig
gewesen, ist die große Frage, lag ihm doch beim Verlassen der Kirche der alte Groll noch
aller unverdaut im Magen.
Siehe, da an der Ecke des Gäßleins steht der Joseph und scheint auf Annemareili zu
warten, tritt ihm auch richtig entgegen, wie er seiner ansichtig wird und grüßt es und
ladet es ein zu einem Spaziergange auf heute Nachmittag. Annemareili war noch nie mit
Joseph zusammen spaziert und so nothwendig es auch gerade heute sein schweres Herz
erleichtern und das erlittne
Unrecht einer mitleidigen Seele anvertrauen sollte, so sperrte sich gleichwohl in seinem
Innern etwas gegen den Vorschlag und verbot ihm gleich Ja zu sagen.Wenn sie Jemand
anträfe, was man da denken würde?wendete es darum erst sich selber und dann gegen den
Jofeph ein. Nein, es schicke sich das nicht, so allein! Der Bäcker aber suchte auf alle
möͤgliche Weise diese Bedenken auszureden und als er am Ende versicherte, seine Schwester
werde ja auch dabei sein und wahrscheinlich noch bringe die das Vreneli mit und dessen
Bruder, da wurde Annemareilis Widerstand schwächer und schwächer,bis es zuletzt ein
schüchternes Ja sagte. Nur die feierliche Bedingung stellte es dabei, Abends zur rechten
Zeit wieder zurück zu sein: die Herrschaft gehe in eine Visite heute und es müsse dann
noch eine Suppe kochen! So ward Zeit und Ort der Zusammenkunft abgeredet und das Mädchen
sah mit eben so viel Freude als Unruhe und heimlichem Herzklopfen beidem entgegen. Es
achtete sogar in dieser Erwartung weder der unfreundlichen Gesichter noch der lieblosen
frostigen Worte, die es inzwischen daheim hinzunehmen hatte, so kräftig drang selbst durch
diesen trüben kalten Nebel verklärend und wärmend die milde Sonne der Liebe, welche auch
über das Herz eines armen Annemareili himmlische Strahlen gießt.Ichtes Capitel.Ein
Spaziergang. Joseph kehrt ein; Annemareili auch, aber an anderm Orte.Als Nachmittags zur
festgesetzten Zeit Annemareili unter dem Thore sich einfand, wartete hier bereits der
Joseph seiner. Aber er war ganz allein und da das Mädchen einigermaßen verlegen nach
seiner Schwester und nach Vreneli fragte, so hieß es: erstre könne nicht mitkommen, ihre
Frau sei krank geworden, das Vreneli aber und sein Bruder seien schon versagt gewesen.
Nach Ueberwindung von einigem Widerstreben, wozu es jetzt doch nicht mehr die Zeit war,
und nach der wiederholt abgegebenen Versicherung, ja bald wieder umzukehren,giengen denn
die Beiden einzig weiter; Annemareili erst befangen, einsylbig, von Joseph entfernt und
hie und da nach den Leuten sich umschauend, die ihnen begegneten oder nachfolgten, mehr
als ein Mal auch das Nastuch vor den Mund haltend, als wolle es sein Gesicht,oder
wenigstens seine Verlegenheit, dahinter verbergen.Um so mittheilender und zuthunlicher war
dagegen der Joseph und nahm sich auch in seiner neuen hellblauen Jacke, dem
buntseidnen flatternden Halstuche und dem weißen Hütlein über'm Ohr, gar nicht übel aus;
soviel mußte selbst seine Begleiterin bei all ihrer Verlegenheit eingestehen. War nun dieß
die Ursache oder daß er so liebreich nach dem Unrecht, das Annemareili erst heute wieder
erlitten, sich erkundigte und sich's sehr zu Herzen nahm, oder aber wirkte der heitre
schöͤne Sonntag, der kein Wölklein am Himmel trug, so wohlthätig auf das arme Mädchen;
gleichviel, es thaute nach und nach auf und vergaß allmälig alle Bedenklichkeit und scheue
Zurückhaltung.
Schon lange war Annemareili nicht mehr spazieren gewesen, nicht mehr draussen durch Flur
und Feld gegangen zu seinem Vergnügen und nun noch gar an der Seite Dessen, den es
aufrichtig liebte. Noch nie waren ihm die Wiesen so lieblich grün erschienen, die fernen
Berge so mit einem eignen Dufte übergossen, so prächtig und zauberhaft der Wald, worin
sonst nur das dürre Reisig als Brennholz seine Theilnahme erweckt. Heute schien ihm ja
jedes Blümlein zuzulächeln und es mit besondrer Bedeutung anzublicken, nicht bloß als
Futter, das die Geißen gerne fressen. Alle Herrlichkeit und aller Reichthum der Welt,
daran es bisher vorbeigegangen, wie an verschlossnen Schätzen, rings lagen sie nun vor ihm
offen; was es sonst nicht beachtet, was ihm ganz gleichgiltig gewesen, heute fiel's ihm
auf, heute kam es ihm merkwürdig vor. Ganz anders, meinte es,scheine jetzt die
Sonne als in allen den zwanzig Jahren,die es schon auf der Welt gelebt: milder,
erquickender,duftender! Es nahm jetzt Theil an Allem wie an seinem Eigenthume, was ihm
sonst fremd gewesen, was höchstens nur seinen Neid erweckt; mit einem Worte: neue Sinne
schienen in dem Mädchen aufzuwachen, die es zu einem neuen Menschen umwandelten.
Vor diesem sonnigen, neuerstandnen Frühlingstage in und um Annemareili schwand nicht nur
immer mehr die steife Zurückhaltung und spröde Blödigkeit, sondern auch der ganze trübe,
freudlose Winter seines Dienstlebens und alles Dessen was daran hieng. Abgestreift lagen
Bitterkeit und Aerger, mit Sorgen und Mühen auf einem kleinen unscheinbaren Häuflein, weit
weit hinten, und zwischen diesem grauen Häuflein und dem Mädchen wogten jetzt die
Saatfelder, blühten und grünten die Matten, rauschten schattige Bäume und klangen die
süßen schmeichelnden Worte des Geliebten. An Annemareili war da keine Spur mehr von der
hart gehaltenen, gescholtnen und fremder Laune bloß gestellten,mißvergnügten Magd zu
finden, es lebte und webte ja allein in den seligen Gefühlen des zum ersten Male liebenden
Mädchens, dem eine neue herrliche Welt in das scheu sich oöffnende Herz eindringt. In
dieser Seligkeit schwelgte und verlor sich die Glückliche und wie sie sich darin vergaß,
so gedachte sie auch nicht der Zeit,nicht ihres Dienstes, der ja so gar nicht paßte zu
dieser Stimmung, zu dem Himmel, worin sie lebte.Aber Joseph selber, ohne es zu
wollen, erinnerte Annemareili daran und riß es aus seinen selbstvergessnen Liebesträumen.
Ueber eine einsame offne Anhöhe waren die Beiden durch ein lichtes Gehölz alter Eichen
gewandert, auf dessen hellgrünem Rasen die Schatten der Blätter und Zweige mit den
durchdringenden goldnen Sonnenstrahlen spielten und sie jagten, je nach der Laune des
lauen Windes, der bereits leise die Nähe des Abends anmeldete. Sie traten eben wieder in's
Freie und schritten über die Wiese den Hügel hinunter, dem Dorfe zu, das grade zu ihren
Füssen lag. Es sei Musik im Schlüssel und lustige Gesellschaft! sagte da Joseph und lud
seine Begleiterin ein zu einem Glase Wein und dann zu einem Tanze. Dieß weckte Annemareili
plötzlich auf, paßte doch weder der Wein noch die Trinkstube noch das Gedränge und Getöse
des Tanzsaales zu seiner Sticamung. Mit dem Erwachen aber trat ihm auch die ganze übrige
Wirklichkeit wieder vor Augen, sein Dienst und daß es zur rechten Zeit in der Stadt sein
müsse. Indeß war es doch nicht allein dieses bloße Pflichtgefühl, sondern eben mit jener
innre Widerwille gegen den Wirthshauslärm und die vielen Augen dort,und die Furcht vor der
Störung seines stillen Glückes,was das Mäͤdchen so entschieden und fast nöthlich auf's
Nachhausegehn dringen hieß. Dort auf dem Tanzboden gehörte ja sein Joseph ihm nicht mehr
ganz einzig an,und dort waren eine Menge fremder Menschen, vor welchen es sich verbergen
und verstellen mußte. Joseph jedoch schien diese Bedenken nicht zu theilen, ja
nicht einmal recht zu verstehen, denn er meinte wirklich, nur Aengstlichkeit und
Dienstrücksicht seien die Ursachen des Widerstrebens. Deßhalb auch suchte er Annemareili
dieselben auszureden: Wenn auch die Herrschaft schelte,daß es zu spät nach Hause komme,
das lasse sich ja leicht abschütteln, fressen könnten sie es doch nicht und in wenig Tagen
sei Johanne. Es wäre thöricht fich um eine Lust zu bringen, Dank werde ihm doch keiner
dafür; wer sich sechs Tage lang abschinde und halb todt ärgre, der dürfe sich am siebten
Tage wohl ein Vergnügen erlauben, dafür sei ja eben der Sonntag da.Es sei gerade Recht,
den Narren einmal einen Possen zu spielen, so erführen sie, daß man sie gleichfalls
cujonieren könne wenn man wolle!
Dieß Zureden Alles paßte eigentlich nicht auf Annemareilis Bedenken, aber es beschwor den
in der Tiefe ruhenden Groll herauf und wie mit einem Zauberschlage standen all die
erlittnen Unbilden grell vor des Mädchens Seele, zuvorderst die Mißhandlung am heutigen
Morgen. Ein süßes Rachegefühl überwältigte schnell die milden und liebevollen
Empfindungen, welche sein Wesen noch den Augenblick zuvor so ganz ausgefüllt und Hand in
Hand damit trat das Bestreben auf, dem Liebsten einen Gefallen zu thun und ein Opfer zu
bringen, sich und ihm zum Beweise wie ganz es ihn liebe.Was es denn sonst auf der Welt
habe? warf es selber die bittre Frage der Unruhe und der abmahnenden 95 Stimme
seines bessern Innern entgegen, das sich gleichwohl noch widersetzte und Annemareilis Herz
mit einem unerklärbaren Bangen erfüllte.
Unter diesem ungleichen und immer matter werdenden Kampfe der doppelten Versuchung mit
dem zum ängstlichen Gefühle zusammengeschrumpften Gewissen,hatte sich das Mädchen von
Joseph stets näher an das Dorf herannöthigen lassen. Die Schatten der Bäume fielen schon
länger über die Wiese hin, rundum war es stille, nur die grellen Geigenstriche, welche
wilde Tanzweisen spielten, drangen vom Wirthshause zu den Beiden herüber und sie sahen in
der Ferne an den offnen Fenstern des Saales mit rasender Eile die Paare vorüberwirbeln.
Josephs Begier schien sich daran noch ungestümer zu entzünden, während Annemareilis Kampf
dadurch mehr erschwert ward. Er drängte stärker, legte seinen Arm um das Mädchen und
blickte ihm mit heißen Blicken und doch so zärtlich in die Augen, dann neigte er sich
flüsternd zu seinem Ohre. Annemareili zitterte im Sturme der erregten Gefühle, heftig
klopfte ihm das Herz, es hielt sich fest am Geliebten und widerstrebte doch und fürchtete
sich vor ihm, und da er's noch heftiger in den Arm preßte, fuhr es erschrocken zusammen.Er
aber lachte hierüber halb, halb spottete er, daß es so einfältig thun könne! Wider den
eignen Willen folgte ihm das Mädchen Schritt um Schritt, das erste, das zweite Haus des
Dorfes lag schon hinter ihnen, immer schriller und näher erklang die lustige Musik. Da
verstummten auf dem Tanzboden die Geigen und, Pfeifen einen Augenblick, es
folgte eine Pause, lautlose Stille herrschte und auch das gefangne und geängstete arme
Annemareili athmete einen Augenblick freier auf. Mit einmal erhob sich ganz in der Nähe
eine laute Stimme.Das Mädchen stutzte, erschrak, ihm war als rief ihm seine eigne Mutter
selig, wenigstens hatte es diesen Klang schon ein Mal gehört vor langer langer Zeit, so
bekannt kam er ihm vor und es wußte sich doch nicht zu befinnen darauf. Unbeweglich mußte
es stehn bleiben,allem Drängen von außen und von innen zum Trutze,mußte lauschen, denn
diese Stimme übertönte alle andern Stimmen, die es noch erst betäubt hatten. Und doch war
es nur die zitternde Stimme eines alten Weibleins, das laut seinen Psalm zur Abendandacht
vor sich hinlas, gerade in dem niedern Stüblein vor defsen Fenster Joseph und Annemareili
in dem Augenblicke standen. Unwillkürlich hatte letztres hineingeblickt in das arme
Kämmerlein: an dem schweren braunen Tische saß eine alte Bauernfrau in dürftigem
Sonntagsstaate, den Rücken dem Fenster zugekehrt, vor sich aber ein dickes Buch offen.
Auch dieses Buch mit dem Messingbeschläge dran, der Tisch, jenes ärmliche, aus hundert
Lappen zusammengeflickte Bette, der hohe zerfallne Lehnstuhl, das Spinnrad dort am
Kunstherde, Alles dieß hatte ja Annemareili auch schon ein Mal gesehen.Gefesselt starrte
es vor sich hin und hieng der dunkeln verwischten Erinnerung nach, die nun so ganz nahe
und unmittelbar vor seinen Augen stand und wozu es doch den Schlüssel nicht
finden konnte. Da vernahm es die Worte:
„Meine Augen sehen stets zu dem Herrn, denn er „wird meinen Fuß aus dem Netz ziehen.
Wende dich zu „mir und sei mir gnädig, denn ich bin einsam und elend.„Die Angst meines
Herzens ist groß, führe mich aus „meinen Nöthen. Siehe an meinen Jammer und Elend „und
vergieb mir alle meine Sünde! Schlecht und „recht, das behüte mich, denn ich harre deiner!
“
Annemareili klangen diese Verse nicht anders als spräche sie eine Stimme in seinem eignen
Herzen. Das Weiblein aber wandte sich da auf ein Mal gegen das Fenster und wie ein
Blitzstrahl fuhr's durch des Mädchens Seele, denn plötzlich stand ihm wieder vor den
Augen, wie es einst bettelarm, todtmüde und von Krankheit gebrochen an dieser selben
Stelle, wo es jetzt sich fand, ohnmächtig auf den Spänhaufen niedergesunken,wie auch eben
jenes Weiblein es gewesen, das seiner sich erbarmt, in dieß Stüblein da es aufgenommen,
jenes Bette mit ihm getheilt, hinter jenem Spinnrade in dem hohen Lehnstuhle dort an
seinem Lager gewacht und das gleiche dicke Psalmenbuch vor sich aufgeschlagen gehabt,mit
der zitternden Stimme daraus gebetet und der Kranken und Verzagenden Trost zugesprochen.
Dieß Alles drängte sich jetzt in einen einzigen Augenblick und einen einzigen Gedanken
zusammen, der so gewaltig wirkte, daß der Zauber, worin das junge Herz gefangen
gelegen,jählings daran zerschellte. Es kam Annemareili nicht Dienen und Verdienen.anders vor, als es befände sich zum zweiten Mal in Lebensgefahr: seelenangst
ward ihm, die arme Wittwe aber stand da wieder als sein rettender Engel vor
ihm.Erschrocken raffte es sich auf, riß sich los von seinem Liebsten, seine zärtlichen wie
seine spöttischen Worte vernahm es nicht mehr, es rannte davon ohne Umsehn, der Stadt zu.
In einem raschen Gange eilte es nach Hause,sah unterwegs nichts und beachtete Niemanden,
an wie viel Leuten es auch vorbeistürmte. Mancher gemächlich heimkehrende Bürger hatte ihm
wohl nachgeblickt und behaglich gesagt: da pressierts! Oder ein Andrer: die muß noch das
Nachtessen kochen und hat sich verspätet!Aber von dem Allem hatte Annemareili nichts
gehört,nur die Geigentöne zuckten noch im Ohr und vor seinen Augen wirbelte und tanzte es,
bis es endlich erhitzt und athemlos am Thore anlangte. Hier erst mäßigte sich sein
Schritt, sammelte es sich wieder und athmete tief auf.Daheim ließ es sich von seiner
Herrschaft geduldig ausschelten ob seiner Verspätung und alle spitzen und unfreundlichen
Worte nahm es heute stillschweigend hin;das heimliche Gefühl der Sicherheit, wie dunkel es
auch sein mochte, ja das der Errettung, wußte es gleich nicht recht wovor? diese
verdrängten jede andre Empfindung.Der Joseph aber war seiner Liebsten nicht
nachgerannt,sondern erst verdrießlich und unwillig stehn geblieben,hatte etwas von
Narrheiten in den Bart gebrummt und von Gans, am Ende war er dann allein in den Schlüssel
hinauf gegangen.Am Dienstag Morgen traf Annemareili das Vreneli am Brunnen an,
als es Wasser holte. Dieses erzählte,wie's am Sonntag so lustig gewesen im Schlüssel zu
...*, wie närrisch sei da getanzt worden; es habe keinen (Tanz) versäumt, rühmte es, ein
Paar nagelneue Sohlen seien soviel als durch. Der Joseph sei auch dort gewesen und wie der
hab's Keiner getrieben; warum Annemareili nicht mit ihm hingekommen? Ob sie vielleicht
zusammen etwas gehabt? Denn als es jenen nach seinem abwesenden Schatze gefragt, hab' er
nur so leicht weg und mit Lachen geantwortet: Annemareili werde wahrscheinlich in's
Betstündlein müssen am Abend! Hingegen hab' er ärger als je, und daß es Allen aufgefallen,
der Lene wieder den Hof gemacht, die er doch sonst sitzen lassen und sie nachher auch nach
Hause begleitet;die Allerletzten seien die zwei fortgegangen. Er sei halt ein kurioser
Kauz, aber doch der lustigste Vogel und man könne ihm nicht gram sein, wenn man auch
wollte nicht.Erst vor einer Stunde, fuhr Vreneli fort, als keine Bemerkung Annemareilis
erfolgte, erst vor einer Stunde sei es auf dem Markte gewesen, habe noch Suppenhafengemüse
holen müssen und sei da der Lene begegnet. Der arme Narr lebe ganz wieder auf und bringe
den Mund nicht zusammen vor Freude; sie habe ihm gleich ein Halstuch gezeigt, welches ihr
der Joseph verehrt und das wenigstens vier alte Franken gekostet, es sei ganz Seide!
So plauderte VBreneli noch eine geraume Weile in den Tag hinein, Niemand gab ihm Antwort
als die 7*sprudelnde Brunnröhre, ja Niemand sogar hörte mehr auf seine Worte,
denn vor dem armen Annemareili giengen Brunnstock und Vreneli und Straßenpflaster, die
Häuser und die Menschen, Alles im Ring herum. Wie es da den Wasserzuber auf den Kopf
gehoben, wie es nach Hause, die Treppe hinauf nach der Küche und dann in sein Kämmerlein
gekommen, davon wußte es kein Wort und hätte keine Auskunft darüber geben können,wenn man
ihm das Messer an den Hals gesetzt hätte,nicht. In seinem Kämmerlein aber brach es
zusammen, fiel auf's Bette hin und raufte sich die Haare, schlug fich die Faust in's
Gesicht, schluchzte und rang die Hände,bis endlich ein Strom von Thränen hervorstürzte und
den wilden Kampf löste. O, wenn es nur sterben könnte!wimmerte es verzweiflungsvoll; war
es ihm doch so ganz darnach zu Muthe. Aber ein gesundes zwanzigjährig Mägdlein stirbt
nicht so leicht, wenigstens an der Krankheit nicht, woran Annemareili jetzt litt. Nachdem
es sich recht müde geweint und ihm leichter geworden, wie elend und unglücklich es sich
noch fühlen mochte, elender und unglücklicher als sonst ein Mensch auf Erden, da regte
sich doch gleich wieder in ihm auch jener Trieb, der gegen den Tod kämpft, der den
Lebenssatten, welcher sich in's Wasser stürzt, zwingt, die Arme zum Schwimmen zu
gebrauchen. Dieser Trieb hieß es, seine alte und beste Freundin, die Wärterin im Spitale,
wieder aufzusuchen, die es schon so lange nicht mehr besucht, sondern ganz vernachläßigt
in der letzten Zeit, die ihm seither wohl hie und da einmal in Gedanken
erschienen, die es aber nicht freundlich empfangen, sondern vor der es sich verläugnet,ja,
der es wohl gar den Rücken gekehrt hatte, als fürchte es ihre Warnung, ihre Mißbilligung.
Diese Scheu, die Furcht des bösen Gewissens, war nunmehr verschwunden,weggewaschen von den
bittern heißen Thränen, und das Mädchen fühlte sich jetzt gerade zu dieser treuen Freundin
hingezogen, bekam just eine Sehnsucht nach ihrem Zuspruch, ihren Ermahnungen, lag doch
hart hinter denselben, dieß wußte Annemareili, auch die warme Theilnahme, der freundliche
gute Rath und der mildernde Trost.
Und es täuschte sich darin nicht, sondern fand bei der Freundin den Halt und all die
Anleitung und Unterstützung, welche nach dem ersten Schmerzausbruche nöthig wurden um sich
wieder zurecht zu finden und nach allem Irrsale den richtigen Weg zu betreten und zu
verfolgen. Wohl stimmte Annemareili am Anfang nicht völlig in den Trost ein: es möge Gott
danken, daß die Versuchung so an ihm vorübergegangen und der Unwürdige noch zur rechten
Zeit sich in seiner wahren Gestalt gezeigt! empfand das arme Mädchen doch zu schmerzlich
nur was es eingesetzt und verloren.
Auf seinen neuen Dienst aber, in den es nun trat,war der Einfluß dieser Erschütterung und
innern Einkehr der beste: in aller Stille lebte Annemareili vor sich hin, mied alle
„Bekanntschaften“, zur Seltenheit nur machte es einen Spaziergang mit einer Freundin dahin
oder dorthin an einem Sonntagnachmittag, nie aber an Vergnügungsorte, wo es
laut hergieng. Um so häufiger und lieber dagegen besuchte es die Wärterin im Spitale,die
ihm wieder Alles geworden und noch mehr als sie nur jemals gewesen. Bei solch eingezogenem
und sittsamem Wesen ward Annemareili bald auch wieder gewissenhafter in seinem
eigentlichen Dienste, benahm sich nicht mehr als der verdrossne Miethling und wurde darum
selber wohl auch gelitten und gehalten und verblieb Jahre lang bei derselben Herrschaft.
Es hatte in der Folge freilich wieder gute und böse Dienste, ehrbar und treu aber war es
in jedem und nicht nur auf dem Papier, das sein Abschiedszeugniß enthielt.
Und allmälig und unversehens heilte so unter der kühlenden lindernden Hand der Zeit auch
die tiefe Wunde,die Annemareili für unheilbar gehalten: sein Unglück kam ihm selbst nicht
mehr so bitter und beklagenswerth vor, ja an den nackten Dornen schlug sogar hie und da
wieder das kräftige und frische Grün der Hoffnung und des Lebensmuthes aus. Wie
Annemareili sich zum zweiten Mal gerettet gefunden, so glaubte es jetzt auch mit stets
lebendigrer Ueberzeugung: so wie es gegangen, sei es gut gegangen und Alles besser
geworden, als es nur gedacht und es je verdient.Heuntes Capitel.
