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Mexicanische Provinzstädte.
1) eisefieber? Wer ihm zum Opfer fällt,.B ) den packt es mit eisernen Fängen, den © treibt es als ruhelosen Ahas-verus über weite Länder-strecken und unendliche Meere und lässt ihn erst dann los,wenn mächtigere Gebieter:Krankheit, Alter, Tod, ein ernstes Halt zurufen.
In der öden peruanischen Hochlandswüste gibt es grosse halbmondförmige Sandhügel,die ohne Rast in steter Be-wegung langsam dahin glei-ten. Seit wann? Wie lange noch? Um sie zur Ruhe zu bringen, pflegt man zuweilen einige Steine auf sie zu wer-fen. Eine kurze Weile bleiben sie still, dann ziehen sie wei-ter, immer weiter,
So ergeht es uns wanderlustigen, ruhelosen Menschen. Heimat,Pflicht, Familie, Freunde, vermögen wohl uns eine zeitlang zu bannen,dann aber zieht es uns mächtig wieder hinaus in Gottes schöne freie Welt. möglichst weit in das Unbekannte.
Die lange Reise nach Mexico begann mit einer Nachtfahrt.Glühende Hitze begleitete mich durch Texas. Wenn ich an diese
Aus Central- und Südamerica.Strecke zurück denke, tauchen endlose Baumwollfelder und eine glut-zitternde, flirrende Luft vor mir auf,
In San Antonio hielt ich folgenden Nachmittags Rast und Nacht-ruhe. Schon hier hätte ich mich, was Bauten und Volkstypen anbe-trifft, in einer spanisch-mexicanischen Stadt wähnen können, wenn nicht reges, industrielles, amerikanisches Leben in den Strassen ge-herrscht hätte. Seit 1845 ist Texas den. Vereinigten Staaten einverleibt,nachdem es viele Jahre einen Zankapfel zwischen den die Louisiana besitzenden Franzosen und den in Neu-Spanien (Mexico) herrschenden Spaniern gebildet‘ hatte: = 50 TUN SV
Eine mehrstündige, wiederum heisse Fahrt führte mich nach Laredo, der Grenzstadt. Mir klopfte nahezu ebenso :erwartungsvoll das Herz, wie bei meiner ersten Reise in’s Ausland, als 16jähriger Backfisch. Wahrhaftig, als damals das Schiff über. das schwäbische Meer gleitete, glaubte ich in Deutschland eine: neue Welt ‚zu‘ finden.Grüner Himmel und blaue Bäume in Friedrichshafen. hätten‘ mich kaum in. Erstaunen ‚versetzt, . a
Mexico, das einstige Land der Dolchstiche und Revolverschüsse,der- Banditen und. Revolutionen, schwebt :noch Manchem als wild,unbegangen, gefährlich und schwer bereisbat vor. Dem. ist nicht so,seit das schöne Land unter einer verständigen Regierung einer raschen Civilisation entgegen geht. Eine einzelne Frau kann, besonders wenn sie einigermassen der spanischen Sprache mächtig ist, es ruhig wagen,das ganze weite Reich allein zu durchreisen.. Sie wird freilich, be-sonders anfangs, mit manch Unvorhergesehenem zu rechnen haben,und kopfschüttelnd, verwundert wird der Mexicaner sie betrachten,„Eine Frau, ohne männliche Begleitung!“ aber, como. 'no?), er ist ja ein Caballero und wird ihr deshalb doch höflich begegnen:
Laredo, die Grenzstadt, lag in unerträglicher. Schwüle. vor mir.Zollrevision! Eine sich fächelnde Donna nahm anscheinend nachlässig meine Koffer in Augenschein; in Wirklichkeit durchwühlten ihre flinken Hände den. Inhalt und respektierten nicht einmal den Wäschesack.
Nun sass ich im ersten mexicanischen Eisenbahnwagen. Nach amerikanischem System erbaut und betrieben, gibt es dagegen hier wie in Europa erste, zweite und dritte Klasse. Sachte glitten wir durch das Land. Sehr rasch trat Finsternis ein und zur Geisterstunde erreichte ich Monterey, meine erste mexicanische Stadt. Ein klein wenig unheimlich war mir zu Mute. „Hotel Windsor liegt drei Kilometer vom Bahnhof in der Stadt,“ flüsterte mir ein mexicanischer Reise-
') Warum nicht? Lieblingsredensart der Südamericaner. .
Unterdessen war es ein Uhr nachts geworden, aber mein Zimmer wurde deshalb -nicht dunkel. Es ging auf die Plaza, einen schönen Garten mit herrlich tropischen Bäumen, einem leise plätschernden Brunnen‘ und einem elektrisch sehr stark erhellten Musikpavillon.
Wann mögen die Bewohner Montereys schlafen? Bis lange nach zwei Uhr hörte ich Wagengerassel, Klappern von Pferdehufen, männ-liche und hie und da weibliche Stimmen, und lange vor sechs Uhr weckten mich dieselben Geräusche: Noch lag der Platz in halber Dämmerung, als schon schwarz verhüllte Frauengestalten in die hoch-türmige, etwas überladene Kathedrale huschten.
Ich war früh auf und setzte mich auf den Rat des Wirtes in ein Maultiertram, Bald hatten
wir die Stadt verlassen und fuhren durch ein Gartenviertel. Hohe Bananen streben
gigantisch über die Mauern empor, und da wo.diese.eine Lücke lassen, ist es ein Wirrsal
von Rosen, blauen riesigen Winden und- tropischen Büschen, in das mein entzücktes Auge
tauchte.‘ Blaue, schön geformte Berge umgeben das weite Tal und nach der Gluthitze in
Texas atmete ich in vollen Zügen die leichte, balsamische, blumendurchduftete Luft
ein.
„Ja gewiss! die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual.“ Nach fünf Minuten Aufenthalt im Maultiertram wusste ich, dass manch schöner Ausflug in Mexico mir verbittert sein. würde durch die furchtbare Misshandlung der Maul-tiere. In Einzelheiten will ich hier nicht eintreten. Wenn der buddhis-tische Glaube an die Seelenwanderung wirklich kein Wahn ist,so müssen die mexicanischen Maultiere die Sünden furchtbar büssen,die sie verübt, als sie noch in Menschengestalt hier auf Erden weil-ten. Kann die Zivilisation da wohl keinen Wandel schaffen, ver-mögen Missionen und Schulen nicht dieser Roheit zu steuern und zunächst in das weichere Kindergemüt Mitleid für das Leiden der stummen Kreatur pflanzen? In der Stadt Mexico soll sich in den letzten Jahren ein Tierschutzverein gebildet haben, aber ach, auch dort liess sich von seinem Wirken nichts merken.
Nachmittags fuhr ich nach dem 1585 Meter hoch gelegenen Saltillo.Die Eisenbahn legt die teilweise steil ansteigende Strecke in fünf Stunden zurück. Touristen und das anständige Publikum pflegen in Mexico stets erster Klasse zu fahren. Zum Zwecke des Volksstudiums ent-schloss ich mich, übrigens zum ersten und letzten Mal, es auf dieser kurzen Strecke mit der zweiten Klasse zu versuchen. Wenn nur die Mexicaner nicht so schrecklich viel rauchten und spuckten!
Eine hübsche Episode aus der zweiten Klasse habe ich aber doch zu erzählen. Auf einer der
ersten Stationen waren drei Mexi-canerinnen eingestiegen, zwei ältere und eine junge, ein
reizend hübsches Mädchen, Eine festtäglich grünseidene Bluse umhüllte die zarte Büste; das
Mädchen hielt ein Sträusschen in der Hand und ein Glanz froher Erwartung lag über dem
ganzen Gesichtchen. Kaum sassen die drei, so erschien ein junger Bahnbeamter; die beiden
Freundinnen zogen sich diskret zurück, eifrig unterhielt sich das Pärchen, und bald
bemerkte ich einen Teil des Sträusschens im Knopf-loch des jungen Mannes. Die Begegnung
schien keine zufällige, denn eine halbe Stunde später erschien ein grauköpfiger Alter,
„Papa,komm schnell“, rief die Kleine. Die beiden Männer setzten sich ab-seits in eifrigem
Gespräche. In ängstlicher Spannung betrachtete sie das Mädchen und liess sich von den
sympathisierenden Freundinnen aufmuntern, Endlich schien die Angelegenheit geordnet. Der
Vater legte die Hände der jungen Menschen ineinander, zog dann eine Brille aus dem
Futteral und setzte sie seiner Tochter ganz ernsthaft auf: „Sieh’ ihn Dir mal ganz genau
an!“ Das Bräutchen fixierte schalkhaft lächelnd den Zukünftigen durch das Glas, als ob sie
ihn
Saltillo besitzt einen ganz neuen, für Mexico ausgezeichneten Gasthof: Coahuilahotel genannt. Als sich unter den Packträgern ein wilder Kampf um mein Köfferchen erhob, konnte ich mich im Schreck
Am Bache.nur undeutlich auf den barbarischen Namen entsinnen. Ich wurde jedoch verstanden, in einen unglücklichen Maultiertram geschoben und nach langer Fahrt am richtigen Ort abgestellt. Mein Zimmer war sehr nett und gegenüber stand gar „ladies bathroom“ ange-schrieben. Wie angenehm! Sofort begab ich mich zum erquickenden Bade, schloss die Türe und dabei brach das Schloss ab, ich war gefangen! Unten spielte eine mexicanische Musikbande ihre ver-lockendsten Weisen, während ich, um Befreiung schreiend, die Fäuste wund schlug. Endlich kam Erlösung.
Als ich früh aufwachte, ging die Sonne strahlend auf, Sie be-leuchtete enge,
emporsteigende Strassen und eine Menge kleiner,
Aus Central- und Südamerica flacher ‚Häuser, die sich. wie Hühnchen.um. ihre. ‚Henne, die grosse,hochtürmige Kathedrale; sammeln. Kahle-Berge rahmen dieses orien-talische Bild ein. Were
Zunächst setzte ich mich in, den. Maultiertram, grämte. mich aber dort wieder so sehr,. dass: ich ‚ausstieg.. und einen . Wagen : nahm.Nervös beim Fahren darf man .inSaltillo -nieht sein, Die Strassen-verhältnisse spotten jeder. Beschreibung. _ Zunächst schwankten wir durch Löcher und Erhöhungen eine steile Schlucht empor, an der zahlreiche Frauen in schmutziger Wasserrinne ihre Wäsche. weiss zu waschen «suchten. ' Oben soll. eine berühmte Quelle‘ „Fuente de San Lorenzo“ mit einem Badeteiche sein; aber nach ziemlich langem:Herumirten erklärte der Kutscher, er wüsste nicht, wo sie suchen.Nun wurde Kehrt gemacht und. in.entgegengesetzter Richtung dem neuen‘ Friedhof zugefahren. Eine‘ Wüste in der Wüste! Einige höhe,kapellenartige Monumente, keine Blume, kein Gras, kein. Strauch!Es schwebte wie eine Erwartung des jüngsten Gerichts. über der ganzen. Stätte, Das ringsum zerklüftete Erdreich, Wasser-hat. wohl die tiefen Furchen hineingeZogen, erinnerte mich” an; die Latomien in. Syracusa, WO a Eat a a _ „Hübsch grün” und‘ schattig “zieht. Sich. die ‚sogenannte‘ Alameda hin; Auf den zahlreichen‘ Bänken sassen stattliche: Mexicaner mit ihren charakteristischen, breitkrämpigen; hohen Hüten ünd dem bunt-gewirkten „Sarape“, einer Art Decke, die malerisch‘ über eine Schulter geworfen; getragen ‚wird. Tan
_ Jedenfalls bilden die Mexicaner die schönere Hälfte der Bewohner in. Sattillo. Die“ -dunkelfarbigen Frauen sehen viel üunansehnlicher und ach, wie Schnell verblüht aus! Nur die Schönheit.der spanischen Augen bietet den Kümmernissen‘ und Mühsalen des Lebens Trotz und ‚feurige dunkle. Augen blitzten mir oft aus einem verwelkten,sonst. reizlosen. Antlitz ‚entgegen. Rab Ben
In: Mexico richten ‚sich..die Eisenbahnen, keineswegs nach der Bequemlichkeit. des
_reisenden. Publikums. Innerhalb 24 Stunden fährt in der Regel nur ein. Personenzug und
dieser vorzugsweise. nachts zwischen 23. Uhr. Stundenlange. Verspätungen tragen ausserdem
nicht zur erhöhten Annehmlichkeit, bei.. Ich. wollte nach Zacatecas.Der ‚nächste. Weg
führt, über, San. Luiz .Potosi, allein der, Zug. ver-lässt nachts um 3 Uhr Saltillo....
Ueber. T orreon ist der. Umweg beträchtlich, dafür fährt man zwischen.7 und. 8.Uhr in.der
Frühe ab,kann. in Torreon. übernachten und im, Laufe des. folgenden Tages Zacatecas
erreichen. Laut Fahrtenplan dauert die Reise zehn Stunden,
Müde kam ich spät.abends in Torreon an. Ich freute mich auf eine erfrischende Nachtruhe, aber ach, zuerst quälten mich Moskitos und dann führten drei Mäuse ein Menuett vor meinem Bette auf. Von Schlaf keine Rede. Ich kramte in. meiner Tasche nach einer alten Semmel und fütterte das höchst zutrauliche.Trio..
Eine sehr staubige, elfstündige Eisenbahnfahrt brachte mich fol-genden. Tages nach dem 2450 Meter hoch gelegenen Zacatecas, der höchsten Stadt Mexicos. Ich habe dort schöne, ruhige Tage verlebt.Neben der herrlichen Bergluft übte der stille Gasthof einen besondern Reiz auf mich aus, Das jetzige Hotel Zacatecana wurde vor 400 Jahren als Kloster für Mönche oder Nonnen erbaut. Böse Zungen behaupten für beide zugleich. Den alten, grossangelegten Klosterhof schmücken schöne Blumen und über dem zweistöckigen offenen Kreuzgang ragt,besonders geheimnisvoll im Abenddunkel, die verfallene Kuppel und der Turm der alten Klosterkirche empor.
Stimmungsvoll war mein fünf Meter hohes Zimmer, wohl ein ehe-maliger Empfangssaal. Alt, verblichen, heruntergekommen erschien alles, von dem gewaltigen Himmelbett mit seinem zerrissenen, seidenen Vorhang bis zu der himmelblau bemalten, mit weiss und rosa Gir-landen verzierten, wackligen, hölzernen Kommode. Ein grosses Vor-zimmer trennte mein Gemach von dem Kreuzgang. Darin standen noch alte Damastmöbel mit sonderbar verschnörkelten Holzgestellen.Ein riesiger Spiegel hing der Zimmertür gerade gegenüber, und wenn ich diese Tür öffnete, so guckte mir mein Bild fremdartig, gespenstig entgegen. Ich erinnere mich, wie ich den ersten Abend erschrack,als ich plötzlich im Spiegel das Bild einer alten Frau, mit blauem Kopftuch erblickte. Spuckte es hier? „Buenas tardes, nifia“, flüsterte eine zitterige, alte Stimme. Eine alte Dienerin stand vor mir mit Lampe und heissem Wasser. .Ich hatte sie nicht eintreten hören.Einmal hinter meinen wuchtigen Doppeltüren, vernahm ich nichts mehr von dem Getriebe der Aussenwelt, ungestört konnte ich schlafen.
Aus Central- und Südamerica.
Im Speisezimmer waren die Zustände weniger anmutend. Ich litt förmlich unter den schmutzigen Tischtüchern, den schmutzigen Tellern und Bestecken und den noch am schmutzigsten Kellnern.„Bringen Sie mir zwei hartgekochte Eier.“ An denen wenigstens konnten sich keine schmutzigen Finger vergangen haben. Der Mozo*)brachte die Eier, aber geschält!
Zacatecas ist eine gefallene Grösse. Davon spricht die wirklich schöne Kathedrale mit ihrer überladenen Fassade und dem edel ge-haltenen Innern. Davon sprechen die verlassenen Häuser, ja ganzen Quartiere, die grossen, unvollendet zu Ruinen zerfallenden Kirchen.Seit Jahrhunderten haben die kahlen Berge ringsherum der ganzen Welt Silber geliefert, jetzt sind sie zum Teil erschöpft, teils ist kein Geld da, um ihre Schätze zu heben. Von den vierzig- bis fünfzig-tausend Einwohnern Zacatecas sind vielleicht nur noch zwanzigtausend dageblieben. Müssig lungern sie zumeist herum. Der kühlen Tempe-ratur wegen haben sie sich fest in ihre bunten Sarape gewickelt,während die Frauen ihre schwarzen Kopftücher, Reboso genannt, noch dichter zusammennehmen.
Die Gegend um Zacatecas ist eine rotbraune Sandwüste, Feigen-kaktus, Pfefferbäume und niedriges Buschwerk bilden die Vegetation.An Fauna habe ich, abgesehen von schwarzen, sogenannten Araguas-vögeln, nur weisse Ziegen und schwarze Schweine gesehen. Ich streifte viel auf den Höhen über der Stadt herum, hatte zuweilen wunderbare Ausblicke auf die rosa-gelblich getünchten flachen Häuser Zacatecas und entdeckte zwischen den kahlen Hügeln ebenso kahle Friedhöfe, wo die glücklicheren, d. h. die reicheren Bürger Zacatecas unter schweren Monumenten ruhen. Stieg ich dann über das holprige,entsetzliche Strassenpflaster in die Stadt hinunter, den armseligen,zerfallenden Häusern entlang, wo die armen Frauen mir oft ihre Kleinen entgegenstreckten mit den Worten „compre U.“ (kaufen Sie!),so konnte ich schwer an die Wirklichkeit der silbernen Türklopfer und silbernen Knöpfe, und silberbeladenen Eselchen glauben, deren ein Reiseschriftsteller in Zacatecas erwähnt.
Zwischen sechs und sieben Uhr abends pflegte ich mich gerne in die festlich beleuchtete Kirche, wo ganz Zacatecas betete, zu schleichen. Ich wähle absichtlich dieses Wort, denn ich fürchtete jedesmal als Ketzerin hinausbefördert zu werden, wenn ich die feind-lichen Blicke, die man mir zuwarf, auffing. Die Mexicaner gelten für besonders gute Katholiken, und wirklich die Kirchen sind zu allen
1) Kellner.
Ü
Tagesstunden besucht, von Männern wie Frauen, und wem es ganz ernst ist, der rutscht auf den Knieen durch den ganzen Vorhof bis in die Kirche.
In der Nähe von Zacatecas ist ein berühmter Wallfahrtsort:Nuestra Sefiora de Guadelupe. Dorthin begab ich mich den ersten Morgen. Ich hatte während des Frühstücks die Bekanntschaft eines Mineningenieurs aus Paris gemacht und mir von ihm den Weg be-schreiben lassen. Auf der Plazuela de Villa real bestieg ich einen Tramwagen, der durch eigene Schwere getrieben in einer halben Stunde den Berg hinuntereilt. Guadelupe besitzt eine sehr schöne,Freilich, wie in diesem Lande allgemein, überladene Kirche.
Das Fest des heiligen Franziskus wurde gerade gefeiert. Im Tram hatte eine Bassgeige, eine Flöte und ein dicker Sänger ge-sessen, und so war ich nicht erstaunt, die Altäre, mit den realistischen Heiligenpuppen, festlich beleuchtet und eine andächtig knieende Menge versammelt zu sehen. Behutsam wand ich mich durch, um der sehr melodischen Musik zu lauschen. Doch bald wurde meine Anwesen-heit bemerkt, und aller Andacht ungeachtet, trat jeder und jede der Betenden an mich heran, die Hand nach einer milden Gabe aus-streckend. Schliesslich half mir nur noch eine eilige Flucht in den Tramwagen. Maultiere zogen diesmal den alten gichtbrüchigen Kasten bergan.
Unterwegs sah ich meinen Pariser Ingenieur, der eifrig im Sande nach Silberresten suchte. Das interessierte mich. Ich stieg aus und wanderte mit, Wir gingen in das ausgetrocknete Flussbett hinab und durchwühlten grosse, graue Sandhaufen, deren einzelne Körnchen durch die Feuchtigkeit zu Klumpen geballt, zuweilen mit Silber-stäubchen durchzogen waren, „Das sind die Abfälle der grossen, Silber enthaltenden Steine, die zerstampft werden“, erklärte der Ingenieur.Ich hatte mir vorgestellt, das Silber würde gleich in grossen Massen ge-funden und rümpfte geringschätzig die Nase über die elenden Atome,„Und doch liesse sich aus diesen Resten noch Geld machen“ mur-melte mein Begleiter und schaute kopfschüttelnd auf die stille stehenden Schmelzwerke und die zerfallenen Lufteisenbahnen.