Annemareili spart. Ein Vetter erscheint am Horizonte.Als so nach längerm Auf- und
Niederwogen die Wellen in Annemareilis Herzen sich geglättet und ihre ruhige Fläche wieder
einnahmen zwischen den Klippen und Sandbänken der Leidenschaft und der Freudlosigkeit, da
war es allerdings nicht zu verkennen, daß das Mädchen im Ganzen doch ernster geworden
war.Der heitere leichte Sinn, der wohl in Leichtsinn ausgeartet und in das heftige Feuer
der Leidenschaft aufgelodert, der aber auch mit kindlicher Unbefangenheit und Frische die
Eindrücke der umgebenden Welt aufgefaßt und wieder zurückgestrahlt, dieser Sinn, jetzt
geläutert, aber auch gehärtet im Feuer der Erfahrung,richtete sich immer mehr und mit
Vorliebe auf das Währhafte und Tüchtige. Und zwar im innerlichen Leben wie im äußerlichen.
Mied Annemareili laute Lustbarkeit und gieng weit lieber der Sammlung nach als der
Zerstreuung, und einer ernsthaften Unterhaltung vor einer leichtfertigen, so zog es auch
äußerlich ein einfaches aber dauerhaftes Kleid dem Flitter- und Scheinstaate entschieden
vor und beneidete nie seine Genossinen, die es in Putz und Mode überholten.
Die natürliche Folge hiervon war, daß es weniger Ausgaben als Andre hatte, kleinre sowohl
als seltnere, weil ja die soliden Stoffe auch länger hielten. Dadurch aber, und bei der
geringen Neigung nach kostspieligen Vergnügen,sammelte sich in seiner Sparbüchse ein von
Halbjahr zu Halbjahr stets anwachsender Schatz. Die fleißige Magd erstaunte, als sie
zuerst, wie unversehens, diese Entdeckung machte; denn nicht sowohl um zu sparen und Geld
anzusammeln hatte sie weder dem Putze noch der Vergnügungssucht gefröhnt, sondern ganz nur
aus innrem Sinne, aus dem Ernste ihrer Lebensauffassung, wenn sie es auch nicht mit diesem
Namen nannte, was als Herzens- und Gewissensstimme aus der Tiefe in ihr sprach und
regierte.
Sieht eine arme Dienstmagd den mit Händearbeit sauer verdienten Lohn als Häuflein
selbsterworbnes Geld vor sich liegen, so ist ein erhebendes Gefühl nicht allein natürlich
und verzeihlich, sondern ganz gerechtfertigt. Auch für Annemareili war es die gesegnete
Ernte der Saat seines Fleißes und seiner Mäßigung und die innre Befriedigung der erfüllten
Pflicht schloß sich gerne an dieses gleichsam sichtbare Zeichen und Zeugniß.Der Schatz war
ihm lieb, denn wie viel nicht knüpfte fich daran, in Freud und Leid! Wer handkehrum durch
einen Wurf, ein Spiel, ein Wagniß Geld scheffelweise gewinnt, der hat freilich nur einen
ganz schlechten Begriff von dem Gefühl einer Magd über den sauer verdienten Thaler. Kalt sieht er den Haufen an, ob auch gierig,mit den Sinnen nur, aber nicht mit
dem Herzen, denn es lebt ihm ja nichts darin, der Schatz hat keine Geschichte, keine
Berechtigung, er ist halt nur gewonnen,nicht verdient, wenn man die beiden Worter schon
oft genug verwechselt. Und wie Annemareili sein Schatz lieb war, so trug es ferner den
Wunsch, und er mehrte und verstärkte sich, ihn zu wahren und zu vergrößern.Auch das ist
recht und löblich, denn auch in äußerlichen Gütern müssen Ernst und Ordnung walten und sie
sollen dem Herzen angelegen sein, sind doch auch sie anvertraute Pfunde. Um diese erlaubte
Liebe des Besitzes und Mehrens zeitlicher Schätze aber zieht sich eine feine scharfe
Linie, jenseits der die sündhafte und abgöttische Liebe sitzt mit lachendem lockendem
Angesicht,das Auge voll verführerischen Glanzes und den Mund voll Versprechungen. Diese
sucht das Herz über die Grenzlinie hinüberzulügen auf ihr heidnisches Gebiet,der Weg ist
ja so eben und glatt, nur der scharfe feine Strich dazwischen. Hat sie es geblendet
hinübergelockt,so reckt sie ihre Riesenarme aus und zieht es immer näher an sich, an ihre
versengenden Blicke, ihren giftigen Odem, ihre eisige Brust. Schwer entwindet sich der
Gefangne und findet wieder den Rückweg und seine Rettung.Ob auch Annemareili sich wird
blenden lassen oder ob seine Liebe zu seinem Schatze die Probe bestehen wird? Einstweilen
hütete es diesen noch gelassen: die Anfechtung tastete ihm noch nicht daran.
Als es den erhaltnen Halbjahrlohn dem frühern beilegte, das es in einer alten
Holzschachtel in der Tiefe des Kastenfußes wohl verwahrt hatte, da wog es wohl das
schwellende und schwerer gewordne Säcklein mit sichtlicher Zufriedenheit;indeß es langte
doch wieder ein großes Silberstück heraus und legte es bei Seite, damit auf die nahe
Weihnacht dem Vater und dem Stiefbruder eine freundliche Christbescherung zu kaufen und
heimzuschicken. Und als der Thaler so nebenaus auf dem Tische lag, da lächelte Annemareili
nur noch inniger und zufriedner denn zuvor,als der fröhliche Geber, den Gott lieb hat.
Das Christgeschenk war Vater und Bruder sehr willkommen gewesen; Annemareili erhielt von
dem kleinen Stiefbruder einen Brief voll Dankes und Lobes über die schöne Gabe; man habe
sie im ganzen Dorfe bewundert! Die Schwester müßte es doch gut haben und in der Stadt Geld
wie Steine verdienen! habe der Schneiderpeterli gesagt, der die Profession jetzt
aufstecken und eine Wirthschaft anfangen wolle; schrieb der Junge.Annemareili mußte über
den kindischen Brief und über des Schneiderpeterlis gute Meinung unwillkürlich
lächeln;doch ein wenig fühlte es sein Selbstgefühl dadurch doch gekitzelt und gedachte
seines geheimen Schatzes. Nicht lange nachher langte ein zweiter Brief aus der Heimat an;
die Frau reichte ihn Annemareili, als es eben vom Markte nach Hause zurück kam. Verwundert
besah es die fremde Handschrift und studierte das Schreiben darauf 107 allein in der
Küche. Die Suppe, die noch nicht gesalzen war, blieb nun auch ungesalzen, dafür brannte
aber das Gemüse etwas an und da es keine Aepfelschnitze waren, noch gelbe Rüben, denen ein
braunes Käpplein wohl ansteht, sondern Kohl, so schüttelte die Herrschaft über dieß
ungewöhnliche Ereigniß den Kopf,zwar nur stillschweigend, weil ja jedem Menschen einmal
etwas Menschliches begegnen könne. Als aber Nachts die Betten im Schlafzimmer nicht
aufgedeckt waren,am folgenden Mittag der Salat ohne Essig auf den Tisch kam, und
Annemareili, das Vergessne gut zu machen, den Oelkrug hinstellte, da schien der Frau doch
etwas nicht richtig zu sein, besonders da sie der Magd zwei und dreimal dasselbe
wiederholen mußte, was sonst nie der Fall gewesen. Abends nach dem Kaffetrinken,da
Annemareili, wie gewohnt, in der Stube die Tassen spühlte und eben eine noch nicht
gewaschne Tasse mit dem Abtrockentuch auswischte, begann denn, nach einem langen
forschenden Blicke in das zerstreute Gesicht des Mädchens, die Frau ihrem Erstaunen Luft
zu machen.
„Aber Annemareili“, sprach sie freundlich, „wo fehlt es dir denn auch? Du scheinst ja die
Gedanken ganz verloren zu haben?“
Und als Annemareili roth ward, aber schwieg, fuhr sie fort: „Hast du vielleicht ungute
Nachrichten von Hause erhalten? ich will nicht hoffen; aber seit dem Briefe, den du von
daheim bekommen, bist du wie verwandelt. Kann ich dir was rathen oder helfen, so weißt du wohl, du hast mich noch immer bereitwillig gefunden; aber nicht, daß
ich in ein Geheimniß dringen wollte, behüte!“
Annemareili stand mit seiner Frau auf gutem Fuße und in Manchem hätte es ihr schon
vertraut und ihren Rath begehrt, denn es spürte, obwohl sie Respekt verlangte, war sie
doch nicht hochmüthig, und obgleich sie die Herrschaft war, zeigte sie ihm stets ein
wohlwollendes und freundliches Herz. Dabei hatte sie ihren Beistand nie aufgedrängt,
sondern immer nur angeboten und dem Mädchen den freien Willen gelassen ihn anzunehmen oder
nicht, weil sie kein erzwungnes Vertrauen mochte.Annemareili erinnerte sich auch jetzt
manches guten und uneigennützigen Dienstes der verständigen und wohlwollenden Frau, und so
lockten denn die freundlichen einladenden Worte bei seiner Verlegenheit und Unruhe bald
das alte Vertrauen hervor, so daß es rückhaltlos Alles mittheilte:
Allerdings war der erhaltne Brief an der Umwandlung Schuld, der Brief aber kam von
Niemand Andrem als dem Schneiderpeterli, einem etwas entfernten Vetter Annemareilis, der
nun auf einmal den theilnehmenden und vorsorglichen Verwandten ihm gegenüber herauskehrte,
von seiner Liebe und seinem Wohlwollen für Annemareilis Mutter selig sprach, und wie er
diese Gesinnung von je auch auf die Tochter übergetragen und deßhalb über deren
gegenwärtiges Wohlergehen sich so sehr freue, als ob's sein eignes Kind beträfe. Nach
100 dieser gar schönen Einleitung, die für Annemareili ziemlich neu war, kam denn
noch die Nutzanwendung, die aber nicht sehr erbaulich klang, wie überzuckert sie aussah.
Der Schneiderpeter brauchte nämlich Geld für seine neu angefangne Wirthschaft, er hatte
zwar mehr als genug, aber nicht flüssig, es stand noch aus bei guten Freunden, denen er's
jetzt nicht wohl zurückverlangen konnte, ohne sie in Verlegenheit zu setzen, was er nicht
wollte. Da hatte er gedacht sich an das liebe Bäslein zu wenden, das sein Geld doch nur
todtliegen hatte, von fremden Leuten mochte er nichts wissen,Annemareili aber gehörte zur
Verwandtschaft, da würde es ihm nicht mißdeutet, er kenne sein gutes Herz. Zudem gönnte er
auch niemand so den Vortheil wie diesem, denn er begehrte es nicht umsonst, behüte! Vier
Procent Zins wollte er ihm zahlen, oder wenn es das lieber hätte, auch vier und ein
halbes: die Anlage sei so sicher als eine und wenn es das Geld zurückverlangte,jeden
Augenblick, es brauchte nur zu winken. Die nächste Woche am Freitag gedachte der
Schneiderpeter in die Stadt zu kommen, die Handschrift gleich mitzubringen und das Geld
dagegen mitzunehmen; er verließ sich darauf, da es ja ihnen beiden gleich dienlich
wäre.Unten am Briefe stand noch ein P. 8S: Annemareili sollte Niemand davon sprechen, der
Vetter fürchtete, Andre könnten es übel nehmen, daß er nicht bei ihnen angeklopft
hatte.
Dieses Alles enthielt der Brief, welchen Annemareili nach einigem Zögern
seiner Frau zu lesen gab und den ihm der Schneiderpeter geschickt, obwohl nicht selber
geschrieben, nach der saubern Handschrift und dem unleserlich darunter gekritzelten Namen
zu urtheilen. Stillschweigend faltete die Frau nach dem Lesen das Papier wieder zusammen
und sah das Mädchen an, dann fragte sie ruhig, was sie zu thun gedenke?
Aber das war es ja eben, was dem armen Annemareili die Gedanken genommen und es aus dem
ordentlichen Geleise gebracht hatte. Es sah wohl ein, daß sein Geld leicht wo besser und
sichrer koöͤnnte angelegt werden als bei dem Schneiderpeter, wie großmäulig der von seiner
neuen Wirthschaft reden mochte und von seinem Geldüberfluß, kannte es ja die Verhältnisse
des verkümmerten Männleins genau genug. Dann aber leider gehörte dieser doch zur
Verwandtschaft, ob er sich früher,da es als verwildertes Mädchen die Geißen gehütet und
von der Stiefmutter mißhandelt worden, gar wenig oder nichts seiner angenommen, sondern
erst jetzt Theilnahme zeigte, da es die nicht brauchte. Auf dem Lande gilt ein Vetter noch
mehr als in der Stadt und die Verwandten hängen fester zusammen; der Schneiderpeter
brauchte Geld und Annemareili hatte vorräthiges unbenützt im Kastenfuß liegen: auf das
Gesuch nur so kurz Nein sagen konnte es doch auch nicht, denn einen andern Grund, als den
des Mißtrauens, wußte es kaum anzugeben, dieses aber schickt sich am wenigsten einem
leiblichen Vetter gegenüber. Daneben hatte Annemareili 111 auch schon so etwas von
Anlagen und Zinsen gehört,und wie dadurch das ausgeliehne Geld sich ohne Mühe und Arbeit
mehre. Solches könnte es wohl brauchen,so gut wie Andre, aber es ahnte ihm auch, es werde
dabei auf allerlei noch ankommen, auf Sicherheit und Verfatz und die Art der
Verschreibung, kurz auf Dinge,von denen es nichts verstehe.
Die Frau hatte es ruhig seine Meinungen und Bedenken aussprechen lassen. „Ich verstehe
diese Dinge auch nicht“, sagte sie darauf, „es sind Geschäftssachen der Männer; auch den
Schneiderpeter kenne ich nicht,aber was er da von sich schreibt und wie von dir, das giebt
mir nicht die beste Meinung von ihm. Schon daß er sein Handwerk verläßt und eine
Wirthschaft anfängt ist kein gutes Zeichen. Dann schmeichelt er dir, während er etwas von
dir begehrt, das gefällt mir eben so wenig.Wie weit du ihm aber nun als Verwandten
verbunden bist, weiß ich nicht, allem nach zu schließen, standet ihr euch doch nie sehr
nahe, so daß du wohl auf deine Sicherheit sehen darfst bei dem Gelde, das du mit Arbeit
verdienen müssen: einmal wirst du noch froh über deine Ersparniß sein. Ob und wie aber
Sicherheit bei dem Vetter zu erhalten wäre, daß du ihm gefällig sein könntest,das weiß ich
nicht, da muß jemand rathen, der sich auf Derlei versteht; wenn es dir nicht unlieb ist,
so will ich mit dem Herrn deßhalb reden, als Kaufmann wird er's am besten wissen.“
Annemareili gedachte nicht, wie viele andre Mägde und Knechte und Arbeiter,
das Gegentheil von dem was ihm die Herrschaft rieth und für das Beste hielt, andre, die in
ihren Brotgebern ihre natürlichen Feinde zu sehen meinen, welche immer nur eigensüchtige
Zwecke verfolgen aber nie den Vortheil ihrer Dienstleute im Auge haben. Es hatte eben auch
das gute Gewissen,selber auf den Nutzen der Herrschaft zu sehen und somit auch den
Glauben, daß diese auf den seinigen achte,dermalen man niemand hinter einer Thüre sucht,
hinter der man nicht selbst schon gestanden. So hatte es denn ebensowenig dießmal weder
Bedenken noch Mißtrauen gegen die Worte der Frau; allein nun gleichfalls dem Herrn die
Sache mitzutheilen, das war doch etwas Andres.Es verkehrte ja überhaupt fast nie mit
diesem, und wenn es auch Respekt vor ihm hatte und kein Mißtrauen,eine gewisse Scheu hielt
es doch zurück, die eignen Anliegen ihm mitzutheilen: das werde ihm jedenfalls zu wenig
sein, um den Sparpfennig einer armen Magd sich zu bekümmern, und sich ernstlich des
Bischen Geldes in seiner Spindellade anzunehmen, er, der alle Tage die große eiserne Kasse
mit den sieben Schlössern auf und zuschloß und das Geld haufenweise ausgab und
einnahm.
Die Frau indeß meinte, diesen leise geäußerten Bedenken gegenüber, Annemareili solle sie
nur machen lassen, möge es ihr den Brief anvertrauen, so wolle sie schon mit dem Herrn
reden. Das Mädchen mußte nun wohl oder übel willfahren, im Stillen aber dachte es doch, es
wollte, es hätte nichts von der Sache 113 gesagt, es sei ja am Ende sein Geld und
andre Leute brauchten nichts dazu zu reden.
Mittags, als das Essen abgetragen, war, begann denn der Herr auch sogleich selber von der
XC heit zu sprechen, freundlich und einläßlich, dabei aber in seiner Meinung sehr
entschieden. Daß ihm das Anleihen des Schneiderpeters noch weniger einleuchtete als am
Morgen seiner Frau, ist leicht zu errathen: ihm zu willfahren wäre für Annemareili der
kürzeste Weg um seine Ersparniß zu kommen! behauptete er geradezu, denn von einem
ordentlichen Unterpfand sei ja keine Rede. Die runde und sichre Art, in der der Herr von
der Angelegenheit sprach, als von einem Geschäfte und nicht einer Herzenssache, machte auf
das Mädchen einen Eindruck und es konnte nichts dawider einwenden, aber sie hob ihm seine
Verlegenheit doch nicht so völlig.Die Scheu bezwingend und das Herz in beide Hände
nehmend, fragte es, was es aber dem Vetter sagen solle?es könne doch nicht vorwenden, daß
es das Geld nicht habe, und thue es das nicht, so lasse der ihm keine Ruhe bis er es
dennoch ihm abgeschwatzt.
Der Herr indeß meinte trocken: „Doch, daß du das Geld nicht habest, das gerade mußt du
ihm sagen!“
Und als Annemareili ob der zugemutheten Unwahrheit stutzig und verblüfft dreinsah, fuhr
er fort: „Ich will dich nicht zum Lügen verleiten; geh nach der Ersparnißkasse und lege
dort dein Geld ein. Damit fängst du zwei Fliegen auf einen Schlag: du stellst dein
ErDienen und Verdienen.3 spartes vor den Klauen des Vetters sicher und aller
andern Vettern der Art, und dann machst du es dir nutztragend.“
Annemareili hatte zwar schon von der Ersparnißkasse gehört, aber es war ihm nie
eingefallen, daß diese auch ihm zu gute kommen könnte. Da seine Vorstellung davon etwas
dunkel und unklar war, so hatte es auch einiges Vorurtheil dagegen, ein Mißtrauen eher als
ein Zutrauen, obwohl es nicht recht wußte warum; vielleicht dur weil es eine Kasse und
keine Person war, und sich von ihr nichts Andres vorstellen konnte, als daß sie schwarz
sei und von Eisen und mit verschiednen Schlössern und Riegeln versehen sei. Vor den
Fingern des Schneiderpeters sicherte nun eine solche Kasse das Geld schon, das begriff
Annemareili, aber sie sah ihm auch so darnach aus, als wenn es selber dann ebenfalls nicht
mehr recht Herr über seine Sache sein würde. Es sagte darum auch, daß es nicht wisse, wann
es selher etwas von dem Gelde brauchen werde und da könne es schwerlich nur so schnell
abkünden. „Warum nicht ?“fragte sein Herr; „jeden Augenblick kannst du holen von dem
deinen, so viel du brauchst, ohne Abkündung,für dich und wenn du's begehrst, wie du auch
jeden Augenblick dazu legen kannst, selbst die kleinste Ersparniß,ein Franken, wird
angenommen und Rechnung darüber geführt, und er trägt alsbald ebenfalls Zins, abgesehen
davon, daß viele kleine Beiträge einen großen ausmachen.“R noch nicht
bekehrt: Das sei wohl schön, aber Solches gebe Schreibereien und Verrechnungen, auf die es
sich nicht verstehe und werde immer mit Unkosten verbunden sein.
„Darum brauchst du dich nicht zu kümmern,“ erwiederte hierauf der Herr, „laß du getrost
die dafür sorgen, welche das verstehen und einmal sich der Sache angenommen. Viele
Hunderttausende kleiner und großer Ersparnisse sind so eingelegt und viele Hunderttausende
schon wieder daraus gezogen worden, Tag für Tag, das ist das Geschäft. Sachkundige Männer
besorgen es und sorgen für die gehörige Sicherheit der Anlagen nicht nur,sondern auch
drüber hinaus, daß nichts kann verloren gehen. Unkosten aber macht dir Alles das gar
keine.“
Das Mädchen wußte nicht mehr viel zu entgegnen,nur schüttelte es etwas ungläubig den
Kopf: umsonst werde man es doch wohl auch nicht thun, es will Jeder für seine Mühe belohnt
sein und besonders Leute die einen nichts angehen!
Da sah es aber der Herr groß und ernst an, daß es fast erschrak. „Wenn du in der Kirche
dein Almosen giebst, was bekommst du dafür?“ fragte er ruhig,
„und letzthin, als ich dich antraf, wie du der alten Holzhackersfran den schweren Korb,
darunter sie fast zusammensank, vom Markte nach Hause trugst, was gab fie dir dafür? sie
gieng dich ja auch nichts an!“
Annemareili ward roth: so was sei nichts als Nächstenpflicht! sagte es endlich. 116
„Gut! Annemareili, die haben Andre eben auch, nicht nur du allein. Wenn man einem braven
Knecht, oder einer fleissigen Magd, zu einem Nothpfennig behülflich ist und ihre
Ersparnisse mehrt und schützt vor Blutsaugern und Betrügern, oder vor ihrem eignen
Leichtsinn,wenn man ihnen an die Hand geht, in der Zeit der Noth sich selber mit Ehren zu
helfen oder zu einer Unterstützung im Alter, so ist das auch nichts als Nächstenpflicht
und Nächstenliebe und die Bezahlung dafür keine andre als der Gotteslohn. Diesen sucht das
Eine so, das Andre so sich zu verdienen, ein jedes nach seinem Vermögen.“
Annemareili schwieg beschämt und sein Herr drang auch nicht ferner in es, sondern ließ
ihm freien Willen,demRathe zu folgen oder nicht. Den andern Morgen aber,als es auf den
Markt gehen sollte, das benöthigte Gemüse einzukaufen, hatte es sein Geldschächtelchen in
der Hand und fragte die Frau, wie es das nun anstellen und was sagen müsse, wenn es sein
Geld in die Ersparnißkasse einlegen wolle? es verstehe das nicht. „So viel ich weiß wird
das einfach sein,“ entgegnete die Frau, „du kannst deutsch und die Herren dort auch; da
sagst du denn, du habest da dein Geld und wollest es einlegen, sie möchten dir ein
Sparnißkassenbüchlein geben.Das bekommst du gleich und vorn drin steht dein Name und was
du hinträgst, wird sofort drein eingeschrieben und von dem bezeichneten Datum an trägt es
dir Zins.Bringst du nachher Neues nach, fünf Franken oder ein Franken, so werden die
jedesmal dazu geschrieben in das 117 mitgebrachte Büchlein und am End vom Jahre ein
Strich drunter gemacht, die Einlagen zusammengezählt und der Zins dazu geschlagen.“
Mit einigem Herzklopfen und auch einiger Scheu,seinen heimlich ersparten und im Dunkel
des Kastenfußes bisher verwahrten Schatz an's Licht zu tragen und vor die Augen fremder
Menschen, legte Annemareili nun in der That sein Geld in der Sparkasse nieder und war sehr
verwundert, als ein angesehner Herr, der bei seiner Herrschaft öfter aus und eingieng,
sich sogleich freundlich zu ihm wandte, da es verlegen an der Thür stehen blieb und
wartete, es nach seinem Begehren fragte, ihm bereitwillig das Büchlein ausfertigte,das
Geld abnahm und eintrug, Alles, als wenn er ganz eigens nur auf das Annemareili gewartet
hätte.Ueber Verhoffen gut lief Alles ab und das Mãdchen gieng mit ganz eignem Gefühle,
sein Büchlein in Händen, das erste Mal von der Sparkasse nach Hause.Nun hatte es Geld gar
an Zins, es, die ehmalige Geißenhüterin, das nicht einmal das zerfetzte Röcklein, das es
allein trug, sein nennen konnte, geschweige etwas Andres, es, das alle Welt nur verachtet
und als das Geringste geschätzt. Es war frohen und hohen Muthes,aber aus Demuth, nicht aus
Hochmuth, indem es fühlte,wie auch ein kleiner Besitz doch ein mächtiger Halt sei,ein
Anker gegen die Brandung des Lebens und seiner Stürme, der Zufälle, bei hellem Himmel aber
und günftigem Winde ein förderndes Segel. Mit seiner Ersparniß 118 kasseneinlage, dem
greifbaren Lohne seines Fleißes und Wohlverhaltens, stand es nun in der Mitte der
menschlichen Gesellschaft, gleichsam im großen Verkehr der Welt und nicht mehr so allein
und nebenaus, lieh es doch Geld und zog dafür Gewinn. Fröhlich, und mit dem Vorsatz nun
erst recht haushälterisch und sparsam zu sein, um bald eine Zulage hintragen zu können,
eilte es nach Hause und versah seinen Dienst nur um so pünktlicher und auch
freudiger.Zehntes Capitel.
Der Vetter ist auf die Sparkassen nicht gut zu sprechen. Eine alte Bekanntschaft erneuert
sich.Nach ein paar Tagen stellte sich zwar freilich der Schneiderpeter ein, vor dessen
Erscheinen es Annemareili immer heimlich gebangt. Er wollte mit dem Bäschen, als er die
Frau in der Nähe merkte, „wegen Familienangelegenheiten“ unter vier Augen sprechen und
fragte es dann, freundlich wie der liebe Tag: es werde seinen Brief erhalten haben und er
komme nun, das Geld zu holen und ihm anzulegen, wie er versprochen;niemand gönnte er es so
wie ihm! Die glatte Freundlichkeit wurde zwar bald etwas holpriger, als das liebe Bäschen
dem Vetter, mit einiger Verlegenheit, aber doch leichten und heimlich frohen Herzens,
mittheilte, es habe kein Geld in Händen, sondern dieses sei bereits angelegt; es thue ihm
leid! fügte es nicht gar aufrichtig hinzu.Als der Schneiderpeter nun auf seine Nachfrage
erfuhr,wo das Geld liege, ward er fast ungehalten. Er hab's doch gedacht! Die
Donnerskassen kämen jetzt überall auf und saugten den Schweiß der armen Leute ein, sie
seien hungriger als Kirchenmäuse, die Herren hätten
überall die Finger drin, sie wüßten aber wohl warum!Das schade indeß nichts, fuhr er,
sich besänftigend, fort,man konne künden, jeden Tag, und er garantiere dem Bäschen einen
größern Zins als die Kasse, weil er keinen Profit an ihm machen wolle, er würde sich
schämen.Vier und ein Halbes vom Hundert zahle er, und wenn's sein müßte auch fünf; es
komme ihm nicht drauf an,selbst wenn er dabei Schaden hätte, nur der Kasse zum Trutz, die
Alles fressen wolle! Solches aber begehrte Annemareili durchaus nicht, es wollte niemand
in Nachtheil bringen, zu dem hab' es ihm die Herrschaft gerathen und besorgt, es selber
verstehe ja dergleichen nicht. Und als der Schneiderpeter nun noch zudringlicher wurde,
und behauptete, er aber verstünde es, und er rathe es ihm aus purer Wohlmeinenheit, da
wußte sich das Mädchen nicht anders mehr zu helfen als durch den etwas boshaften Rath: he
nun, so möge er mit der Herrschaft darüber reden. Dazu schien aber der menschenfreundliche
Vetter nicht sehr geneigt zu sein, er wurde vielmehr krebsroth vor Zorn und fieng an über
die Herrschaften im Allgemeinen und im Besondern zu schimpfen, daß es Annemareili schwarz
vor den Augen wurde. Mit dem hochmüthigen Stadtpacke wolle er nichts zu schaffen haben, er
kenne die Aristokraten, die nur für ihren Geldsack ein Herz hätten und alle andern
Menschen unterdrücken möchten. Das Bäsbchen solle doch nur nicht so dumm sein und auf
deren Rath hören,im Gegentheil, gerade das Entgegengesetzte thun, was sie ihm
angäben!
Dem Bädchen aber schien es, es kenne seine Herrschaft doch besser als der Herr Vetter und
das sagte es ihm auch in ehrlichem Unwillen rund heraus und wie es schon hundertmal
erfahren, daß sie es wohl mit ihm meine, von der Unterdrückung aber Besondres noch nichts
wahrgenommen habe.
Dieß war jedoch nur Oel in's Feuer. Der Schneiderpeter, dem das Geld Annemareilis immer
weiter wegzurücken schien, fieng nun an über das Mädchen selber herzufahren. Er schalt nun
auf einmal über Undank und wie er es daheim schon darstellen werde mit seinem Hochmuth und
seiner Verachtung der Verwandtschaft;es sei schnell eine vornehme Stadtmamsell geworden
kurz, es wäre noch ein viel weitläufigeres Schimpfregister gezogen worden, wenn nicht
gerade zur rechten Zeit die Frau in die Küche gekommen, welcher der Besuch des Vetters
etwas lange zu dauern schien, und die Annemareili aus der Verlegenheit errettete und dem
zärtlichen Schneiderpeter die Trennung erleichterte. Denn Angesichts der Frau vom' Hause
ließ er den Rest seiner verwandtschaftlichen Wohlmeinenheit unansgevackt und drückte sich
ziemlich kurz hinweg, etwas von Gemeinderath und Vogt vor sich hinbrummend.
So war und blieb Annemareili vor dem Schneiderpeter und seinem Freundschaftsanleihen
glücklich gerettet und es erkannte nun erst aus dem ganzen Benehmen des
Vetters, wie gut ihm die Ersparnißkasse zu Statten gekommen und wie klug und wohlmeinend
der Rath seiner Herrschaft gewesen. Noch klarer aber wurde ihm dieß, als nach nicht zu
langer Zeit der Schneiderpeter gerichtlich ausgekündet wurde, trotz seiner einträglichen
Wirthschaft und seinen ausstehenden Geldern. Die Handwerker, welche ihm gebaut, legten
Beschlag auf sein Haus und wer ihm sonst noch geliehen, kriegte wenig mehr als das
Nachsehen.
Den Gang nach der Ersparnißkasse aber wiederholte Annemareili in der Folge von Zeit zu
Zeit, regelmäßig je an den Tagen nach der halbjährlichen Halbjahrverrechnung; indeß auch
zwischenein nicht selten, denn da und dort erhielt es von Gästen des Hauses, oder als Meß-
und Neujahrgeschenke und bei andern besondern Anläßen, von der Herrschaft kleinre
Geldbeträge. Das Meiste hievon, das heißt Alles was es nicht für sein nothwendiges
Bedürfniß, oder etwa einmal zu einem Geschenke an die Seinen auf dem Dorfe, brauchte, das
wanderte als neue Anlage den bekannten Weg, der dem Mädchen nun nicht mehr fremd und sauer
vorkam. Im Uebrigen verfloß das Leben der fleissigen und eingezognen Magd sehr regelmäßig
und einfach, eine Woche wie die andre und ein Monat wie der andre. Sie fühlte sich dabei
nicht unglücklich, viel weniger sogar als früher,wo sie gemeint, es müsse von Zeit zu
Zeit, und zwar in immer kürzern Zwischenräumen, etwas Besondres, Neues oder Lustiges,
wenigstens Andres, geben,sonst sei es auch gar zu eintönig und langweilig im
Leben.
Annemareili hatte sich auch wieder einmal nach einem Lohntage an der Ersparnißkasse mit
dem grösten Theil seines Erwerbes eingefunden, und da gerade, wie es an solchen Tagen der
Fall ist, sehr viel Einleger schon da waren, es aber an solchen Sparkassen auch wie in
Paris geht: Eins nach dem Andern! so setzte sich das Mädchen einstweilen auf's
Wartebänkchen und blätterte zum Zeitvertreib in seinem Einlagebüchlein. Es achtete nicht
darauf, wer neben oder hinter ihm stand und etwa auch noch in das Büchlein gucken
konnte.
„Mit Verlaub, Jungfer, es scheint wir seien Landsleuten, redete da plötzlich eine fremde
Mannsstimme ganz aus der Nähe das Annemareili an. Es schaute erstaunt auf: ein kräftiger,
wohlaussehender Mann mit starkem schwarzen Bart, einfach aber gut und reinlich
gekleidet,sah es halb forschend, halb lächelnd an. Er war ihm schon früher aufgefallen:
als es an der Kasse sein Büchlein vorgewiesen, war der Mann ebenfalls in seiner Nähe
gestanden und hatte es seitdem öfter angesehen und im Auge behalten, bis er jetzt das Wort
an es gerichtet: „Ich bin auch von Schwellbach; Ihr kennt wohl den Schmidt-Rudi nicht
mehr!“ fuhr er fort,da er keine Antwort erhielt. „Als Kinder haben wir uns wohl gekannt
und zusammen gespielt, noch mehr aber gelegentlich uns gebalgt, besonders wegen des
Krämers Heinrich, den Ihr in Schutz nahmt. Es scheint wir haben uns seit der
Zeit beide verändert, daß Ihr mich nicht wieder kennt“, fügte er bei, indem sein Blick auf
Annemareilis reinlichem und angenehmem Aeußern mit Behagen ruhte.
„Wie? Ihr wäret der Schmidtrudi?“ frug Annemareili verwundert und sah nun allerdings auch
ihn schärfer und prüfend an.
„Derselbe der manch übles blutiges Mal im Gesicht von Euch heimtrug und manches Büschel
Haar in Euren Händen gelassen!“ lachte der Mann, „wenn wir als zwei gleich harte Steine
etwa unsanft uns zu reiben kamen.“
Immer mehr und immer lebhaftere Zugenderinnerungen tauchten in den Beiden auf und die
trennenden Jahre verschwanden zwischen ihnen, bis zur schmalen Brücke, die sie leicht
überschritten. Nichts aber führt schneller zusammen als diese Vergegenwärtigung und
Auffrischung gemeinsam verlebter Ereignisse, aus der Kinderzeit vor Allem. Und so war auch
rasch ein gegenseitiges Vertrauen, eine nähere neue Bekanntschaft aus der alten
unterbrochnen entstanden, nur noch verstärkt durch die, wenigstens äußerlich gleichartige,
Umgestaltung der beidseitigen Lebensverhältnisse. Der wilde Bube und das verwahrloste
Mädchen begrüßten sich nun nur um so wärmer als braver Knecht und ehrbare fleissige Magd
an der Ersparnißkasse, in welcher sie die Frucht ihrer Tüchtigkeit, den entbehrlichen
Theil des Verdienstes,zugleich niederlegten.Der ehemalige Schmidtrudi, oder
Rudolf, wie er jetzt kurzweg genannt wurde, und Annemareili verließen gemeinsam die
Sparkasse und wenn letztres dießmal etwas später nach Hause kam, war vielleicht nicht
allein der große Zudrang im Gebäude der Anstalt Schuld daran,wie seine Brotherrschaft in
ihrer guten Meinung von ihm stillschweigend annahm. Und als die Zwei sich endlich
trennten, mit dem sichtlichen Wunsche sich bald wieder zu begegnen, da dachte noch lange
Eines über das veränderte Schicksal des Andern nach, sowie über die eigne Umwandlung und
die langsam aber gewaltig wirkende Macht der Zeit und der Verhältnisse.Elltes
Cuapitel.
Geschichte des Schmidtrudi.Der Schmidtrudi war in die Stadt gekommen als sein Vater starb
und die Schmidte, der vielen Kinder und der darauf stehenden Schuld halber, verkauft
werden mußte. Er mochte nicht auf dem Lande bleiben und am allerwenigsten in dem Dorfe,
denn einerseits sagte ihm das Bauernleben nicht zu, anderseits sträubte sich sein Stolz
dagegen, als Knecht oder Geselle da zu dienen,wo er als Sohn eines Handwerkers und eines
im Grunde geachteten Mannes bisher seine Zeit verbracht. Lieber nach der Stadt gehen!
dachte er; dort kenne ihn niemand und habe schon mancher arme Bursche sein Glück
gemacht.Rudolf, das älteste der Geschwister, war ein kräftiger und flinker Bursche, dem
man's ansah daß er was leisten könne und auch keineswegs auf den Kopf gefallen sei.Leicht
fand er darum einen Dienst und was ihm da als Knecht aufgetragen wurde, ward ihm ebenfalls
leicht,fast nur zu leicht, denn da er keiner Anstrengung bedurfte, ward er übermüthig und
ließ es am rechten Ernste fehlen. Das Leben in der Stadt, der verhältnißmäßig
ordentliche Lohn und das Beispiel Andrer unterstützten seinen ursprünglichen Hang zur
Sorglosigkeit und zu ungebundnem Leben. Versäumte er damit einmal auch etwas, er hatte es
ja bald wieder eingeholt und wenn er's lustig haben könne, warum sollte er sich's schwer
oder eintönig machen? fragte er.
So wendete er seine Kräfte und seinen guten Kopf oft und immer lieber zu Dingen an, die
mit dem Arbeiten nicht viel gemein hatten, ja die diesem feindlich waren, indem sie die
Zeit und Lust dazu benahmen.„Man lebt nur einmal!“ war seine Entschuldigung, wenn der oder
jener Uebelstand aus seinem Leichtsinne sich ihm fühlbar machte. „Man lebt nur einmal,“
sagte er auch,obwohl etwas kleinlauter wie bisher, als ihm nach wiederholter Warnung sein
Meister den Dienst kündete und er sich, nicht gerade mit dem besten Zeugnisse
versehen,nach einer neuen Anstellung umsehen mußte. Herren giebt es beinahe soviele als
Knechte, auch der Rudolf fand einen Zweiten, obwohl er gestehen mußte, nicht gerade den
besten Tausch gemacht zu haben: der Lohn war etwas geringer, die Arbeit schwerer und
rauher.Trotz dem faßte er den Entschluß, und zwar ganz aufrichtig, sich in dem neuen
Dienste besser zusammen zu nehmen und weniger leichtsinnig zu sein, damit er nicht noch
mehr zurückkomme; denn soviel Einsicht und Ehrlichkeit besaß er, um den rechten Weg vom
falschen zu unterscheiden.In der That gieng es nun eine Weile auch ganz
ordentlich: die Neubesenzeit legte er zu völliger Zufriedenheit zurück und auch als er
einmal zu straucheln anfieng, raffte er sich bald wieder zusammen, vierzehn volle Tage
lang. Von da an aber war es ihm doch fast unmöglich im neuen Geleise zu bleiben, das alte,
tiefgefahrne kreuzte es alle Augenblicke. Womit sollte er auch die Abende ausfüllen, an
denen er keine Beschäftigung hatte? Zu Hause bleiben, das war zu langweilig,zudem wäre
nirgend ein Plätzlein für ihn gewesen, außer in seiner niedrigen finstren Dachkammer, wo
er nur die benachbarten Kamine sah und sich kaum zu rühren vermochte. Nach der Arbeit aber
hat jeder Mensch gern seine Erholung. Rudolf suchte sie auswärts, da er sie zu Hause nicht
fand. Auswärts, und wo war das anders möglich als im Wirthshaus: dort bot sich auch
Gesellschaft und Unterhaltung. Freilich nicht auf trocknem Wege, aber einen Schoppen darf
man sich ja auch gönnen, neben dem Weine, welchen der Herr verabfolgt!meinte der Knecht,
und wenn nicht aus Bedürfniß, doch des Vergnügens halber und wie gesagt, weil er zum
Wirthshaus einmal gehörte. Die Unterhaltung war hier öfter eine ganz vortreffliche, bei
der Rudolf Alles vergaß, seinen Schoppen in Gedanken gleichsam trank und auf einmal, noch
frühe oder doch mitten in der besten Unterhaltung, ein leeres Glas vor sich sah. Ein
zweiter Schoppen zeigte sich in diesen Fällen nicht allein am Platze, sondern war
dringendes Bedürfniß, vornehmlich wenn in dem Discurse Rudolf eine erste
Rolle übernommen, was allmälig immer häufiger geschah. Es gieng selbst bei Gelegenheit
über den zweiten Schoppen und über die erlaubte Ausbleibezeit hinaus und die Folge war
nicht nur der Casse Rudolfs nachtheilig, sondern auch seiner Stimmung, bald auch seiner
Stellung, in Betracht der Vorwürfe und des Verdrusses, welche er sich damit bei seinem
Herrn zuzog. Der Gescholtene hatte zwar gerade bei diesen wichtigen Anlässen im
Wirthshause gelernt seine Rechte zu vertheidigen, hatten sich doch die Verhandlungen
häufig genug um die Ansprüche der Dienenden und die Pflichten der Herrschaften gegen diese
gedreht. Das Selbstgefühl trat hier keineswegs gegen die Bescheidenheit zurück, die
Ungleichheit der verschiedenen Stände wurde als schreiende Ungerechtigkeit erkannt und
dabei die Mittel und Wege erörtert, wie da das Versehen der Vorsehung möglichst gut zu
machen sei,durch gesinnungstüchtige Selbständigkeit und Wahrung der Menschenrechte vor
Allem, begleitet von gelegentlicher Grobheit. Es ist natürlich, daß, je mehr Fortschritte
Rudolf in dieser Schule machte, es um so schlimmer mit seinem Dienstverhältnisse wieder
ward, kann sich doch sogar ein Professor nicht in allen Fãchern zugleich auszeichnen! Als
weitre Folge hievon aber ergab sich, daß Rudolf mitten in einer Auseinandersetzung mit
seinem Herrn über ihre beidseitigen Rechte und Pflichten,von diesem kurzweg den Abschied
erhielt, was von seinem Dienen und Verdienen.
3 Standpunkte wohl schreiendes Unrecht, daneben aber auch eine große
Unbequemlichkeit war.
Mit einem zweiten ziemlich kühlen Zeugnisse versehen,blieb ihm nichts übrig, als wieder
einen neuen Zwingherrn zu suchen, sonach seinen dritten Dienst.Rudolf suchte und suchte,
es wollte sich nichts ihm Entsprechendes finden lassen. Eine Weile schon war er 0 das ihm
bei der Abrechnung noch zugekommen (denn er hatte ziemlich oft und viel davon
vorausbezogen), gieng bei diesem Brachliegen noch vollends drauf. Es kam Noth an Mann,die
Zeit des Dienstwechsels war schon vorüber, es stand wenig Gutes mehr zu erwarten,
jedenfalls war die Wahl keine große mehr. Plötzlich zeigte sich da Etwas: der alte
Steinmann hatte seinen Knecht verloren, unerwartet durch Tod, dessen Platz war frei. Der
alte Steinmann zwar, der im Großen mit Colonialwaaren handelte und auch daneben einen
Kramladen hielt, war als ein schrecklicher Aristokrat und Tyrann verschrieen,und von dem
verstorbnen Anton hatte es Niemand begreifen können, daß der fünfzehn Jahre bei ihm
ausgehalten. Rudolf sträubte sich darum lange, ehe er sich entschloß, bei dem Alten
anzuklopfen, aber als ihm das Wasser der Noth täglich höher und höher an den Mund stieg,
mußte er sich doch zu dem Schritte entschließen.Er tröstete sich erst: Dem wolle er's
schon sagen was Recht sei! nachher: am Ende sei man ja nicht verhei rathet
und wenn's fehle, so sei's doch inzwischen ein Unterkommen gewesen!Herr Steinmann war
allerdings ein eigener Kauz,wie sie nicht mehr Dutzendweise umherlaufen. Er kümmerte sich
nicht viel um die Leute und um das was Mode oder neuer Brauch verlangten. Von allgemeinen
Grundsätzen und Theorien und Systemen wollte er nichts wissen, dafür hatte er seinen sehr
entschiednen Willen und traf's mit dem Blicke seiner scharfen hellgrauen Augen auch ohne
System meist ziemlich richtig. Kurz und rauh, im Aeussern von stattlicher Gestalt, flößte
er mehr Respekt und Scheu ein, als daß er eben anzog,wenn schon in den markigen Zügen
etwas verborgen lag, das eher einnahm als abstieß.
Als Rudolf zu dem Alten in das Ladenstübchen trat, sich für den erledigten Dienst zu
melden, hatte er beinahe ein Gefühl, wie wenn er in eine Drachenhöhle trete. Herr
Steinmann war gerade am Rechnen und als da Rudolf fein Anliegen vorbringen wollte, tönte
ihm gleich, ohne daß der Alte ihn nur ansah, ein trocknes, im tiefften Basse gesprochnes
„Geduld!“ entgegen,welches dem Eintretenden fast wie ein Prophetenwort in die Ohren und
das Herz klang.
Rudolf hatte sonst einen ziemlich kecken Blick, von Hause aus schon und durch das Gefühl
seiner Menschenwürde noch verstärkt, dem alten Krämer (wie er ihn nannte) hielt er aber
gleichwohl nicht lange Stand.Ja, wie dieser bei dem Examen ihn so recht auf's Korn 9*nahm, verwirrte er sich beinahe, wie sehr auch das Unabhängigkeitsgefühl sich
sträuben mochte und den Prüfenden als Zopf, als Filz und Tyrannen recht tief
herabzudrücken bemüht war. Auf die Frage des Kaufmanns nach den Dienstzeugnissen, reichte
ihm Rudolf diese zwar mit ziemlicher Entschiedenheit dar. Als der Alte nun aber noch die
Brille aufsetzte, auf seine ohnedieß scharfen Augen, hielt der Muth wieder nicht Stich und
verflog von Augenblick zu Augenblick immer vollständiger, schien jener die, sonst ziemlich
kurzen, Schriftstücke doch gar zu buchstabieren. Endlich sagte Steinmann trocken, indem er
das Papier dem Besitzer zurückreichte: „Ich gebe sonst nicht viel auf gute Zeugnisse, die
aber sind nicht einmal gut.“ Was wollte er damit sagen? Rudolf wußte es nicht, er konnte
darum auch nicht auf seine frühren Herrschaften schimpfen, wie er es zuerst im Sinne
hatte.Dann war von den Bedingungen, dem Dienste und der Hausordnung die Rede. Es gab da
wieder nichts zu markten, oder sich vorzubehalten, denn die zehn Gebote in ihren
Steintafeln waren nicht bestimmter und unabänderlicher gegeben, als was der alte Kaufherr
als seine Ordnung und seinen Willen kundgab. Und doch waren nach Rudolfs innerster
Ueberzeugung unwürdige und erniedrigende Bedingungen darunter. Der Knecht durfte z. B.
außer und zwischen den festgestellten monatlichen Lohntagen nie einen Batzen auf Abschlag
verlangen,wenn schon er ihn bereits verdient. Abends sollte er ferner zu Hause bleiben,
das Ladenstübchen sei gewärmt,da könne er Caffe erlesen oder Tüten kleben,
die ihm extra bezahlt würden, oder aber für sich etwas lesen und schreiben bis um halb
Neune, wo es Zeit sei zu Bette zu gehen, damit man am Morgen wieder früh genug möge
aufstehen. Wünsche er aber einmal Abends ausnahmsweise ausser Haus zu gehen, so müsste
gefragt werden; daß es zu oft geschehe, könne nicht sein. Die Aufkündung auf vier Wochen
finde gegenseitig nach Belieben statt, nur müsse Rudolf seines Theils dieselbe nach den
ersten acht Tagen wiederholen, in dieser Zwischenzeit könne man sich besinnen, wenn ein
übereiltes Wort gesprochen worden, was bei jungen Burschen etwa vorkomme.