Meine Zeit in Zacatecas war abgelaufen. Reisefertig stand ich da. Es war abends fünf Uhr
und mein nächstes Reiseziel, Aguas Calientes, sollte ich in drei Stunden erreichen. „Si
Dios quiere“, wenn Gott es will, fügt der fromme Mexicaner jedesmal bei und mein etwas
zynischer, neue, französische Freund: „si le diable ne s’en m@le pas“,„Der Zug hat eine
Verspätung von mindestens zwölf Stunden“, hiess
Aus Central- und Südamerica.es am Bahnhof. „Ja, das kommt eben öfters vor, meinte der Bahn-vorstand, nicht selten entgleisen die Züge und dann geht es noch länger.“ Diesmal war eine Brücke abgebrannt. ;
Also schlief ich noch einmal in meinem geliebten, klösterlichen Zimmer. Da weder Wirt noch Personal genügend Garantie boten,mir die Abreise in der Frühe zu ermöglichen, übernahm 'es der alte,französische Mineningenieur, bei Zeiten bei mir anzuklopfen und sich telephonisch betreffs Ankunft des so verspäteten Zuges mit dem Bahnhof in Verbindung zu Setzen. Letzteres freilich konnte nicht ausgeführt werden, da jede Anfrage unbeantwortet blieb. So unter-nahmen wir zu der mutmasslichen Stunde, ungefrühstückt, zu Fuss kein Maultiertram lief so früh den steilen, steinigen, halb-stündigen Weg nach dem Bahnhof. Der Zug brauste unmittelbar darauf heran; ein freundlicher, dankbarer Abschied und ich war wieder allein,
Wir hatten den Schalter geschlossen gefunden, jedenfalls schlief der Kassier noch den Schlaf des Gerechten. „Sie haben keine Fahr-karte?“ fragte der Schaffner im Zuge. „Nein, geben Sie mir eine!“„Was mag wohl die Karte kosten?“ fragte der Mann lauernd. Ich sah ihn erstaunt an und nannte ungefähr die Summe, deren. ich mich aus dem Fahrplan erinnerte. „Geben Sie mir zwei Dollar, das ge-nügt, eine Fahrkarte brauchen Sie nicht!“ Vergnügt strich er das Geld ein, es ging in seine Privatkasse, wie ich nachträglich mit Recht vermutete,
Als ich diese kleine Episode meinen Freunden in Mexico erzählte,meinte der Sohn des Hauses: „Ja, solche fahrkartenlose Passagiere pflegen den. Schaffnern jedesmal eine wahre Gottesgabe zu Sein.Sie geben ihnen keine Karte, somit fehlt jede Kontrolle. Der Schaffner steckt das Geld ein und auch der Passagier fährt gut dabei, denn er reist gewöhnlich um den halben Preis.“
Aguas Calientes, mein nächstes Reiseziel, war nach drei Stunden glücklich erreicht. Wie ihr Name sagt, besitzt die Stadt heisse Thermen.Sie liegt 1880 Meter hoch, also viel tiefer als Zacatecas. In dem tropisch üppigen .Patio (Hof) des Hotel Washington duften Apfel-sinenblüten; Palmen und purpurne Bougainvillea!) wiegen sich in der weichen Luft, und Plaza sowohl, wie der schattig entzückende Jardin Marcos bilden .ein Chaos von blühenden Bäumen, zu deren Füssen Veilchen, Iris und Rosen süsse Düfte entsenden. Lange sass ich auf einer .Bank des wohlgepflegten Gartens. . Still und. friedlich
') Eine Schlingpflanze.
1]war es, nur die sonst so von mir geliebten Kirchenglocken bildeten eine Störung. Wie Sturmgeläute, Schrill,- hastig, unregelmässig, miss-tönig klingen sie in Mexico. aus.den offenen Glockentürmen. Sie werden mit Seilen in ganz willkürlichem. Tempo geschwungen, Oder ebenso willkürlich geschlagen. - .
Sind die Gärten wonnig, so kann ich.dasselbe von den Bewohnern Aguas Calientes durchaus nicht behaupten. Sie zeigten sich unge-wöhnlich mürrisch und dienstunwillig, sowohl in als ausser dem Hotel Washington. Ein. schwer ‚betrunkener, riesenhafter Mexicaner wurde in der Strasse von zwei. Polizisten vor mir her geschleift.Die Sympathie des. in Haufen herbeigeströmten Pöbels gehörte dem Betrunkenen, die Hermandad wurde weidlich durchgeprügelt und zwei stämmige Mexicaner hoben den .Trunkenbold gleich einem Trium-phator. auf die Schultern und trugen ihn der nächsten.Pulqueria *) zu.
Aguas Calientes Frauen und Mädchen beschäftigen sich mit wunder-bar feiner, Spinngeweb ähnlicher Stickerei, Deshilados genannt, die Amerikaner nennen es „drawn work“, Natürlich haben die fleissigen Arbeiterinnen wenig davon, dass ihrer Händewerk in aller Herren Ländern teuer verkauft wird. Sie müssen :sich nach wie vor mit einem Hungerlohn begnügen.
Wie schon gesagt, ist Aguas Calientes ein wohlbekannter Bade-ort... Eine hübsche Spazierfahrt führte mich. nachmittags zu.den.ver-schiedenen heissen Quellen. Ein. spanisch-gothischer Pavillon wölbt sich über einer jeden, und es lässt sich da höchst angenehm baden.Ach,. die wohltätige Wirkung dieses Bades sollte durch die darauf folgende Nachtfahrt sehr bald verwischt werden. =.
Ich .habe sie in böser Erinnerung behalten, diese 22stündige Fahrt, Um 10 Uhr. abends stieg ich ein. Schlafwagen gab es keine,Obschon die längste Linie, steht der. „Mexican Central“, wie man sagt, . vor dem Krach. Es krachte aber auch. der altersschwache Wagen, in dem ich sass, schüttelte. und rüttelte mich..und neigte sich zur Seite. Jede Minute erwartete ich seine gänzliche Niederlage.Die dritte Klasse stiess an meine Abteilung und mit besonderer Be-harrlichkeit setzten sich ihre Reisenden mit ihren unsaubern Bündeln und noch unsauberern Persönlichkeiten. in. die. erste Klasse. Dass die ganze Nacht geraucht. und gespuckt wurde,. ist in Mexico selbst-verständlich. Mein schwer betrunkener Nachbar lallte hie und da unverständliche Worte, oder stierte blödsinnig vor sich hin.. Furcht hielt mich wach. Übrigens.liess sich auf.den unbequemen, schmutzigen
1) Schenke. wo Pulaue verkauft wird.
Aus Central- und‘ Südamerica.
Sitzen nicht schlafen, Ungeduldig wachte ich der dritten Stunde ent-gegen, wo Wagenwechsel und eine Stunde Aufenthalt meiner wartete.
Irapuato, so hiess der Ort, schien in dieser nächtlichen Stunde an keinen Schlaf zu denken. Händler liefen mit Schokolade, Tee,Milch, Brötchen und Erdbeeren geschäftig hin und her. Erdbeeren am 10. Oktober? In Irapuato sind sie das ganze Jahr reif und für 75 Centimes bekommt man einen ganzen grossen Korb dieser würzigen Frucht.
Ich kam in einen entschieden bessern, aber sehr vollen Wagen zu sitzen, nickte noch zwei Stündchen ein, dann war die Nacht vor-bei, wie ja alles vorbeigeht auf dieser Welt. Träumte ich noch?Immer wieder blinzelte ich meine Gegenüber an. Was waren das für sonderbare Gesellen mit geflochtenem Haarzopf. Da dämmerte es in mir auf: Toreadores, Stierkämpfer! Sie assen und tranken weidlich, wobei sie in spanischer Höflichkeit mir alles „ä la disposi-cion“ stellten, und geberdeten sich wie grosse Herren. Als solche empfing sie wahrhaftig auch die Stadt Guadalajara, aber ich greife vor.
Wir fuhren durch lange Strecken Landes, wo nur selten ein gesatteltes Pferd, eine Hütte,
auf menschliche Ansiedelung deutet.Wasser stand überall und darin lagen Kühe, die in
dieser Gegend in grossen Herden weiden, behaglich, wie die Wasserbüffel in Java.Aber nicht
nur Kühe erfreuen sich dieses Tümpels, sondern herrliche Blumen wachsen darin, weisse
Wasserrosen, wie ich sie nie so schön und in solcher Zahl gesehen, und hell-lila
hyazinthenartige Blüten mit grossen, saftigen Blättern. Blumen, die wir liebend in Gärten
hegen und pflegen, gedeihen in Mexico so üppig wie Unkraut. In rotem,rosa, gelbem und
weissem Gewande stehen die niedlichen „Kosmos“im Felde und meine lieben, gelben
Sonnenblumen, in wie viel Ab-arten leuchteten sie mir da entgegen! Auch eine herrliche
blaue Farbe ist unter den Blumenkindern vertreten. Dazwischen stehen hohe,fremdartige
Bäume mit weissen, windenartigen Blüten und die sonder-baren, orgelpfeifenartig
emporwachsenden Kaktus, „los organos“ hier genannt, beginnen in dieser Zone. Einen
traurigen Kontrast zu dieser Blumen- und Pflanzenpracht bildeten einige tote Pferde und
Maultiere,die, anscheinend Opfer der letzten Nacht, dicht am Bahndamm lagen.Auf den
seltenen Stationen ging es lebhaft zu. Händler mit „tor-tillas“ und „tortas“ erschienen.
Aber ach, nicht das Gebäck, das wir unter diesem Namen kennen, sondern ein Stück Brot mit
einem unappetitlichen Stück Fleisch darauf! Hungrige, magere Hunde,
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Blinde, Lahme, mit hässlichem Ausschlag Behaftete und Bänkelsänger drängten sich an die Wagen. Die Konkurrenz zwischen letzteren war so gross, dass sie rechts und links vom Geleise Posto fassten und ein herz- und ohrzerreissendes Wettspiel zwischen Geigen, Flöten,Harfen, Drehorgeln und kreischenden Weiberstimmen erhoben.
Endlich waren wir in Guadalajara und froh, mit der bescheidenen Verspätung einer Stunde angekommen zu sein.
Musik empfing uns und Kopf an Kopf gedrängt, stand eine erwar-tungsvolle Menge, am Bahnhof. Fährt der Präsident in dem Zuge, oder ein fremder Potentat, oder ein allmächtiger Minister? „Der Empfang gilt uns“, sagten stolz bescheiden die Toreadores.
Kathedrale von Aguas Calientes.
Guadalajara und Queretaro.Guadalajara, die Perle oder das „Paris“ Mexicos, wie die Stadt hierzulande genannt wird, zählt bei 100,000 Einwohner, und zwar gibt es der Pracht der Häuser, Equipagen und der Eleganz der Damen aach zu urteilen, nicht wenige reiche Menschen darunter. Sein Klima soll eines der gleichmässigsten, besten in Mexico sein. Die Stadt liegt in einer Höhe von 1925 Meter und ist von schönen Bergen umgeben,Durchwandert man die gut gepflasterten, rein gehaltenen Strassen überall steht die Verordnung, keine Papiere auf die Erde zu werfen, die reizenden öffentlichen Gärten, die wohltätigen Institute,sieht man das imposante Theater und die höflichen Bewohner, so steigt unwillkürlich der Gedanke auf: diese Stadt steht unter vortreff-licher Verwaltung, und so soll es wirklich sein.
Der Mittelpunkt alles Frohen, Heiteren, Farbigen aber ist die „Plaza“. Da erklingt täglich die feine Musik einer mexicanischen Militärkapelle, frei für Arm und Reich. Da wogt von früh bis spät eine farbige, bunte, sorglose Menschenmenge. Die riesigen Sombreros (Hüte), die roten Sarapes der Landleute, die in süssem Nichtstun herumschlendern, oder auch dazu noch zu faul, stundenlang auf den vielen Bänken herumliegen, leuchten durch die eigentümlich ver-schnittenen Bäume und Hecken. Rosen stehen hier in hohen Büschen,dunkelrote, grosse, zahllose! Mächtige Orangenbäume: voller Blüten und Früchte wechseln mit der federnden, feinen, tropischen Araucaria ab und seltene, fremdartige Gewächse ranken überall empor.
Abends, wenn Orangen, Jasmin, Veilchen, und Rosen noch stärker duften, kommt die feine Welt auf die Plaza. Da erscheinen die schönen Mädchen Guadalajaras, ihre Schönheit ist berühmt in Mexico,einige: in der spanisch elegant, düsteren, schwarzen Tracht mit dem kleidsamen, schwarzen Kopftuch, andere in den lichten, dem Ameri-
Aus Central- und Südamerica.kanerinnen abgelauschten Blusen. Weissen Kamelien und Gardenien möchte ich sie in ihrer fremdartigen, blassen Schönheit vergleichen.Dazwischen fliegen dunkle, schwerfällige Nachtfalter. Unwillkürlich musste ich an Ekkehards Erzählung von dem Nachtfalter denken,und an die traurigen Schlussworte: „Es war ein Mönch“. Am an-deren Morgen früh bedeckten unzählige tote, versengte, zertretene Nachtschmetterlinge die Plaza, und als ich die Kathedrale betrat, lagen die schönen Frauen demütig, andächtig auf den Steinfliesen im Banne der Kirche und der Priester, Süsse Stimmen erklangen abwechselnd mit Geigen- und Orgelbegleitung, und dem dumpfen Gemurmel der Gebete. Der Protestantin wurde ganz feierlich zumute, aber nur verstohlen durfte sie die lichte Pracht des edlen Baues bewundern.
Die Stadt Guadalajara ist 1541 gegründet worden, und 1618 wurde die mächtige Kathedrale vollendet. . Weithin durch das Land ist sie sichtbar mit ihren zwei zuckerhutartig emporsteigenden Türmen und ihren Kuppeln. Das Innere ist ganz weiss gehalten und sehr reich vergoldet. In der Sakristei fand ich eine Himmelfahrt Mariä von Murillo. Härter in den Farben und weniger lieblich kam sie mir vor, als die anderen Schöpfungen dieses Malers.
Wenn ich mich ungern an die Nachtfahrt Aguas Calientes-Gua-dalajara erinnere, so denke ich um so lieber an die Fahrt mit Maul-tiertram nach der Barranca (Schlucht). Ja, sogar der verpönte Maul-tiertram ‚ist in Guadalajara ein Vergnügen. Die Tiere sind wohl-gepflegt und die Peitsche wird nur mässig angewendet.
Es war Sonntag früh. Als ich draussen vor der Stadt den Tram bestieg, kauerten zwei junge Bäuerinnen hinter dem Schutzhäuschen und zogen ihren lichtgelben Sonntagsstaat an. So konnten sie frisch und ‚nett die Kirche betreten. Ich. war einzige Passagierin. Mein Wagen galoppierte davon, zunächst durch Felder, dann durch hohes Rohr und Sonnenblumen, Gerade nur das Geleise hatten sie respek-tiert, ihre lustigen Gesichter guckten und nickten von allen Seiten in den Wagen hinein, als wollten sie sagen: „Fasse mich, wenn du kannst“, Dasselbe mochten auch die schönen grossen Käfer, die mich umsummten, denken. Von mir hatten sie nichts zu fürchten.Ihr kurzes Leben im Sonnenschein sollte durch mich nicht noch ge-kürzt werden. Kurz und sonnig! Glücklich der Mensch, dem solch Leben beschieden!
Je mehr wir ‚uns ‚der Schlucht näherten, um so mehr kamen wir in Weideland, wo das Vieh
überall behaglich lagerte. Am Rande der Schlucht steht ein kleines Wirtshaus. Kutscher und
Schaffner
17 setzten sich dort fest, ich wanderte weiter durch eine. urweltliche Wildnis. Ich hätte mich allein auf der Erde wähnen können. Mich ergreift an solchen Orten immer eine reine, ungemischte Freude am Leben. Jede Sorge, jeder Schmerz, jede Mühsal, scheinen Dinge der Vergangenheit, scheinen in einer anderen Welt zurückgelassen zu sein.Was liegt an alle dem in solch unberührter, wilder Natur, wo weder Stunde, noch Tag, noch Jahr etwas gelten?
Einen Ausflug ganz anderer Art unternahm ich denselben Nach-mittag. Ich fuhr mit durch Maultiere gezogenem Tram nach San Pedro,einer Vorstadt Guadalajaras, wo die reichen Familien im Sommer ihre Villen bewohnen, Das Bahngeleise zieht auf einem Damme dahin und führt teilweise auch hier durch Blumen. Die Landstrasse darunter war mit Reitern und Wagen aller Art sehr bevölkert; elegante Equi-pagen, duldende, mit einer ganzen Familie beladene Eselchen, schwer-fällige, strohbedachte Ochsenkarren, das alles strebte nach San Pedro.Als wir dort ankamen, ging es hoch her. Schwarz kostümierte Männer mit schwarzem Schleier über dem Gesicht hüpften umher und vor der Kirche stand ein ganzer Menschenknäuel. Kühn stürzte ich mich mitten hinein. „Come, come“, schrien zwei fein gekleidete Dämchen und schoben mich in den ersten Rang. Reihenweise, wie bei uns in der Quadrille, hüpften Männer und Kinder in kunstreichen Figuren unter Begleitung einer dünnen Guitarre auf und ab. Die meisten trugen hohe, bunte Federhüte, die kleinen Mädchen Orangenkränze im Haar.Die teils recht abgeschabten Kostüme waren mit phantastischen Wappen bestickt und viele der Tänzer hielten Fahnen in der Hand.Einer der Verkleideten trug ein totes Eichhörnchen und ein totes,schwarzes Kätzchen, und versuchte, beides den Zuschauern im Gesicht herumzustreichen. Gelang der grobe Spass, so war der Jubel gross.Plötzlich stob alles durcheinander und einem anderen Platze zu, wo ein neuer Tanz begann.
Meine beiden Beschützerinnen hatten, mich fest an der Hand haltend, mit fortgezogen, immer darauf bedacht, mir den besten Platz zu sichern. In Guadalajara sind auch ausser diesen Zweien, mir,der Fremden, die Frauen freundlich, ich möchte sagen hülfbereit entgegengekommen, sie haben mir Blumen und Früchte gebracht,mir willig Weg und Steg gezeigt. Das ungefähr stets sich gleich bleibende Spiel schien noch lange nicht beendet, doch ich hatte genug davon, Tänzer und Zuschauer kratzten sich zudem bedenklich in den Haaren. So sann ich auf Flucht. Endlich schien die Gelegenheit günstig. Meine Beschützerinnen bemerkten zu spät, dass ich meine
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Hände sachte aus den ihren gelöst und mich leise davongeschlichen hatte. Noch aus der Ferne hörte ich ihr „come, come“ erschallen,offenbar die einzigen Worte ihres englischen Sprachschatzes.
Wie Mangel an Sprachenkenntnis eine Quelle des Verdrusses werden kann, konnte ich hier wieder erfahren. Ich hatte eine Em-pfehlung an ein jung verheiratetes Ehepaar. Dass die Flitterwochen ihnen nicht nur Glück und Sonnenschein brachten, dafür sorgte die rauhe Wirklichkeit und die Unbedachtsamkeit des Ehemannes. Er hatte vor wenigen Wochen seine junge Frau, ein verwöhntes, einziges Töchterlein, direkt vom Altar nach Guadalajara gebracht und sich als Zahnarzt niedergelassen. Vorher etwas Spanisch zu lernen hatte er unterlassen; wozu denn? Man mietete ein Haus, eine Magd, einen Dollmetscher. Die Kunden kamen, aber nach drei Wochen machte sich der Dollmetscher mit der Kasse davon. Im Haushalt ging es unterdessen schlecht und recht. Zumeist ersteres. Die Mädchen kamen und gingen, weder Herrin noch Dienerin verstanden etwas von der edlen Kochkunst, verstanden einander überhaupt nicht. „Ach, wäre ich geblieben zu Hause“, klagte das Frauchen, „wenn Sie wüssten,wie Schlecht wir essen! Ich dürfte nicht daran denken, Sie ein-zuladen! Aber, eines können wir Ihnen bieten, einen Platz zum Stier-gefecht am Sonntag, es sollen dazu besonders gute Toreadores ver-schrieben worden sein.“
Ungeachtet meiner Eisenbahnbekanntschaft liess ich mich nicht verleiten. „Sie waren aber weise“, meinte das junge Paar am fol-genden Tag, „es war schrecklich, so lang wir leben machen wir kein Stiergefecht mehr mit.“
Gerne dagegen liess ich mich in die Töpfereifabrik und in ver-schiedene Wohltätigkeitsanstalten führen. Da standen sie in Reih’und Glied, die niedlichen Tonfiguren. Wie lebenswahr und künst-lerisch vollendet finde ich hier Mexicaner und Mexicanerinnen in ihren volkstümlichen Trachten und Gewerben dargestellt! Daneben steht Küchengeschirr, Kinderspielzeug, Schalen und Vasen. Letztere allerliebst altmodisch, Rokoko in Form und besonders in Farbe. Wie zart verblasst schwimmen sie durcheinander, die weichen Töne von gelblich weiss, verwaschen blau und lachsrot.
Von all den Anstalten christlicher Bruderliebe, an denen Gua-dalajara besonders reich
ist, gefiel mir am besten das Hospicio de los Pobres. Eine ganze Welt von Elend in Gestalt
Armer, Schwacher,Kranker, die ganze Altersstufe, vom hilflosen Neugeborenen bis zum ebenso
hilflosen Greis hat sich in diese gastlichen Mauern geflüchtet.
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Grosse Reinlichkeit und gute Luft zieht sich durch die ganze Anstalt.Kein Wunder, das Riesengebäude umfasst dreiundzwanzig offene Höfe!
Der Patio de los Nifios (Hof der kleinen Kinder) mit dem Sod-brunnen, wo sich so prächtig Windeln spülen lassen und den herr-lichen Schattenbäumen, ist nicht der wenigst anziehende, jedenfalls nicht der ruhigste darunter. Neben dem Lallen, Weinen und Lachen der Kleinen, hört man das Kreischen unzähliger, schwarzer, amsel-artiger Vögel, Sie wohnen in den hohen Ästen, baden im Brunnen,
Indianische Töpferei.flattern herbei, wenn die Kinder ihr Essen bekommen, geberden sich überhaupt als Kostgänger des Armenspitals und vermehren die an und für sich grosse Zahl der 656 rechtmässigen Pfleglinge ins Un-endliche. Augenblicklich warteten sie mit heftigem Flügelschlag und erhöhtem Gekreisch auf das Abendbrot, ein Linsengericht, das in rie-sigen, blitzblanken Kesseln brodelte.
Ein letzter Ausflug brachte mich zwei Stationen weit mit der Eisenbahn nach El Castillo. Von dort fuhr ich auf wohlbesetztem ziemlich jämmerlichem Maultiertram nach dem zwanzig Minuten ent-fernten Salto von Juanacatlan, dem mexicanischen Niagarafall. Ein kleiner Nebenbuhler freilich, aber immerhin ein beachtenswerter,
Aus Central- und Südamerica.denn seine wilden Wasser brausen. in einer Breite von 180 Meter und einer Höhe von 30 Meter zu Tale.
Nach diesem Ausflug waren für mich die Sehenswürdigkeiten Guadalajaras erschöpft.