Solches und noch Weitres mußte Rudolf sich gefallen lassen, denn wie tyrannisch auch und
entehrend er es fand, die Verlegenheit war zu nöthigend, daneben die Löhnung eine
anständige, so daß er knirschend einwilligte,DEr schwieg und hatte nicht einmal Lust, von
seinen Menschenrechten diesem Manne gegenüber zu reden;fühlte er doch, es wäre da jedes
Wort nur Verschwendung; der Sinn dafür fehle ja ganz!
Rudolf trat somit seinen neuen Dienst an, nahm sich zusammen und ließ sich ohne ein Wort
der Widerrede Alles gefallen, aus nacktem Trutze, denn er hätte dem alten Aristokraten
nicht den Gefallen gethan, daß der etwas zu brummen gefunden wider ihn. Das Gleiche hatte
er zwar bei seinem vorigen Herrn auch so gethan,nur hatte der Trutz Alles
recht zu machen dort nicht sehr lange angedauert, der alte Leichtsinn hatte ihn bald
wieder verdrängt. Hier aber schien es anders gehn zu wollen, der Trotz hielt an, ob nun
die strenge Hausordnung und der Mangel an Gelegenheit zum Ausarten dran Schuld war, oder
die Person des Herrn, welche den Trotz wach erhielt, selbst als ein guter Theil davon
unmerklich in Etwas übergegangen war, das fast eher wie Respekt aussah. Denn in der That,
bei aller Strenge und Genauigkeit im Dienste, bei aller Eigenmächtigkeit und Starrheit des
alten Kaufherrn, Rudolf fand Dienst und Herrschaft besser, als er anfangs nur zu hoffen
gewagt; konnte der Brummbär doch nebenzu sogar freundlich und gemüthlich sein, sobhald man
ihm nur seinen Willen that. Eine Art Wohlwollen guckte ihm nicht allein aus den hellen
Augen, in der That auch zeigte sich bei mehr als einem Anlasse ein solches unverkennbar,
war es in einer Erleichterung, einer Vergünstigung, einer Zulage oder sonst einer
Rücksicht. Nur das konnte Rudolf seinem Herrn nicht verzeihen, daß ihn der fast immer wie
ein Kind, wenigstens wie einen halb ausgewachsnen Knaben, behandelte und gerade dann am
meisten, wo Rudolf das Bewußtsein hatte, seine Menschenwürde und Selbständigkeit am besten
gewahrt zu haben. Aber da begegnete er richtig immer einem spöttischen Lächeln, einem halb
mitleidigen Achselzucken,das ein Wort der Erwiederung nicht der Mühe werth hielt, oder
einem Ausdrucke (wenn der Alte gar guter Laune war), der nichts weniger als
wie ein Lob auf den an Tag gelegten Charakter klang. Wie sehr Rudolf sich einerseits
hierüber ärgerte, es lag anderseits wieder eine solche Eigenthümlichkeit darin, daß er
sich daran gewöhnte, mit dem alten Kauze eine Ausnahme machte und sich's schließlich mit
immer weniger Unwillen gefallen ließ.
Ueber ein halbes Jahr gieng es so leidlich ohne besondre Zwischenfälle. Rudolf war in der
Zeit seinen wunderlichen Herrn mehr gewohnt geworden und im Dienste überhaupt erwarmt. Der
Hafer begann ihn zu stechen. Wofür er eigentlich lebe? fragte er, als er ein Häuflein Geld
beisammen hatte und sich erinnerte,wie selten er sich in der verflossnen Zeit lustig
machen können, denn daß er zufrieden und im Grunde auch behaglich gelebt, brachte er nicht
in Anschlag. Er werde dem Alten wohl einmal die Ehre anthun müssen! entschloß er sich und
ein paar Tage nachher hielt er richtig um einen freien Abend an: ein Freund von ihm sei in
der Stadt angekommen, morgen verreise er wieder.Die Anfrage kostete einige Ueberwindung
und etwelches Herzklopfen, von der Nothlüge ganz abgesehen. Wider Erwarten aber lautete
der Bescheid sehr günstig. Er habe nichts dagegen, sagte Herr Steinmann, wenn Rudolf einen
Abend die Woche ausgehe, und Seinesgleichen sehe; am liebsten freilich wär's ihm, wenn er
den Abendsaal für Handwerker und Dienstleute besuchte, der in der Stadt eröffnet sei und
wo sich Belehrung und an ständige Unterhaltung beisammen fänden; indeß er
wolle nichts vorschreiben!
Rudolf erwiederte nichts hierauf, er nahm nur den zugestandnen Abend in Beschlag, mit der
Abendschule hatte es gute Ruhe: der Schule sei er Gottlob entwachsen, dachte er, und er
wisse wohl, wie es in solchen Anstalten zugehe, sie seien im Interesse der Herren
eingerichtet, die Arbeiter zahm und in der Gewalt zu erhalten und sie zu verhindern, ihr
Wohl nach ihrem eignen Sinne zu besorgen und zu besprechen. Der Kaufmann fragte auch nicht
weiter nach der Abendschule und so blieb's dabei. Rudolf besuchte seine alten Freunde in
der Schenke und rettete so sein Selbstbewußtsein und seine Freiheit, das heißt, er ließ
sich von den ehemaligen Leithämmeln wieder in's Schlepptau nehmen und trat von Neuem in
die sumpfigen Fußstapfen, denen er nur durch die Noth und den äußern Zwang enthoben
worden.
Es blieb auch nicht bei dem einen Abende. Alle sieben Tage war ein Sonntag, den Rudolf in
der Regel frei hatte. Die Eisenbahn führte ihn da leicht und schnell überall hin an die
umliegenden Vergnügungsorte in Extrazügen und zu ermäßigten Taxen, stets aber gegen
Baargeld. Erholung, das heißt Zerstreuung,ward ihm immer mehr zum Bedürfniß: Wer sechs
Tage sich geschunden, der dürfe am Sonntag sich wohl was gönnen! räsonierte er wieder. Und
neben dem freien Abend in der Woche und dem Sonntage wußte er bald noch mehr als eine
Stunde zu erübrigen, auch den Herrn heimlich drum zu beluchsen, sei's wann
ihn der an einer Arbeit wähnte oder aus dem Hause mit einem Auftrage gesandt hatte. Rudolf
erhielt seinen ordentlichen Lohn;vei seinem frühern eingezognen Leben hatte er auch etwas
auf die Seite legen können, obschon er in der Anschaffung von Wäsche und Kleidern
allerhand nachzuholen gehabt. Sein Herr, der das gemerkt, hatte ihn nun einmal beim
Auszahlen gefragt, was er mit dem Gelde anfange; ob er nicht in die Ersparnißkasse lege?
Rudolf dachte: das sei sein Geld, er könne damit machen was er wolle, es gehe niemand was
an, am wenigsten den Herrn; Geld an.Zins sei wohl schön und bequem,aber die paar Franken,
die er einlegen könnte, trügen doch nichts ab, da lohne es sich nicht der Mühe; als wenn
Jeder tausend Franken zu einem ordentlichen Anfang in der Hand hätte, der die Sparkasse
benützt.
Nun brauchte er sich freilich nicht zu besinnen, was er mit seiner Ersparniß anfangen
wolle. Die Schoppen die er trank summierten sich zu Maaßen, und wenn er Sonntags auf der
Eisenbahn wie ein Herr fuhr. es giebt viele Stationen unterwegs, wo Wirthshäuser sind, so
wollte er auch wie ein Herr leben und da genügte ein Schöpplein nicht mehr, auch der mit
dem Eisenbahnfahren gewonnenen Zeit wegen nicht; ein zweiter Schoppen und etwas Kaltes
dazu waren beinah unvermeidlich. Ebenso kosteten nun die feinren Herrenkleider,welche
Rudolf zu dem Herrenleben nothwendig anschaffen mußte und die ihm in der That ganz wohl
anstanden,ein Beträchtliches mehr, als die frühre einfachre Gewandung.
Diese Ausgaben alle summierten sich gleichfalls;Summa Summarum, es gieng damit der
regelmäßige Verdienst regelmäßig drauf und allmälig das von früher zur Seite Gebrachte
ebenso, Rudolf wußte selbst nicht wie, er mußte sich sehr darüber wundern. Er habe halt zu
wenig Lohn! machte er bei sich aus und das nährte seine Unzufriedenheit gegen die
Herrschaft, die allein daran Schuld sei, noch mehr. Ja, wenn der Durst einmal so recht im
Mißverhältniß stand zu dem Geldvorrath, wenn unvermuthet eine Gelegenheit eintrat,im
ungünstigen Augenblick, so geschah es, daß Rudolf beim Wirth oder einem guten Freunde
Schulden machte, keine wichtigen natürlich, aber es waren doch Schulden und es geschah
immer häufiger und ohne viel Besinnen. Denn um alles Geld nicht hätte er dem alten Filze,
seinem Herrn, die Ehre angethan, vor dem Monatsende von seinem Lohn auf Abschlag zu
verlangen,auch nicht wenn es dieser nicht beim Dingen ganz bestimmt sich verbeten gehabt
hätte.
Daß man sich indeß für nichts verschwören darf,erfuhr auch Rudolf, nicht auf die
erfreulichste, aber jedenfalls auf sehr eindringliche Weise. Es hatte eine arge Schlägerei
gegeben; ob bei einer Auseinandersetzung oder Vertheidigung der Menschenwürde? Rudolf
behauptete unschuldig dazu gekommen zu sein, wenn wohl auch nicht davon; jedenfalls war's
im Wirthshaus gewesen. Einer der Streitenden hatte Verletzungen davon getragen, die ihn längre Zeit für die Arbeit unfähig machten; es war vielleicht auch der
Unrechte gewesen,der getroffen worden; kurz, der Mißhandelte drohte mit einer
gerichtlichen Klage und da die Arbeitsunfähigkeit über eine bestimmte Zeit gedauert, stand
eine ziemlich scharfe Bestrafung durch Einkerkerung in Aussicht. Dem mußte womöglich
vorgebeugt werden und der Wirth machte zwischen den beiden Parteien den Vermittler,hatte
er doch auch den Wein dazu hergegeben, der die Koöpfe so erhitzt. Der Geschlagne ließ sich
endlich durch ein tüchtiges Schmerzengeld geschweigen und versprach von der Klage
abzustehen, aber es müsse sofort gezahlt werden. Ob Rudolf doppelt so viel oder doppelt so
schwere Schläge ausgetheilt? er mußte wenigstens den größren Theil der Entschädigung
übernehmen. Und das traf ihn im schlimmsten Momente; schon die Rechnung des Wirthes für
Getränk und zerbrochnes Glaswerk hatte seine Baarschaft auf die Neige gebracht.Vergebens
suchte er den unerwarteten Gläubiger auf den nächsten Monatsschluß zu vertrösten und
schwur, daß es ihm jetzt nicht möglich sei zu zahlen. Dieser nahm keine Vernunft an.
Bürgschaft wollte für Rudolf auch niemand leisten, da er als Schuldenmacher keinen
sonderlichen Credit hatte. Gleichzahlen oder vor Gericht genommen werden, mit der Aussicht
auf Gefangenschaft,das blieb die einzige Wahl und innert zehn Stunden mußte entschieden
werden. Es blieb halt doch nichts anders übrig als bei dem alten Tyrannen, dem Steinmann
die Hülfe zu suchen, allerdings ein saurer Schritt; aber jeder seiner
Freunde, an den sich Rudolf wandte, wies ihn an diesen: er brauche sich nicht zu bedenken,
er könnts da wieder abverdienen und am Ende sei's ja sein Geld das er erhalte!
So unbefangen als möglich, im Innern aber mit schlotterndem Herzen, trat denn endlich der
Knecht vor den und den künftigen Monatslohn vorzustrecken: es habe ihn ein guter Freund,
dem er's nicht abschlagen könne, von wegen frühren Verbindlichkeiten, darum
angesprochen!Der Kaufherr rutschte die Brille von der Nase an die Stirn hinauf und sah
Rudolf an ohne ein Wort zu sagen, lange, lange; eine halbe Ewigkeit däuchte es diesen und
aus allen Falten des runzligen Gesichtes schienen verdächtige Nebel aufzusteigen. Endlich
sprach er gelassen: „Du weißt was ich bei deinem Diensteintritt ausbedungen und auch was
ich dir inzwischen angerathen. Du bist deinem Kopfe gefolgt und steckst nun in der
Verlegenheit; ich will dir was sagen, das gilt, merke dir's: für dießmal geb' ich dir das
Geld, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß du von nun ab den Drittel deines Lohnes
in die Ersparnißkasse einlegst,nicht um wieder Schmerzengeld zu zahlen (es schien hier das
Auge des Kaufherrn einen Blitz zu schießen), aber damit du deine Mutter, wenn sie dich um
Beisteuer an 141 den Hauszins angeht, nicht wieder mit leeren Händen fortzuschicken
brauchst, wie letzthin im Höflein hinten!“
Rudolf stand bei dieser Rede nicht nur wie Butter in der Sonne, sondern es schien ihm, am
jüngsten Gericht müsse Einem so zu Muthe sein, wenn da die geheimsten Sünden an's
Tageslicht gezogen würden. Im Gefühle seiner Schuld wußte er nichts bessres zu thun als
daß er versuchte aufzubegehren, daß er von seiner Unschuld sprach und wie er zu wenig Lohn
habe, da hier in der Stadt Alles so theuer, und Andre auch,und ohne so viel Wesens, den
Lohn zum Voraus zögen;wie er aber noch gar in die Sparkasse einlegen könne,das sehe er
vollends nicht ein, er lasse sich nicht zwingen, er sei kein Kind mehr, es könne Jedem
einmal ein Ungefäll zustoßen, der Mutter aber habe er schon mehr als einmal geholfen!
So gieng's durcheinander bis der Kanfherr endlich aufstand und dem Rudolf fast um die
Hälfte größer schien als gewöhnlich, so daß er unwillkürlich verstummte.Um so kräftiger
fieng dafür der Alte an und kanzelte den aufbegehrerischen Knecht herunter, indem er ihm
sein Sündenregister vorhielt, daß dem Hören und Sehen vergieng. „Freilich bist du kein
Kind,“ sagte er, „denn ein Kind nimmt wohlgemeinten Rath an und läßt sich noch leiten zum
Guten. Du aber bist viel zu dumm,.folgst lieber deiner eignen Unvernunft und wo ein böser
Bube dir was Ueberzwerches vorschwatzt, nimmst du's auf als Prophetenbeere und rennst
blind in den Sumpf,auch wenn du den Kopf an die Ecken und Wände anstößest,
daß dir schwarz vor den Augen wird. Du bildest dir auf deine Beulen gar noch was ein.
Anfangs warst du auf dem guten Wege und konntest es zu was bringen, aber du willst lieber
ein Lump werden und zum *æ** gehen; das ist doppelt dumm. Sieh, ich will dich in's rechte
Geleise bringen, weil du mich dauerst und gar zu einfältig bist; wills thun wider deinen
Willen und deiner Unvernunft und der fremden Verführung zum Trutz!“
Rudolf brannte da auf: so lasse er sich nicht kommen, lieber künde er, es gebe noch andre
Dienste, niemand habe ihm dergleichen je gesagt!
„So sag' ich dir's;“ unterbrach ihn der Kaufmann und fügte ruhig aber fest hinzu: „Ich
glaube wohl daß dir's nicht schmeckt, auch kannst du machen,was du willst, gehn oder
bleiben, soweit bist du dein eigner Herr!“
Und als der Gescholtne wieder von Neuem beginnen wollte, fügte er bei: „Jetzt geh! ich
will nichts mehr hören; willst du aus meinem Dienste treten, so kannst du mir's nach
Abrede in acht Tagen wieder sagen, bis dahin hast du Zeit dich zu besinnen!“Zwölltes
Capitel.
Fortsetzung, oder ein Tyrann vergreift sich an den Menschenrechten des Rudi und bringt
ihn in's rechte Geleise.Rudolf gieng, er war in peinlicher Lage: sein Ehrgefühl fand sich,
vielleicht am unrechten Orte, jedenfalls zur unrechten Zeit, gewaltig angegriffen. So
geringschätzig hatte ihn der alte Zopf und Knicker behandeln dürfen! Das koönne er sich
nimmer gefallen lassen;man sei in einem freien Lande und nicht bei Sklavenhaltern; was der
Aristokrat sich eigentlich einbilde? Lasse er Solches ruhig auf sich sitzen, wahrlich, so
müsse er sich in Zukunft Alles gefallen lassen, auch daß man die Schuhe an ihm abwische!
Nein, lieber und hier blieb der Gedankenfluß Rudolfs plötzlich stecken. Was lieber?
fortgehen, in einen andern Dienst treten! Wohl; aber auch gleich einen solchen finden? und
vorher erst in's Gefängniß spazieren, zur Empfehlung!
Rudolfs Selbständigkeit und Charakter kamen in bedeutende Gefahr. Vergebens sagte er
sich: wenn er jetzt ducke, müsse er sich in alle Zukunft selber verachten.Aber trotz
diesem lauten und heftigen Schimpfen und
Sichsträuben flüsterte ihm inwendig und ganz im Stillen eine Stimme, der Alte meine es am
Ende gar nicht so böse; Complimente zwar mache er keine, das sei richtig,aber ein klein
wenig Recht, wer wisse? habe er vielleicht doch! Und dann das Geld, das verdammte Geld,
das nothwendig war und zwar bald Rudolf hörte schon in der Ferne die Kerkerschlüssel
rasseln. Er entschloß sich zu einem Mittelwege, wie er meinte: einstweilen zu bleiben,
aber dran zu denken und die erste Gelegenheit zu benützen (wenn er nur erst einmal aus der
Klemme sei), und dem Alten den Sack vor die Thüre zu werfen,mit Glanz natürlich, indem er
dann in kräftigen Worten seine Ehre wieder herstellte.
Hiebei blieb es denn und der achte Tag gieng vorüber ohne daß der Gekränkte seine
Dienstkündung wiederholte, hatte er doch ein wenig sogar das Gefühl wie nach einer
Blutsreinigung oder einem kalten Bade,wobei man sich, der guten Wirkung unbeschadet, ja
auch gelegentlich schüttelt. Am Tage darauf rief ihn der Kaufherr nach dem Frühstück in's
Ladenstübchen; sie waren alleine, noch keiner der Angestellten sonst anwesend.
Der Alte werde jetzt schadenfroh triumphieren, wenn er ihm das Geld gebe! dachte Rudolf
in verbissnem Ingrimm. Der Alte aber war so trocken und geschäftsmäßig, wie wenn er einen
Frachtbrief über eine Sendung Caffe diktirte. Er zählte einfach zwei Monatslöhne auf den
Tisch: da sei das Geld! war Alles was er dabei sprach. Jetzt sehe man daß der Wuchrer kein
Herz habe,sondern an dessen Stelle einen Goldklumpen! grollte hierüber der
Andre und machte wenigstens ein Gesicht darnach, wenn er auch nichts zu sagen wagte.
Der laufende Monat und der nachfolgende, so wie der dritte verliefen ohne jeden
Zwischenfall. Rudolf machte so wenig Worte als mööglich, und gab sich alle Mühe daß auch
der Kaufherr nichts zu sagen fand, er war ein wahres Muster von einem Knechte: der Alte
müsse noch recht empfinden was er an ihm habe und verliere, wenn er ihm einmal künde. Es
war wieder Samstag geworden, der gewöͤhnliche Zahltag und Rudolf trug eben das mit reinem
Sande frisch gefüllte Spuckkästchen in das Ladenstübchen, als ihn sein Herr bleiben
hieß.
„Hier der Monatslohn“, begann er in seinem vertrakten Geschäftstone, „nach Abrede behalte
ich einen Drittheil davon zurück, du trägst ihn nach der Ersparnißkasse und verlangst ein
Büchlein dafür. Mit dem was dir baar in Handen bleibt, kannst du auskommen“. Obschon Alles
genau so verabredet war, wallte es in Rudolfs Adern doch von neuem; sein Herr aber langte
nach ein paar Silberstücken, die auf der Seite lagen. „So viel du einlegst, lege ich
ebenfalls für dich ein; schon lange hätte ich dir den Lohn aufgebessert,nicht weil du mit
dem Bisherigen nicht ausreichen kannst,sondern weil du mehr verdienst; aber ich wollte das
Geld nicht weggeworfen sehen. Laß Beides jetzt auf
Dienen und Verdienen.der Sparkasse einschreiben und gieb mir dann das
Büchlein zum Aufbewahren.“
Gerieth Rudolf je in seinem Leben aus der Fassung,so war es dießmal, wußte er doch nicht,
ob er zürnen oder danken sollte? ob der Alte sein Wohlthäter oder sein Todfeind sei?
Während er sich verwirrt zurecht zu finden trachtete, trat ein Kunde und Bekannter seines
Herrn in das Ladenstübchen und Rudolf konnte nun nichts Andres thun, als das Geld nehmen
und damit hinausgehen. Nachmittags händigte er dem Kaufmann das Büchlein der Sparkasse
ein, welches dieser schweigend,indeß mit zufriednem Gesichte, in sein Pult verschloß.
Beinahe von diesem Tage an gieng mit Rudolf eine Revolution vor; aber keine plötzliche
und schnelle, sondern eine ganz allmälige und ruckweise. Noch grollte er häufig genug dem
„wunderlichen Kauze“ und seiner „tyrannischen Laune“; er fand es schreiend Unrecht, daß
ihm die freie Verfügung über seinen verdienten Lohn entzogen werde.Er schalt und spottete:
es werde auch viel herauskommen bei alle dem Knickern und Entbehren und wie viele
Millionen Zins so ein paar lumpige Fränklein am Ende des Jahres wohl abwerfen würden? Die
Herren sollten doch ihre Nasen lieber in den eignen Hafen stecken s.v., statt in einen der
sie nichts angehe!
So schalt und haderte der unwirsche Knecht noch lange, während er im Herzen schon geraume
Zeit umgewandelt war. Daß er nun Geld an Zins habe,kitzelte halt doch auch seinen Ehrgeiz
und nachdem er nur erst ein paar Einlagen gemacht und die Posten gelegentlich
zusammenzählte, kam er sich schon nicht mehr ganz so vor wie der Vogel auf dem Zweige.
Jetzt solle ihn sein Herr wieder so schrauben wollen und solche Bedingungen vorschreiben!
drohte er zwar noch rachgierig; indeß schon das nächste Mal legte er selber etwas mehr als
den bedungnen Theil freiwillig in die Sparkasse ein. War es Zufall? Als er das Büchlein
nachher dem Herrn wieder zur Aufbewahrung gab, erhielt er von diesem des andern Tages
einen Auftrag, der ein artiges Trinkgeld eintrug. Damit könne er nun einmal sich ein Gutes
thun! dachte Rudolf in der ersten Freude; nachher aber wußte er eigentlich doch keinen
rechten Anlaß, wollte dieß und das daraus kaufen; für's Eine war's zu wenig, für's Andre
zu viel, das Dritte brauchte er nicht nothwendig, so daß er am Ende allen Wenn und Aber
ein Ende machte, indem er das Geld einstweilen in die Sparkasse legte: er konne es ja dort
immer wieder holen! Aber er holte es nicht, so wenig als ihn dieser Ausweg jemals
reute.