Eine lange Fahrt vom frühen Morgen bis zum späten Abend brachte mich nach Queretaro. Es regnete bei meiner Ankunft. Schmutz auf den Strassen, Schmutz im Wagen, Schmutz im Gasthof lautete die. Losung. Ein verschlafener Mozo brachte mich in ein hohes,grosses, düsteres Zimmer und verschwand. Bei dem flackernden Licht einer einsamen, dünnen Kerze bemerkte ich nachträglich erst,dass‘ das Gemach nur durch eine spanische Wand geteilt war und ich mich nicht einschliessen konnte. Hinter dieser Wand lag Einer,der abwechselnd schnarchte, rauchte und spuckte. Als der Morgen dämmerte, läuteten Kirchenglocken von allen Seiten; wenn eine auf-hörte, wurde sie durch eine andere abgelöst. Das klang melan-cholisch, wehmütig. Klagten sie um den fremden, blonden Kaisers-sohn, den hier ein so jammervolles Schicksal erreicht hat? Grau wölbte sich der Himmel über Queretaro. Er passte zu meiner Stim-mung und meiner Fahrt. Ein schwerer, baufälliger, mit zwei elenden Kleppern bespannter Wagen brachte mich nach dem traurig berühmten Cerro de las Campanas, wo Kaiser Maximilian mit seinen zwei Ge-treuen erschossen wurde. Auf der wüsten, steinigen Höhe wächst nur ab und zu eine stachlichte Magueypflanze.
Augenzeugen erzählen uns, dass der Morgen des 19. Juni‘ 1867 glänzend angebrochen war, als der elende Mietswagen, in dem Mexico’s Kaiser seine letzte Fahrt antrat, am Fusse des Berges hielt. Als der Schlag sich nicht gleich öffnen liess, sprang der Kaiser darüber hin-aus und stieg eilends den Berg hinan. Mit voller Brust atmete der aus langer Kerkerhaft Entstiegene die frische Luft und sprach: „Welch’ein herrlicher Tag! Einen solchen Tag habe ich mir immer zum Sterben gewünscht“. Auch sein in einem Gedicht ausgesprochenes Verlangen: „Auf einem Berge möcht’ ich sterben“, sollte sich hier erfüllen. Maximilians letzte Worte lauteten:
„Perdono a todos y pido que-todos me perdonen y deseo que la sangre mia que se va a derramar sea para el bien de este pais.Viva Mejico! Viva la independencia.“ !)
Den Soldaten, die ihn erschiessen sollten, schenkte er je eine Goldunze und empfahl ihnen, sie möchten gut zielen und ihm nicht
‘) „Ich verzeihe allen und bitte, dass mir alle verzeihen und ich wünsche dass mein Blut,
das nun vergossen werden soll, zum Wohle dieses Landes bei:tragen möge. Es lebe Mexico, es
lebe die Unabhängigkeit!“
21 nach dem Kopfe schiessen, aber erst die sechste Kugel durchbohrte mit tötlicher Wirkung das Herz des Kaisers.
Drei kleine Steinhaufen mit aus abgebrochenen Baumzweigen verfertigten Kreuzchen bezeichneten: lange die Stelle auf der öden Anhöhe, wo der Kaiser von Mexico und seine Generale Miramon und Mejia gefallen.
Jetzt wölbt sich ‚seit kurzem eine unendlich nüchterne, kahle,hässliche Kapelle über der Stätte. In diese Landschaft hätten meiner Ansicht nach drei schöne, freistehende Kreuze viel besser gepasst.Ich erhielt den Schlüssel zur Kapelle. Eine gemalte Pietä und drei Steine mit den Namen Mejia, Miramon, Maximilian stehen darin. Maximilians Stein schmückt ein mächtiger Kranz. Die Steine bezeichnen genau die Stelle, wo jeder fiel. Weshalb dem Kaiser nicht der Platz in der Mitte wurde, erzählt uns Fürst Salm. Im Begriff, ihre Plätze zur Exekution einzunehmen,sagte Maximilian zu Mira-mon: „Ein Tapferer muss auch noch in seiner Todes-stunde von seinem Monar-chen geehrt werden; er-laubt mir, dass ich Euch den Ehrenplatz gebe!“ Miramon trat hierauf in die Mitte,
Vom Cerro fuhr ich auf holpriger, staubiger Landstrasse nach dem Museum, das ausschliesslich dem Andenken Maximilians ge-widmet ist: Sein Bild, seine Unterschrift, der ‚schlichte Sarg, in den zuerst seine Leiche gelegt worden ist. Dunkle Blutspuren sind noch darin, zum Teil freilich durch vandalische, andenkensüchtige Hände weggehobelt. Aehnliche blutige Andenken finden sich noch in alten mexicanischen und ausländischen Familien. Als der Fürst unter den mörderischen Kugeln gefallen war, tauchten die Anwesenden ihre Taschentücher in das kaiserliche Blut und bewahrten sie gleich kost-baren. Reliquien. Im. Museum werden auch noch die Bilder Mejias und Miramons, der Prinzessin Salm ‚und der Soldaten, die den Kaiser erschossen, gezeigt.
Erinnerungskapelle.
Aus Central- und Südamerica.Weiter ging ich den Spuren Maximilians nach, in die alte Kirche La Cruz, wo die Revolutionäre die erste Hand an die erlauchte Person des Kaisers gelegt, und in die enge Zelle im Capuchinaskloster, in die der Gefangene den 28. Mai 1867 gebracht wurde, um Sie erst wieder zur letzten Fahrt nach dem Cerro de las Campanas zu ver-lassen.
Drei kurze Jahre währte der Herrschertraum auf Mexicos Throne.Er hat dem jungen, idealistisch veranlagten Habsburger eine Dornen-krone und einen Heldentod gebracht, der so manchen, zumeist aus Menschenunkenntnis begangenen Fehler sühnte. Maximilian wollte nur das Edle und Gute und glaubte dasselbe von anderen Menschen.Zu oft leider machte er Unwürdige zu seinen Vertrauten. Sein Buch „Aus meinem Leben“ ist wohl jetzt der Vergessenheit anheim gefallen.Es enthält reizvolle Naturschilderungen, interessante philosophische Betrachtungen und lässt immer wieder eine feingebildete, gross an-gelegte Natur durchblicken.
Viele Monate, nach dem ich Queretaro verlassen, sollte ich auf einer weltabgeschiedenen Fazenda in Brasiliens Urwald nochmals an Maximilian erinnert werden. Als junger Erzherzog brachte er bei dem Vater meiner dortigen Gastfreunde einige Zeit auf deren Pflanzung zu.Sein Bild im Tropenanzug und mehrere Briefe werden sorgfältig dort aufbewahrt. Ich erinnere mich besonders des letzten Schreibens: „Ich freue mich Bürger des schönsten Landes auf Erden zu sein und das fossile Europa hoffentlich auf ewig hinter mir gelassen zu haben“.Diese Worte hatte der Kaiser von Mexico im Mai 1866 geschrieben.Ein Jahr später mordete das „schönste“ Land seinen Herrscher.
Queretaro kam mir nach dem schönen, gut verwalteten Guadala-jara als ein jämmerliches, vernachlässigtes Nest vor. Von der Plaza vertrieben mich Regen, Bettler und Opalhändler. Die mexicanischen Opale sind durch ihr rötliches Feuer berühmt, aber so viele ich auch sah, kamen sie mir viel weniger schön vor, als die irisierenden un-garischen Steine. Nach gründlichem Markten erstand ich mir ein ganzes Dutzend für Fr. 2,50, fehlerhafte und undurchsichtige Exemplare freilich,
Im Gasthof fand ich nur den einen Mozo und der schlief, auf dem Sofa hingestreckt, einen
Pulquerausch aus, so dass ich von ihm weder Red’ noch Antwort erhalten konnte. So wanderte
ich nochmals hinaus in den Regen, fuhr mit der Trambahn in das romantische,enge Tal La
Cafiada, und lange vor Abgang des Zuges nach Mexico land ich mich auf dem völlig dunkeln
Bahnhof ein. Spät erst war
23 die Stunde der Abfahrt. Ein kleiner Indianer hatte sich ohne mein Wissen zum Kutscher auf den Bock geschwungen, um mir das Hand-gepäck zu reichen. Völlig durchnässt kauerte er in einer Ecke des Wartsaals und war sofort so fest eingeschlafen, dass ich ihn nur mit Mühe im richtigen Augenblick aufrütteln konnte. Spät brauste der Zug heran. Ein paar Petroleumlampen wurden in der Eile an-gezündet und durch einen wahren Sumpf steuerte ich dem weitent-fernten Pullmannwagen zu. O weh, kein unteres Bett war frei, aber schlafen wollte ich unter allen Umständen. Schnell aus den nassen Schuhen und die schwanke Leiter erklettert! Schon schien alles im tiefen Schlafe zu liegen, nur der glückliche Besitzer des unteren Bettes brummte ärgerlich über die unfreiwillige Störung.
Der frühe Morgen brachte mich nach Mexico, der Hauptstadt des weiten Reiches. Es regnete. Darauf hatte ich nicht gerechnet, auch nicht erwartet, keine Unterkunft in dem mir empfohlenen Gasthof zu finden.So fuhr ich weiter. Wehmütig muteten mich die traurigen, abgestumpften Gesichter der indianischen Bevölkerung an, die zu dieser frühen Stunde . es war 6 Uhr ausschliesslich die Strassen füllt, Die Menschheit in Lumpen ist zwar unbedingt malerischer, zuweilen auch lustiger als die konventionelle Welt, die ich die meinige nenne, sie ist aber oft hungrig, mürrisch und trägt den ergebenen Ausdruck eines geschlagenen Hundes. Dies ist der Fall bei den Indianern Süd-americas. Dieser Ausdruck hat mich in Mexico zuweilen tagelang verfolgt, oft gerade dann, wenn ich lustig sein wollte. Zu nahe liegt die glänzende San Franciscostrasse, ihre schönen Läden, ihre elegante Menge, ihre feinen Equipagen, von dem Armenviertel. Setzt sich doch das moderne Mexico nur aus einer Anzahl feiner, europäischer Strassen und einem sie umgebenden, riesigen Indianerdorf zusammen.
Endlich fand ich Unterkunft in einem der besten, jedenfalls dem teuersten Gasthof Mexico’s, dem Hotel Sanz. Ich schlief dort, die Mahlzeiten nahm ich, wo ich mich gerade befand, und lebte viel auf der Strasse.
„
Die Hauptstadt Mexico.
Zu dem Interessantesten bei dem Besuch eines Landes gehört es für mich, möglichst viel von seiner alten Geschichte zu hören. In Mexico bot mir das Nationalmuseum reichen Stoff dazu, finden sich doch ausschliesslich die Trümmer dort, die Goldgier und religiöser Fanatismus der spanischen Eroberer verschont haben.
Nirgends buchstäblicher als in Mexico und Peru ist das Psalm-wort erfüllt worden: „Du schiltst die Heiden und bringest die Gott-losen um; ihren Namen vertilgest du immer und ewiglich.“ Die Az-teken pflegten in der sogenannten Bilderschrift ihre Geschichte der Nachwelt zu überliefern. Bis auf einen geretteten Rest im Londoner British Museum und der sogenannten Boturinisammlung in Mexico sind alle jene Schriften auf Befehl des ersten Erzbischofs von Neu-Spanien, Juan de Zumarrago gesammelt und öffentlich verbrannt worden. Die Hieroglyphen als solche kann ich sie am besten veschreiben sind in leuchtenden Farben auf lange Baumwollstreifen,präparierte Häute, oder Papier aus der Maguey(Alo@pflanze) geschrieben.
Die Vorläufer der Azteken in Mexico oder Anahuac, wie das Land damals hiess, waren die Tolteken. Sie lebten ungefähr im 7. Jahr-hundert nach Christi. Ihre Hauptstadt Tula lag nördlich von dem mexicanischen Tale. Sie standen unter der Regierung von Königen und regelmässigen Gesetzen. Weniger kriegerisch als kunstfertig führten sie die Kultur von Getreide, Baumwolle, Pfeffer, das Schmelzen des Goldes und Silbers in beliebigen Formen, das Schneiden der Steine und vor allem jenen wunderbaren Kalender ein, den die Welt unter dem Namen aztekischen Kalender kennt. Ein glücklicher Fund war es, der im Jahr 1790 einen runden, riesigen Stein an den Tag beförderte, auf dem jener Kalender eingemeisselt war. Aus ihm konnte man ersehen, dass die alten Bewohner Mexicos den Überschuss von
Aus Central- und Südamerica.nahezu sechs Stunden, den jedes mit 365 Tagen berechnete Jahr besitzt,nicht durch Einschaltung eines Tages alle vier Jahre verbrauchten,wie Julius Caesar es im römischen Kalender eingerichtet, sondern alle 52 Jahre 12!/2 Tage einschalteten. Waren die Schalttage zu Ende, so begann ein neues Jahrhundert. Sie kannten ferner die Mittel zur genauen Bestimmung der Tagesstunden, der Zeiten der Sonnen-wende und Nachtgleichen und des Durchganges der Sonne durch den Scheitelpunkt von Mexico. .
Nach vier Jahrhunderten verschwanden die Tolteken so still und geheimnisvoll, wie sie in das Land gekommen waren und vom Norden her drangen verschiedene andere Völker ein. Die stärksten darunter waren die wilden Mexicaner oder Azteken und die gebildeteren Acho-lJuaner oder Tezcucaner,
Nach langem Umherirren hatten die Azteken sich den vier Seen des mexicanischen Tales genähert und begannen am südwestlichen Ufer des Hauptsees eine Stadt zu bauen. Sie senkten Pfähle in die seichten Stellen und errichteten darauf leichte Gebäude aus Rohr und Binsen. Nicht von ungefähr geschah das, sondern ein durch Götter-spruch verkündetes Zeichen hatte sie dazu bewogen. Als sie sich dem See nahten dies war im Jahre 1325 , hatten sie auf einem wasserumspühlten Felsen einen stachlichten Kaktusbaum er-blickt. Auf seinem Hauptzweig aber sass ein grosser und schöner Königsadler, der eine Schlange in seinen Klauen hielt und seine mächtigen Flügel gegen die aufgehende Sonne ausbreitete. Diese Sage hat die Republik Mexico später in ihr Wappen aufgenommen.
Nach vielen und blutigen Kämpfen schlossen die Azteken mit ihren bisherigen Nachbarn und Feinden, den Tezcucanern und Tlapocanern, ein Bündnis und bald wuchsen die neue Stadt und der neue Staat mächtig heran. Eine Reihe fähiger Könige und glücklich geführter Kriege brachte die Azteken auf den Gipfel ihrer Macht,und als anfangs des 16. Jahrhunderts die Spanier kamen, reichte die Herrschaft der Azteken auf dem Festlande vom Atlantischen bis zum Stillen Ozean, und unter dem kühnen und blutigen Ahuitzotl trugen sie ihre Waffen weit über die Grenzen hinaus bis in die entferntesten Winkel von Guatemala und Nicaragua.
Über Kriegseinrichtungen, Bildung, häusliche Gebräuche der Azteken zu reden, würde mich
viel zu weit führen. Ich will nur,durch den Besuch des Nationalmuseums besonders dazu
angeregt,etwas von ihrer Religion erzählen, die ja bei jedem Volk eng mit seiner
bürgerlichen Verfassung verschmolzen ist. Auffällig ist hierbei
Sie glaubten an einen obersten Gott, den Teotl (®Ozös der Grie-chen?) und hiessen ihn den Lebenspendenden. Sie glaubten auch an eine unsterbliche Seele. Der für das Vaterland gefallene Krieger, der vom Feind geopferte Gefangene, die im Kindbett gestorbene Mutter,wurden sofort in das Reich der Sonne gehoben, um diese fortan mit Gesängen und Tänzen auf ihrer glänzenden Reise nach dem Zenith zu geleiten. Nach vier Jahren pflegten sich diese Seelen in wundervoll gefiederte Vögel zu verwandeln, denen es gestattet war in den Wolken zu weilen, oder auf die Erde zu fliegen. Die Seelen der Ertrun-kenen, oder von dem Blitz ge-troffenen und die Seelen der Gott Tlaloc, dem Regengott, ge-opferten Kinder flogen dagegen an einen schönen, kühlen Ort,wo sie vieler Freuden genossen;unter anderem kamen einmal jährlich die Seelen aller Kinder in dem grossen Tempel in Mexico zusammen. Die Azteken besassen aber auch einen Ort für die Gottlosen, deren Zahl leider viel grösser war, der hiess Mictlan und ewige Finsternis herrschte darin.
Allein Teotl der unsichtbare, unkörperliche, einzige Gott war zu einfach, vielleicht auch zu hoch für die Verstandeskräfte der Azteken,sie suchten Hülfe in einer Vielheit von Göttern, die über die Elemente,Jahreszeiten und besonders über ihre Beschäftigungen herrschten. So schufen sie sich drei Haupt- und eine Menge Nebengottheiten. An ihrer Spitze stand der schreckliche Huitzilopochtli, der mexicanische Kriegsgott.
Der traurige Indianer.
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Aus Central- und Südamerica.Mit dem Katalog in der Hand suchte ich die Bekanntschaft dieser blutdürstigsten aller Gottheiten zu machen. Huitzilopochtli? Ach, da steht er! Aber wie dieses wunderliche,. mit Zieraten überladene Bild beschreiben! Der Kriegsgott steht gegen links gewandt, in ganzer Figur schön skulptiert vor mir. Sein Kopfputz besteht aus drei Schlangenköpfen, wovon der eine einen weit aufgerissenen Rachen weist. Ein menschlich Antlitz thront darüber, mit Sförmig geord-netem Pfeilspitzen geschmücktem Haupthaar. Er trägt einen mexica-nischen Waffenrock, grosse Ohrringe in Rosenform und eine Menge Armbänder.
Der Sage nach war er von einem Weibe geboren und Seine
Mutter eine fromme Frau. Gleich Minerva kam Huitzilopochtli ganz bewaffnet zur Welt, mit einem Speer in der Rechten, einem Schild in der Linken, Seine Tempel waren die prachtvollsten und erhabensten und in jeder Stadt des Reiches rauchten seine Altäre vom Blut der Menschenopfer.‚Neben dem Kriegsgott steht in dem Museum Quetzalcöatl, der Gott der Luft. Er ist als aufgerollte, mit Federn bedeckte Schlange dargestellt und trägt ein freundlich, menschlich Antlitz. Er war ein wohlwollender Gott. . Unter ihm brachte die Erde Blumen und Früchte hervor, und die Baumwolle wuchs ohne angepflanzt zu werden. Die Luft war von berauschenden Wohlgerüchen und dem süssen Gesang der Vögel erfüllt. Quetzalcoatl unterrichtete die Menschen in der Ge-winnung köstlicher Metalle, im Landbau und in der Regierungskunst.Einst zog er sich den Zorn eines mächtigeren Gottes zu und ward gezwungen das Land zu verlassen. An der Küste des mexicanischen Meerbusens angekommen, nahm er von seinen Gefährten Abschied.Mit dem Versprechen, einmal zurückzukehren, bestieg er sein aus Schlan-genhäuten gemachtes Zauberschiff und fuhr davon.. Er ‚soll eine hohe Gestalt, weisse Haut, langes, dunkles Haar und einen herabwallenden Bart gehabt haben. Die Mexicaner harrten zuversichtlich auf seine Wiederkehr und als die Spanier erschienen, wurden sie zunächst für Abgesandte Quetzalcöatl’s gehalten.
Eine mächtige, häufig dargestellte Göttin ist Mictecacihuatl oder Coatlicue, die Göttin der Toten. Ein Diadem aus neun kleinen Schädeln gefügt, schmückt ihr Haupt, das nichts anderes als ein Totenkopf ist.
Ein drolliges Steinmännchen mit gekreuzten Beinen und gedanken-voll zurückgeworfenem Kopf
erweckte meine Neugierde, Xochipilli,der Herr der Blumen, steht darunter geschrieben und
sein ganzer Körper und der Stein, auf dem er hockt, sind mit Blumen über und
über skulptiert. Eine der best erhaltenen Figuren ist der sogenannte Indio triste, dessen Abbildung ich hier gebe. Von Tlaloc, dem Regengott mit seinen hervorquellenden Augen und charakteristischen Schneidezähnen, wende ich mich schaudernd ab. Wie viele un-schuldige Kinder mögen in trockenen Zeiten dem unersättlichen Regengott Tlaloc geopfert worden sein! .
Dies bringt mich zum Schluss meiner archäologischen Studien und zum berühmten Opferstein, der, wie sein Kollege, der grosse Kalenderstein, Ende des 18. Jahrhunderts unter dem grossen Platz in Mexico entdeckt wurde. Ein grosses Sonnenbild schmückt den oberen Teil und verschiedene Reliefs, über deren Bedeutung die Gelehrten keineswegs einig sind.
Auf diesen Stein wurde der Kriegsgefangene gelegt und den Göttern geopfert. Fünf Priester hielten ihm Kopf und Glieder, während gin sechster, mit einem Scharlachmantel bekleideter, die Brust des unglücklichen Schlachtopfers mit einem scharfen Messer geschickt öffnete und mit der Hand das pochende Herz herausriss. Zuerst hielt es der Priester der Sonne entgegen, dann warf er es zu Füssen des Götzenbildes, dem es geweiht war, oder steckte der Gottheit mit Hülfe eines goldenen Löffels das Herz in den Mund, wenn seine Grösse dies gestattete.
Menschenopfer wurden bei den Azteken schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts eingeführt. Anfangs selten, «amen sie stets häufiger vor und kein Fest endete ohne dieses abscheuliche Blutvergiessen.Man führte Krieg, nur um möglichst viele lebendige Gefangene ein-zutreiben und sie den Göttern zu schlachten. Man rechnet, die Zahl der Schlachtopfer in Mexico habe jährlich zwischen 2050,000 betragen.
Ne
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Mein erster Morgen in Mexico führte mich mit einigen Damen nach Guadelupe, dem berühmtesten Wallfahrtsort der Mexicaner.Eine meiner Begleiterinnen, Fräulein B., ist in Mexico geboren und spricht von ihrer Adoptivvaterstadt mit ebensoviel Liebe als gründ-lichem Verständnis. Unterwegs erzählte sie mir folgende Legende:
In der Stadt Mexico lebte im Jahre 1531 ein armer Indianer.Er gehörte zu den eben erst zur katholischen Kirche Bekehrten und hatte in der Taufe die Namen Juan Diego erhalten. Am 9. Dezember dieses Jahres stand er gerade im Begriff, den Hügel Tepeyacac zu übersteigen, um in der Stadt eine Messe zu hören, als er eine süsse Frauenstimme vernahm und in einer hellen Wolke eine wunderschöne
Aus Central- und Südamerica
Frau erblickte, deren Gewand so glänzte, dass es sich von den hässlichen, kahlen Felsen wie ein durchsi:htiger, kostbarer Edelstein abhob. Sie sprach in mexicanischem Dialekt:
„Mein Sohn Juan Diego, den ich von klein auf zärtlich geliebt,wohin gehst Du?“
Der Indianer antwortete: „Edle Herrin, ich gehe nach Mexico in die Stadt, um in der Kirche Tlateloco die heilige Messe zu hören.“
Hierauf sprach Maria: „Wisse, mein Sohn, mein geliebter, dass ich die Jungfrau Maria bin, die Mutter des wahren Gottes, des Ur-sprungs des Lebens, des Schöpfers des Weltalls und Herrn des Himmels und der Erde. Es ist mein Wunsch, dass man mir hier einen Tempel baue, wo ich als deine gütige Mutter, dir und deinem Volke meine liebende Gnade und das Mitleid, das ich für die Indianer empfinde, erzeigen werde. Dasselbe will ich für alle tun, die mich lieben und suchen und die mich um meinen Schutz anrufen werden in ihrer Arbeit und ihrem Kummer. Hier will ich ihre Tränen und Bitten anhören und ihnen Rat und Erleichterung geben. Gehe in die Stadt zum Bischof und verkündige ihm diesen meinen Auftrag, nämlich,dass er mir hier an dieser Stelle eine Kirche baue.“
Der Bischof schenkte natürlich den Worten des armen Indianers keinen Glauben, und traurig kehrte er nach Hause zurück. Aber als die Jungfrau ihm ein zweites und drittes Mal erschien und ihm immer wieder denselberrt Auftrag gab, da sagte Juan Diego:
„Schicke mich, meine Herrin, zum Erzbischof und gib mir ein Zeichen mit, auf dass er meinen Worten Gehör schenke.“ Und die allerheiligste Maria sprach: „Gehe, mein geliebter, süsser Sohn auf den Gipfel des Berges, wo Du mich gesehen und pflücke dort viele Rosen und bringe sie mir.“ Ohne Widerrede gehorchte der Indianer,obschon er niemals vorher auf dem starren Fels Rosen gesehen hatte.Er kam an die Stelle und fand eine Menge Sträucher voll Blumen und pflückte sie und füllte sich seinen Tilma so nennt man das Gewand der Indianer damit und brachte sie der Jungfrau Maria.
„Siehe hier das Zeichen, das Du dem Bischof zu bringen hast,und sage ihm, dass er dieses Rosenwunders wegen tue, was ich befehle. Zeige aber die Blumen niemand unterwegs.“
Fröhlich zog Juan Diego von dannen. Nachdem er lange ver-geblich die Diener gebeten, ihn
bei dem Bischof vorzulassen, nötigten ihn diese, seinen Tilma zu öffnen und die
verborgenen Rosen vorzu-weisen. Hastig griffen sie darnach, aber sonderbar, jedesmal wenn
sie eine erfassen wollten, erschien sie nicht natürlich, sondern in dem
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Stoff eingewoben zu sein. Mit dieser Kunde eilten sie zum Bischof,der nun endlich den Indianer vorliess, Er öffnete seinen Tilma und die Rosen fielen alle heraus, duftend, frisch mit Tau benetzt. Auf dem rauhen Gewande aber strahlte das gemalte Bild der heiligsten Jungfrau, wie wir es in der wunderbaren Kirche heute noch sehen.Da endlich glaubte der Erzbischof; die Gnadenkapelle auf der Spitze des Berges entstand und bald strömte das Volk herbei. Immer grösser wurde die Zahl der Wallfahrer und 1695 begann der Bau der gross-artigen Basilika, die eine Summe von gegen drei Millionen Franken kostete. Das wunderfeine Bild kam auf einen goldenen und silbernen Thron, der allein auf Fr. 400,000 geschätzt wird. Die Madonna,von einem blaugoldenen Strahlenkranze umgeben, erscheint in einem mystisch verschwommenen Lichte, als ob ein leichter Schleier sie verhüllte. Die silberne, darüber schwebende Krone wird bei hohen Festen mit einer goldenen, juwelenbesetzten vertauscht. Diese Krone wird Fremden niemals gezeigt; bittet man darum, sie zu sehen, so heisst es: „Ja gewiss, mit der grössten Freude, leider aber ist der Priester, dem ihre Hut anvertraut, soeben verreist und hat den Schlüssel mitgenommen.“ Diese Schlüsselgeschichte spielt oft in Mexico, zuweilen freilich vermag der Zauberer Bakschisch den Feh-ienden plötzlich an das Tageslicht zu bringen.
Marmorstufen führen zum Throne empor und diese sind mit massiv silbernem Geländer umgeben, sie führen auch hinunter zur Krypta, vor der die lebensgrosse Marmorgestalt des letzten Erzbischofs kniet. Schwersilberne Kandelaber tragen grosse, geweihte Kerzen und rings um den Chor schmückt da und dort die goldene Rosa mys-tica das Symbol der Jungfrau Maria, die weissen Wände. Eine besondere Art ex votis sah ich zum ersten Male in Guadelupe:grosse, eingerahmte, eherne Tafeln mit silberner Reliefschrift. Ich trat näher. Die scheinbaren Buchstaben bestanden aus winzigen,silbernen Beinchen, Ärmchen, Krücken und Herzen.
Wir stiegen ‘den Tepeyacac-Hügel hinan, wo dem frommen Indianer die Mutter Gottes erschienen und er seine Rosen ge-pflückt hatte.
„Fühlen Sie kein Herzklopfen?“ fragte Fräulein B. „Ich, Herz-klopfen, ich eine.Tochter .der-Berge ?“. „Sie. vergessen aber, dass wir hier wohl 2300 Meter hoch sind, die Stadt liegt ja schon in einer Höhe von 2265 Meter.“
Oben steht die erste Wallfahrtskapelle. Von dort übersieht man Mexico, die grosse Hauptstadt des weiten Reiches, und das bergum-
Aus Central- und Südamerica.kränzte Tal. Die vier Seen freilich sind zum grössten Teil verschwun-den, sie mussten der urbarmachenden Zivilisation weichen. . Nur in der Ferne blitzt zuweilen eine seichte Fläche von einem Sonnenstrahl getroffen silbern auf. Hat dadurch Mexico viel von seiner Schönheit eingebüsst, so sind doch die Berge geblieben, der sonnig grüne Gürtel]um das weite Tal. Vereinzelt heben sich die gewaltigen, schnee-bedeckten Vulkane Popocatepetl und Ixtaccihuatl empor, etwas launisch freilich und oft unsichtbar gleich unseren Alpen, und mancher Tag sollte verstreichen, ehe sie sich mir in vollem Glanz und Majestät enthüllten. .
Auf diesem Tepeyacac-Hügel, gerade an Stelle der heutigen Wall-fahrtskapelle stand zur Aztekenzeit der Tempel der Mutter aller Götter,Ihr Name lautete „Herz der Erde“ und sie war es, die dem Pflanzen-und Tierreich Fruchtbarkeit und Wachstum spendete. Eigentümlich poetisch klingt der Hymnus an die Mutter der Götter:
„Heil unserer Mutter! Sie liess die gelben Blumen erblühen und säete den Samen der Magueypflanze aus, als sie vom Paradies herabstieg. +
„Heil unserer Mutter, Sie brachte die weisslichen Blumen in reicher Fülle hervor und leuchtete auf.dem Dornstrauch wie ein glän-zender Falter!
„Ja sie ist unsere Mutter, die Göttin der Erde, sie bereitet den wilden Tieren in der Wüste Nahrung, auf dass sie leben können,und immer siehst du sie freigebig gegen jedes lebende Wesen!“
Unweit der grossen Kirche steht eine niedliche Kapelle aus weiss und blauer Fayence. Das
hübsche, alte, weiche Dunkelblau zieht Schlangenlinien durch das Weiss und spielt schön
mit dem purpur-farbenen Anstrich der grossen, nahen Kirche. Die Kapelle enthält einen
tiefen Sodbrunnen, in dem eine stark eisenhaltige Quelle murmelt,Natürlich wird dem
heiligen Wasser eine gar wunderbare Wirkung zugeschrieben, ebenso sollen die mit der
Madonna von Guadelupe geschmückten, hier verkauften und in den nahen Bergen gefundenen
Erdstückchen eine heilsame Seife bei Hautkrankheiten aller Art bilden.Sehr lebhaft ist der
Verkehr in Guadelupe. Das ehemalige Indianer-städtchen mit seinen Strohdächern hat sich
freilich in einen lang-weiligen, amerikanisierten Ort: verwandelt, aber noch leben hier
zahlreiche indianische Familien. und eine grosse Menge Wallfahrer besuchen stets die
heilige Stätte. Die kleinen, bunt bemalten, modernen Indianerhäuschen von Guadelupe fand
ich übrigens auch in Mexico selber und zwar in unmittelbarer Nähe der feinsten Strassen.
Sie
33 tragen öfter Namen und zwar zum Teil recht drollige. Da steht:„Las Emociones“, etwas weiter „El Indio triste“, über einer Schneider-werkstatt „La Esclava de la Moda“, über einer Apotheke „Botega de la Caridad“ u. s. w.
Den Mittelpunkt der Stadt und Knotenpunkt aller Trambahnen, die zum Glück zumeist elektrisch sind, bildet die Plaza mayor, der grosse Platz. In neuerer Zeit durch die unglückliche, junge Kaiserin Char-lotte vergrössert, nimmt er wohl 300 Meter im Viereck ein. Seine Mitte wird durch einen zweiten Platz, den mit Bäumen und Blumen-
Der sogenannte Diebsmarkt.beeten bepflanzten, sogenannten Zocalo, ausgefüllt. Dort spielt täglich die Militärmusik und von dort entsendet der denkbar herrlichste Blumenmarkt seine süssen Düfte.
Auf der Nordseite des Platzes erhebt sich die schöne, grosse Kathedrale gerade über dem blutigen Altar des mächtigen Monte-zumatempels. Philipp II hat im Jahre 1573 mit dem Bau des statt-lichen Renaissancetempels begonnen und 1657 wurde er vollendet.Der nach spanischer Weise sich mitten im Schiff befindliche Chor gibt dem Innern etwas Schweres, Düsteres. Sein Gitterwerk und das Geländer der zum Hochalter führenden Treppe sind aus „Tumbago“,einem aus Silber, Gold und Kupfer gemischten Metall gemacht, aber das Gold ist dabei in so hohem Mass vertreten, dass dafür ein -
Aus Central- und Südamerica.Treppengeländer von purem Silber und viele tausend Dollar geboten wurde. An die Kathedrale lehnt sich das Sagrario, die ehemalige erste Parochialkirche der Stadt. Die Regierung hat sie im Jahre 1858 in etwas überladenem, phantasievollem Stil erneuert. Zum Glück dämpft jetzt die Zeit die allzugrelle Vergoldung des Inneren.
Ich besuche mit Vorliebe Friedhöfe. Weshalb? Genau weiss ich es nicht. Aus Sentimentalität und Weltschmerz wohl kaum, aber ich wandere gerne in stiller Betrachtung zwischen den stillen Abge-schiedenen, lese da und dort Namen und Inschrift auf ihren Grab-steinen und suche daraus wenigstens ein Blatt ihres Lebens zu entziffern. Wie vergänglich ist alles, auch der Schmerz! Mancher liegt da, den die Seinen unersetzlich wähnten, dem es selber das Herz abdrückte, seine Lieben allein, sein Lebenswerk unvollendet zu lassen. Die Welt geht ihren Lauf weiter. Der Tote ist verschmerzt,ersetzt, zuweilen auch vergessen worden. Nur das kostbare Grab-monument hält sein Andenken wach, verherrlicht vielleicht nur noch den Künstler, der es entworfen hat.
Von all den Friedhöfen, die ich besucht, hat mich der grosse Totenacker Mexicos peinlich berührt. Nicht der Ort selbst; er liegt herrlich genug auf Bergeshöhe, weit von dem Getriebe der Stadt,aber die Eile, mit der man den Verblichenen seine letzte Fahrt an-treten lässt und die noch grössere, mit der er vom Erdboden ver-schwindet, war mir entsetzlich,
In Mexico findet die Beerdigung per Tram statt. Das wusste ich,wunderte mich daher nicht, dass, nachdem ich hinter Chapultepec den Tramwagen mit der Aufschrift „Dolores“ bestiegen hatte, gleich darauf in rasender Eile ein schwarzer, verschlossener Wagen an mir vorbei-sauste: „Son diez“*), murmelte der Schaffner. Mein Wagen hatte sich unterdessen mit Menschen und Blumen angefüllt. Der ganze Boden war mit aus den Kränzen gefallenen Blumen bestreut, und galant hob der Schaffner einige Rosen auf, die Blumen der Toten den lebenden Sefioritas überreichend, Endlich waren wir oben an die erste Station der weiten Totenstadt gelangt. Einige arme Frauen stiegen aus. „Es solamente la gente infima aqui“, sagte der Führer,um mich vom Aussteigen abzuhalten, aber ich wollte gerade sehen,wie die „gente infima“, das arme Volk, seine Toten begräbt. „Sechste Klasse“ stand rechts am Wege geschrieben, „fünfte“ links. Hier ein paar windschiefe Kreuze, dort gar nichts als ein wüstes Feld. Also auch nach dem Tode, dem alles Gleichmachenden, alle Unterschiede
Es sind zehn.
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Aufhebenden, diese Abstufung und Trennung! Da gefällt mir die Einrichtung unserer Friedhöfe besser.
Am Eingang stand der erwähnte schwarze Tramwagen, jetzt geöffnet. Richtig! Zehn Särge, grosse und kleine; und ein anderer voller Wagen stand schon dahinter. Also fünfte Klasse; die sechste,hiess es, begräbt ihre Toten nur in Tüchern. Auch die fünfte war jämmerlich genug. Ich stellte mich in eine Ecke. Eine schrille, miss-tönige Glocke gab zwei rasche Schläge, und sofort erschien der erste Totenzug: ein blaues Kindersärglein, mit einer leichten Schnur um-bunden, der Deckel hob sich auf und ab bei jedem Schritt des Vaters,der es trug. Einige Menschen folgten, rauchend, lachend, plaudernd.Armes, kleines Wesen, du hast wohl weise getan, so kurz nur auf Erden zu weilen! Nun kannst du als Engelein im Himmel für die Deinen beten. Ein Weib trug ein paar gelbe, halbwelke Blumen,wohl die Mutter. Abermals die schrille Glocke! Diesmal trugen vier Männer einen grossen Sarg auf den Schultern, auch nicht zu-genagelt, nur mit einem Strick gebunden. Auch hier folgte rauchend,plaudernd, lachend, armseliges, zerlumptes Indianergesindel: Männer,Frauen, Kinder, Wozu trauern und klagen? mögen sie wohl denken. Ein dritter, vierter, fünfter Leichenzug! Bei jedem die misstönigen zwei bis drei Glockenschläge, Ich habe 28 Tote in einer halben Stunde gezählt. Mexico ist eine grosse Stadt und viele Menschen sterben da, besonders Kinder. Beim Weiterschreiten tönte immer noch die schauerliche Glocke hinter mir. Vierte Klasse, dritte Klasse,zweite Klasse, erste Klasse! Je höher, um so schönere Monumente,um so besser gehaltene Wege! Hier wird sogar mit Wasser ge-sprengt; hier stand ich ja auch am obern Eingang, wo „bessere“Tote ihren Einzug halten.
Und sie sind schon da: Ein weisser offener Totenwagen, d. h.ein Tramway mit weissen Draperien, In der Mitte ein kleiner Kata-falk mit von weissen Kränzen überdecktem Sarge. Die Trauernden folgen in einem Tramwagen unmittelbar hinter der Leiche. Schnell aus-gestiegen und den Toten eingeschaufelt, schon warten zwei neue Leichenzüge zweiter Klasse! Das Gefolge schart sich bei jedem der zwei um eine trauernde Witwe. Die eine jung, in rasendem Schmerze laut schreiend, dass ihr Weinen durch das weite Totenfeld tönt, die andere ältlich, leise tränenlos schluchzend, ein Bild stumpfer Ver-zweiflung.
Ich hielt es nicht länger aus und wartete draussen auf den Tram-wagen, der mich hinunter nach Mexico bringen sollte. Unterwegs
Aus Central- und Südamerica.
es dämmerte schon sauste noch ein ganz verspäteter Toten-zug in schnellstem Tempo an uns vorbei, sechs Leichenwagen zweiter Klasse. „Hurra, die Toten reiten schnell, Graut Liebchen auch vor Toten!“ Ich habe mir erzählen lassen, zuweilen würde bei solch schneller Fahrt ‚oben Sarg und Leichen vermisst und müsse auf dem Wege aufgelesen werden. Doch das sind wohl Märchen. Immerhin diese Beerdigung per Tram ist schrecklich!
In Chapultepec unter den herrlichen, alten Cypressen träumt es sich am besten von dem Glanz der alten Hauptstadt und dem traurigen Geschick der indianischen Stämme und ihrer Herrscher. Unter dem Schatten ihrer Zweige hat Moctezuma 11!) seine Hoffeste gegeben und wie Märchen klingen die Berichte der spanischen Vernichter über den allmächtigen Fürsten und seine herrliche Hauptstadt. Damals soll sie 60,000 Häuser und ungefähr 300,000 Einwohner gezählt und sich durch besondere Reinlichkeit ausgezeichnet haben. Ein alter spanischer Chronikschreiber erzählt, tausend Menschen hätten täglich die Strassen abgespült und gekehrt „so dass ein Mensch durch dieselben gehen konnte, ganz sicher, sich die Füsse ebensowenig zu beschmutzen wie die Hände“. Das Trinkwasser wurde von Chapultepec durch eine irdene Röhre in die Stadt geführt, um Springbrunnen und Wasser-behälter der Hauptgebäude zu versorgen. Wo die Wasserleitung über eine Brücke ging, waren Öffnungen in derselben angebracht und wurden so: die darunter stationierten Canoes mit Wasser ver-sorgt, die dann dieses nach allen Teilen der Stadt fuhren. Mexico war ja damals, wie Venedig, eine Stadt am und im Wasser und Kanäle liefen durch alle Strassen.
Eine Beschreibung von Moctezumas üppigem Hofstaat und des dabei entfalteten Luxus gehört nicht in den Rahmen meiner Reise-skizze, Von seinem Palast in Chapultepec ist keine Spur mehr vor-handen. Das im Stil ziemlich zusammengewürfelte, sich auf hohen Porphyrfelsen erhebende Schloss stammt aus dem 18. Jahrhundert und dient einer Militärschule und dem greisen Präsidenten Porfirio Diaz zur Residenz. Täglich kann man in einem höchst bescheidenen Zweispänner das Oberhaupt der mexicanischen Republik nach der Stadt fahren sehen. Diaz erfreut sich so sehr der allgemeinen Liebe und Achtung, dass er es wohl entbehren kann, ein Geleite zur Sicher-heit mitzunehmen. Als ich ihn sah, sass er ganz allein im Wagen,und auf dem Bock war nur der Kutscher. Porfirio Diaz ist seit 1877 mit kurzen Unterbrechungen Präsident der Republik. Kurz bevor ich
') Montezuma gilt in Mexico für eine falsche Lesart.
37 nach Mexico kam, war er einstimmig wieder auf zehn Jahre gewählt worden. Die Stadt befand sich in voller Festvorbereitung, um die abermalige Wahl würdig zu feiern. Nach menschlicher Voraussicht bedeuten diese zehn Jahre eine Präsidentschaft auf Lebenszeit, denn Porfirio Diaz ist schon ein 76jähriger Mann. Noch sieht er sehr kräftig und stramm aus und mit jugendlichem Feuer blitzen die Augen aus dem feinen Greisenantlitz. Ihm ist das Riesenwerk ge-lungen, inneren Frieden, gute Ordnung und Sicherheit in einem anscheinend hoffnungslos verwilderten Lande zu schaffen.
Immer wieder zog es mich nach Chapultepec hinauf. Die wunder-bare Aussicht auf der Höhe des Hügels, die schattigen Plätzchen und Alleen und die alten Baumriesen hatten es mir angetan. Die letzteren hauptsächlich. In dürren Worten kann ich zwar die Masse jener wundervollen Cupressus distiche zu Papier bringen: 35 Meter Höhe und einen Umfang von 1015 Meter, aber wie kann ich sie selber, ihre individuelle Schönheit, ihren stolzen, tannenschlanken Wuchs, ihre tiefgrüne, wallende Laubkrone beschreiben?
Am Sonntag Nachmittag ist Chapultepec Sammelplatz der vor-nehmen Welt und zwischen vier und sechs Uhr folgen sich Reiter und Wagen in gedrängtem Zug. Noch mehr Mode ist gegenwärtig der Paseo de la Reforma. Er erstreckt sich von der Alameda bis nach Chapultepec, und der ganze vier Kilometer lange Weg führt an herrlichen Gartenanlagen und Statuen vorbei. Unter diesen sind ein schönes Columbusdenkmal und ein Reiterstandbild Karls IV von Spanien be-sonders zu erwähnen. Letzterem war es beschieden, ungeachtet seiner Grösse, verschiedene Male Platz zu wechseln. Bis 1822 stand es auf der Plaza major. Als aber damals der Hass gegen Spanien hell aufloderte, musste die Statue vor der wilden Volkswut dadurch ge-schützt werden, dass man sie in eine grosse, blaue Kugel verhüllte.Im Jahr 18241852 stand sie in dem Hof der Universität, dann erst kam sie an ihren jetzigen Platz.