Als er nach einem Lohntage dem Kaufherrn das Sparkassenbüchlein wieder einhändigen
wollte, schob es ihm dieser zurück: er könne es nunmehr selber aufbewahren!Der Knecht
wußte nicht, wie das wieder gemeint sei,gut oder böse? „Er hab' es ihn ja nicht geheißen
zu Handen nehmen, wenn's dem alten Egoisten zu viel Mühe mache; aber da er's habe, wäre es
doch keine zu große Zumuthung, daß er es nun auch behalte. Gleich
10*viel, er wolle nun zeigen, daß das Büchlein in seinen Händen gerade so
sicher aufgehoben sei als in dem Pulte mit dem Verxierschlosse dran!
So haderte jetzt Rudolf, dem es fast leid that, daß er wieder zum unumschränkten Herrn
seines Geldes gemacht wurde, derselbe Rudolf, der zuvor in der Bevogtung die
himmelschreiendste Tyrannei erblickt hatte.Die Zeit in der er seinem Herrn den Sack vor
die Füße werfen wollte, war eigentlich auch schon längst da, es hatte sich aber immer
keine Gelegenheit finden wollen,wie verhext keine, gerade jetzt, wo er doch so gerüstet
war,während sich deren früher, in seiner mißlichen Lage, zu Dutzenden geboten. Der gute
Rudolf ahnte freilich nicht, daß er der Gelegenheitmacher gewesen und es jetzt nicht mehr
war. Sodann mußte er im Verlaufe allmälig doch darüber stolpern, daß sein Herr, ob der
zwar nie dergleichen that, mit ihm es nicht halb so übel meine, vielmehr auf seiner Leute
Nutzen sehe,und auch auf des Rudolfs seinen und ihm gern behülflich sei. Warum auch that
er das, der alte Aristokrat?Es war das lange für den Mißtrauischen ein Räthsel,welches ihm
viel Kopfzerbrechens kostete, bevor er, fast von selber, auf das Einfache fiel: der
Kaufherr meine es gut mit ihm und es müsse demselben an einem ordentlichen Knechte eben
mehr liegen, auch im eignen Vortheile, als an einem unordentlichen.
So war denn das Uebelaufnehmen oder Uebelauslegen mehr nur ein Aeußerliches, wo es sich
bei Ge legenheit etwa noch zeigte, so aus alter Gewohnheit und sollte fast
eher eine Rechtfertigung des frühern eignen Betragens sein, als eine Anklage gegen
dasjenige des Herrn. In der That aber verzog doch der Nebel des Mißtrauens sich immer
dünner und dünner in Rudolfs Gemüth und Verstand und da stellte bei dem siegenden
Sonnenschein auch Alles was er sah rings um sich und in sich, im Hause und in der Welt,
stets in hellrem Lichte in klarerer und dabei richtigerer Gestalt sich dar.In dieser kam
es ihm fast wie eine neue Welt vor, fand er doch jetzt Beziehungen, Zusammenhang,
Gründe,wo er zuvor aus trübem gestaltlosem Grau nur Vereinzeltes und oft ungeheuerlich
Verzognes erblickt, einen schroffen Giebel mit einem rostigen Blitzableiter, ein Kreuz,
eine verwitterte Mauer, einen bodenlosen Abgrund oder ein in der Luft schwebendes
Thurmdach.Ueber dieß Alles machte sich Rudolf zwar kaum eine klare Vorstellung, aber, was
folgenreicher und für ihn mehr werth war, er erlebte es, es trat ihm unbewußt in Saft und
Blut. Aus Saft und Blut aber werden ja alle Theile des Menschen ergänzt, ernährt und
erneut und so fand denn auch die allmälige Umwandlung seines ganzen Wesens, seiner ganzen
Auffassung des Lebens und von dessen Verhältnissen statt: eben von innen heraus, durch die
kleinsten Adern, zu klein um nur zu pulsiren, die die Lebensstoffe bloß durchsickern
lassen an die verschiednen Organe.
Das Sparkassenbüchlein, das ihm Anfangs so schweres Aergerniß bereitet,
konnte er nun mit einer fast andächtigen Freude in den Händen halten und sich
halbstundenlang an den schwarzen Schwänzen und Ringlein und Haken der trocknen Zahlen
weiden. Wohlgefällig überschlug er auch wieder einmal so nach einem Geschäftszahr bei der
Zinsverrechnung, was er das Jahr über erspart und eingelegt und wie viel, jährlich
steigend,der Zins betrage. Wie auf einer Leiter, immer höher,stiegen da in dem Büchlein,
von der ersten Seite bis zur letzten, die Ziffern des Guthabens an Einlage und Zinsen und
Rudolf stellte gleich auch, dem gewiegtesten Finanzminister zum Trutz, das rosenfarbenste
Budget für die Zukunft. Dann betrachtete er wieder die letzte Zahl der letzten
beschriebnen Seite, seinen jetzigen Vermögensstand und verglich die vierziffrige fette
Summe mit der magern ersten Einlage zuoberst auf dem erslen Blatte. Unwillkürlich mußte er
über den Gegensatz lächeln, da er sich erinnerte, wie schwer ihm am Anfang die kleine
Ersparniß gefallen und was für ein Vergnügen er jetzt empfinde, wenn er einen weit
stärkern Betrag seines Lohnes sich freiwillig abziehe. Wieder einen Blick auf die lange
Zifferreihe, mit den dazwischen eingeschobnen Zinsen werfend, schien es ihm gleichwohl ein
Räthsel, ein halbes Wunder, in verhältnißmäßig so kurzer Zeit diese einzelnen kleinen
Beiträge zur namhaften Summe angewachsen zu sehen. Er mußte die einzelnen Posten in'ss
Auge fassen, um des natürlichen Schlüssels gewiß zu sein. Und nun konnte er es fast gar nicht begreifen, wie nicht Jedermann gerne spare:es sei so leicht! mache
so viel Vergnügen! meinte jetzt derselbe Mensch, der mit Gewalt hatte müssen dazu
gezwungen werden. Behaglich weilte er bei den einzelnen Einlagen, den regelmäßigen und
außerordentlichen, und erinnerte sich da und dort des besondern Anlasses, der ihm
dieselben ermöglicht. Er freute sich an den schwellenden Zahlen wie der Landmann an dem
Gedeihen und Wachsthum seiner Früchte und labte sich an dem Eingeheimsten wie dieser, auch
bevor er noch davon kostete.
Solche und ähnliche Betrachtungen stellte Rudolf mit seinem Sparkassenbüchlein in der
Hand an; er hätte auch noch in ganz andren sich ergehen und weitre Folgen des Sparens in's
Auge fassen können, die freilich nur mit Geheimschrift zwischen den Zahlen des Büchleins
zu lesen waren. Z. B. hätte er fragen können: wie er bei diesem seinem Sparen denn
überhaupt weggekommen,wie gelebt? So gar entsetzlich bedauerlich doch nicht.Er würde dann
haben gestehen müssen, es im Grunde nicht schlechter gehabt und auch sich nicht
unzufriedner gefühlt zu haben, jetzt, da er ein Drittheil und oft noch mehr seines alten
Lohnes sich abgeborgt und in die Kasse gelegt, als zu der Zeit, wo er mit dem Ganzen nicht
recht ausgelangt.
Er hätte sich auch nur ganz äußerlich umsehen können:zwar trug er nicht viel Staat, keine
katzengoldnen Hemdknöpfchen und vergoldete Uhrketten, keine buntgeblümte seidne Weste und
spinnwebige Halsbinde, sogar das Tuch seines Rockes war mehr solid als fein;
aber seine einfache und auf die Dauer abgesehne Kleidung trug auch keine Wein und
Schmutzflecke, sauber und ordentlich war Alles und das schneeweiße Leinenhemd machte in
seiner derben Frische gleichwohl eine weit vortheilhaftre Gattung, als die ehmaligen
gefältelten und fogar gestickten, zerknitterten Vorhemdchen. Alles an Rudolf verrieth, daß
es da sei um auszudauern und nicht um heute zu paradieren und brillieren und morgen für
immer die Flügel hängen zu lassen. Alles auch schickte fich wohl zusammen, und nirgend
schrie etwas Nagelneues unter Abgetragnem, oder vielmehr frühzeitig Verdorbnem,hervor nach
Errettung. Rudolf sah allerdings jetzt weit mehr einem ordentlichen und wohlgestellten
Knechte gleich,als einem gefehlten Herrn, aber es war das merkwürdiger Weise was er gerade
wollte, und worin er seine Ehre suchte und es nimmermehr verläugnete. Er bewies mit seiner
ganzen Erscheinung wieder die alte Wahrheit, daß die Leute, welche aus Häuslichkeit wenig
ausgeben, gar nicht diejenigen sind, die am dürftigsten oder unvortheilhaftesten aussehen,
indem sie auch in Besorgung des Aeußerlichsten, ihrer Kleider, sorgfältig, genau,
ordnungsliebend sind, Acht geben und schonen. Denn das Aeußere ist doch meist immer der
Wiederschein des Innern! Diese fernere Betrachtung hätte Rudolf bei seinem
Sparkassenbüchlein ebenfalls über sich anstellen können. Und wenn er da vom Kleide unter
den Rock und das Hemde bis in sein Herz würde hineingeblickt haben, die Umwandlung, das heißt der Unterschied gegen früher, wäre ihm noch weit augenfälliger
entgegengetreten. Merkwürdige Entdeckungen wären zu machen gewesen. Rudolf hätte da nimmer
den alten leichtsinnigen, genußsüchtigen und doch stets unzufriednen Menschen gefunden,
der die Arbeit als eine Last ansah, die man so nothdürftig als nur immer angeht abzumachen
suchte. Er hätte dafür einen zuverläßlichen Burschen wahrgenommen, der zu Allem, was ihm
aufgetragen war, ordentlich sah, besonnen und vorsichtig war, seine Ehre drein setzte
recht viel und Großes anvertraut zu erhalten und das Zutrauen zu rechtfertigen, der
überlegte, aufpaßte, kurz den Verstand walten ließ, wo er früher in den Tag hinein
gelebt.An Stelle des Leichtsinns würde er Neigung zu Ernstem,zu Belehrung und Bereicherung
nicht allein durch Geld,sondern auch durch Kenntniß entdeckt haben, an Statt der
Unzufriedenheit ernstes Streben vorwärts zu kommen und die Zuversicht in die Zukunft, die
nicht mehr neblig und ungewiß war, nicht windig oder trübe, auch nicht trügerisch. Neben
dem Gelde und dessen klingenden Zinsen hatte das Sparen all diesen ganzen großen Gewinnst
abgeworfen. Wer wollte nicht sparen? mußte Rudolf wieder fragen, ob er auch nur einen
kleinen Theil dieser Schätze, nämlich nur den in der Sparkasse aufgehobnen, so überblickte
und in Betracht zog.
Ein Gedanke noch drängte sich jetzt immer deutlicher und mächtiger aus der Tiefe des
Herzens oder Kopfes hervor bei Rudolf, ein Gedanke, der, wie ein zweiter Napoleon, die andern Gedanken, die ihn Anfangs überragt, rasch in Schatten stellte und
als Vafallen zu beherrschen begann, der königliche Gedanke an seine einstige
Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Früher war dieser Wunsch zwar auch schon aufgetaucht,
aber als Phantasiegebilde ohne Halt und Körper, als ein Feenmärchen,an das er doch selbst
nicht glaubte und das ihn daher nur zu unzufriedner Begierde aufzustacheln vermochte.Jetzt
aber erhob sich hinter der langen Reihe der Zahlen seines Büchleins, die sich, über das
Papier auswachsend,in die däͤmmrige Zukunft hinauszogen, der Gedanke als etwas Wirkliches,
Körperhaftes, ob noch duftig und in unsichren Umrissen, Rudolf wußte auch nicht
genau,worin dessen wirkliches Wesen bestand, wie man ja in weiter Ferne auch nur einen
ungewissen Fleck sieht und kann nicht bestimmt sagen, ob es ein Baum, ein Thurm oder eine
Kirche, sondern nur, daß es kein bloßes Luftgebilde ist. Wie seine Selbständigkeit sich
gestalten,welche eigne Existenz er sich gründen werde, das konnte auch er nicht sagen, es
fehlte ihm aber, das erkannte er zugleich mit einiger Unruhe, hiezu Eins noch namentlich,
welches die Sparkasse ihm nicht bot, nämlich mehr Bildung, mehr Schulkenntniß als ihm sein
ziemlich vernachläßigter Jugendunterricht verschafft hatte. Zwar etwas von dem Gefühle
verspürte er, daß er nun wohl ohne Schande und Spott seinen eignen Herrn und Meister würde
vorstellen können, nachdem er sich in der Unterordnung unter den fremden Willen bewährt,
denn der frühre Uebermuth, das Herrschen zu verstehen ohne das Gehorchen
gelernt zu haben, war ihm, bei allem Knurren gegen seinen Herrn, doch wie von selbst
wipfeldürr geworden.
Zum Glücke war Rudolf keine Natur, die sich leicht durch Schwierigkeiten abschrecken
ließ, wo es ihm wirklich Ernst war. Er war weder zu träge, noch zu gleichgültig, noch
schämte er sich am unrechten Orte,hielt sich auch nicht für zu alt zum Lernen. Er beschloß
darum herzhaft an's Werk zu gehen, inzwischen mehre sich in der Sparkasse ja nur sein
Schatz. Einer der Commis, der eine vorzügliche Handschrift schrieb, verfertigte ihm
Vorlagen für die Schönschrift, welche der alte Schüler dann oft Abends, wenn ihm die Arme
von der harten Arbeit müde geworden, im Ladenstübchen beim einsamen Lampenscheine
nachzumachen sich befließ.Auch leichtre und dann etwas schwerere Rechnungsexempel ließ er
sich als Vorbilder wie als Aufgabe geben und zerbrach sich manche Abendstunde den harten
Kopf daran. Wie groß war seine Freude wenn da eine Seite sauber geschrieben vor ihm lag
oder eine schwere Rechnung endlich endlich glücklich gelötst wurde! Er hätte sich aber
auch gar zu gerne andre, weitre Kenntnisse verschafft. Wohl wußte er von Büchern, worin
Vieles stehe, was ihm wissenswerth schien, aber er kannte diese Bücher nicht, konnte nicht
die tauglichen von den untauglichen unterscheiden und vor Allem dieselben sich nicht
verschaffen. Da wußte er keinen Rath und an den Herrn zu gelangen, scheute er
sich theils, theils mochte er ihm auch nicht so recht, wie man sagt, die Ehre darum
anthun; vielleicht würde er doch nur abgewiesen oder ausgelacht!
Es war wieder im Beginne des Winters und der langen Abende. Eine gemeinnützige
Gesellschaft, welche für Arbeiter und Handwerksgesellen Sonntagsschulen eingerichtet
hatte, sandte eine Einladung an alle Meister und Herren, ihre Angestellten zum Besuche
dieser Unterrichtsstunden aufzufordern. Als Rudolf Abends sein stilles Plätzlein im
Ladenstübchen wieder einnehmen und an den gestellten Rechnungsaufgaben kauen wollte, fand
er gerade da, wo er zu sitzen pflegte, diesen Aufruf.Er las und las ihn noch einmal: das
war ja gerade was ihm fehlte und was er suchte! Aber wer hatte die Aufforderung ihm
hingelegt? Wohl niemand als sein Herr! Jedoch warum? mußte er fragen. Hãtte man ihm nicht
das Wort gönnen dürfen, wenn es gemeint war daß er die Gelegenheit benütze? Indeß mußte
Rudolf bei einigem Besinnen gestehen, Herr Steinmann habe ihn ja schon vor Jahren zu dem
Besuche der Abendschule veranlassen wollen, er jedoch in Trotz und Mißtrauen sich dagegen
gesträubt. So entschloß er sich zu fragen und einen abschlägigen Bescheid erhielt er
natürlich keinen; in der Abendschule aber war er bald einer der Fleißigsten und
Gelehrigsten, er kam nicht nur rasch,sondern auch leicht vorwärts, weil Alles planmäßig
und mit vortrefflichen Mitteln getrieben wurde.Dreizehntes Capitel.
Aussichten zu einer Heirath. Reise in die Heimath bei Sonnenschein. Warum aber Rudolf dem
Annemareili das Päcklein nicht trägt.In diesem guten Geleise befand sich Rudolf schon seit
geraumer Zeit, als ihn Annemareili kennen lernte.Unter der Selbständigkeit, die er
anstrebte, begriff er richtig einen eignen Hausstand mit ein, macht doch ein jolcher erst
den rechten und ganzen Mann aus. Er hatte mit ruhigem Wohlgefallen sein Auge auf das
wohlgebildete und doch so gesetzte Mädchen geworfen, das fast so eifrig wie er sich
Ersparnisse auferlegte und dieselben auf die gleiche Weise nutzbar zu machen suchte.Die
Landsmannschaft und frühere Bekanntschaft, so wie die Annäherung durch die wiederholte
Begegnung, verwandelten das allgemeine Wohlgefallen bald genug in eine bestimmte Absicht,
auf die er nun immer näher hinzusteuern trachtete.
Annemareili seinerseits/ machte in seinem Gefühlsleben einen ähnlichen Gang durch,
dieselben Gründe sprachen ihm auch für eine günstige Beurtheilung und Aufnahme des
ehmaligen Gespielen: der gesetzte ordentliche Mann, voll der besten
häuslichen Anlagen, mußte ihm ja schon um der leidigen Erfahrungen an dem leichtfertigen
Bäcker-Joseph einen vortheilhaften Eindruck machen, die Gemeinsamkeit ihrer Schicksale war
kein minder kräftiges Anziehungsmittel; kurz bei den beiden vorsichtigen Leutchen
entwickelte sich in verhältnißmäßig kurzer Zeit ein beinahe inniges Verhältniß, das
zugleich auch alle Bedingungen für den erwünschtesten Erfolg zum voraus in sich zu tragen
schien. Allerdings, ein gewisses jugendliches Aufflammen hatte die Beiden nicht zusammen
geführt. Ein herzliches Vertrauen, auf gegenseitige Sicherheit gegründet, verhinderte
vielleicht gerade durch seine ruhige Wärme jene Leidenschaftlichkeit und jene stürmischen
Gefühle, wie diese sich bei jüngern und weniger von der Erfahrung berührten liebenden
Herzen zu finden pflegen.
Wie viel Gemeinsames aber die Beiden auch in äußern und innern Schicksalen besaßen, auf
wie gleichem Standpunkte sie jetzt, da sie sich fanden, zu stehen schienen, der
Unterschied zwischen ihnen war doch, daß sie dahin eigentlich den umgekehrten Weg gemacht
hatten.Annemareili war durch sein häusliches, fleissiges und eingezognes Leben zu der
Sparkasse gelangt, Rudolf hingegen durch die aufgezwungene Sparkasse zu einem
ordentlichen, arbeitsamen und ehrbaren Wesen. Denn das ist ja der doppelte Segen
derartiger Sparanstalten,daß sie ebensowohl dem im Schweiße des Angesichts erworbenen
Nothpfennig einen sichern Zufluchtsort bieten, 159 und auch größern Ersparnissen
einen Sammelpunkt gegen eigne Schwäche und fremde Verführung, als daß sie anderseits eine
Schule sind, den Sinn für Häuslichkeit und Arbeitsamkeit zu pflanzen und zu fördern,sowie
den Widerstand gegen die Genußsucht zu erleichtern. In diesem Sinne ist der Besitz auch
ein Sporn zu guten Gewohnheiten; das hat schon mancher Arbeiter und mehr als ein
Dienstbote zu seinem Heile erfahren können.
Seitdem aber Annemareili und Rudolf, erst stillschweigend und bald in erklärter
Uebereinstimmung einem bestimmten Ziele, ihrer Verbindung und der damit beginnenden
Selbständigkeit entgegen giengen, vermehrten sich noch ihre Anstrengungen. Fast ängstlich
sahen sie auf jeden Batzen, den sie als Baustein an ihr künftiges Glück sammeln könnten,
und um so genauer vermieden rückbringeni können: vor Allem jede Ausgabe, die
nicht.unvermeidlich nothwendig war. Ein wahrer Wetteifer entfaltete sich zwischen den
Beiden, indem Annemareili wohl merkte, wie viel seinem Verlobten an jeder Ersparniß lag
und es ja ihm seine Liebe dadurch darlegen konnte.Das Hauptvergnügen neben dem Sparen war
ihnen das gemeinsame Plänemachen für die Zukunft, wobei es an Ueberschläägen und
Berechnungen nicht fehlte, häufig genug gefolgt von einer neuen Anstrengung zur Mehrung
ihres Vermögens. Dieses, von beiden Theilen zusammengeschossen, betrug bereits eine artige
Summe,mit der sich im Nothfalle schon etwas anfangen ließ.Es war aber auch
eine solche erforderlich für den Zweck,der sich eben als die schönste Gelegenheit bot.
Rudolf war in seinem Heimatdorfe gewesen und brachte bei der Rückkehr von dort die Kunde
mit, daß der Krämer, ihr ehmaliger Jugendfreund Heinrich, seinen Kramladen zu verkaufen
gedenke, weil er nie Lust am Handeln gehabt als ein stiller und scheuer Mensch und, ledig
wie er war,sein Leben auf eine ihm mehr zusagende Weise zu führen wünschte. Er suchte nur
einen Liebhaber, dem er Haus und Geschäft zu annehmbaren Bedingungen abtreten könnte, und
Rudolf hatte vorläufig mit ihm die Angelegenheit im Allgemeinen besprochen. Aufgeregt,
aber in guter Stimmung, war Rudolf in die Stadt gekehrt und benützte die erste Gelegenheit
mit Annemareili die Sache in ernstliche Erwägung zu ziehen. Da galt es denn den Anwurf für
Haus und Geschäft nebst den ersten Einrichtungen des jungen Haushaltes in Berechnung zu
ziehen; eine weitre Summe zum Betriebe durfte ebensowenig übersehen werden. Dieses Alles
drohte aber,auch im bescheidensten Maße ausgeführt und bei der grösten Einschränkung des
jungen Paares, die verfügbaren Mittel mehr als zu erschöpfen. Der Sache selbst fühlte sich
zwar Rudolf wohl gewachsen; sein Besuch der Abendschule sowohl, als der langjährige
Aufenthalt in dem Hause und Geschäfte Steinmanns, hatten ihn zu dem was die Führung eines
Kaufladens betrifft, hinlänglich fähig gemacht, manches kleinre Kaufmännische, 161
was sonst Commis besorgen, war durch das Zutrauen seines Herrn, Rudolf bereits schon
anvertraut worden und hatte ihn tiefer in das Handelswesen eingeführt.Das konnte ihm jetzt
trefflich zu statten kommen, wie er denn auch mit dem Kramladen keineswegs, was man sfagt,
die Katze im Sacke kaufte. Gleichwohl machte ihn der Geldpunkt etwas ängstlich, er
fürchtete, mit den Ersparnissen doch nicht genügend auszureichen. Sein früherer leichter
Sinn, sein kecker Muth schienen ihn ganz verlassen zu haben. Er rechnete und rechnete,
konnte nicht vorsichtig genug sein; die Zinse des stehenbleibenden Capitales drückten ihn
schon im Voraus, in allen Gliedern empfand er es, daß er bereit sei einen sehr
entscheidungsvollen Schritt zu wagen. So war Rudolfs Herz und Kopf fast völlig von dem
abzuschließenden Vertrage eingenommen und es wogte darin auf und ab. Heute hoffte er und
war guter Dinge: die Bedingungen des Kaufes seien ja so günstig als moöglich, für die
Haushaltung in der ersten und schlimmsten Zeit brauche er so viel wie nichts, die meisten
Waaren liefre ihm sein bisheriger Herr zu den vortheilhaftesten Preisen und mit
Zahlungsterminen, die er selber bestimmen könne. Morgen dagegen überkam den armen Rudolf
wieder ein entsetzliches Bangen und grenzenloser Kleinmuth: er sah Alles fehlschlagen, ein
Gewirr von Verlegenheiten, eine Last von Schulden drohte ihn zu ersticken und zu
erdrücken; er wünschte den Kramladen in's Pfefferland und wollte lieber sein Leben lang
Knecht 11
Dieneun und Verdienen.bleiben, als mit solchen Aengsten Herr sein. In
kürzerm Wellenschlage machte Annemareili diese Schwankungen alle mit, indem es, bei der
eignen Unkenntniß, seine Stimmung an der des Verlobten absah. Mit diesem freute es sich an
der ständigen Zunahme ihres bescheidnen ersparten Vermögens; etwas aber schien ihm dabei
doch auch zu fehlen und sogar eine kleine Furcht schlich ihm in's Herz. Diese Besorgniß
hatte eine tiefre Wurzel als bei Rudolf. Wenn diesem die äußre Sicherheit noch nicht
begründet genug erschien, zagte Annemareili wohl auch, allein es sagte: an Gottes Segen
ist Alles gelegen! Dieß gab Rudolf zwar zu, aber er meinte doch: wenn sonst Alles in
Ordnung sei, werde dieser Segen nicht fehlen, wo man Recht thue und das Seine ehrlich
erwerbe; Das sei ja gerade der Lohn der Rechtschaffenheit! was man denn sonst vor einem
Diebe oder Schelmen oder Lumpen voraushätte? Auf Solches schwieg denn wohl Annemareili,
aber es hatte es ja nicht so gemeint. Indeß gieng unwillkürlich und fast ohne vieles
Zuthun die Angelegenheit durch alle diese Klippen und Sandbänke hindurch der endlichen
Abwicklung entgegen, indem mehr als ein Berg sich von selber zu ebnen schien, sobald man
sich ihm nahte, und mehr als ein gefahrdrohendes Riff unschädlich in die Tiefe versank,
noch bevor das Lebensschifflein Annemareilis und Rudolfs nur daran gestoßen.
Unter allem Erwägen und Sorgen und Zweifeln waren daher die Zwei doch soweit gekommen,
daß sie bereits den Tag festgesetzt, an welchem fie gemeinsam in ihrer
Heimatgemeinde sich einfinden wollten, um mit den Behörden die nöthigen gesetzlichen
Schritte zu vereinbaren und den Kramladen, sowie ihre häusliche Einrichtung an Ort und
Stelle gemeinsam einzusehen und zu besprechen. Zu diesem wichtigen Gange hatten sie von
ihren beidseitigen Herrschaften, die um den Zweck und das Ziel wußten, die Erlaubniß,
sowie einige nöthige Anweisungen bereitwillig erhalten. Die Eisenbahn führte sie bis etwa
zwei Stunden von Schwellbach,wohin ein freundliches Nebensträßchen zwischen Bergwiesen und
am Waldsaume hin über die Anhöhe weg abzweigte. Es war im Herbste: Aster und
Tausendguldenkraut blühten am Wege, der mit wilden Rosenbüschen stückweise begrenzt war,
an denen aber jetzt nur feuerrothe Hagebutten an den langen dornigen Ranken über den
Fußpfad sich hinneigten. Die hellgrüne Wiese, mit dem kurzen dichten Grase, prangte voll
Herbstzeitlosen,die von dem freundlichen Sonnenschein erwärmt, nicht halb so frostig an
den Winter mahnten, wie sonst ihre Art ist; hie und da stand auch ein einzelner Baum
Bergkirschen, der jetzt tief in purpurnem Blätterschmucke prangte. Vogelsang war freilich
nicht mehr viel zu hören. Wenn zwar da und dort noch ein Fink oder eine Meise in's Gebüsch
oder über den freien Anger nach dem Walde zuflogen, geschah das ohne viel Aufhebens und
meist zu praktischen Zwecken: sie trugen irgend eine Beere, ein ver spätetes Würmlein als
Beute zu Neste.11*Die Spinnen allein schienen ihr Webegeschäft noch in
schwunghaftem Flore zu betreiben, den vielen Fäden und Netzen nach zu urtheilen, welche
sie von Halm zu Halm und von Ast zu Ast hinzogen, als sollten nicht nur sämmtliche noch
vorhandne matten Fliegen und Mückchen jetzt gefangen werden, sondern auch die
Menschen,bald eine Nase in den Netzen, bald war eine Augsbraune umsponnen, oder ein Mund
mitten im Sprechen durch ein paar derbe überzwerche Fäden plötzlich geschlossen. Es
giengen übrigens nicht viel Leute des Weges;nur in der Ferne, auf einem tiefen Acker,
waren Weiber und Männer und Kinder am Erdäpfelaushacken,noch weiter unten pflügte ein
Knecht und sein eintöniges Hüst und Hott drang weit durch die herbstliche Stille
dahin.
Annemareili und Rudolf bogen eben aus dem Hohlwege, der durch ein Stückchen Wald nach der
freien Höhe führte, von wo der Ausblick in die Ferne und in das jenseitige Thal sich
öffnete. Sie waren schweigend heraufgekommen, schweigend blieben sie jetzt auch stehen,
wie überrascht von dem was sie sahen, obwohl ihnen Weg und Gegend nichts weniger als neu
waren.Aber der längre Aufenthalt in der Stadt, in den engen Straßen und den hohen Mauern
hatte ihnen die Augen für den ländlichen Reiz geschärft, altbekannt und doch frisch, und
von dem herbstlichen sonnigen Dufte verklärt, machte Alles einen eigenthümlichen Eindruck
auf 165 sie. Da unten am Fuße des schon in Gelb und Roth prangenden bergigen
Laubwaldes, der quer auf der saftgrünen Wiese lag, stand ihr Heimatdorf, der Kirchthurm
mit dem eisernen Kreuze und die braunrothen Dächer schon von der Sonne beleuchtet, während
die Mauern noch in blauen Schatten standen. Dem Bache entlang zog sich Buschwerk, von
einzelnen Erlen überragt, hinten wölbten sich in sanften Linien und nur selten von einer
gelben Fluh unterbrochen, die hügligen Berge,von Dunkelblau in dämmrigen Duft sich
abstufend, nach ihrer Entfernung. Der Kirchthurm ragte über die tiefste Einsattelung des
Gebirgzuges hinaus und schien neugierig durch die Lücke in die weite Welt draußen blicken
zu wollen. Mancherlei Gedanken stiegen in den beiden Wanderern auf, denen diese aber,
jedes für sich, stillschweigend nachhiengen: die einen flatterten in dem frischen
Morgenwinde leicht über die Höhen dahin, andre hafteten schwerer und zäher, neue drängten
unwillkürlich nach an die Stelle der entfliehenden. Es wogte und spielte und kämpfte in
den Herzen fast wie in der Luft, Hoffnung und Frende dort mit Sorge und spannender
Erwartung, wie hier die wärmenden Sonnenstrahlen mit der Morgenkälte, die aus den
schattigen Theilen der Landschaft, wo sie hartnäckig Posto gefaßt, sich nicht wollte
vertreiben lassen.
Annemareili trug ein Päcklein, in grau Papier gewickelt und mit einer Schnur
zusammengebunden, während sein Begleiter ledig gieng. Ein andermal hätte Rudolf die kleine Last seiner Verlobten jedenfalls abgenommen, dießmal that er's nicht,
bot es nicht einmal an; konnte es unbemerkt geschehen, so warf er sogar einen halb
ärgerlichen Blick darauf. Als sie den Entschluß gefaßt, den Besuch in ihrem Heimatdorfe
abzustatten, hatte Annemareili in guten Treuen von den Geschenken mit Rudolf zu sprechen
angefangen, die sie den Ihrigen, wie üblich, bringen könnten; jedenfalls dem
Stiefbrüderchen, doch auch der Stiefmutter würde es gerne etwas verehren; der Vater war
seit zwei Jahren todt. Was Rudolf den Seinen zu bringen gedenke? fragte es, als dieser
stille schwieg. Fast etwas verlegen erwiderte er: er wüßte nicht was die Mutter besonders
noöthig hätte, zudem fange er Dergleichen nicht gerne an, besonders jetzt nicht, da sie zu
dem Ihren sehen müssten und für sich selber kaum ausreichen würden; es dünkte ihn, es wäre
am besten, sie dächten erst an sich, es helfe ihnen ja auch niemand und man wisse nicht,
was Alles noch an einen komme!
Annemareili konnte an sich bis auf's Aeußerste abbrechen und dabei fröhlichen Herzens
sein. Etwas Anderes aber war es an Andern zu sparen; das vermochte es nicht. Es hätte sich
schon vor den Leuten und seinen Verwandten geschämt, diesen, die so dürftig waren,nicht
etwas zu kramen, es, dem es ja wohl gieng. Noch mehr aber verwehrte ihm dieß das Gutmeinen
und Wohlwollen seines Herzens. Wußte es doch wie erwünscht ihnen ein Geschenk kam, wie
angelegt auch es war und b wie sie es erwarteten. Dem Stiefbruder, der in
Unterricht gieng, hatte es Tuch zu einem Rocke bei seiner Confirmation zugedacht, der
Stiefmutter zu einer Schürze für den Sonntag; es wäre ihm unmöglich gewesen mit leeren
Händen vor sie zu treten. So sah es nur die Freude, die es verbreitete, und nicht den
kleinen Abbruch an einer Summe, deren zukünftige Verwendung nur farblos im Allgemeinen ihm
vor Augen stand.Und konnte es auch den Grund weder sich selbst klar machen, noch weniger
ihn bestimmt angeben, so fühlte es deßhalb nicht minder lebhaft, daß es Recht habe und
leistete so Widerstand gegen Rudolfs Bedenken, die sich ja auch nicht geradezu ihm
hindernd in den Weg zu stellen wagten.
Diese Lust Annemareilis, andern Freude zu machen,und seine Liebe zu Rudolf ließen deßhalb
auch keine tiefere Mißstimmung in ihm aufkommen, und es trug sein Päcklein getrost selber,
durch den schönen Herbsttag vollends zur Heiterkeit aufgelegt. Sein Schweigen jetzt war
mehr ein bräutliches: das Herz war so voll, so erwartend,so von neuen Eindrücken umlagert,
daß es ihm wohl that, nur stille in die blaue Ferne, auf die hellgrünen Matten hinblicken
zu können und auf das Dörflein hinunter, darin es seine Jugend verbracht und wo ihm nun
ein zweites schönres und reichres Leben aufgehen sollte.
Rudolf seinerseits hatte freilich einen andern Grund des Schweigens, er hatte etwas zu
verarbeiten: einen kleinen Aerger über Annemareilis unzeitige Generosität,wie
er es nannte, und dann ein Heer von Sorgen, Bedenken und Zweifeln, die beim Anblick des
Dorfes, seines künftigen Aufenthaltes, wie böse Dünste aufzusteigen schienen und sich
drückend über sein Hirn lagerten. Die nahende Entscheidung machte ihm diese Stimmung nicht
erträglicher und in seiner Schwarzsichtigkeit las er aus dem Schweigen der Verlobten
nichts als eine Bestätigung des eignen Mißbehagens und Besorgens.
Ohne Mahnung, ohne Verabredung, aber als hätte nun Jedes muthig seinen Entschluß gefaßt,
schritten die Beiden rüstig dem Dorfe und dem heutigen Ziele zu.Nur bei den drei alten
Nußbäumen, wo das Mädchen bei seiner Flucht vom Hause sich noch einmal umgekehrt und seine
väterliche Wohnung noch einmal angeschaut,nur dort weilte Annemareili auch jetzt wieder
einen Augenblick. Die Erinnerung jener langverflossnen Zeit wachte mit einmal lebendig in
seiner Seele auf und es sah sein eignes verwahrlostes, aber jugendliches, Bild,wie das
eines fremden Menschen vor dem geistigen Auge aufsteigen. Aber es schwieg; nur als Rudolf
den Fußweg einschlagen wollte, der hinter den Häusern schneller nach der Mitte des Dorfes
führte, drang es fast erregt darauf, den breitern aber weitern Fahrweg einzuschlagen,als
fürchte es sich den abgelegnern Pfad jetzt zu begehen,auf dem es heimlich wie ein Dieb
seiner Zeit sich davon geschlichen.
Wie sie sich vorgenommen, giengen die Verlobten zuerst zum Krämer, um vor Allem das
Geschäftliche ims Reine zu bringen. Wie war er verkommen, der gute Heinrich!
Seit den manchen Jahren, die es ihn nicht mehr gesehen, schien er Annemareili gar nicht
gewachsen,ja eher noch kleiner geworden zu sein. Nur sein Gesicht war welker und die Züge
älter; er sah aus wie ein Stück verlegner Waare seines Kramladens. Einiges Leben kam
jedoch in das stille trockne Antlitz durch die unerwartete Begegnung mit der ehmaligen
Freundin,wenn der Strahl der Freude, als ein matter Wiederschein, auch etwas mühsam durch
die Jahre der Trennung drang und sich in den, der Jugendlichkeit entwöhnten Zügen nur
nothdürftig behauptete. Da sei doch der Rudolf ein andrer Mensch! mußte Annemareili
unwillkürlich denken, als es die beiden Jugendgenossen neben einander sah und verglich.
Auch bei der geschäftlichen Verhandlung über diesen und jenen Punkt zeigte sich der
Unterschied: Rudolfs gewandte Entschlossenheit, sein durchgreifender Wille zwangen bei
mehr als einem Anlasse den schwächern und blödern Heinrich zum Nachgeben und Willfahren.
Unwillkürlich kam es hiebei Annemareili vor, die Zweie stritten sich wieder wie in der
Knabenzeit und der Schmidtrudi mißbrauche seine Uebermacht gegen den Schwächern. Ja es
wandelte das Mädchen mehr als einmal an, wieder dem Unterliegenden wie ehmals zu helfen
und den Rudolf, zwar nicht mit Kratzen und Haarraufen zur Räson zu bringen,wohl aber durch
einen ernstlichen Zuspruch, eine Mahnung oder eine Vorstellung seiner unbilligen
Eigensucht.Rudolf war gewandt, tüchtig und wußte was er wollte, darüber
waltete kein Zweifel und diese Eigenschaften gefielen auch Annemareili. Was aber Schonung,
Billigkeit oder gar zarte Rücksichten anbetraf, so waren diese seine schwache Seite.
Weniger weil er rohen und harten Herzens gewesen, als weil er der Meinung war,dergleichen
gehörten nicht in den Handel. Sein Grundsatz war vielmehr: Jeder solle sich wehren so gut
er vermöge und nach Kräften seinen Vortheil wahren;versteht sich, ohne den Vorwurf der
Unehrlichkeit auf sich zu laden! Mehr als einmal auch wandte sich Heinrich, wenn er in's
Gedränge gerieth, an Annemareilis Billigkeitsgefühl und stellte ihm den Entscheid
anheim.Dem Mädchen war das peinlich, um Rudolfs willen,weil es wohl merkte, wie dieser
erwartete, daß es ihm zustimme, und ebenso wegen Heinrichs, dem es nicht selber zu nahe
treten konnte. Es suchte sich deßhalb aus der Verlegenheit zu ziehen indem es sagte:
darauf verstehe es sich nicht, zudem sei es parteiisch; des Rudolfs Nutzen sei ja auch
seiner. Da aber gab Heinrich erst recht nach, als fühle er sich ganz wehrlos und
verlassen, sodaß Annemareili ordentlich froh ward, als sie endlich in's Reine gekommen und
den Krämer und sein Haus wieder verließen, die Ortsbehörden und die eignen Verwandten
aufzusuchen.
In wie lockrer Verbindung Annemareili auch mit der Stiefmutter stand, es hatte aus
Schicklichkeitsgefühl doch darauf gehalten sie jetzt auch zu besuchen.Mehr
mochte es sich noch zu seinem Stiefbruder angezogen fühlen, den es ja von klein auf wie
einen wirklichen Bruder geliebt. Rudolf begleitete seine Verlobte. Sie wurden von der
Stiefmutter leidlich freundlich aufgenommen, besonders als diese den ihr bestimmten Kram
sah. Mit dem Danke kam aber auch ein großer Schwall Klagen über ihre Noth und
Dürftigkeit,wie die Kinder ihr eine Last seien, ihr niemand helfe und sie oft nicht wisse
wo nehmen und wo wehren.Und die Armut und die Unordnung die in allem sich in der Wohnung
kundgaben, drückten Annemareili auf dem Herzen. Halb schämte es sich vor Rudolf, noch mehr
aber fiel ihm der Gedanke peinlich, wieder in solcher Armütigkeit leben zu müssen, in der
es doch leichten Blutes so manches Zahr verbracht. Und was ihm noch mehr zuwider war als
die äußre Dürftigkeit, das war der rohe und unfreundliche Geist, der hier sein Wesen hatte
und mit seinem verwilderten Blicke Alles ansah und beurtheilte. An ihm merkte es am
auffäͤlligsten die große Veränderung die es selbst in der Zwischenzeit erfahren. Ein
unbehagliches Gefühl, ja ein tiefes Bedauern überkam es besonders auch wegen seines
Stiefbruders, der in dieser Luft leben mußte und jetzt gerade,wo sein junges Gemüt durch
den Confirmationsunterricht sich Höhrem und Bessrem zuwenden sollte. Der Knabe äußerte, im
Gegensatz zu seiner Mutter, eine aufrichtige und lebhafte Freude beim Wiedersehen
Annemareilis,auch bevor ihm dieses seinen Kram ausgepackt. Und auch als er
das währhafte und gute Tuch zu dem Feierkleide in Händen hielt, war es wohl ebenso sehr
die Freude über die Anhänglichkeit des lieben Annemareilis,als der Werth des Geschenkes,
was seine Wangen röthete. Die Scheu vor der „vornehmen“ Schwester, die in der Stadt in
einem Herrenhause lebte und jetzt noch obendrein verlobt war, verlor sich bei dem Burschen
bald und die alte Traulichkeit brach wieder hervor, da auch er die frühre Liebe
wiederfand. Der offne Junge trug seine Gefühle sogar theilweise auf Rudolf über,sah er
doch nun Beide als zusammengehörend an, besonders da der künftige Schwager auch ihm sich
freundlich zeigte.
Als die Stiefmutter für einen Augenblick die Stube verlassen hatte, machte der Knabe mit
seinem frischerwachten und freudigen Vertrauen sich alsbald an Annemareili und drückte ihm
den Wunsch aus, in die Lehre zu treten und ein Handwerk zu erlernen. „Die Mutter will
nichts davon wissen,“ schloß der Knabe, „sie sagte ich solle mich an dich wenden.“
Annemareili war hiedurch überrascht, wenn ihm in dem Wunsche auch gleich das richtigste
Mittel zu liegen schien, den Stiefbruder in bessre Verhältnisse als hier zu bringen und so
gründlich für seine Zukunft zu sorgen. Es warf, ohne etwas zu erwidern, einen Blick,halb
fragend, halb bittend, auf Rudolf, der roth wurde,aber nur kurz bemerkte: dazu müsse sich
der Knabe an seinen Vogt wenden und dieser waährscheinlich dann an die
Gemeinde! Der Junge blickte seinen künftigen Schwager ob dieses Rathes etwas scheu und
verlegen an, und sein Auge flüchtete dann zu Annemareili, ob dieses nicht ein
tröstlicheres Wort für ihn habe? Es schwieg, sein Blick jedoch schien dem Bruder eher
Hoffnung machen,als ihm diese benehmen zu wollen. Eine weitre Verhandlung fand keine Statt
und bald hernach trennte man sich, mit Ausnahme Annemareilis und des Stiefbruders ohne
viel Wärme, um nun noch Rudolfs Mutter zu besuchen und ihr des Sohnes künftige Frau
vorzuführen.Hierzehntes Capitel.Die Schwiegermutter. Herbitnebel. Annemareili giebt
nach.
Sie trafen die Alte in kaum viel günstigern äussern Verhältnissen als die Stiefmutter. In
einer ziemlich verfallnen Kammer, hinten an eine Scheune stoßend,sah Alles gar ärmlich und
verbraucht aus, Nothdurft und Unvermögen blickten von jedem Stück Geräthe und aus jedem
Winkel den Eintretenden fast wehmüthig entgegen. Und sie paßten allerdings weit besser zu
der gebrechlichen und gebeugten Gestalt der Bewohnerin, die sich mühselig von einem mit
Schnüren zusammengebundnen Sessel erhob, als zu dem frischen und kräftigen Paare, das in
seinem Sonntagsputze wie verirrt inmitten der Stube stand. Gleichwohl fiel Annemareili
alsbald ein großer Unterschied auf zwischen der Armuth hier und der bei seiner
Stiefmutter. Die Schmidtwittwe hatte es im Leben hart gehabt und jetzt im Alter nicht
freundlich; aber sie hatte immer redlich gekämpft, war Bessres gewohnt, und rang auch
jetzt noch nach ihren schwachen Kräften, nicht unterzusinken. Wie arm und gebrechlich ein
Jedes war, die Reinlichkeit und Ordnung drang doch durch alle Dürftigkeit
siegreich hindurch und eine bessre Zeit blickte da und dort noch, ob auch scheu und
unsicher, in die schlimme Gegenwart herein. Man sah es, die Frau leistete gegen das
völlige Verkommen noch immer muthigen Widerstand, hatte nicht das Gewehr gestreckt oder
gar mit dem Erbfeinde, der Unordnung und Gleichgültigkeit ein Schutze und Trutzbündniß
geschlossen. Reinlich waren die wenigen abgebrauchten und hinfälligen Geräthschaften,
reinlich Boden und Wände,die Bettdecke alt, verwaschen und hundertfach geflickt,aber ganz,
das wenige Geschirr, vom Geringsten, stand gescheuert ein jedes an seinem Orte. Kurz, der
gute Wille zeigte sich überall, aber das Vermögen fehlte, da langten die schwachen Kräfte
der alten Frau nicht mehr hin. Sie wollte den Kindern gerne einen rechten Caffe machen,
aber man sah ihr die Verlegenheit an, daß es ihr so ziemlich an Allem dazu fehlte: nicht
genug Caffe,zu wenig Milch, hartes Brod und ungenügendes Geschirr. Die jungen Leute
dankten, es sei nicht nöthig,sie müßten ja doch ins Wirthshaus! und mit sichtlicher
Wehmuth verzichtete die Mutter auf diesen Ehrenpunkt der weiblichen Gastfreundschaft,
indem sie beifügte: Rudolf und Annemareili würden es halt besser gewohnt sein! Rudolf
schien es hier überhaupt nicht recht wohl zu sein, bald drängte er wieder fort, als triebe
ihn eine heimliche Unruhe oder ein stiller Vorwurf. Man müsse noch zum Gemeinderath und
dem Schreiber, meinte er,von wegen der Schriften und da sei es jetzt Zeit aufzubrechen. Annemareili, das zu der alten Frau halb aus Mitleid, halb aus Zuneigung sich
hingezogen fühlte,und auch gerne ihr Vertrauen sich erworben hätte, hieß Rudolf allein zu
den Behörden gehen und die Sachen abmachen, es sei doch unnöthig dabei, und wolle lieber
inzwischen bei der Mutter bleiben und hier auf Rudolfs Rückkunft warten. Ein etwas
verwunderter aber freundlicher, ja fast dankbarer Blick der Alten bestärkte es in diesem
Vorsatze, als der Verlobte nicht ganz damit einverstanden schien, sondern meinte, es
könnte leicht irgend einen Anstand geben und auch sonst wäre es ihm lieber wenn
Annemareili dabei wäre, es gehe sie Beide ja gleich an. Annemareili aber erklärte, von
derlei Geschäftssachen ja doch nichts zu verstehen, es wäre nur das fünfte Rad am Wagen.