Die rührendste, eindrucksvollste aber von allen ist diejenige Gua-temotzin’s des letzten Königs der Azteken. Nachdem ich lange die schönen, traurigen Züge des jungen, todesmutigen Verteidigers der Stadt Mexico geschaut, las ich die Inschrift: „Zur Erinnerung an Guatemotzin und die Krieger, die tapfer ihr Vaterland 1521 verteidigt haben“. Das Relief darunter.stellt die.Scene dar, wo Guatemotzin auf der Folter liegt und den Spaniern bekennen soll, wohin er die Schätze der Azteken verborgen habe. Als sein Leidensgefährte, der Prinz von Tacuba, ihm zurief: „Siehst du- nicht, wie ich leide“, gab Gua-
Aus Central- und Südamerica.temotzin ruhig zur Antwort: „Denkst du etwa, dass ich mich im Bade vergnüge?“ Guatemotzin wurde als Krüppel der Folter enthoben, um wenige Jahre später angeblich als Haupt einer Verschwörung gegen die Spanier aufgehängt zu werden,
Auch das Schicksal seines Onkels und Schwiegervaters Moctezuma kann uns nur mit tiefstem Mitleid erfüllen. In Folge einer geheimnis-vollen Verletzung nahte dem in tiefste Schwermut Versunkenen am 30. Juni 1520 der Tod als willkommener Freund. Er war erst 41 Jahre alt, von denen er aber 18 regiert hatte. Sein mächtiges Reich hatte er wie Schnee dahinschmelzen, ein fremdes Geschlecht in sein Land strömen sehen. Ein Gefan-gener, ein Gefährte der Feinde seiner Götter und seines Volkes, ein Ausge-stossener in seiner eigenen Hauptstadt, beschimpft, in den Staub getreten, so war er gestorben. Gleich wie zu-weilen gerade die schönste,hochragendste Cypresseder indianischen Haine, das erste Ziel des Blitzstrahls wurde, so fiel auch Mocte-zuma als erstes Opfer des Sturmes, der über seine vaterländischen Berge da-hinfuhr. Er war das Opfer des Schicksals, eines Schicksals, dessen Gang ebenso dunkel und un-widerstehlich dahinzieht, wie es dereinst schon über den Göttersagen des Altertums geschwebt hat.
Während ich vor dem Standbild des unglücklichen Guatemotzin sass, brachten mich meine Gedanken plötzlich weit weg von Mexico und um viele Jahre zurück. Ich sah mich als angehender Backfisch in Bern auf der Schulbank. Gespannt lauschte ich den Worten un-seres verehrten Geschichtslehrers über die letzten Azteken und den Untergang der mächtigen Reiche der Incas und Azteken. Meine Augen füllten sich mit Tränen, und ein wahrer Hass gegen die grausamen Spanier ergriff mein junges Herz.
Seit jener Zeit habe ich viel Geschichte studiert, nicht nur in Büchern, sondern durch eigene Weltanschauung. Ich weiss jetzt, dass
Alter Brunnen.
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Völker, die ihren Höhepunkt erreicht, wie die Bäume abzublühen pflegen, dass glänzende Kultur oft verschwindet und die Völker, die ihre Träger waren, im Elend und oft sogar ohne eine Erinnerung an den alten Glanz zurücklässt. Ich weiss, dass, so lange Menschen die Erde bevölkern, der Kampf um’s Dasein fortdauern und die Friedens-idee ein schönes, unerreichbares Ideal bleiben wird.
Ich habe unterdessen über jene rohen Spanier des 16, Jahrhunderts etwas milder urteilen lernen, sehe ich doch leider, wie im 20. Jahr-hundert zivilisierte Grossmächte sich ähnliche Greuel den „unkulti-vierten Völkern“ gegenüber zu Schulden kommen lassen. Die Spanier gebrauchten den „christlichen Glauben“, die modernen Grossmächte „Zivilisation und Kolonisation“ zum Vorwand, in Wahrheit aber war und ist es bei allen das schnöde „Gold“,
AAN
Der Popocatepetl
Ausflüge in der Umgebung Mexicos.Auf dem Ausflug nach Amecameca sollte ich sie endlich zum erstenmal sehen, die beiden Schneeriesen, Popocatepetl und Ixtaccihuatl.Ich sass in der Eisenbahn mit einer neuen Bekannten, Mrs. Mc Pherson,der Frau eines in Salina Cruz praktizierenden, schottischen Arztes.Es war ein herrlicher Morgen. Während wir durch den jetzt ausge-trockneten See fuhren, stand ich am Fenster und stiess plötzlich einen Schrei des Entzückens aus. Ich erblickte in voller Klarheit den wundervollen Kegel des Popocatepetl’s, des „rauchenden Berges“(5420 m) und den langen, wilden Bergrücken des Ixtaccihuatl,der „weissen Frau“ (ca. 4786 m). Wendet man etwas Phantasie an,so kann aus diesem langen Bergrücken eine weibliche Gestalt heraus-gefunden werden, die mit lang herabfallendem Haar auf einer Toten-bahre gebettet und mit einem weissen Leichentuche bedeckt ist. Die Indianer halten die beiden Berge für Menschen, die vor uralter Zeit in tollem Übermut den höchsten Gott herausgefordert hatten. Zur Strafe wurden sie in Stein verwandelt.
Entzückt lief ich von einem Fenster zum andern. „Wonne-trunken“ hätte es meine etwas
nüchterne Gefährtin genannt, wenn sie dieses deutsche Wort gekannt hätte. So begnügte sie
sich, ganz
Aus Central- und Südamerica.erstaunt meiner Erregung zuzusehen und zu bemerken: „Aber Sie als Schweizerin sollten den Anblick hoher Schneeberge gewohnt sein!“Freilich, es war wohl gerade deshalb.
Amecameca liegt am Fusse des Popocatepetl. Von der kleinen Eisenbahnstation lenkten wir unsere Schritte dem ebenso kleinen Gasthofe zu, der mit seinem wohlgehaltenen Garten einen netten,ordentlichen Eindruck macht. Ich bestellte ein gutes Essen bei der stattlichen Wirtin, die mit rabenschwarzem, aufgelöstem Haar eifrig in der Küche hantierte.
Bis sie das Mahl bereitet hatte, gingen wir auf den Mons sacer genannten, vulkanischen Hügel oberhalb des Städtchens. Im Schatten dunkler Cypressen und Steineichen, an denen langes Bartmoos und eine Orchideenart herabhängen, schritten wir langsam zu der alten,auf Fels gebauten Kirche empor. Eine Grotte lehnt sich daran und in dieser liegt in gläsernem Sarg, den Kopf auf zwei Schlummerrollen gestützt, ein kohlschwarzer Christus. Schwarz auch sind die realistisch echten Haare und der Bart. El Sefior del Sacromonte oder el Sefior de Amecameca heisst das alte, hochverehrte Bild. Etliche Jahrhun-derte schon sind es her, seit, wie die Sage lautet, Maultiertreiber aus dem Süden hier vorbeikamen. Ein mit einer grossen Kiste schwer beladenes Maultier irrte vom Wege ab; vergeblich suchte es sein Treiber. Erst nach einigen Tagen fanden es Landleute und in der Kiste den Sefior de Amecameca, der sofort in die Grotte gelegt wurde. Ein Durchbruch zwischen Kirche und Grotte gestattet den Gläubigen, den wundertätigen Christus von allen Seiten zu be-trachten. Zudem ist in der Kirche selber Gelegenheit gegeben, blaue Bänder mit dem Längenmass des Sefior de Amecameca und sein Bild zu erstehen. Auf dem Kirchplatz erfreut man sich einer herrlichen Aussicht in das Tal, auf das verträumte Städtchen und den herr-lichen Bergeskranz. Die beiden weissen Riesen freilich, Popocatepetl und Ixtaccihuatl, hatten sich unterdessen in Wolken gehüllt und zeigten sich nicht mehr an jenem Tage.
Hinter der Kirche führt ein breiter, gepflasterter Weg höher empor zu einem andern
Gotteshaus und einem verwilderten und verwitterten Friedhof. Material und Klima müssen ein
Erhebliches zu diesem Umstand beitragen, denn als ich die Inschriften jener baroken,
anscheinend uralten Gräber las, gingen die meisten nicht weiter als dreissig bis vierzig
Jahre zurück. Hinter der Kirche zieht sich der Friedhof weiter: frischaufgeworfene Hügel
neben schon eingefallenen, prahlende Monumente neben windschiefen Kreuzen
43 und über dem Ganzen eine wilde, uneingedämmte Vegetation. Hohe Sonnenblumen, liebliche Kosmos, rankende Winden und andere Schlingpflanzen bemühen sich strotzendes, blühendes Leben über diese Stätte des Todes zu breiten.
Als wir in den Gasthof zurückkehrten, fanden wir unsere Wirtin immer noch mit flatternder Haarmähne zwischen ihren primitiven Koch-töpfen tätig. „Luego, Iuego“, sofort sofort, klang ihre schrille Stimme.Wir waren die einzigen Gäste. Das obligate, magere, gekochte Huhn streckte wie gewöhnlich ein Bein hoch in die Luft, während ein ausgebreiteter Flügel aus dem Topfe hing und der in die Höhe ge-drehte Kopf uns vorwurfsvoll wehmütig anblickte. Die Wirtin setzte sich zu uns, offenbar fand sie mich „simpätica“, denn an mich rich-teten sich ihre Worte: „Ich bin Spanierin, mein Mann ist vor zwei Jahren gestorben, an Heiratsanträgen hat es zwar seither nicht gefehlt,aber man will doch auch einmal frei sein im Leben. Freilich, das Geschäft geht schlecht, Amecameca wird wenig besucht und auf den Popocatepetl steigen dieses Jahr gar nicht viele Caballeros.“ „Ja, das ist eben keine Vergnügungspartie“, wendete ich ein. Sie gab dies zu, meinte aber: „An ‚Mortificaciones‘ (Qualen, Kasteiungen) fehlt es dabei natürlich nicht, aber wenn die Mortificaciones freiwillige sind,dann erträgt sie jeder leicht.“
Das Gespräch kam sodann auf den Pulque, das Nationalgetränk der Mexicaner. Ich hatte noch keinen getrunken. Erstaunt deklamierte die Spanierin mit der Mimik-einer geborenen Schauspielerin folgendes Sprüchlein:„cSabe que es pulque,Licor divino?
Lo beben los angeles En vez de vino.“
Schon die Tolteken kannten den Pulque, fuhr sie fort. Papantzin,ein edler Tolteke war es, der zuerst das Auspressen der Agave oder Magueypflanze erfand. Hierauf sandte er seine schöne Tochter Xochitl mit dem köstlichen Trank zu seinem Fürsten Tecpancaltzin. Entzückt von dem Trank und dem Mädchen, behielt der Fürst beides. Xochitl wurde seine Geliebte und ihr illegitimer Sohn König. Damit begann der Untergang des mächtigen Toltekenreiches. Also auch hier wurden eine Frau und ein Getränk verderbenbringend. Das war um das Jahr 1000 nach Christi. Dennoch blieben die Indianer ihrem Pulque treu und bepflanzen jetzt noch alle Flächen des Landes mit der riesigen
Aus Central- und Südamerica.Agave oder Maguey. Century plant nennt sie der Amerikaner, weil der Sage nach die Pflanze 100 Jahre alt wird, ehe sie ihre pracht-volle Blütendolde entfaltet. Dann, nachdem sie den Gipfel ihrer Voll-kommenheit erreicht hat, stirbt sie ab. So alt freilich braucht die Agave in dem schönen, mexicanischen Klima nicht zu werden. Sie würde schon im sechsten oder achten Jahr blühen, wenn nicht der Tlachiquero ihr das Herz anschnitte, und den darausquellenden, sehr süssen Saft 2-3 mal täglich sammelte. Diesen lässt er ein paar Tage gähren, dann ist der berauschende Lieblingstrank der Mexicaner fertig. Während zwei bis drei Monaten liefert die Agave ihren Saft,dann siecht sie dahin und stirbt allmählich ab. Die schöne, eigen-tümliche Pflanze gedeiht auch auf dem kümmerlichsten Boden. Die Azteken verfertigten Papier aus ihrem Mark, und gegenwärtig noch werden die Fibern zu allem möglichen Flechtwerk verwandt.
Auf Befehl der Sefiora brachte mir die Magd ein Glas Pulque und buck in aller Hast auf heissem Stein eine Tortilla, deren Teig vorher aus Mais geknetet wird. Zwischen dem schrecklichen Pulque und der noch schrecklicheren Tortilla verlebte ich eine böse Viertelstunde. Die Sefiora liess es sich nicht nehmen, mir eigen-händig grosse Stücke Tortilla abzureissen, in eine Sauce chile colo-rado (spanischen Pfeffer) zu tauchen und in den Mund zu stecken.Vergeblich aller Widerstand! Der spanische Pfeffer verbrannte mir Mund und Rachen, und unter Tränen lächelnd versuchte ich alle an-deren freundlichen Aufforderungen abzulehnen. „Bleiben Sie doch ein paar Tage hier!“ „Ich habe keine Kleider, kein Nachtzeug mit“.„O damit, will ich Ihnen gern aushelfen“. „Ich habe aber nicht ge-nügend Geld bei mir“, keuchte ich zwischen zwei Tortillastücken.„Ach, das brauchen Sie nicht, Sie wohnen ja hier als meine com-pafiera, meine amiga!“ Ein Mund voll Tortilla mehr und es wäre um mich geschehen gewesen. Wie ich mich schliesslich losgerissen habe, weiss ich nicht mehr, jedenfalls kam mir meine Gefährtin freund-lich zu Hülfe,
Eine wahre Ruhe- und Friedensstätte sollte die Hacienda Mira-Flores im Distrikte von
Chalcos für mich, die rastlos Umherreisende,werden. Eine Empfehlung an einen Landsmann und
dessen gast-freundliche Schwiegereltern führte mich dort ein. Der Besitzer, Herr R.,
brachte mich selber hin, und als wir nach kurzer Fahrt im be-quemen, mit schneeweissen
Schimmeln bespannten Landauer vor einem langen, einstöckigen Gebäude hielten, dessen
Vorhalle mit Pflanzen von oben bis unten bedeckt war, fühlte ich, als ob ich nicht
45 zu Fremden, sondern zu lieben, alten Freunden käme. Und so empfing sie mich auch, die liebe alte Mrs. R., mütterlich besorgt, es dem fremden Gaste behaglich zu machen. Wie freundlich war nicht mein Zimmer mit blühenden Veilchen geschmückt, und wie mutete mich nach all den mehr oder weniger reinen Hotellagern mein schneeweisses,spitzenbesetztes Bett mit der blauseidenen Steppdecke an! Aber es sollte noch schöner werden, Als ich an das Fenster trat, um in den mondbeschienenen, tropischen Garten zu schauen, wo Veilchen und Rosen das ganze Jahr blühen und fremdartige Pflanzen leise im Abendwind nicken, da erblickte ich seltsam greifbar nahe die Schnee-flächen des wunderbaren Ixtaccihuatl, oder der weissen Frau, die vom klaren Sternenhimmel sich scharf abhebend, hier wirklich die Gestalt einer auf dem Rücken liegenden Frau zeigt. Ich bin in dieser Nacht öfters aufgestanden, um nach dem wunderbaren Bergbilde zu Schauen, .
Mit Herrn v. S., meinem Landsmann, fuhr ich vormittags mit der Bahn nach dem nächsten Flecken Thalmanalco. Dort sind noch zwei höchst interessante Bogenreihen einer Kirche aus den ersten Zeiten der Eroberung durch die Spanier vorhanden. Spanische Künstler haben den Plan entworfen, die Ausführung aber den einheimischen Indianern überlassen, und diese haben in die maurischen Bogen halb christliche, halb heidnische Skulpturen gebracht; richtige Indianertypen und drollige Affen grinsen uns entgegen, dazwischen lächeln uns Putten und Engelsköpfchen zu. Ueberall aber erscheint das grimmige Symbol des Todes: der Totenkopf und die gekreuzten Knochen. Auch noch den heutigen Mexicanern erscheint offenbar der Tod als Freund;ich habe das Volk beobachtet, wie leichten Sinnes es seine Toten begräbt und wie naiv mittelalterlich es den bei uns so düstern Tag Allerseelen feiert.
Durch blühende Felder, wo gelb und blau die Hauptfarben bil-deten, wanderten wir zu Fuss nach Miraflores zurück. Für mich liegt stets ein Zauber über einsamen Feldwegen und doppelt so, wenn ich aus einer grossen Stadt komme. Schön, wunderbar schön ist eine mexicanische Landschaft, die durchsichtige Luft, die leuchtenden Far-ben, die Höhen und Tiefen des Weges, die bläulichen, bizarren,undurchdringlichen Kaktushecken, die kühnen Reiter auf feurigen Pferden, die armen, kleinen, überladenen Eselein, die in ihren Lumpen und ihrem Schmutz malerische Bevölkerung, alles trägt dazu bei, das Bild zu heben, zu verschönern.
Im Garten von Miraflores steht manch seltsamer, wunderbarer Baum und Busch. Da blüht in unvergleichlicher Schönheit die scharlach-
Aus Central- und Südamerica.rote Poinsettia, deren Blume aus einem Blätterkranze besteht. In Mexico heisst sie die Blume de la Noche buena, der heiligen Nacht,und sie soll Herzleidenden Heilung bringen. Mrs. R. klagte, schon jetzt würden die Büsche geplündert, die Leute könnten doch wenig-stens bis zur heiligen Nacht damit warten. Die seltensten Bäume aber in Miraflores sind die Arboles de las Manitas (Cheirostemon platanifolium). In zwei Riesenexemplaren stehen sie da, in Form und Laub einem Tulpenbaum ähnlich. Die Blüten doch ich will sie beschreiben: Aus der Mitte einer lederartigen, scharlachroten, grossen,fünfblättrigen Blüte entsteigt ein Ärmchen und eine Hand mit fünf zarten, einwärts gekrümmten Fingern; ein sechster kurzer, Spitzer Finger hebt sich drohend warnend aus der Handfläche empor. Dieser Baum galt den alten Azteken für heilig und auch er sollte leidenden Herzen Linderung schaffen.
Unter Blumen und Musik verträumte ich einen schönen Oktober-sonntag in Miraflores. Frau und Fräulein R. spielen beide in künst-lerischer Vollkommenheit Klavier, und ich konnte mich nicht satt hören an den schönen, originellen Volksweisen und Tänzen der Mexicaner.Die Paloma besonders tat es mir an. Sie ist freilich fremdes Ge-wächs, eine Habafiera und erst mit dem unglücklichen Kaiserpaar Maxi-milian und Carlotta ins Land gekommen. Beide liebten die Paloma und sie wurde zu einer Art Volkshymne. Jedesmal in Zukunft, wenn ich die Paloma hören oder spielen werde, wird der blonde, Schöne,aber energielose Kopf des Habsburger und das feine, charakteristische Gesichtchen der armen, schwermütigen Kaiserin vor mir erstehen.Ich bin nicht müde geworden, Mrs. R. über die beiden Unglücklichen zu befragen und sie nicht müde, mir von jenem Manne zu erzählen,der so menschlich schwach im Leben, so heldenhaft stark im Sterben sich gezeigt hat. Lebhaft noch erinnert sie sich der bitteren Tränen,die sie und ihre junge Schwester um Maximilian vergossen und des Wehs, das damals die Herzen der Fremden aller Nationen ergriff.Ja, selbst die Mexicaner haben Lopez, des Kaisers Verräter und Richter,mit Verachtung bestraft, er war unmöglich geworden im Lande. Seine eigene Frau verliess ihn auf immer am Tage der Exekution.
Den folgenden Morgen zeigte mir Herr v. S. die prosaische Lebens-ader' des poetischen
Miraflores, die grosse Baumwollspinnerei. Sie gehört zu den ältesten im Lande und ist
schon durch den Vater des Herrn R. erbaut worden. Nicht weniger als 450 Arbeiter sind da
beschäftigt, zur Hälfte Frauen und Kinder. Sobald ein Kind ein bis-chen herangewachsen
ist, wird es zur Arbeit gebraucht. Herr v. S.
47 bedauerte mit mir die allzulange Arbeitszeit: Morgens sechs Uhr bis abends neun Uhr und nur anderthalb Stunden Pause. Bei kürzerem Tagewerk würde sicher ebenso viel, ja mehr geleistet. Von grossem Interesse war für mich, den ganzen Prozess verfolgen zu können,dem man die rohe Baumwolle unterzieht, bis sie als farbiger, solider Stoff für die Schere des Schneiders bereit, oder als glänzende, feine Tischtücher, mit blauen Bändchen zierlich umbunden, zur Versendung an ein grosses Geschäft in Mexico gerüstet, vor mir lag.
Kaktushecke.
Unter den Bergbahnen, die kühner Unternehmungsgeist im malerischen Lande Mexico erbaut, gehört die Linie nach Cuernavaca zu den schönsten und interessantesten. Die Fahrt dauert nicht lange,bloss vier Stunden, allein dennoch bringt es das Dampfross zu Wege,3050 Meter emporzusteigen, in Regionen, wo nichts mehr als Weide,Tannen und eine genzianenartige Blume gedeihen. Schwer atmet der Reisende in der dünnen Luft, und fröstelnd greift er nach Mantel ınd Decke. Doch auch hier wohhen Menschen, kömmen zur Welt und sterben und zwar in den elenden, baufälligen Hütten von Tres Maria, Ajusco und Fierro del Toro, den drei höchst gelegenen Flecken.Einzig schön ist die Szenerie bei dem Aufstiege. Man schwebt an-Sscheinend empor zu den Höhen des Popocatepetl und Ixtaccihuatl,
Aus Central- und Südamerica.um ebenso rasch niederzusteigen in eine fruchtbare Ebene. Blumen-umsponnene Häuschen, grosse Bäume mit den weissen, windenartigen Blüten, prachtvolle Mimosen, kleine und grosse Sonnenblumen er-freuen auf der zweiten Hälfte des Weges das Auge und überraschend schnell ist Cuernava, das in neuester Zeit als Winteraufenthalt in die Mode kommt, erreicht.
Die Maultiertrambahn braucht ihre gute Zeit, um das alte Städt-chen zu erreichen. Ach, die armen Tiere sind ja weit über ihre Kräfte angestrengt.
Ich war mit einer sehr eleganten Dame in der Bahn gefahren,die sich allmählich als Hotelbesitzerin in Cuernavaca entpuppte und mich mit sanfter Gewalt in ihr Haus ziehen wollte. Als ich ihr erklärte, ich hätte einen Brief an das Hotel Morelos, wusste sie nicht, wo anfangen, um mich von dem geringen Werte dieses Hauses und seiner Besitzer zu überzeugen. Schliesslich brachte sie als Haupt-trumpf, der Wirt sei ein Mormone.
Den Reklamen und Beschreibungen nach hatte ich mir übrigens Hötel Morelos viel grösser und eleganter gedacht. Wo waren Billard-und Musiksaal? Wo die amerikanischen, europäischen und mexica-nischen Köche, die „mehrzüngigen“ Kurriere und Führer, die höfliche,wohl gedrillte Dienerschaft des gedruckten Prospektes? Ein mexica-nisches Mädchen besorgte übrigens nach mexicanischen Begriffen recht gut die Küche, eine Frau, mit einem Säugling an der Brust,machte mein Zimmer, und wenn ich einmal klingelte, so erschien,drei Käse hoch, ein zehnjähriges Bübchen in weissem Gewande und riesiger, roter Schärpe und fragte mit würdigster Amtsmiene -nach den Befehlen der Sefiorita. Zwei mexicanische Brüder warteten bei Tische auf, aber keiner von den eben Angeführten sprach ein anderes Wort als spanisch.
Also nichts von alledem. Was ich aber fand, war mir viel lieber.Ich fand ein heimeliges, altes Haus, ein ehemaliges Kloster mit weiten Gängen und blumigen, sonnendurchleuchteten Höfen; ich fand köst-liche Ruhe und ein grosses Zimmer mit rotem Ziegelboden und einem riesigen Kamine, Es war wohl dereinst die Klosterküche gewesen,denn in diesem gesegneten Klima braucht niemand Kaminfeuer.
Nachts, wenn ich im Bette lag, fand ich mein Zimmer am idealsten.Da konnte ich einen Teil
der etwas höher gelegenen Stadt bequem überblicken, und geheimnisvoll zeichnete sich die
Silhouette der alt-ehrwürdigen Kathedrale im milden Lichte des lieben, alten Mondes und
einiger moderner, elektrischer Lampen vom Horizonte ab. Dann
49 klangen vereinzelte Glockentöne in meine Träume oder vielmehr in meinen Halbschlummer und schwerer Weihrauchduft drang zu mir hinein. Später, wenn alles still war, kamen die alten Klosterküchen-geisterchen, huschten über den Boden und knisterten in der Strohmatte vor meinem Bette. „Mäuse?“, höre ich entsetzt fragen! Ach ja, die gibt es überall im Lande Mexico.
Märchenhafter noch ist der Sonnenuntergang auf der Azotea, dem flachen Dache des Hauses. Dort oben blühen in reicher Fülle Gera-nien und Rosen und auf hohem Söller steht ein luftiger Pavillon.Von seinen vier steinernen Nischen aus übersah ich die alte Stadt mit ihren flachen Dächern, Kirchen und Gärtchen, aus denen sich manchmal fremdartig schön eine stolze Königspalme, ‚ein Kind der Tropen, erhebt. Man blickt auf den schönen, alten Palast, den. Fer-dinand Cortez sich hier errichtet hat und der nun, leider etwas zu modern, erneuert wird. Die Blicke ‚schweifen über das fruchtbare Tal von Cuernavaca und die fernen Berge des Guerrerostaates,auf die Schneehäupter des Popocatepetl und Ixtaccihuatl. Taucht die Sonne das alles in rötlichgelb-violettes Licht, so teilt sich die Verklärung dem Glücklichen mit, der sein Auge daran erlaben darf. Dann fühlt er sich kein armer, sorgengedrückter Sterblicher mehr, nein, er ist ein Bewohner höherer, besserer Welten geworden.Einen kurzen Augenblick! Das Grau der Nacht legt sich über all den Farbenglanz, und das. arme Menschenkind kehrt in die nüch-terne, kalte Gegenwart zurück.
Noch ist Cuernavaca ein stilles Landstädtchen und unmerkbar rauscht das Treiben der Welt an ihm ‘vorbei. Wanderte ich die steilen, entsetzlich gepflasterten Wege empor, so wurde ich manches Mal mit „Nifia, Nifia!“!) angerufen. Dies ist die regelmässige Ein-leitung zu einer Bitte um ein Almosen.
Mein Weg führte mich immer wieder zu der alten Kathedrale,oder besser gesagt zu den verschiedenen Kirchen, die, von einer bezinnten Mauer umgeben, einen grossen Platz auf drei Seiten ab-grenzen. Da ist zunächst die alte, malerisch verwitterte Kathedrale mit reich skulptiertem, etwas unproportioniert hohem Turm. Über dem Eingangstor starrt als Memento mori dem Besucher ein sehr realistisch gehaltener Totenschädel entgegen und drinnen erinnert eine schwarzgekleidete Muttergottes an die Göttin des Todes. Um so freundlicher erscheint dafür die sehr verschnörkelte Parrochialkirche mit ihrem rosafarbenen Stuckanstrich. Ein hoher, reich vergoldeter
‘) „Nifia“ (Kind) wird in Mexico jedes noch so alte Weiblein genannt.
Aus Central- und Südamerica,Altar ist mir drinnen aufgefallen. Die dritte Kirche hatte für mich weiter kein Interesse; sie ist modern und passt nicht in den Rahmen des alten Cuernavaca. Um so typischer erscheint der grosse, mit hohem Grase bewachsene Platz. Wie oft stellte ich mich da auf und sah zu, wie feierlich ernsthaft, in ihre langen, dunkelblauen Kopftücher gehüllte Frauen und Mädchen ihn durchschritten, um in der einen oder anderen Kirche ihre Andacht zu verrichten. Da sehe ich sie wieder vor mir, meine kleine Freundin Guadelupe Beniaflor,mit den ernsten, unkindlichen, spanischen Augen. Gespannt blickt sie auf meinen photographischen Apparat. „<Quando sale mi ritrato?“ (Wann kommt denn mein Bild heraus?) Ja, das geht nicht so schnell, kleine Guadelupe. Nun ist sie aber in meiner Sammlung verewigt und hinter ihr das alte Missionskreuz mit dem Totenschädel und den gekreuzten Knochen.
An den Kirchen und an der Mauer sind überall Gräber, einzelne schon mit verwitterten, verlöschten Inschriften. Seit diese Toten in die kühle Erde gebettet wurden, hat sich in Cuernava kaum etwas verändert; so verträumt, so weltabgeschieden mag das Städtchen schon zu Cortez Zeiten gewesen sein.
Dieselben Gebräuche, dieselben Sitten haben sich von Vater. auf Sohn vererbt. Hier ist das traditionelle Gitter, hinter dem das junge Mädchen die Fensterpromenade des Geliebten erwartet, wenn mög-lich noch fester, als im übrigen Mexico. Aber dieser Platz hinter dem vergitterten Fenster ist der jungen Mexicanerin Goldes wert,denn er allein gibt ihr die Möglichkeit eines heimlichen Plauder-stündchens. Darf sie doch den Geliebten auf der Plaza beim Konzert nur schüchtern aus der Ferne grüssen, sich nicht auf dem Balle ein stilles Plätzchen zum Plaudern mit ihrem Tänzer suchen, viel weniger noch sich öffentlich mit dem Gegenstande ihrer Neigung sehen lassen,wenn er nicht ihr novio (Bräutigam) ist. Sind die beiden jungen Leute erst glücklich Braut und Bräutigam geworden, so tritt als dritte in den Bund die Ehrendame ein, die der jungen Braut nicht von der Seite weichen darf,
Der feurige Mexicaner lässt sich übrigens ein langes Liebeswerben nicht verdriessen. Es
ist erstaunlich, welcher Aufwand an Zeit und Geduld oft zwischen einer ersten
Fensterpromenade und der Ver-lobung liegt. Meine Freunde in Mexico erzählten mir von einem
jungen Paar, das sechs Jahre geduldig auf einander wartete und dabei nur hie und da durch
das Fenster einige Worte mit einander wechseln konnte. Der Bruder des jungen Mädchens
hatte den Bewerber zum
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Hause hinaus gewiesen und erst nach sechs Jahren betrat er es wieder,diesmal als von der Familie anerkannter Bräutigam. Ähnliche Fälle sollen in Mexico nicht selten vorkommen.
Ganz zu dem verträumten, romantischen Cuernavaca passt der Jardin Bordo. Man bezahlt einen halben mexicanischen Dollar Eintritt,wird dann aber weiter nicht durch Führer u.s. w. behelligt. In gött-licher Freiheit darf man den ganzen Tag umherstreifen, sich an Guava und der sonderbaren Mameyfrucht satt essen, sich Besitzer dieser
Jardin Bordo.wunderbaren, verfallenen Herrlichkeit wähnen. Der Eigentümer lebt in Mexico, zeigt sich niemals in Cuernavaca und möchte den Garten verkaufen. Wer ihn wohl angelegt haben mag, und wann? Alhambra und Versailles mögen ihm dabei vorgeschwebt sein, und viel Geld,eine unerschöpfliche Wassermenge und ein köstliches Klima haben ihm geholfen, etwas zu schaffen, das aller Vernachlässigung unge-achtet noch ein wahres Kleinod ist.
Die Bilder vom Jardin Bordo zeigen meist nur das grosse, lange Wasserbecken mit dem einen oder anderen Gartenhause an seinem Ende. Durch ungewöhnliche Grösse, die Menge der es belebenden Enten und die herrlichen, an beiden Langseiten gepflanzten Bäume,
Aus Central- und Südamerica.bietet es wohl einen imposanten Anblick, aber viel entzückender sind die langen mit Rosen und anderen Schlingpflanzen überschatteten Wandelgänge, die vielen durch Mäuerchen und Gräben abgeteilten Terrassen, die bemoosten, verfallenden Springbrunnen, wo das Wasser leise und spärlich an baroken, verwitterten Figuren herabträufelt. Stein-platten bedecken zumeist diese Wege und Gärten, und doch hat sich die übermächtige Tropenvegetation Bahn zu brechen gewusst, hat die Steine an manchen Stellen geborsten und wuchert von keiner Gärtnerhand beschnitten, üppig, lebensfroh empor. Der sich über die Stadt erhebende Garten ist durch eine niedrige Mauer von der Aussenwelt getrennt. Es sitzt sich gut auf dieser Mauer, noch besser in einem der verschiedenen Erker, und stundenlang habe ich da vor mich hingeträumt, habe hinausgeschaut auf das schön beleuchtete Tal,die bizarre Reihe der Vulkane, die blumigen Gefilde, Und war ich geblendet von all dem südlichen Glanze, dann liess ich mein Auge ausruhen am saftigen Grün der hundertjährigen Bäume, die hier in langer Reihe, undurchdringlicher als eine Mauer, den Eingang in den Garten verwehren.
Kein Mensch! Auch Dornröschens Schloss, denn es steht irgend-wo ein Haus im Garten schien ganz unbewohnt. Kein Geräusch!Einzig das Zirpen der Grillen, das Plätschern des Wassers, und das leise Piepsen allerliebster, fremdartiger Vögelein!
Vom träumerischen Jardin Bordo in das sehr realistische Gewühl eines mexicanischen Marktes ist ein weiter Sprung. Heute am Don-nerstag ist die weite, um einen grossen Hof laufende Halle sehr an-gefüllt. Da hocken die Weiber in langen Reihen und halten Früchte,Töpfereien (eine Fabrik ist in dem nahen San Antonio), Schuhe, Süssig-keiten, Tortillas feil. Auch mehr oder weniger appetitliches Fleisch wird da verkauft. Wer in der Halle nicht Platz hat, sitzt im Hofe,den Rücken an den riesigen, steinernen Brunnen gelehnt. „gNifia quiere U. una criada“!)? tönt es plötzlich hinter mir. „gNifia quiere U. un pollo??) Blanquillos?“ ruft man mir von anderer Seite zu.„Nada, nada“ und lachend flüchtete ich mich aus der verkaufslustigen Menge.
') Kind, wünschen sie eine Magd?
?) Kind, wünschen Sie ein Huhn? Eier? Nichts, nichts.
Die Ruinen von Mitla.
Eine Einladung in die Familie des Direktors der Ha-cienda del Progreso brachte mich nach Pachuca. Dort wird die Silberausbeutung in der Republik Mexico am er-folgreichsten betrieben, Die nur etwa zwei Stunden dau-ernde Eisenbahnfahrt über Telles führt durch eine öde,unfruchtbare Gegend. Pa-chuca selber liegt in einer mit Maguey bepflanzten Ebene am Fuss einer kahlen Hügel-kette. Ein rosiger Abend-schimmer hatte sich darüber gelegt, als ichankam. Herr G.erwartete den unbekannten Gast am Bahnhof und bald sassen wir im Wagen und fuhren über ein, selbst für Mexico ungewöhnlich schlechtes Pflaster dem Hause der Familie G.,zu. Es liegt dicht an dem Hüttenwerk und- unwillkürlich musste ich fragen: „Haben Sie einen Wasserfall in der Nähe?“ „Nein, aber neben uns. werden wertlose Kalksteine in kostbare Silberbarren verwandelt,“meinte scherzend Herr G. „Leider werden Sie dieses Rauschen die ganze Nacht hören müssen. Wir sind es gewöhnt, uns stört es nicht mehr am Schlafen. Ist es Ihnen übrigens recht, so wollen wir schon heute Abend einen Blick in diese Hölle tun!“
Minenarbeiter.
Aus Central- und Südamerica.Das hellbeleuchtete Hüttenwerk gewährt einen eigentümlichen,märchenhaften Anblick. Wie böse Dämonen schlagen zu oberst in der Hütte gewaltige Stempel auf grosse Steine los, deren zerquetschte Masse alle möglichen Kessel, Öfen, Abscheidungs- und Waschprozesse durchläuft, um fünf Stockwerke tiefer als reines zum Giessen bereites Silber vor meinen erstaunten Augen zu liegen. Herr G. erzählte mir, es würden jede Woche 500 Kilo Silberbarren nach Mexico ge-sandt. Der Lärm ist so gewaltig, dass jede Unterhaltung ein Ding der Unmöglichkeit war; so musste ich meine Fragen auf später versparen,Als ich mich über die wenigen Arbeiter verwunderte, meinte Herr G., er werde in Zukunft mit einer noch geringeren Anzahl auskommen, auch die Maultiere im Amalgamierhofe wolle er durch Maschinen ersetzen.
In Pachuca wird seit mehr als 380 Jahren Silber ausgebeutet und hier auch entdeckte Bartolome de Medina den Amalgamations-prozess. Er besteht darin, dass die Gewinnung des Silbers und Goldes aus Erzen und Hüttenprodukten mit Hilfe von Quecksilber erfolgt. Bei der amerikanischen Amalgamation werden die zu amal-gamierenden Erze, nachdem sie auf Nassmühlen fein gemahlen und noch feucht im Amalgamierhofe in Haufen von 15 bis 30 Zentnern aufgestürzt worden sind, je nach ihrer Reichhaltigkeit mit Kochsalz,geröstetem Kupfer und Schwefelkies und schliesslich mit Quecksilber von Maultieren durchtreten (tituriert), Herr G. erzählte mir, die armen Maultiere gewännen bei dieser Arbeit erheblich an Wert.Sie pflegten die feuchte Masse im Amalgamierhof, die sich an ihre Beine hefte, zu lecken, und allmählich sammle sich ein ganzer Silber-klumpen in ihrem Magen, der schliesslich den Tod des Tieres herbei-führe und dem Besitzer eine beträchtliche Summe eintrage.
Den folgenden Tag fuhren wir in das Bergwerk San Rafadl,darunter ist aber kein Anfahren
in die Grube, wie der fachmännische Ausdruck heisst, kein Klettern in die Tiefe zu
verstehen. Man hatte auf einen niedrigen Wagen zwei Holzbänke gestellt, auf denen Herr
G.,seine Frau, eine Verwandte und ich Platz nahmen und nun ging es,von zwei munteren
Maultieren gezogen, durch einen weiten und sehr langen Tunnel, Wir stiegen für kurze Zeit
aus, guckten in einen tiefen Schacht hinab und fuhren dann wieder zurück, Am Ausgang
mussten einige Minenarbeiter sich eine gründliche Untersuchung gefallen lassen. Sogar in
ihren Stiefeln wurde nach Silber geforscht. Uns Damen sahen die indianischen Arbeiter
nicht besonders freundlich an, herrscht doch hierzulande der törichte Aberglaube, dass
Frauen-besuch den Silberminen Unglück bringe.
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Eine Spazierfahrt durch das öde, steinige, winddurchsauste Land nach den Haciendas Maravillas und Santa Gertrudis, und ein ge-mütliches Mittagessen beendigten meinen kurzen Besuch in Pachuca.
Als ich bei meiner Ankunft in Puebla nach dem mir empfohlenen Hotel de Diligencias fragte, trat ein Portier des Hotel Jardin vor, mit der Meldung: „Das Hotel de Diligencias ist soeben abgebrannt, Sie müssen mit mir in das Hotel del Jardin.“ Ich traute dem Burschen nicht recht. „Verhält es sich wirklich so?“ wandte ich mich an einen andern, der es lachend verneinte. Das Hotel Diligencias es hat seinen Namen behalten, obschon der geräumige Hof keine Postwagen mehr beherbergt enthält recht schöne, grosse Zimmer und gehört überhaupt zu den besseren Gasthöfen Mexicos. Vorläufig brachte ich nur eine Nacht daselbst zu, war doch mein Ziel Südmexico und die Ruinen von Mitla.
Wie gewöhnlich befand ich mich schon sehr früh auf der Station und in dem Eisenbahnwagen, der sich rasch füllte. Das Publikum erschien mir recht merkwürdig und durchaus nicht erstklassig. Aus dem babylonischen Sprachengewirr, dem Kläffen einiger Schosshunde und Kreischen verschiedener buntfarbiger Papageien begriff ich all-mählich, dass ich zu einer Zirkustruppe gestossen war. Ausser der vielköpfigen Gesellschaft sassen zwei lustige geistliche Herren in meiner Abteilung. Mit Schnupftabak und Niessen verbrachten sie so ziemlich die lange Tagesreise und taten insofern ihr möglichstes, mich zum Schnupfen zu bekehren, als sie mir alle Augenblicke ihre Dosen „A disposicion“ stellten. Ausser ihnen sassen noch zwei Deutsche da,wovon der eine, ein Globetrotter, nicht aus der Verwunderung kam,dass ich allein und unbewaffnet die Reise durch ein so unsicheres Land wie Mexico wagte. Schliesslich unterhielt sich die bunt zu-sammengewürfelte Gesellschaft ganz gut miteinander,
Mir freilich gewährte die wunderschöne Eisenbahnlinie an und für sich genügend Zerstreuung. Häufiger als sonst steigt sie hier in Schluchten und Täler hinab und oft, wenn man empor schaut auf die steilen, überhängenden Felsen und sieht, wie dicht sie sich an das Geleise drängen, so verliert man beinahe die Hoffnung, je wieder einen Ausweg aus dieser Felsenwelt zu gewinnen. Und wie herrlich sind die Farben der wilden Riffe, wenn es der Sonne gelingt, einen Strahl darauf zu werfen. Golden, silbern, rötlich, bläulich schimmern sie, als ob das Mineralreich seine kostbarsten Adern darin verborgen hielte.. Besonders grossartig ist die Fahrt durch das Cafion de los Cues, freilich auch fast unerträglich heiss. Wir sind hier in der
Aus Central- und Südamerica.Tierra caliente und die heisse, trockene Luft dörrt den Mund aus und raubt manchem von uns den Atem. Heiss und trocken ist es auch um die Pflanzenwelt bestellt, die in diesem steinigen Boden noch Lebensmut genug besitzt, das Dasein zu fristen. An Stelle der sonst so bescheidenen Maguey ist die Yuccapalme getreten. Auf 23 Meter hohen Stämmen erheben sich ihre weitverzweigten, plumpen, mit häss-lichen, borstigen, dunkeln Blattkronen geschmückten Äste. Sie sind die richtigen Struwelpeter der Pflanzenwelt. Einmal die Felsen-region hinter uns, kamen wir in offene, fruchtbare Ebenen und abends schliesslich an das Ziel meiner heutigen Reise, Oaxaca.
Die Zirkusleute hatten einen grossen Nachteil für mich im Ge-folge. Alle Zimmer der besseren Gasthöfe waren im voraus von ihnen bestellt und schliesslich musste ich froh sein, im Hotel Eden unter-schlüpfen zu können. Ach, dieses Eden war reich an Insekten schlimm-ster Sorte und an primitiven Zuständen unglaublichster Art. In meinem Bette zeigten sich Kopfkissen und Matratze in ihrer ganzen schmutzigen Blösse. Die Lavandera (Wäscherin) hatte die Leintücher nicht ge-bracht. Aber ich bestand auf Kissenüberzug und Betttüchern. Flugs enteilte Graciela, die schwarzäugige Magd, in das Nebenzimmer zur Rechten, dann in das Nebenzimmer zur Linken und brachte trium-phierend zwei angebrauchte Betttücher, Folgenden Tages beklagten sich meine Zimmernachbarn, ihre Bettwäsche sei ihnen meuchlings geraubt worden. Ländlich, sittlich! Die schwere Türe besass weder Riegel-noch. Schlüssel... Eine- riesige -Stange, ‚wohl eine ausgediente Telegraphenstange, wurde auf nochmalige ernste Bitte herbeigeschleppt,die ich als Sparren an die Türe stemmte.
Auf Oaxacas Plaza gedeihen Granatfrüchte und Apfelsinen in grosser Fülle und auf dem
Markt werden herrliche Bananen und Ananas zu billigem Preise verkauft. Ein gewaltiges
Leben herrschte gerade dort, war es doch Allerseelentags-Markt. Da konnte man alles
kaufen: Rebosos, Sarapes, Schuhe, schön lasiertes Geschirr,Früchte, Getreide, Lederwaren.