Auch die Mutter ergriff nun die Partei der Schwiegertochter und wo zwei Weiber recht
zusammen halten, da zieht ein Mannsbild, und wenn es auch der zähste Rudi wäre, gewiß den
Kürzern, wenn es nicht gar das Rauheste herauskehren will.
Kurz Rudolf gieng zu den Gemeindebehörden und die Frauen, sobald er den Rücken gekehrt,
machten sich nun doch dran, einen kleinen bescheidnen Caffe zu kochen, als das sicherste
Mittel, ihre Herzen gegenseitig zu erschließen und sich näher zu kommen. Schon bei dem
Herbeiholen und Benützen des dürftigen Kochgeschirres, womit aber Annemareili, so gerne es
behülflich war, sich in der Dürftigkeit nicht zurecht zu finden wußte, schon am
Anfang,noch ehe der Trank selber seine Wirkung that, ließ die alte Wittwe das
theilnehmende Mädchen ein wenig in ihre Noth blicken; mehr jedoch daß sie in
Entschuldigungen als in Klagen sich ergoß. Es brauchte nicht gar vieler Hin- und Herreden,
so erkannte Annemareili, daß Rudolf für seine Mutter nichts that, sondern sie so gut oder
so schlimm als möglich sich behelfen ließ. Allerdings hatte die Frau auch nichts von ihm
verlangt, ein einziges Mal ausgenommen an den Hauszins. Da sei aber der Sohn selber in
Geldverlegenheit gewesen, sonst hätte er es gewiß gethan! fügte sie entschuldigend bei.
Später, da es ihm besser ergangen, habe er sie ein paar Male gefragt, ob sie etwas
bedürfe, ihr auch wiederholt ein Geschenk gemacht. In neurer Zeit freilich nicht mehr und
da hätte sie halt geglaubt, Annemareili sähe es vielleicht ungern; sie sehe nun aber wohl
daß dem nicht so sei und es freue sie, wenn es ihr an Rudolf auch wehe thue, er habe sonst
immer ein Herz für sie gehabt! Indeß, fügte sie wieder entschuldigend bei, eine neue
Einrichtung kostet Geld, besonders solch ein Geschäft, wie des Krämers seines, zudem habe
er ja Alles selber verdienen müssen, sie wolle sich in Gottes Namen behelfen, es sei noch
immer gegangen,Gott werde sie auch jetzt in ihren alten Tagen nicht verlassen! Die arme
Frau wollte auch durchaus nicht,weder selber mit ihrem Sohne sprechen, noch daß
Annemareili es thue: wenn es ihm einmal möglich sei und sie nicht mehr selber es vermöge,
werde er ihr schon behülflich sein! Annemareili war tief ergriffen, verschie12
Dienen und Verdienen. denartige Empfindungen bemächtigten sich seines
Herzens,vor allem aber ein inniges Mitgefühl mit der guten Wittwe. Im Drange seines
Gefühles leerte es sein Geldbeutelchen auf den Tisch aus und bat fast flehentlich, als
gölte es eine Schuld zu sühnen, die seines Verlobten, die kleine Baarschaft anzunehmen.
Sie seien ja jetzt nahe verwandt, es die Tochter und sie die Schwiegermutter, da dürfe ja
eins von dem andern schon etwas annehmen. Der Schmidtsfrau traten Thränen in die
vertrockneten Augen, aber sie war nicht zur Annahme der Liebesgabe zu bewegen, nur das
versprach sie endlich,wenn sie wirklich Noth leide und der Hülfe bedürfe,sich vor Allen an
Annemareili wenden zu wollen.
Die Beiden waren sich schnell näher gekommen, sie standen wirklich wie Mutter und Tochter
zu einander,als Rudolf wieder eintrat, der inzwischen die Geschäfte abgethan und nun zum
Aufbruch mahnte. Sie wollten noch vorher etwas im Wirthshaus essen und er lud hiezu auch
die Mutter ein, welche es aber entschieden ablehnte. Die beiden Jungen giengen allein und
Rudolf, in Betracht seiner künftigen Stellung als Krämer, ließ sich's dießmal wider Willen
etwas kosten, Wein und Braten mußten ihm auf den Tisch kommen. Er aß freilich beinahe
allein, denn seine Braut rührte die Speisen kaum an. Sie gab dem genossenen Caffe Schuld,
in Wahrheit aber hatte ihr etwas ganz Anderes den Appetit genommen: die Lage und die
Mittheilungen der armen Schwiegermutter. Als sie fast fertig waren, bat es,
der Mutter doch auch etwas zukommen zu lassen, ein Stück Braten und eine Flasche Wein.
Rudolf sah Annemareili prüfend, ja fast mißtrauisch an. Die Mutter hätte ja mit ihnen
kommen können! meinte er, indeß er habe nichts dagegen ihr etwas zu schicken! und die Magd
des Wirthes trug nun alsbald die ungewohnten Leckerbissen nach der armseligen Wohnung der
Schmidtswittwe hinüber.Als die Zwei sich auf den Heimweg machten und vom Dorfe den Hügel
wieder hinan stiegen, wälzte sich über die Höhe desselben ein dicker grauer Herbstnebel
und verhüllte die Sonne, die nun nur zeitweise wie eine mattglänzende silberne Scheibe
durch die leichtern Wolkenmassen hindurch drang, aber weder zu erwärmen, noch zu
erleuchten vermochte. Es war kalt und feucht droben,besonders da zwischen der Berglücke
noch der Wind herüber blies und von den Ranken und Zweigen des Gebüsches die Nebeltropfen
den Wanderern gelegentlich in's Gesicht und auf die Hände schüttelte. Auch das Gras war
naß und die Herbstblumen, die Morgens so lachend ihre bunten Köpflein der Sonne zugekehrt,
ließen dieselben nun schauernd und trauernd in der unfreundlichen Luft hängen. Die
entferntern einzelnen Bäume aber sahen in dem dicken Nebel wie mächtige graue Gespenster
aus, schienen weit weit im Hintergrunde zu stehen und mit einmal standen sie dann doch
hart am Wege.Die beiden Verlobten fühlten sich nicht minder unbehaglich und Rudolf knüpfte
seinen Rock zu, während Anne12*mareili das Halstuch dichter um den Nacken
zusammenzog. Aber kalt schien der Nebel auch in ihre Herzen hinein zu dringen und sie
schlossen sich nicht enger an einander, sich zu erwärmen, sondern jedes gieng, wie in
eignen Gedanken, für sich selber.
Annemareili hatte viel zurecht zu legen, womit es nicht wohl zu Stande kam. Ein Gefühl
von Unruhe,das zuweilen in Bitterkeit, zuweilen mehr in Angst umschlug, hatte sich seiner
bemächtigt und schloß ihm den Mund. Das Elend e Mutter hatte sein Innerstes verletzt,
besonders da der Sohn gar kein Auge dafür zu haben schien. Auch daß dieser so
rücksichtslos den Stiefbruder wegen des Lehrgeldes an den Vogt und die Gemeinde gewiesen,
that ihm weh und es machte sich hintendrein nun Vorwürfe, daß es dazu nur geschwiegen.
Ueberhaupt fühlte es sich durch sein bisheriges Zusammengehen mit Rudolf halb in dessen
Schuld verflochten und war darum doppelt gegen ihn verstimmt, jetzt, da ihm die Augen
aufgiengen. Zu erwerben und zu sparen für einen guten und ehrenhaften Zweck hatte es
bisher gemeint und sich auf dem besten Wege geglaubt. Nun sah es in einen Abgrund
schwarzer Selbstsucht, in den sein Fuß jeden Augenblick hinunter zu gleiten Gefahr lief.Es
erkannte, wie der eine Gedanke des Geldes alle andren Gedanken, gleich einem Ungeheuer,
verschlungen,auch die, welche das Nächste und Heiligste umfiengen.Es ward ihm klar, wie
schon lange diese Hast und Gier nach Geld in Rudolf aufkeimte und gewachsen war, es hatte mit geholfen, jeden Zweifel zurückgedrängt, weil es keine Gefahr darin
geahnt und Alles nur zum Guten ausgelegt. Jetzt sah es die Früchte davon und schauerte:dem
Leichtsinn, der Verschwendung und Genußsucht waren sie wohl entflohen, aber dafür der
Hartherzigkeit,Lieblosigket und dem Mammonsdienste in die Arme gerannt.
Indeß auch Rudolf war durch die Noth der Mutter,welche ihm heute erst recht sichtbar vor
die Augen getreten,verstimmt und Vorwürfe, Mitleid und Entschuldigungen rangen in seinem
Innern wirr mit einander um die Oberherrschaft. Daß Annemareili mit der Mutter dann noch
allein gewesen und gewiß tiefer in die Verhältnisse geschaut, beunruhigte ihn nicht
minder, sagte ihm doch sein böses Gewissen, daß er dabei nicht zum Besten weggekommen.
Dazu kam die Besorgniß, Annemareili mochte jeden Augenblick, wenn er mittheilsam und
freundlich sich zeige, das Anliegen des Stiefbruders wegen des Lehrgeldes wieder
vorbringen; hatte er doch gar wohl bemerkt, wie es, trotz des Schweigens, gar sehr ein
Gelüsten trug, dem Burschen das Geld selber zu zahlen.Aber weß das Herz voll ist, deß geht
der Mund über!heißt es nicht umsonst. Und von unten bis oben angefüllt war Rudolfs Herz
mit den Sorgen und Plänen und Berechnungen wegen des neuen Geschäftes, das er zu
übernehmen im Begriffe stand. Diese Gedanken schwollen an und verdichteten sich immer
mehr, bis sie endlich in Worten laut wurden und überflossen:Sie würden,
begann er auf einmal mitten im Nebel, wohl mit zwei Stuben in der künftigen Wohnung sich
behelfen können; wenigstens für die erste Zeit!Das Uebrige könne man dann vermiethen und
so trage es wieder etwas an den Zins bei.
Fast selbstvergessen hatte Rudolf dieses mehr zu sich gesagt, als zu seiner Begleiterin.
Diese aber konnte nun auch nicht anders, als die Gelegenheit, besonders da sie sich so
schön bot, zur Erleichterung des Herzens ergreifen.
„Ich habe gedacht, du wollest dann die Mutter zu dir nehmen;! begann Annemareili, und als
Rudolf erwiderte, davon sei nie die Rede gewesen, fuhr es fort:„Ich möcht' es ihr wohl
gönnen; sie scheint es nicht zum Besten zu haben in ihren alten Tagen; hast du nicht
gesehen, wie das Wasser an den Wänden herunter lief?“ „Es ist die Frage, ob ihr's nur
recht wäre? alte Leute ändern nicht gerne; hat sie's auch jetzt nicht am bequemsten, so
ist's seit Langem so, und sie hat nicht Ansprüche wie Leute die das Stadtleben gewohnt
sind.Zudem würden wir ein schönes Stück Zins verlieren,auf das wir sehen müssen; man kann
nicht immer thun,was man gerne will!“
Diese ablehnende Rede des Verlobten reizte Annemareili nur noch mehr an, seiner Stimmung
Luft zu machen und die Vorwürfe der Härte und der Unkindlichkeit durchblicken zu lassen.
Auf so gespartem Geld könne kein Segen ruhen, schloß es, und es fürchte sich
mehr mit dieser Schuld ihre Zukunft anzutreten, als wenn sie noch so viel Geld auf dem
Kramladen stehen hätten!Rudolf, ärgerlich und ängstlich zugleich, klagte, daß Annemareili,
statt ihm behülflich zu sein, ihm nur entgegentrete. Ob er nicht sonst schon genug zu
sorgen und zu kämpfen habe? Er würde auch lieber den Gutthätigen spielen, wenn's damit
dann nur gethan wäre.Oder ob er sich's denn leicht mache und nur an Andern sparen wolle?
das werde niemand sagen dürfen. Hingegen würde er es ungern sehen, den Laden nicht
behaupten zu können, und wie der Schneiderpeterli nach ein paar Wochen ganten zu lassen.
Hätte er bisher nicht so sehr gespart, so könnte gar keine Rede von der Uebernahme sein,
lange es doch so nur knapp. Annemareili liege, schein' es, nicht viel dran, noch einige
Jahre zu warten bis sie die Haushaltung anfiengen; er aber fürchte,mit dem Krämerheinrich
möchte inzwischen der ganze Handel wieder zurück gehen, wenn man ihn weiter hinaus
schiebe: sein Vetter suche ihn so dagegen aufzustiften, er hab' es wohl bemerkt. Wenn er
Ueberflüssiges besäße, niemand lieber als er würde es der Mutter leicht und bequem machen,
aber vorerst müßte er doch selber leben können. Habe man sich einmal aus der gröbsten
Schuld heraus gearbeitet, nun ja, da könne man noch bedenken, was zu thun sei; die Eltern
hätten ihm übrigens auch nicht zu dem verholfen, was jetzt sein gehöre,vom ersten Heller
habe er's selber verdienen müssen.
„Nicht, Annemareili,“ schloß er etwas empfindlich, „wenn dich dein Geld reut, so bist du
freilich Herr darin, ich habe nichts zu befehlen; aber bisher habe ich drauf gezählt
gehabt und wie ich mir die Sache bis jetzt gedacht, könnte ich's nicht mangeln.“
Durch diese Entgegnung ließ sich Annemareili nicht sowohl überzeugen und geschweigen, als
vielmehr erschrecken und einschüchtern. Nicht nur ließ es durch Rudolfs Aengstlichkeit und
Kleinmuth sich selber verzagt machen und um das Vertrauen bringen, es fürchtete nicht
bloß, das Ziel, das es sich so nahe dachte, in unsichre Ferne hinausgerückt zu sehen,
sondern es besorgte überdieß eine Entfremdung von Rudolf, ja sogar dessen Verlust. So
hinderte es die falsche Liebe zu dem Verlobten sowohl ihm entgegen zu treten als ihn
muthig zu sich herüber zu ziehen; sie drängte auch die innre Stimme zurück und ließ es
untreu werden an dem, was es für das Bessre erkennen mußte. Annemareili schwankte zwar
anfangs, es hätte sich frei gemacht, wenn ihm Jemand nur ein klein wenig geholfen hätte;
der das aber am besten gekonnt, war ja bemüht, es nur noch enger zu umstricken, nicht mit
glühender Leidenschaft, sondern mit kalten Verstandesbanden, gegen welche die Stimme des
Herzens keine Kraft besaß. Obwohl es sich nun selbst zu überreden suchte, daß das, was
Rudolf von der Mutter sagte, diese ja selber auch gesagt und keine Klage geführt,so trug
es gleichwohl das heimliche Gefühl in sich, etwas Höheres und Heiligeres in ihm sei
verletzt worden, und es habe etwas Unvergängliches an zeitliches Gut dahin
gegeben. Es für sich verrieth zwar nicht das Heilige für die Silberlinge, aber es duldete
den Verrath und verläugnete es aus Menschenfurcht, als ein schwacher Petrus. Indeß gerade
dadurch trübte sich seine Aussicht auf ihr gemeinsames künftiges Glück, das es retten
wollte, indem es die Kluft, die zwischen ihm und dem Verlobten sich aufgethan, nicht
bleibend ausfüllte oder überbrückte, sondern bloß oberflächlich überschüttete mit Gras und
Laub das heute grün und morgen verdorrt ist.
Wenn darum eine äußere Einigung die Beiden auch wieder verband, so kehrten sie innerlich
getrennter als je von ihrem Besuche in der Heimat zurück, Annemareili zumeist mit dem
Gefühle des bösen Gewissens.Eins fühlte sich deßhalb auch durch die Gegenwart des andern
befangen und sie schämten sich fast wie Adam und Eva, da die von der verbotnen Frucht
gekostet und ihre Blöße erkannten. Es wurde ihnen erst wieder etwas leich-ter, als sie
nicht mehr alleine zusammen waren auf dem stillen Sträßlein, sondern in das Dorf und an
die Haltstelle gelangten, an welcher der Eisenbahnzug sie aufnehmen und nach der Stadt
bringen sollte. Die vielen Leute, die sie hier trafen, die Unruhe, ja der Lärm einiger
Bursche, die zu viel getrunken und die Zeit bis zur Ankunft des Bahnzuges mit lautem und
rohem Wesen ausfüllten, waren ihnen heimlich willkommen,übertäubten sie doch die leise
unzufriedne Stimme ihres Innern und brachten sie zerstreuend auf andre Gedanken.Unterwegs war Rudolf einsylbig, klagte Müdigkeit und lehnte mit
halbgeschlosssen Augen in einer Ecke des Wagens, während Annemareili sich zwang auf die
Reden der Mitfahrenden zu achten, um nicht in unbequemes Nachdenken und Grübeln zu
versinken. Beide trennten sich in der Stadt nach kurzem und nicht sehr innigem Abschiede,
obwohl jedes mehr gegen sich selbst als gegen das Andre verstimmt war.Füntzehntes
Capitel.
Ein Stärkrer tritt auf; die Schwiegermutter ebenfalls.Die ersten Wochentage waren
Annemareili unter den gewohnten Dienstverrichtungen verflossen und es hatte nicht viel
Zeit gehabt den Erlebnissen vom Sonntag nachzuhängen. Erst als es gegen Ende der Woche von
Rudolf auch gar nichts vernommen, ihn weder einen Augenblick gesehen, noch eine Nachricht,
einen Gruß erhalten, gedachte es wieder ihres letzten Zu sammenseins und das erste Gefühl
dabei war die Furcht, Rudolf möchte ihm zürnen und sich absichtlich zurückziehen. Gerade
das Opfer, das es gebracht, schien ihm in seiner Gewissensunruhe das Uebel herbeigeführt
zu haben, das es vermeiden wollen. Seine Unruhe steigerte sich rasch,es wäre am liebsten
nach der Wohnung des Herrn Steinmann geeilt, aber eine gewisse Scheu, halb Trotz,halb
Furcht, hielt es wieder davon ab. Am Samstag endlich kam Bericht, ein andrer als das
Mädchen erwartet, aber gleichwohl kein guter: Rudolf ließ sagen,er sei schon seit Montag
krank, wie der Doktor sage,könne die Krankheit längere Zeit andauern und da er in seinem
Dachkämmerlein nicht die nöthige Pflege finde, 188 so habe er sich entschlossen in
den Spital zu gehen.So lautete, was ein Laufbursche des Kaufmanns Annemareili mittheilte.
Ein Stein fiel dabei wohl vom Herzen der armen Magd, jedoch nur um einem andern, fast eben
so schweren, Platz zu machen: Rudolf zürnte ihr allerdings nicht, aber er war krank, in
Gefahr! flüsterte ihr die gesteigerte Besorgniß drohend ins Ohr. Ein Besuch im Spital war
das Nächste, und dieser war allerdings wenig geeignet die Befürchtung zu mindern.Es zeigte
sich hier auch daß der erhaltne Bericht von Rudolfs Erkrankung und Versetzung in das
Krankenhaus nicht unmittelbar von ihm selbst herrührte, sondern von seinem Herrn. Rudolf
selbst hatte aus seinem Kranksein nicht viel machen wollen, trotz der völligen
Abgeschlagenheit und geistigen Stumpfheit, welche gleich am Anfang auftraten. Er meinte,
wenn er etwas zum Stärken und eine Blutsreinigung erhielte, würde es schon besser.Nachdem
er aber in einer der ersten Nächte im Hemde aufgestanden und die Treppen
hinuntergestolpert, um das Ladenstübchen zu kehren, hatte sein Herr keine Rücksicht mehr
auf das Widerstreben genommen, sondern angeordnet, daß er in den Spital abgeholt werde. In
seinen lichten Augenblicken hatte sich Rudolf hierüber sehr ungehalten gezeigt und auf den
Kaufherrn losgezogen,dem gleich Alles zu viel sei und der ihn, wenn er ihm nicht nützen
könne mit Arbeiten, sofort sich vom Halse schaffe!
Annemareili, wie froh es war, daß Rudolf gleich in die rechte Pflege
gebracht worden, verließ den Spital doch sehr betrübten und niedergeschlagnen Herzens. Es
sah, Rudolf war von schwerer Krankheit ergriffen; es war aber nicht die Krankheit allein
welche es bedrückte,sondern die Gedanken, die es damit verknüpfte und die ihm im ersten
Anlaufe alle seine Beschwichtigungen und Scheingründe für das eigensüchtige Benehmen gegen
die Schwiegermutter über den Haufen warfen. Diese Angst und die Gewissensbisse nahmen zu
mit der Krankheit des Verlobten und von einem Besuchstage zum andern.Und wie sehr der
Anblick des meist Irreredenden und tief Darniederliegenden das Herz Annemareilis
folterte,es konnte doch die Stunde, da es ihn wiedersah kaum erwarten. Da lag der Arme mit
verstörten Augen und Sinnen in seinem Bette; die Zunge lallte Unverständliches, die Hände
zitterten, der Kopf bohrte sich unruhig in die Kissen oder die verwirrten Gedanken, die
innre Angst und Unruhe richteten den entkräfteten Körper in Fieberhitze empor. Zuweilen
erkannte er Annemareili,zuweilen aber, und oft in demselben Augenblicke wieder,sah er es
als eine fremde Person an, starrte es wild und fremd an oder fürchtete sich vor ihm. Er
sprach in seinen Phantasien viel von Geld, meist mit dem Ausdruck innerster Angst und
Erregung. Jetzt wehrte er sich daß man ihm Alles genommen, er verlangte hunderte von
Franken von seiner Verlobten, beschuldigte sie, daß sie ihn hintergehe; dann jammerte er,
daß er den Spital nicht zu bezahlen vermöge, man vergante ihm Alles, er müsse
aufstehn, und wollte hastig das Bette verlassen. Ein andermal wieder faßte er das Mädchen,
das nassen Auges an seinem Lager stand,bei der Hand, fragte, ob denn wirklich Alles
verloren sei? oder hieß es schnell zum Krämer gehen, der heimlich die Mutter in das Haus
gelassen und die ihm nun den eignen Eintritt verwehre. Meistens endeten all diese
Ausbrüche in ein wirres und sinnloses Durcheinander,daß Annemareili selber darob der Kopf
zu schwindeln begann, während das Herz von Stichen durchbohrt ward durch die Reden, die,
bei allem Unsinn, doch wie lauter Anklagen klangen. Seine von Angst geschärften Sinne
sahen und hörten überall nur den Fluch des Mammons,der Leib und Seele des Kranken inseinen
ehernen Banden halte und durch keinen lindernden Tropfen den Armen erquickt werden lasse.
Und in heftigen Gewissensbissen wachte das eigne Verschulden zugleich auf: das sei der
Sünde Lohn! Rudolf werde sterben müssen, um ihrer Beider Schuld willen. Es habe ihm ja
nachgegeben und,aus Furcht ihn zu verlieren, ihn durch unrechte Mittel halten wollen.
Darum werde er ihm jetzt um so gewisser genommen werden, denn gegen Gottes Willen helfe
keine Untreue, er bleibe der Stärkre und wolle höher gehalten sein als die Creatur. Und am
meisten bekümmerte es Annemareili, daß Rudolf gerade dann stets am wildesten seine
Fieberträume auflodern ließ, wenn es ihn besuchte und ihm Linderung und Trost zu bringen
vermeinte. Es fühlte sich so ihm zum Unheil werden, dem es doch seine
Ueberzeugung zum Opfer gebracht und auch jetzt Alles Alles dahingegeben hätte. Es machte
eine lange bange Zeit durch und erschwerte sich die Last durch eigne Qual bis zum
Unerträglichen. Brach dann aber doch auch in die finstersten Augenblicke hinein wieder ein
Schimmer der Hoffnung und des Trostes und die Angst ließ sein Herz eine Weile los, daß es
sich aufraffte, so gelobte es sich: wenn Rudolf genese und ihm erhalten bleibe, seine
letzte Kraft daran zu setzen, auch ihn der Gewalt des Mammons zu entreißen. In geläuterter
Liebe und heiligem Eifer fühlte es sich stark dazu und tüchtig, vor keiner Menschenfurcht
mehr zurückzuschrecken und den Sieg zu erkämpfen. Dieser Vorsatz wurde mit der
zurücktretenden Gefahr immer fester, in seiner Erregtheit sah ihn Annemareili als den
Kaufpreis an für die Errettung des Geliebten und hielt ihn heilig wie das feierlichste
Gelübde. Und es schien sich die Gewalt des Leidens allerdings zu brechen, freilich, zu
Annemareilis Demüthigung, ohne seine äussre Beihülfe,sondern durch Anstoß von einer ganz
andern Seite her.