Mein lebhaftes Interesse ‚erregten kleine Skelette aus Papier, Holz und Papiermache, die
Gevatter Tod,Päpste, Könige, Fürsten, schöne Damen u.s.w. ganz nach Holbeins [dee
darstellten und zu hunderten zu 310 Centavos verkauft wurden.Auf denselben Tischchen
standen auch ganze Leichenzüge mit Priestern,Totengräbern, Sarg und Trauergeleite aus
farbigem Papier geschnitten und auf Zigarrenkistendeckel geklebt. Die Köpfe waren aus
bemalten Samenkörnern ganz kunstreich hergestellt. Diese „Allerseelenindustrie“erstreckte
sich sogar auf das Gebäck. Als ich für die Fahrt des
57 folgenden Tages eine Art Hefenkranz kaufte, entdeckte ich nachträg-lich ein darein gepresstes Totenköpflein. Das Gebäck trug auch den düsteren Namen: „Pan de Muerte“ (Totenbrot).
Für den Magen einer hungernden und dürstenden Menschheit sorgen Iluftig aufgeschlagene Garküchen. Unter. einem bunten Regen-schirm und mit Hülfe einiger Steine wird Tortilla geknetet, gebacken und verzehrt. In irdenen Töpfen brodeln Heuschrecken und Würmer-ragouts und wirklich ausgezeichnete Getränke aus Fruchtsaft erlaben den durstigen Wanderer.
Wie die Menge unter den gedeckten Hallen und unter freiem Himmel wogt und sich drängt! Die Frauen, den Oberkörper nur mit einem losen Hemd notdürftig verhüllt, halten meist einen Säug-ling an der Brust, die Männer tragen Dolch und Revolver, sehen aber dabei im ganzen harmlos gutmütig aus.
Oaxaca gilt für eine blühende Stadt von ungefähr 40,000 Ein-wohnern. Sie ist die Geburtsstätte zweier Präsidenten: Juarez und Porfirio Diaz.
Oaxaca besitzt eine sehr sehenswerte, vielleicht die am voll-kommensten ausgeführte Kirche Mexicos: San Domingo. In Basiliken-form anfangs des siebzehnten Jahrhunderts von den Dominikanern erbaut, wurde im neunzehnten Jahrhundert ihr Altar vernichtet und während 40 Jahren war die Kirche jeder Verwüstung preisgegeben.Im Jahre 1902, am 2. November, wurde sie, vollständig erneut, der Stadt und den Bürgern Oaxacas übergeben. Etwas überreich dekoriert,macht sie doch einen. sehr harmonischen Eindruck.
Aber Oaxaca war für mich nicht die Hauptsache, sie bildete nur das Bindeglied zwischen Mitla, dem Ziel meiner Wünsche. Ich hatte freilich weder die Zeit, noch die Kosten, viel weniger die Un-annehmlichkeit einer Fahrt zu den berühmten Ruinen ausserhalb der Touristensaison berechnet. Da in der ganzen Stadt keine Reise-gesellschaft aufzutreiben war, mietete ich ein leichtes Wägelchen mit zwei, wie es hiess, ausgezeichneten Maultieren und einem jungen dem: Pulque nicht ergebenen Kutscher,
Da die Fahrt schlimmsten Falles sechs Stunden betragen sollte,setzte ich mich schon gegen 6 Uhr früh in den Wagen, um vor den heissen Mittagsstunden nach Mitla zu gelangen. Programmgemäss erreichten wir Tule um 7.Uhr, Auf dem alten Friedhof von Santa Maria del Tule steht ein uralter Cypressenbaum. Er mag wohl schon zur Zeit der Tolteken gelebt haben. Die Geschichte mit ihren grossen Ereignissen und Veränderungen ist über ihn hinweggezogen und hat
Aus Central- und Südamerica.ihn unversehrt gelassen. Wenn er nur sprechen, mir erzählen könnte!Wie ein Dom breitet sich seine undurchdringliche Krone über den eingemauerten Garten, und wenn 28 Personen, sich an den Händen haltend, den alten Recken zu umarmen versuchen, wird es ihnen nur knapperdings gelingen. Mein junger Kutscher er war 15 Jahre alt meinte: Es bedarf schon zweier Blicke, um nach seinem Wipfel zu schauen.
Auch Humboldt hat den alten Baum in Tule gesehen und be-
Der alte Baum von Tule wundert und ihm eine Inschrift gegeben, die aber Moos und Zeit
nahezu völlig verwittert und unleserlich gemacht haben. ;Weiter ging es, vorwärts auf
breiter oft sandiger Landstrasse.Das eine Maultier schien schon jetzt bedenklich müde, und
mit Schreien und Peitschenschlag begann das Werk des Antreibens, das bis Mitla keinen
Augenblick rasten sollte. Vom letzten Orte Tlacolula an ging unser Gefährt überhaupt nur
Schritt und jeder schwere Ochsenwagen,dessen hölzerne, wohl aus der Zeit der spanischen
Eroberer stammende Räder tiefe Furchen in den Sand gruben, jedes schwer beladene Eselein,
ja jeder Fussgänger hatte den Vorsprung vor uns. Unbarm-herzig brannte die Sonne. Ich war
ganz erschöpft, als endlich nach 7'/zstündiger Fahrt die reizende Hacienda des Wirtes von
Mitla,
Don Felice Quero, meine steifen, müden Knochen aufnahm. Wie traulich kam mir mein kühles, auf den Patio ausgehendes Gemach vor! Wie blumen- und früchtereich ist dieser Patio! Eine riesige Cypresse, an der eine dunkel-karminfarbene Bougainvillea emporklettert, bildet die Mitte und um diese gruppieren sich in wildem Gewirr hohe Rosen-büsche, mit goldenen Früchten überladene Orangen- und Zitronen-bäume und herrliche Granaten. Die Sonne hat die grossen Früchte zu vollster Reife gebracht und ich lasse mir einige ganz durchwärmte zum Nachtisch pflücken. Wie erlabend für eine staubige, dur-stige Kehle! Einziger Gast zwar,sass ich doch nicht allein im
Speisezimmer. Ein prächtiger
Wachtelhund und fünf, sage fünf Katzen hatten sich heran-geschlichen und warteten auf
Brocken und Bröcklein, Sie waren alle schwarz und weiss und zeigten dieselbe Familien-
ähnlichkeit, wie die ebenso in der Fünfzahl stehenden Töchter des Hauses Quero, doch waren die Katzen entschieden hüb-scher. Hässlichere Menschen als Vater, Mutter, Töchter und
Söhne Quero habe ich niemals gesehen! Eine Schönheit nur besassen die Frauen alle: wun-derbares Haar! Das flatterte dicht, schwarz und lang bis an die Knie, flog aber auch beim Kochen und Aufwarten in Teller und Schüsseln,
Bald nach dem Essen wanderte ich nach den Ruinen durch das ärmliche Dorf, mit seinen bettelhaften Bewohnern. Eine Schar zudringlicher Kinder und Antiquitätenhändlerinnen folgte. Wohl zwei Stunden lang stieg ich in den Ruinen herum, aber erst am folgenden Tage gelang es mir, meine Eindrücke im Einzelnen niederzuschreiben.Waren es das etwas trübe Wetter, Müdigkeit, meine Quälgeister, die ein leises Gefühl der Enttäuschung in mir aufkommen liessen? Der foldende Morgen fand mich besser gestimmt. ‘ Ich hatte gut geschlafen,
Frau von Mitla.
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Aus Central- und Südamerica.obschon die Familie Quero bei der Dekoration einer Anzahl grosser „pan de Muerte“, die im Patio vorgenommen wurde, sehr laut vor-ging und noch um Mitternacht plauderte,
In aller Frühe wanderte ich nach den Tempelruinen; ein starkes Gewitter hatte das Wasser des Baches, über den nur einige Steine als Steg gelegt sind, hoch angeschwollen. Ohne nasse Füsse ging es nicht. ab. Ein: Führer wartete auf mich, mit dem ich zunächst in die vor drei Jahren blossgelegten, unterirdischen Grüfte hinunterstieg.Wer sind die Erbauer dieser grossartigen Tempel? Die Geschichte der grossen Pyramiden, der zerfallenden Sphinx, des gewaltigen Tempels von Karnak sind uns durch die vielen Hieroglyphschriften des ägyptischen Reiches enthüllt, wir kennen die Erbauer Baalbecks,wir wissen ungefähr, wann die Tempel Griechenlands, Roms und Siciliens entstanden sind. Wer aber enthüllt uns die Geschichte der geheimnisvollen Mitla und ihrer alten Bewohner? Vermutungen allein walten hier. Eine Überlieferung sagt uns, der Name „Mictlan“ be-deute „Hölle“, eine andere heisst Mitla „Lyo-Baa“, was „Eintritt in das Grab“, in der Zapotecas-Sprache, einem Idiom, dessen die jetzigen Bewohner Mitlas sich noch bedienen, bedeuten soll. Gelehrte und Forscher stimmen betreffs des Zweckes dieser massiven Kolossal-bauten keineswegs miteinander überein, und so wissen wir nicht,ob wir Paläste, Tempel, Gräber, Festungen oder Vorratshäuser vor uns haben.
Neuere Ausgrabungen förderten in diesem bergumkränzten Tale Mauerreste, gestürzte Säulen, gewaltige Monolithe und kleine Ton-waren zu Tage. Wir wissen daher, dass hier nicht nur eine, sondern mehrere grosse Städte eines Volkes gestanden, das vom Erdboden schon verschwunden war, als Cortez und seine beutedurstige Schar ins Land einzog. Unwillkürlich denkt man an die Tolteken, denn diesen Trümmern nach zu urteilen war jenes alte Volk ein hoch kultiviertes,
Die erste Nachricht über Mitla hat uns ein Mönch gegeben, ein Bruder Martin, der 153334 von Valencia nach Tehuantepec (Stadt in der Provinz Oaxaca) reiste. Nur ganz flüchtig erwähnt er in seinem Reisebericht ein Dorf Mictlan, das in der Sprache seiner Bewohner „Hölle“ bedeute und unter seinen schönen Gebäuden einen Tempel des Teufels enthalte mit zahlreichen Wohnungen für seine Priester.
Ahnlich, aber viel ausführlicher lässt sich Pater Franciscus de Burgoa über Mitla aus:
„Nach der. Sündflut“, so erzählt er, „war hier ein freier Raum entstanden. Diesen benützte
der Teufel, um ihn
61 mit Indianern zu bevölkern. Er setzte Priester ein, die ganz das Gegenteil unseres obersten Pontifex zu Rom waren, der die Leben-digen losspricht, ihnen Vergebung und Ablass zugesteht und die Toten von Strafe erlöst. Sie bauten diesen herrlichen Palast oder Tempel mit oberen und unteren Stockwerken und machten mit gros-sem Geschick vier gleichmässig viereckige Räume um. einen grossen Hof“ u. s. w.
Als ich aus den Grüften trat, betrachtete ich diese Vierecke.
Ob ich die Trümmer von vier, oder von einem einzigen Tempel vor mir hatte, weiss ich nicht. Vier teilweise mit Mauern umgebene Räume sind es, die um einen grossen Hof liegen. Alle Eingänge führen in diesen Hof. Der nördliche Raum ist der grösste und best erhaltenste. Da zeigen die Mauern keine Lücken und die ganze Vollkommenheit ihrer schönen, kunstreichen Verzierung kommt hier zur Geltung. Rote Farbreste beweisen, dass sie mit rotem, poliertem Stuck unten an der Basis verkleidet gewesen sind. Darüber ziehen sich bis zur Decke friesartige Streifen mit bizarren Zickzackmustern,bei denen ich acht verschiedene Motive herausfand. Die erhabenen Steine dieses groben Mosaik heben sich schön weiss, gelblich oder braun ab. Die am besten erhaltenen Wände zeigt die sogenannte Mosaikhalle.
Gegen Norden durch eine hohe Treppe erreichbar erhebt sich die sogenannte Halle der Monolithen. Hier stehen sechs massige Säulen ohne Kapitäl und Basis. Sie sind zwei Meter dick und drei Meter hoch, zwei Männer können sie kaum umspannen, Sie mochten einst ein Dach aus Steinplatten stützen.
Nördlich von diesen vier Tempeln, den kahlen Basaltwänden,die das Tal von Mitla abschliessen, etwas näher, steht eine andere kleinere Tempelgruppe, in deren Wände die Spanier ihre auch schon zerfallende christliche Kirche eingebaut haben. Die hintere Eingangs-türe ist durch zwei Monolithe, die jedenfalls vom Haupttempel hierher geschleppt worden sind, gestützt. Geht man hinter die Kirche, so finden sich wieder Tempelgemächer und dieselben drei friesartigen Streifen mit den eckigen, aus kleinen Sandsteinstücken mosaikartig zusammengesetzten Zickzackmustern begrüssen mich. In dem einen jetzt als Stall gebrauchten Raume befinden sich einige ver-wischte farbige Fresken. Ich glaubte darin zwei Elefantenköpfe mit Rüsseln erkennen zu können, doch kann dies natürlich auf Einbil-dung beruhen. Für einen Antiquitätensammler hätte eine weisse mit .Rokokofiguren und Blumen verzierte Sänfte, die in einem Neben-
Aus Central- und Südamerica.raum stand, einen kostbaren Fund abgegeben. Überhaupt ähnelte die ganze, sich jetzt in Reparatur befindliche Kirche viel mehr einem Antiquarsladen, als einem Gotteshause. Rahmenlose, alte Ölbilder,reichvergoldete Leuchter und Spiegel liegen auf einem Haufen, wäh-rend zahlreiche Götzen-, nein, Heiligenbilder, an die Wände gelehnt,herumstehen. Vor jedem aber flammten ein paar dünne Kerzlein, und Frauen und Kinder, die zahlreich in die Kirche strömten, ‚brachten ihren Heiligen schöne, frische Blumen. Die fromme Sitte verwandelte in meinen Augen die alte, schmutzige, vernachlässigte Kirche in eine geweihte, heilige Stätte, und dieselbe Umwandlung vollzog sich auf dem Friedhofe, dessen verwitterte, schlecht gehaltene Grab-platten zugleich Monument und Fussboden bilden. Nur selten meldet eine kaum mehr leserliche Inschrift, eine kleine Vertiefung für geweihtes Wasser, dass hier ein müder Wanderer der Auf-erstehung entgegenharrt.
Das war mein gestriger Eindruck. Heute, wie anders! Heute den 31. Oktober rüstete sich Mitla auf das Totenfest des 2. November;es schmückte seine elenden Gräber. Auf dem zerbröckelnden Boden kauerte ein altes, gebrechliches Weib und setzte bitterlich weinend Blumen und ein fingerdünnes Kerzlein auf ein namenloses Grab. Da und dort huschten ärmliche Gestalten herbei mit dünnen Kerzen und Blumen; je näher ich hinschaute, desto mehr Kerzlein flammten auf dem Boden, armseliger, jämmerlicher noch in dem reichen,wundervollen Sonnenlichte, das darauf hinabflutete. Meine Augen füllten sich mit Tränen, Ich gedachte meiner fernen Toten.
Auf 12'/2 Mittags hatte ich die Abfahrt von Mitla festgesetzt.Ich hoffte auf bessere
Fahrt, aber ach, die sollte mir nicht beschieden sein. Schon war es 6 Uhr und dunkle Nacht
umhüllte die Erde,als wir endlich in Tule einrückten. Das Gewitter der Nacht musste hier
arg gehaust haben, denn es hatte den sandigen Weg in tiefen Schmutz verwandelt, durch den
die müden Maultiere nur mühsam den Wagen schleppten. Ein neues Gewitter stand am Himmel.
Mein Wagenlenker hatte kein Licht für seine Laternen, keine Decke. Die Landstrasse. war zu
einem wilden Bach geworden, dessen Wasser mir alle Augenblicke an die Knie spritzte. Eine
Stunde verging, hie und da nur erhellte ein zuckender Blitz, ein Leuchtkäfer die dunkle
Nacht, sonst war nichts sichtbar, unser Leben hing von der Klug-heit der Maultiere, den
Heimweg zu finden, ab. Schon längst hatte mein junger Kutscher die sonst ewig geschwungene
Peitsche sinken lassen. Jetzt fing er zu schluchzen an: „Die Strassenränber werden
67 uns morden wir haben ja keine Waffen und kein Licht, diese Strasse ist höchst unsicher“.
Da überwältigte es auch mich. Meine sonst stählernen Nerven liessen mich plötzlich im
Stich, ich weinte, weinte wahrhaftig wie ein törichtes, furchtsames Kind. So fuhren wir
weiter durch das Wasser, fuhren noch zwei volle Stunden, bis wir endlich nach 9 Uhr die
Lichter Oaxaca’s erblickten. Ich war vollständig durchnässt, Husten und Schnupfen stellten
sich ein und blieben während den nächsten sechs Wochen meine getreuen Begleiter.
Puebla de los Angeles.
Puebla de los Angeles, Engelstadt, verdankt ihren schönen Namen einer Legende. Als um das Jahr 1664 die grosse Kathedrale erbaut wurde, sollen Engel mit Meissel und Kelle vom Himmel herabge-flogen sein und des nachts und während die Arbeiter ihr Mittags-schläfchen hielten eifrig gearbeitet haben, damit der Bau keine Unterbrechung erleide, Deshalb krönen niedliche Engelsfiguren das schöne Eisengitter um den Kirchplatz.
Die Kathedrale steht so ziemlich mitten in der Stadt. Nach aussen hoch, stattlich und neu, ist sie auch nach innen hehr, luftig und vornehm in ihrer weiss und goldenen Bemalung. Um den Chor zieht sich ein herrlich ornamentiertes, vergoldetes Gitter. Es schliesst schön geschnitztes Stuhlwerk und ehrwürdige, handgemalte Folianten ein. Milchweiss schimmern die Taufbecken und Altäre; Onyx wird dieser Stein hier genannt. Durchsichtiger als Alabaster hat er die Aderung des Achates. Man findet ihn in Tocalli, einige Stunden von Puebla entfernt, und alle möglichen daraus verfertigten Gegenstände werden unter den Portales feilgehalten.
Mein erster Tag in Puebla war der 2. November. Ich fuhr nach dem Pantheon, wie in spanischen Landen der Friedhof genannt wird.Unterwegs fühlte ich mich glücklich, die beiden Bergriesen Popo-
Aus Central- und Südamerica.catepetl und Ixtaccihuatl aus grösserer Nähe als in Mexico zu er-blicken. Vor dem Pantheon fand ich eine grosse, festtäglich geputzte Volksmenge. Der Allerseelentag bietet, wie bei uns Ostern und Himmelfahrt, Gelegenheit, sich in neuen Kleidern sehen zu lassen,Zahlreichen, beweglichen Restaurants entquollen Tortilla- und Knob-lauchdüfte und Süssigkeiten-, Früchte- und Limonadenhändler machten sehr gute Geschäfte. Die Lebenden wollen bei dem Kultus der Toten selber nicht zu kurz kommen. Ob wohl dabei viele Gedanken an die Dahingeschiedenen aufkommen können?
Auf den Gräbern der Armen sassen die Menschen familienweise.Sie zerpflückten die gelben, übelriechenden Tagetes- oder Toten-blumen und streuten sie aus, so dass die monument- und inschrift-losen Gräber ganz in Gelb gehüllt erschienen. Auch in Puebla gibt es fünf oder sechs Beerdigungsklassen. Die Gräber der Reichen erschienen mir zum Teil grenzenlos überladen; glanzlos flackerten zahlreiche Lichter im strahlenden Sonnenschein und bezahlte Hüter achteten darauf, dass kein Leuchter, kein kostbarer Kranz gestohlen wurde. Die Armen mochten wohl denken: „Diese Reichen verwandeln alles in Eitelkeit, sogar den Schmerz!“
Liess ich meine Augen über die schöne Ebene von Puebla nach meinen geliebten Schneeriesen
hinschweifen, so blieben sie jedesmal an einem eigentümlichen, grünen Hügel haften, und
jedesmal stellte ich mir die Frage: Ist er eine Laune der Natur, oder ein gewaltiges Werk
von Menschenhand? „Das ist ja die berühmte Pyramide von Cholula, eine würdige
Nebenbuhlerin der Pyramiden von Gizeh“.Die Zeit ihrer Errichtung ist unbekannt, die
Azteken fanden sie schon vor, als sie in das Land kamen. Sie hatte die bei den aztekischen
teocallis (Tempel) gewöhnliche Form einer abgestumpften Spitzsäule,die mit ihren vier
Seiten den vier Weltgegenden zugewandt ist, in ebenso viele Erdstufen geteilt. Gebildet
ist sie aus abwechselnden Schichten von Ziegel und Ton. Die senkrechte Höhe der Spitzsäule
beträgt ungefähr 61 Meter, die Länge auf West- und Nordwestseite je 305 Meter, Ostseite
313, Südseite, die zugleich Wetterseite ist, nur 254 Meter, ‚Die Fläche auf der
abgestumpften Spitze soll über 25 Aren bedecken, Humboldt vergleicht die Pyramide von
Cholula einer Masse von Ziegeln, die einen viereckigen Raum einnimmt, viermal so breit wie
der Vendömeplatz und doppelt so hoch wie der Louvre.Zeit und Unbild der Witterung haben
der einstigen. Stufenpyramide ihre ursprüngliche Form genommen und ein üppiger
Pflanzenwuchs ihr den Anschein eines natürlichen Hügels gegeben.
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„Da hinauf muss ich“, erklärte ich meinem Begleiter, Der war kein anderer als der französische Mineningenieur aus Zacatecas, den ich zu meiner Freude in. Puebla wieder getroffen hatte.
Den folgnden Morgen sassen wir in dem schmutzigen, verlotterten Postwagen, der uns nach dem zwölf Kilometer entfernten Cholula bringen sollte. Wir sassen zu viert. Einer unserer Gefährten, ein Priester, zeigte sich ausserordentlich gesprächig, namentlich als die
Cholula und die beiden Vulkane.Rede auf die Verwilderung und Roheit der heutigen Jugend kam.Er schien die Wurzel alles Übels in dem obligatorischen Schulbesuch zu finden. „Und gar die Mädchen“ fuhr er fort , „je mehr sie lernen, desto selbständiger werden sie!“
Wir kamen unterdessen nur im langsamsten Schneckentempo vorwärts. „Nicht vergeblich heisst .die Post nach. Cholula „el coche del suefio“ (Wagen des Schlafes), lachte der Geistliche.„Wir schimpfen immer, aber keiner beklagt sich, so bleibt alles beim Alten,“
Endlich war das Ziel erreicht, aber so verspätet, dass wenig oder vielmehr gar keine Zeit für die Stadt Cholula übrig blieb. So wandten
Aus Central- und Südamerica.wir uns gleich der Pyramide zu, auf die ein bequemer von den Spaniern erbauter Fahrweg führt.