Als Rudolf krank und hülflos dalag und er noch wie in innrer Unruhe sich in seinem Bette
umherwarf,kam auch seine alte Mutter ihn zu besuchen. Auf ihrem entfernten Dorfe und bei
ihrer Abgeschlossenheit von der Welt, hatte sie erst spät von der Erkrankung des Sohnes
etwas vernommen. Mühsam hatte sie sich alsbald aufgemacht zu dem ungewohnten und schweren
Gange nach der Stadt und an das Krankenlager ihres Kindes. Da saß ihre
gebeugte Gestalt an seinem Bette mit dem sorgenvollen treuen Gesichte, ihm zum bittern
Vorwurfe und zum Troste zugleich. Er hatte sie in ihrer Noth und seinem Glücke verlassen
und sie suchte ihn in seinem Unglücke auf, ja wendete ihr Wittwenscherflein ihm zu;hatte
er doch wohl bemerkt, wie sie unter der Thüre der Wärterin wollte ein Stücklein Geld
geben, daß er besser verpflegt würde. Wie lange mochte sie dran gespart haben, wie
empfindlich mochte sie's entbehren! und er hatte von der Summe, ja vergleichsweise dem
Reichthum, der ihm in der Sparkasse an Zins lag, auch nicht ein Kleines nur ihr gegönnt,
er wollte ihr sein Haus verschließen, um es Fremden zu öffnen gegen Geld. Die Thränen, die
aus den Augen der alten Frau ihm auf die Hände fielen, brannten ihn wie Feuer, er schämte
sich und hätte sich in die Kissen vergraben mögen,wenn er nicht doch wieder die Mutter in
ihr erblickt hätte, die ihn als Kind gepflegt und geduldet, die ihn in seiner Schwachheit
und mit seinen Fehlern von je gesehen und lieb gehabt. Das Gefühl des Kindes zur Mutter
ward in Rudolf wieder lebendig, sein Herz regte fich, erwachte aus langem langem Schlafe.
Es schmolz die Kruste des Weltsinnes und der Eigensucht, nachdem der Verlaß auf das
Vergängliche schon vom Feuer der Krankheit verzehrt worden. In seiner Schwäche wußte er
nicht recht zu unterscheiden, ob er wache oder träume und wie viel Wirklichkeit sei? Die
innern und die äußern Bilder verkehrten mit einander, verflossen zusammen.Müde, aber beruhigt, schloß er die Augen und da schien ihm, er sei wieder ein kleines
hilfsbedürftiges Kind und die Mutter sitze an seinem Bettlein und pflege ihn, und er
verließ sich auf ihre Hülfe, fürchtete nichts und hielt an ihr mit all seiner Sorge und
seiner Hoffnung. Lange dachte er sich so in die frühre unschuldige Kinderzeit zurück und
hinter seinen geschlossnen Lidern glätteten sich die Runzeln der Mutter und ihr Angesicht
ward frisch und leuchtend, daß es ihm wie das eines Heiligenbildes erschien, in dessen
Schutz und Schirm er sicher sei.Ruhe zog nach langer Zeit zum ersten Male wieder in seine
Seele, die Bangigkeiten und Besorgnisse, die Furcht und Unruhe, die ihn gepeinigt, wichen.
Wie die schwülen Dünste der Erde unter dem sanften milden Gesichte des Mondes sich als
Thau niederschlagen und die verdurstenden Halme erquicken, so fühlte sich jetzt auch
Rudolf erlabt an Leib und Seele zugleich durch den Frieden der über ihn kam: sein
Halbschlaf gieng sanft in einen gesunden Schlummer über, den ersten während seiner
Krankheit, aus dem er, nach mehrstündiger Dauer, gestärkt und mit dem Gefühle der
beginnenden Genesung erwachte. Die Krankheit war gebrochen; der Arzt gab Tags darauf
seinen Arzneien die Schuld, welche die heilsame Krise herbeigeführt; Rudolf aber kam es
vor,er habe lang und schwer geträumt, bis ihn die Mutter geweckt; er fühlte sich gesund,
aber todtmüde sank er zurück, als er sich im Bette aufrichten wollte.
Sicher, wenn gleich langsam gieng die Genesung
Dienen und Verdienen. 13 vorwärts, es vergiengen noch Wochen, eh Rudolf nur
das Bett verlass en konnte und dann war er erst noch schwach und hülflos wie ein Kind.
Auch sein Gemüth, das so heftig von der Krankheit ergriffen worden, war weich,
empfindlich,für jeden Eindruck empfänglich, einem schaallosen Eie vergleichbar, ganz im
Widerspiel zu seiner frühren Festigkeit und Entschlossenheit, ja selbst Derbheit.
Annemareili,das ihn redlich besuchte und ihm für Alles, was er bedurfte, getreulich
sorgte, fiel diese inpre Umwandlung besonders auf und es freute sich ihrer in seiner
Seele.Die Thränen traten dem Mädchen wohl in die Augen,aber es waren keine bittern oder
brennenden, wenn Rudolf dankbar und gerührt die bewiesne Liebe und Sorgfalt erkannte, wenn
er sich an Annemareili schmiegte,auf seine Kraft sich stützte und für Alles einen
aufmerksamen und freundlichen Sinn hatte, was er in gesunden Tagen nicht beachtet oder,
ohne Zeichen der Anerkennung,sich als selbstverständlich gefallen lassen. Er bat die
Freundin, auch der guten alten Mutter zeitweise von dem Fortschritte seiner Bessrung
Kenntniß zu geben und zeigte bei jedem Besuche eine unverholne Freude, die in herzlicher
Begrüßung und in dankbarem Händedruck beim Abschiede sich kundgdab. Obwohl Beide noch nie
ein Wort über ihre zeitlichen Angelegenheiten gesprochen,da Rudolf noch der Schonung
bedurfte, Annemareili hatte gleichwohl das Gefühl, daß die Kluft zwischen ihm und Rudolf
nun nicht mehr bestehe, ja daß sie sich in ihren Herzen viel näher ständen als je zuvor:
die Liebe hatte eine Feuerprobe bestanden. Diese Weichheit und Schmiegsamkeit
verlor sich zwar mit den zunehmenden Kräften bei Rudolf, aber etwas Inniges und Dankbares
blieb doch in seinem Wesen zurück, die das Zeugniß einer bleibenden tiefern Umwandlung
ablegten. Noch ein paar Wochen und der Genesne konnte das Krankenhaus verlassen, besonders
da Herr Steinmann zugesagt hatte, ihn die erste Zeit noch schonen zu wollen.
13*Sechszehntes Capitel.
Genesung. Eine Rückzahlung der Sparkasse, die reich macht.Auch der Stiefbruder findet
einen Meister.Als Rudolf, zum erstenmal wieder nach dem herbstlichen Besuche in seiner
Heimat, einen Ausgang vor die Stadt machte, war es entschieden Winter. Wieder war es
Sonntag, wieder begleitete ihn Annemareili.Sie gedachten beide im Stillen ihres letzten
gemeinsamen Ganges, wo eigentlich jedes mehr für sich selbst gewesen und sie nicht recht
sich zusammengefunden. Jetzt giengen sie Arm in Arm, Rudolf bedurfte der Stütze seines
Annemareilis und dieses dachte nur an den Wiedergenesnen, an seine Bequemlichkeit und
freute sich sein als eines Neugeschenkten oder Geretteten. Auch sonst war Alles anders:
die bunten Farben des Herbstes, die gelb und rothen Blumen und Blätter, wie die hellgrünen
Wiesen, lagen unter weißer Decke verhüllt, und einförmig dehnten sich Felder und Hügel.
Nur entblätterte Bäume ragten auf der Anhöhe mit ihren tausendfachen Verästlungen über die
Fläche empor, aber zwischen dem zierlichen Gezweige lagerte auf glitzerndem Dufte
197 das stille tiefe Blau des Winterhimmels. Es kam jetzt auch kein kalter neidischer
Nebel über die Landschaft,mit unheimlichen Schauern sie durchwehend, vielmehr schien dem
winterlichen Bilde ein warmer lebendiger Hauch zu entströmen, mitten aus Schnee und Eis
heraus,ein hoffnungsvolles Zeichen unvergänglichen Lebens.Nicht nur schien die Sonne hell
und erwärmend, daß selbst der Kaumgenesne sich behaglich in ihrem Schein fühlte; da und
dort thaute es auch, wie bei beginnendem Frühling. Emmerlinge, Finken und Meisen
schüttelten auf dem blätterlosen Gezweige ihr Gefieder und schlugen einige frische helle
Töne an, flatterten fröhlich auf der Straße vor den Spaziergängern her, als wollten sie
sie necken und zum Wettlauf auffordern. Wie Edelgestein glitzerten in der Nähe die
Krystalle des Schnees,zum Zeugniß wie reich auch der Winter sei, lebendig träufelten von
den Dächern der menschlichen Wohnungen die Tropfen des schmelzenden Schnees nieder,
plaudernd die feierliche Stille unterbrechend, während aus den Schornsteinen der Rauch wie
ein stolzer Federbusch majestätisch in die sonnige reine Luft emporstieg, in
ununterbrochen wechselnder wallender Gestalt. Jetzt begannen noch von den benachbarten
Dörfern über die Anhöhen herüber und dann von der Stadt die Glocken zu ertönen, erst eine
einzelne, der dann eine zweite und dritte Antwort gab bis alle in den sonntäglichen
Lobgesang einfielen, jede in ihrer besondern Eigenthümlichkeit,hoch oder tief, doch Eins
in dem gemeinsamen Preise.Rudolf und Annemareili hielten auf ihrem Gange inne
und lauschten. Es zog sie aber dießmal nicht hinaus,ihr Blick schweifte nicht in die
Ferne, das bunte Bild des Herbstes zerstreute und fesselte sie nicht, sondern Alles wies
sie in sie selbst hinein, wie in einen stillen Tempel, wozu die Glocken so feierlich
läuteten. Ihr eignes gegenwärtiges Leben schien ihnen jetzt auch so ein stiller heller
Wintersonntag zu sein, das Eis der Krankheit und der schweren Prüfung, wie der Herzen,war
gebrochen, frisches gesundes Leben athmete aus der schmelzenden Kruste, die wie ein
Eispanzer ihre Seelen umschnüret, einzelne Klänge der Freude und der Frühlingshoffnung
ertönten auch in ihrem Innern, über das Sonntagsfeier lagerte, und nach den Tagen des
Schauerns und der Erstarrung die ewige Sonne erquickend und stärkend strahlte. Besonders
Rudolf, der sich seiner wiedergewonnenen Gesundheit freute, war aufmerksam auf Alles
ringsumher und bezog es auf sich, er war so lange nicht im Freien gewesen: neu, anders,
auf seinen Zustand angepaßt, kam ihm vor, woran er schon hundertmal und mit
Gleichgültigkeit vorübergegangen.Annemareili aber fühlte, daß es jetzt Zeit sei zu reden
und sein Gelübde zu erfüllen. Es kostete Ueberwindung,denn es störte nicht gerne die
stille beschauliche Feier ihrer Herzen mit Weltlichem, geschweige, wie es doch immer noch
heimlich fürchtete, mit einer Verstimmung.Dann aber fühlte es, daß kein günstigerer
Augenblick kommen könne und faßte sich ein Herz, indem es mit der Freude und
dem Danke für Rudolfs Rettung begann und von dem Bangen redete, in dem es, ob der
Ungewißheit des Ausganges, so lange geschwebt und gebebt. Hieran knüpfte es das offne
Bekenntniß der eignen Schuld und wie es im Gefühle derselben, und der innern Angst um
Rudolfs Leben das Gelübde gethan, gut zu machen, was noch gut zu machen sei, das eigne
Herz und das des Freundes von den Banden des Mammons loszureißen, nicht auf das eigne
Vermögen allein das Vertrauen zu setzen, sondern auf Gottes Beistand und Segen, und ihre
Pflichten gegen die Ihrigen,besonders die alte Mutter Rudolfs, zu erfüllen. Rudolf schwieg
und hörte Annemareili ernsthaft zu; es meinte,weil er in seiner frühern Gesinnung beharre,
und drang nun nur mit um so wärmerem Eifer und tiefrer Erregung der Seele, zuletzt mit
Flehen und Thränen und fliegenden Worten in den Freund, indem es darauf hinwies, daß, wenn
Gott ein Opfer wolle und ihr Geld verlange zur Probe, ob ihr Herz nicht zu sehr daran
hänge, er es auf jedem Wege zu erlangen vermöge;was die Liebe nicht freiwillig gegeben,
das habe nun die Krankheit mit Gewalt gefordert!
Wie Annemareili zaghaft und ungewiß die Rede begonnen und sich erst im Verlaufe von
heiligem Eifer hatte hinreissen lassen, so schloß es auch jetzt wieder mit einem Gemisch
von Trauer und Ergebung. Es zitterte, nicht vor der Aufregung allein, sondern weil es
fühlte, den Würfel der Entscheidung geworfen zu haben.
Indeß war es ihm doch leichter und das Herz gehoben,denn es hatte die Menschenfurcht, und
noch mehr, die Menschenliebe, überwunden und sein Gewissen befreit,die Seele gerettet,
komme nun was da wolle. Scheu und fast erschrocken blickte es forschend auf Rudolf, der
seine Reden mit keinem Worte unterbrochen. Aber hätte es den finstersten Unwillen in
dessen Gesicht entdeckt, es wäre nicht minder überrascht gewesen, als jetzt, da es sein
Auge feucht sah und er es freundlich und dankbar anlächelte und ihm die Hand drückte, ohne
ein Wort zu sprechen. Fast erschrocken und doch in innerster Seele jubilierend, erkannte
es, daß die Rührung dem sonst so starken Manne den Mund verschlossen. Auch als er sich
wieder gesammelt und seiner Herr geworden, sagte er nicht viel. „Du hast Recht,
Annemareili,“ antwortete er, „Alles was du sagst ist mir in den langen schlaflosen Nächten
auch so vor die Seele getreten;verzeih mir, daß ich dir so viel Herzeleid gemacht! wenn's
dir recht ist, so nehmen wir die Mutter zu uns, sobald wir in Schwellbach einziehen und
bis dahin soll sie auch nicht darben; ohne sie und dich wäre ich nicht mehr da!“ Er schien
in stilles Nachsinnen zu versinken, bis er sich wieder aufraffte und beifügte; „und ich
denke,wir sehen auch, wie's mit deinem Bruder zu machen ist,daß der in eine rechte Lehre
kommt!“ Annemareili war selig, es drückte dem Freunde dankbar die Hand und er ihr und sie
sahen sich an und fühlten, daß sie sich noch nie so nahe gestanden noch je so lieb gehabt
und nun erst recht Brautleute seien, bereit Alles zu theilen mit einander und
einander zum Segen zu dienen für Zeit und Ewigkeit. Etwas ermüdet durch die Aufregung
lehnte sich Rudolf auf den Arm seiner Verlobten und stand einen Augenblick stille. Die
tiefe Sonne übergoß die Schneefläche der Höhen mit ihren abendlichen Strahlen, daß es
aussah wie ein keusches Erröthen; war es der Widerschein, der auf den Gesichtern des
glücklichen Paares dabei spielte
Den andern Morgen wandte Rudolf sich leicht und muthig dem Alltagsleben und seinen
Ansprüchen wieder zu; er empfand eine ordentliche Lust, ja einen Hunger zur Arbeit. Vorher
aber war noch etwas abzuthun, eh er sich im ordentlichen Geleise des Schaffens mit neuen
Kräften wohlbefinden konnte. Um die alte Zeit gleichsam abzuschließen, und, wie
Annemareili es aufgefaßt,das verlangte Opfer zu bringen, machte er sich auf den Weg nach
dem Spital, dort die Kosten seiner Verpflegung in's Reine zu bringen: dann erst könne er
nach dem sich strecken, was vor ihm liege! Er verlangte bei der Verwaltung die Rechnung,
der Schreiber langte das bedruckte Bööglein hervor, sie ihm aufzusetzen, schlug das große
dicke Buch auseinander, darin Eintritt und Austritt jedes Kranken eingetragen ist, nahm
die Feder hintern Ohr hervor, sah nach und „Es ist ja schon bezahlt worden, vorgestern;
richtig! der Aus läufer des Herrn Steinmann war hier und brachte Alles in's
Reine!“
Rudolf erstaunte ob diesem Berichte, der Herr hatte ihm nichts gesagt, hatte ihm auch von
dem halben Monatslohn, den er ihm am Samstag für die Dauer der Krankheit noch ausbezahlt,
keinerlei Abzug gemacht. Es war dieß für den Genesnen eine neue Beschämung,denn bei der
Versetzung in den Spital hatte er den Kaufherrn ja beschuldigt, er thue das um ihn sich
vom Halse zu schaffen und keine Unkosten zu haben. Rudolf erkannte den Irrthum mit
Beschämung, er fühlte aber zugleich auch, daß es der letzte der Art sei, ja daß er aus der
Zeit vor seiner Krankheit und Genesung herrühre, und er ihn jetzt nicht mehr würde
verschuldet haben. So verschmolz auch hier wieder die leibliche Herstellung und die
geistige Besserung in die gemeinsame und eine des ganzen Menschen.
Gleichwohl unternahm er den Gang nach der Sparkasse und enthob dort auf sein Büchlein hin
etwas Geld. Zwar nicht um die Spitalrechnung nochmals zu zahlen, jedoch um eine andere
alte Schuld damit zu tilgen, die gegen die alte hülflose Mutter. Sie sollte sich nun ihre
Tage bequemer und freundlicher machen,und nicht mehr unter Entbehrungen ein armseliges
Dasein fortschleppen müssen, kaum von einem Tage zum andern wissend, wovon sie leben
werde. Annemareili sollte ihr die Unterstützung bringen und sie zugleich
vorbereiten, in der Folge zu ihnen in die Krämer-Wohnung zu ziehen. Daß es ebenso auch mit
dem Vogte des Stiefbruders und soweit nöthig mit der Stiefmutter wegen einer Lehre
Rücksprache nehme und nach Bedürfniß, wo es nicht ausreiche, in die Lücke trete, war die
dritte Aufgabe der Reise. Mit wie ganz anderm Gefühle schritt Annemareili über die Anhöhe
nach dem Heimatdorfe hinüber, als das letzte Mal da es dasselbe verlassen; die Füße
tanzten beinahe über den gefrornen Weg hin und seine Wangen blühten wie Rosen bei der
kalten Winterluft und der innerlichen Freude. Gewiß ein glücklicherer Bote war schon lange
nicht mehr in das abgelegne Dörflein gekommen; was Wunders, daß seine Aufträge alle zu
männiglicher Zufriedenheit erledigt wurden!Durch diese Rückzahlungen verminderten sich
allerdings zwar die Guthaben Rudolfs und Annemareilis in der Sparkasse und zu jeder andern
Zeit wäre erstrer wenigstens nicht übel über den Ausfall erschrocken und hätte alle
möglichen schwarzen Befürchtungen daran geknüpft. Jetzt aber schien die Wirkung beinahe
die umgekehrte zu sein. Rudolf war so zufrieden, ja noch heitrer, als ob er die
erklecklichste Summe eingelegt oder eine noch bessre Anlage gemacht hätte, als nur eine zu
vier Procent. Statt daß er besorgt in die ungewisse Zukunft blickte, war er vielmehr voll
des besten Vertrauens; wie es ihm denn auch nicht einfiel, die Uebernahme des
Kramladens, und die Zeit seiner Ansiedlung in Schwellbach deßhalb nur um einen Tag zu
verschieben. Und sonderbar! nicht bloß in seinen Gedanken war er durch das Zurückziehen
dieses Theils seiner Ersparnisse nicht ärmer geworden, auch in wirklichen und gewöhnlichen
Zahlen gerechnet, schien sich sein Vermögen kaum gemindert zu haben, oder doch die Lücke
sich merkwürdig rasch wieder auszufüllen.
Unerwarteter Segen ersetzte den Ausfall fast von selbst: sein Herr machte ihm günstige
Anerbietungen und billige Vorschüsse, gewährte Erleichterungen, kurz das Gegentheil von
all dem, wessen Rudolf in der leichtfinnigen Zeit ihn einst geziehen hatte. Einen
reichlichen Abschied für treuen und guten Dienst erhielt er obendrein noch, wie auch
Annemareili von seiner Herrschaft;was aber das Köstlichste und Förderlichste von Allem,das
war die innre Freudigkeit und Zuversicht welche beide auf ihre neue Laufbahn mitnahmen,
auch bei weniger Geld.
Als Annemareili zutrauensvoll seiner Frau den Entschluß mittheilte, wie sie in Gottes
Namen es nun gleichwohl tragen wollten, merkte diese gar wohl, daß in dem Rathe hierüber
der Leichtsinn und die Uebereilung nicht den Ausschlag gegeben, sondern das rechte
Vertrauen in Gott und die eigne Arbeitskraft. Sie bestärkte es darum nur
darin, indem sie freundlich und ermuthigend sagte: „Ihr seid beide jung und könnt
arbeiten; einen hübschen Anlauf habt ihr ja auch und wenn die Schwiegermutter bei euch
ist, ein besondres Capital obendrein. Im übrigen vertraut dem lieben Gott, man muß auf ihn
auch rechnen, Arm und Reich,den ersetzt kein Sparkassenbüchlein der Welt!“ Steinmann
dagegen bemerkte gegen Rudolf in seiner trocknen Art: „Ob ihr nun mehr oder weniger in der
Sparkasse habt, ist ziemlich gleichgültig; das Beste ist doch nicht in der Sparkasse,
sondern dran, nämlich daß man durch sie hat sparen und wenig brauchen gelernt, das sind
die Hauptzinsen!“Kurz, Annemareili und Rudolf schieden nicht nur aus ihren
Dienstverhältnissen um das eigne Haus zu gründen, sondern sie bereuten auch niemals diesen
Entschluß. Die Schwiegermutter lebte bei ihnen als ein Glied des Hauses und zugleich als
ein Segen desselben.So sahen sie an und hielten sie beide, der Sohn und die
Schwiegertochter. Auch der Stiefbruder bestaud die Lehrzeit, die ihm Annemareili und zwar
im Hause des ersten Dienstherrn unter günstigen Bedingungen verschafft, zur Zufriedenheit
des Meisters und der Verwandten. Diesen war er dafür als tüchtiger Handwerker mit Herz und
That Zeitlebens dankbar zugethan, in allen Lagen, und nichts giebt mehr Halt und
Sicherheit im Leben als ein fester Familienverband, wo Jedes innigen Antheil
nimmt an Freud und Leid des Andern, als wären es die eignen. Schon als Lehrjunge aber
mußte der Stiefbruder auf Verlangen Annemareilis und Rudolfs in die Sparnißkasse legen:
sein erstes Neujahrsgeschenk war ein blaues Büchlein mit einem kleinen eingetragnen
Posten; für das Weitre hatte er selber zu sorgen, vor dem Mißbrauche schützte ihn am
besten sein eignes Beispiel.
Nies'sche Buchdrucerei (Carl B. Lorch in Leipzig.
B MMAαuss. 58