Einst hatte oben ein prachtvoller Tempel gestanden, Quetzalcöatl,dem gütigen Gott der Luft geweiht. An seiner Stelle erhebt sich jetzt die Kirche Nuestra Sefiora de los Remedios und daneben ein ganz neues, eben geweihtes, aus den Beiträgen der zahlreichen Pilger gestiftetes „Camerino“,
Wie herrlich ist die Aussicht hier oben! Gegen Westen breitet sich der kühne, Porphyr-Felsengürtel aus, der das Tal von Mexico schützend umringt, und hoch emporragend glitzern die Schneehäupter des Popocatepetl und Ixtaccihuatl. Weit davon in östlicher Richtung erblickte ich in duftiger Ferne zum erstenmal eine dritte Schneespitze,den Orizaba. Zu unseren Füssen lag die Stadt Cholula. Schon von den ursprünglichen Stämmen, die vor den Azteken das Land inne hatten, gegründet, gehörte die alte Stadt beim Einzug der Spanier zu den blühendsten im Aztekenreich. Cortez zählte 200,000 Häuser innerhalb ihrer Ringmauern und ebensoviele ausserhalb. Aus den fernsten Gegenden Anahuac’s kamen Pilger zum Schreine Quetzal-cöatl’s und viele von den verwandten Stämmen besassen eigene Tempel in der heiligen Stadt.
Die Spanier gründeten sehr bald nach Einnahme des’ Landes Puebla, und während die neue Stadt immer mehr wuchs, sank die alte zum elenden Flecken herab. Eines aber ist bis auf den heutigen Tag beiden Städten gemein geblieben: die vielen Kirchen. Zwischen den ärmlichen Adobehäuschen Cholula’s erheben sich, wie man mir sagte, nicht weniger als 23 Kirchen, während Puebla deren über 60 zählt. In Cholula sollen 5000, in Puebla 92,000 Menschen leben.
Eine viel bedeutendere Rolle als die Cholulaner spielten in der Geschichte deren Nachbarn
und Feinde die Tlascalaner Anahuacs.Zwar gehörten die Tlascalaner auch zu der grossen
Familie der Az-teken und kamen zur selben Zeit, anfangs des 12. Jahrhunderts, mit ihnen in
das Land, aber sie sonderten sich bald ab und gründeten einen unabhängigen Freistaat in
dem von der Sierra von Tlascala um-gebenen Tale, Das fruchtbare Land verschaffte ihnen
reichen Lebens-unterhalt und geschätzte Handelsgegenstände und an kriegerischer Tapferkeit
zeichneten sie sich vor allen übrigen aus. Kein Wunder,dass die Tlascalaner den Neid der
sonst im Lande die Alleinherrschaft führenden Azteken erregten. Jene forderten sie auf,
ihnen dieselbe Steuer und den nämlichen Gehorsam zu leisten, wie die übrigen
Stämme,andernfalls die Azteken sie und ihre Städte zu Grunde richten
würden.
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Der kleine Freistaat antwortete stolz: „Weder wir, noch unsere Vor-fahren haben je einer fremden Macht Tribut bezahlt und werden dies niemals tun. Geschieht ein Einfall in unser Reich, so werden wir es zu verteidigen wissen“. Hierauf zog die Streitmacht der Azteken gegen [sie zu Felde, aber die tapferen Tlascalaner blieben Sieger,obschon der Flächenraum ihres Staates nicht über 10 Leguas Breite und 15 Länge betrug.
Der Hass zwischen den beiden Völkern wuchs immer mehr und erreichte seinen Gipfelpunkt, nachdem Moctezuma II Herrscher ge-worden war. Nun aber kamen die Spanier in das Land. Auch sie wurden anfangs von den mäch-tigen Tlascalanern geschlagen, bis die tapfern Castillaner den 5. Sep-tember 1519 endlich einen ent-schiedenen Sieg errangen. Von da an verliess die Tlascalaner ihr Kriegsglück. Sie verbündeten sich mit den Spaniern gegen Mocte-zuma und standen diesen während ihres ganzen Kampfes treulich zur Seite. Ohne die Mitwirkung des Tlascalanischen Freistaates hätten die Spanier niemals Mexico er-obert.„Auf nach Tlascala“ hiess es bei mir. Wir fuhren mit der Eisen-bahn in anderthalb Stunden nach Apizaco und von da über Santa Afia mit Tramway nach Tlascala. Ach, das stolze Tlascala, das einst 140,000 Einwohner gezählt haben soll, ist zu einem elenden Nest von kaum 4000 Bewohnern herabgesunken. Die Nachkommen der tapferen,kriegerischen Tlascalaner sind feige, zerlumpte Bettler und nirgends besser wie hier kann man über das „sic transit gloria mundi“ nach-denken.
Fahrende Leute.
Auf der Plaza mit ihren schattenspendenden Bäumen, den be-moosten, wasserlosen Fontainen und den steinernen, altväterischen Bänken sieht es trostlos aus für einen pedantisch ordentlichen Men-schen, köstlich dagegen für einen Maler. Der Munizipalitätspalast des Staates, der an der Plaza liegt und die anstossende Ruine einer
Aus Central- und Südamerica.alten Kirche scheinen sich gegenseitig in ihrer Gebrechlichkeit zu stützen. Von der Kirche ist nur noch die sehr reichskulptierte Fassade und das spanische Königswappen geblieben. Ebenso zerfallen sind die Häuser am Platze. Wo mag wohl der Eroberer Cortez mit seiner schönen indianischen Geliebten Dofia Marina gehaust haben? Liest man die Geschichte dieses merkwürdigen Mannes, so tritt immer wieder das Bild jener Marina, wie die Spanier, Malinche, wie die Mexicaner sie nannten, hervor. So verschieden auch die Berichte der Chronikschreiber aus jener Zeit lauten mögen, in einem stimmen sie überein: in dem Lob der Schönheit und Herzensgüte jener Frau;„Hermosa como Diosa“ (schön wie eine Göttin) wird sie genannt und durch ihre Kenntnis der Sprache und Sitten der Azteken gelang es ihr, mehr als einmal die Spanier aus den verwickeltsten und gefährlichsten Lagen zu befreien.
Malinche oder Marina war die Tochter eines mächtigen und reichen mexicanischen Häuptlinges. Er starb, als sie noch klein war und ihre Mütter verheiratete sich noch einmal. Die Geburt eines Sohnes brachte die Mutter auf den schändlichen Gedanken, diesem Sprössling ihrer zweiten Ehe Marinas rechtmässiges Erbteil zu sichern.Sie tat so, als ob Marina gestorben sei und übergab sie heimlich einigen herumziehenden Handelsleuten, die das Kind an den Fürsten von Tabasco verkauften, der sie wiederum als Sklavin den Spaniern überlieferte. Sehr bald hatte sie sich das Castilianische angeeignet und leistete Cortez als Dollmetscher und Schreiber unschätzbare Dienste. Marina hat die ganze Eroberung Mexicos mitgemacht. Mit Geduld und Heiterkeit unterwarf sie sich allen Entbehrungen des Lagerlebens, bebte vor keiner Beschwerde zurück, erhielt den Mut der Soldaten aufrecht und bemühte sich zugleich, wo sie konnte, die Leiden ihrer aztekischen Landsleute zu mildern. Manches indianische Volkslied gedenkt der schönen und guten Malinche. Auch jetzt noch soll ihr Geist über der Hauptstadt wachen, die sie erobern half, und der Landmann wird zuweilen von der Erscheinung einer indianischen Prinzessin in Furcht gesetzt, die er im Abenddunkel von Ferne er-blickt, wie sie in den Hainen und Grotten des königlichen Hügels von Chapultepec einherschwebt.
Unweit des Platzes, an dem höchst originellen Markt vorbei,der aus verschiedenen
steinernen, bedeckten Hallen besteht, geht es steil empor zu dem alten Kloster San
Francisco. Wie so manches in Mexico, ist es in eine Kaserne verwandelt worden. Nur die
alte Kirche wird noch als solche benutzt. Sie gehört zu den ältesten in
Kathedrale in Puebla
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Südamerica, denn sie wurde schon 1521 erbaut. Neben der pracht-voll geschnitzten Decke fällt die ganz schmucklose Kanzel durch ihre Inschrift sogleich ins Auge. Sie lautet ungefähr folgender-massen: „Aqui tubo principio el St° Evangelio en este Nuevo Mundo“,„Hier wurde zum erstenmal das heilige Evangelium in der Neuen Welt gepredigt!“
Ach, es war eine streitbare Kirche, die den armen Indianern Südamericas von den spanischen Eroberern aufgedrängt wurde.Wollten sanfte Mittel nicht gleich anschlagen, so wurde Gewalt gebraucht, und das Schwert in der einen Hand spielte eine grössere Rolle, als die Bibel in der anderen.
Einen Blick warf ich in den schönen Munizipalspalast und in die in Reparatur befindliche Parrochialkirche, deren architektonische Schön-heit jedoch durch eine Anzahl im Chor knieende, papierene Engel sehr beeinträchtigt wird. Dann wandten wir uns dem Pfarrhaus zu.Unser geistlicher Reisegefährte nach Cholula hatte uns so sehr die Bildung und Geschichtskenntnisse seines Amtbruders in Tlascala gepriesen, dass ich entschieden den Mann aufsuchen wollte. Wir betraten das höchst originell mit Patio und Säulenhallen gebaute Pfarrhaus: Freskomalereien, deren Vorwürfe keineswegs geistlich er-schienen., schmückten die Gänge. Ebenso ungeistlich kam mir das Zimmer vor, in das uns ein weibliches Wesen, jedenfalls weder die Magd, noch die Schwester des Priesters führte. Eine lange Zeit des Wartens verging. „Der Herr Pfarrer studiert gerade.“ Kaum; er war eher mit seiner Toilette beschäftigt, denn endlich trat er herein;wohlfrisiert und rasiert, wohlparfümiert, mit schön gepflegten, rosigen Fingerasägeln und feinem, schwarzem Anzug, kurz, wie aus dem Ei gepellt. Er sprach mit wohlklingender Stimme, sprach gern und viel.Seine Erzählungen drehten sich um Heiligengeschichten und Wunder.Von den Grosstaten der tapferen Tlascalanern dagegen wollte er nichts wissen.
Das lange Warten und das leere Geschwätz hatten uns hungrig gemacht. In einer Wirtschaft unter den Portales hofften wir etwas zu essen zu finden, aber damit sah es schlimm aus, Schliesslich wurde uns Bier und einige Eier versprochen, aber das Bier musste wohl erst gebraut, die Eier gelegt werden. Ungeduldig lief ich davon,während mein Begleiter beharrlich sitzen blieb und der Dinge harrte,die nicht kamen. Ich nahm einen kleinen Führer zu der Aqua santa,dem heiligen Quell. Eine lange, steile Treppe führt zu der runden Kapelle, die sich über dem Wasser wölbt. Den ganzen Tag hindurch
Aus Central- und Südamerica.wandern fromme Pilger dort hinauf, trinken von dem Quell und füllen ihre Flaschen. Ich wartete eine Weile auf meinen Begleiter.Endlich erschien ein altes Mütterchen. „Der Herr mit dem weissen Bart sitzt oben auf dem Santissimo und wartet.“ Wohl oder übel musste ich eine steinige, steile Halde emporklettern, sonst hätten wir einander überhaupt nicht getroffen und von dem Santissimo hatte der Pfarrer eine begeisterte Schilderung entworfen. Es war wirklich eine sehr schöne Kirche mit zwei stolzen Türmen und ein neues „Camerino“ daneben. „Muy precioso“ hatte er es genannt. Ja, das war es.
Regen drohte und im Galopp liefen wir den steilen Berg hinab.Als wir in Apizaco ankamen, mussten wir auf dem öden, kleinen Bahnhof zwei volle Stunden warten, bis der Zug von Veracruz end-lich eintraf.
In Puebla bin ich mehr als irgendwo umher gebummelt, teils weil ich nicht allein war, teils weil ich mich in Folge meines Ka-tarrhs zu allem ernsteren Unternehmen unlustig fühlte. Wir gingen viel zur Musik, die täglich mehrere Male auf der Alameda oder auf der Plaza spielte. Dann pflegten wir in dem einen oder andern Kaffeehaus unter den Portales (Arkaden) an der Plaza zu sitzen,und Eis und Dulces zu essen. Hier genoss ich zum ersten Mal jene berühmten Süssigkeiten, „dulces“ genannt, die in Mexico ausge-zeichnet bereitet und von Reich und Arm massenhaft vertilgt werden.Alle Früchte, ja sogar die Kartoffeln werden kandiert, und wenn ich mich bisher hatte abhalten lassen, davon zu essen, waren die un-appetitlichen Händler und ihr Hang zu eifrigen und leider erfolg-reichen Jagden in den Haaren schuld daran gewesen.
Mein nächstes Ziel war das in der Tierra caliente oder wenig-stens an deren Grenze
gelegene Orizaba. Ein zweites Mal brachte mich die Bahn nach Apizaco, dann begann jene
Fahrt über das Ge-birg, die in Wahrheit ein Triumph der Ingenieure und der Natur ge-nannt
werden muss. An kühnen, anscheinend unüberwindlichen Hin-dernissen, an Tunneln, Abgründen,
Schluchten, luftigen Brücken und an Wechsel der Vegetation sucht diese Eisenbahn ihres
gleichen.Aus der ersten Region der Tannen brachte mich ein steiler Abstieg (40 Meter per
Kilometer) in das üppige Reich der Tropen. Wenige meiner Mitreisenden wagten es vom
Fenster hinabzublicken in die Untiefen, über denen unser Zug schwebte, und manchem mochte
der zeitweise darüber hängende Nebel als wohlmeinender Freund erscheinen.
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Ach, dieser Nebel sollte sich im Lauf der Fahrt in Regen ver-wandeln, in einen Regen, der während sechs Tagen weder bei Tag noch bei Nacht aufhörte, der die holprigen Strassen Orizaba’s in tiefe Pfützen verwandelte, aus denen ab und zu ein besonders spitzer Stein hervorguckte, der die Betten feuchtkalt machte und den Orizaba,Mexicos schönsten und höchsten Vulkan, in beständige Wolken hüllte. Jeden Tag erwachte ich mit neuen Hoffnungen, jeden Tag wurden sie getäuscht, Trübselig schlich ich durch die originellen Strassen der Stadt, machte auf dem interessanten Markt Einkäufe von niedlichen Töpfereien und saftigen Ananas, durchquerte die über-brückten Schluchten und liess mich zur Abwechslung mit dem Maul-tiertram bei strömendem Regen an einige Ausflugsorte bringen.
Unterdessen war ein Telegramm der deutschen Kosmosgesellschaft eingetroffen, mit der Meldung, der Dampfer Ammon würde erst zehn Tage später als erwartet in Salina Cruz eintreffen. Laut Wetter-bericht war es auch in Cördoba trostlos regnerisch, und so wusste ich nichts besseres, als nach Mexico zurückzukehren.
„Wenn Sie von Mexico nach Peru fahren wollen, so reisen Sie am besten nach New York und nehmen dort einen direkten Dampfer nach Callao“, hatten mir meine Bekannten geraten. Zurück nach New York?, niemals!“ Ich lief die verschiedenen Schiffsgesellschaften in Mexico ab und fand, dass mich die deutsche Kosmoslinie in acht-zehn Tagen längs der centralamericanischen Küste in Callao abliefern wollte, Das passte ja herrlich, ich lernte bei der Gelegenheit die berüchtigten Raubstaaten etwas kennen und konnte mit der neuen Eisenbahnlinie nach Salina Cruz fahren.
„Sie werden unterwegs auf dieser neuen Strecke etwas erleben,machen Sie sich darauf gefasst überall liegen zu bleiben und nehmen Sie ordentlich Proviant mit“, warnte wieder eine Stimme.
Ja, ich erlebte etwas. Kaum war das reizende, tropische Cordoba und der diesmal im vollsten Sonnenglanz vom Gipfel bis zum Fuss erstrahlende Orizaba meinen Blicken entschwunden, so begannen die Erlebnisse. Ein Reparaturwagen sauste, zum Glück ohne chinesische Kulis, in unseren letzten Personenwagen. Wir sahen ihn kommen und klammerten uns an unsere Sitze. Ein furchtbarer Krach! ‘Der Reparaturwagen war zerschmettert, wir kamen mit dem blossen Schrecken davon. Einige Stunden später entgleisten wir, entgleisten nochmals den nächsten Tag. Das gab Ursache zu unglaublichen Verspätungen. Die Folge war zweimaliges Übernachten in sogenannten „Mesones“, worunter im Spanischen Fuhrmannsschenken verstanden
Aus Central- und Südamerica,werden. In Perrez, der ersten Nachtstation, standen zwanzig Reisen-den fünf Betten zur Verfügung. Ich verzichtete daher von vornherein und liess mich lieber im Waggon von Moskitos zerstechen. Das zweite Nachtquartier, ein absolut unprogrammgemässes, hiess Santa Lucrecia. Der Fluss dieses Namens, die fusshoch mit Schmutz be-deckten Verkehrswege, die elenden Hütten, die Meson, das Essen,das Bett, alles trug denselben Lokalton: ein schmutziges Braungrau,Als wir in Santa Lucrecia endlich landeten, fanden wir mit Entsetzen den Zug nach Salina Cruz schon abgefahren. Santa Lucrecia wäh-rend 22 Stunden bei Regenwetter, Moskitos- und anderen Bissen,machten meine Gesinnung für diese Heilige nicht besonders freundlich.Keineswegs beneidenswert war mein Nachtlager innerhalb eines licht-losen Verschlages. Drei „Impartiales“ (mexicanische Zeitung) genügten kaum, die Spalten in den Wänden zu verstopfen. Rundum in offener Halle waren die Betten für die Männer aufgeschlagen. Zum Glück senkte sich ein barmherziges Dämmerlicht über die schmutzige rote Wolldecke, die vielgebrauchten Bettücher und den alten, zusammen-gerollten Grassack, der die Matratze bildete. Sich einschliessen?Unmöglich! Da galt es, seinem Schutzengel vertrauen, und ich schlief jene Nacht sanft und ruhig, wie ich lange nicht geschlafen. So schwand sie schneller dahin, als ich zu hoffen gewagt, und auch die 22 Stunden in Santa Lucrecia gingen zu Ende, wie alles in der Welt.
Weiter reiste ich auf besserer Bahnlinie dem Meere zu. Die Landschaft blieb vorläufig dieselbe, wie an den beiden vorherigen Tagen, d. h. wir fuhren durch eine Wildnis von Büschen und Bäumen,Luftwurzeln und Lianen, die mit ihren Ranken den Nachbarbaum oder Busch zu umschlingen und zu ersticken suchen. Auch hier im Urwalde, wie bei uns im zivilisierten Europa die Menschen, will jeder den ersten Platz, das beste Licht für sich in Anspruch nehmen. Der Schwächere erliegt und fällt. Es riecht hier überall nach frischen Baumleichen. Mitleidig neigen sich wundervolle rosa Orchideenblüten über sie. Hier entstehen und vergehen die herrlichen Blumen unbe-achtet, in Europa würden sie ein Vermögen bedeuten.
Einige Stunden Später fuhren wir über einen jener wunderbaren Bergpässe, an denen Mexico
so reich ist. Man weiss auch hier nicht,soll man dabei die wilde, wunderbare Schönheit der
Natur mehr bewundern, oder die Kunst der Ingenieure, die dem Stahlrosse solch
halsbrecherische Bahnen geebnet. Je näher wir Salina Cruz kamen,desto gemischter war das
Publikum der ersten Klasse geworden. Eine bunte Musterkarte Abenteurer aller Art scheint
sich hier Rendez-
75 vous zu geben, böse Rede wurden gewechselt, Pistolen aus dem Gurt gezogen, ich war froh, als abends 8 Uhr Salina Cruz erreicht war.
Heller Mondschein beleuchtete den wind- und sandverwehten Ort, als ich aus dem Wagen stieg, um direkt in die Arme meiner Gefährtin nach Amecameca, Frau Dr. Mc P., zu fallen. Die gute Seele brachte mich in das von einem Chinesen gehaltene Hotel und nahm mich dann zu sich zum Abendbrot. Zum erstenmal seit drei Tagen erhielt ich menschenwürdige Speise auf reinem Teller, Während der drei Wartetage auf den Küstendampfer „Ammon“ genoss ich die Gastfreundschaft des liebenswürdigen Doktorhauses. Dr. Mc P., ein Schotte, ist Arzt der Kompagnie Pierson & Sohn, die für die mexi-canische Regierung grossartige Hafenbauten in Salina Cruz erstellt.Schon seit etlicher Zeit im Werden, vergehen sicher noch zehn Jahre,vis alles fertig sein wird. Wohl 4000 Arbeiter sind hier beschäftigt und was vor einigen Jahren nur Wald und elende Ansiedlung war,hat sich in eine Stadt im Sande verwandelt. Die bescheidensten Ar-yeiter bauen Sich selber ihre armseligen, windschiefen Häuschen, sie dauen sie dicht beisammen, so dass sie einigermassen Strassen und Quartiere bilden. Den Mechanikern und besseren Arbeitern hat die Gesellschaft einzimmerige, in langer Reihe nebeneinanderstehende Häuschen erbaut. Ganz hübsch mit Gärtchen und Veranda bedacht,und auch möbliert, sind die Einfamilienhäuser für Direktor, Kassier,Arzt u. s. w. der Gesellschaft, aber trotz alledem kommt mir das Leben in dieser heissen, ewig windbewegten Sandwüste unsäglich trübselig vor. Gelbfieder, Dysenterie, Malaria, eventuell Cholera sind hier be-ständig abwechselnde Gäste, und ich konnte mir gratulieren, zur ver-hältnismässig gesundesten Zeit in Salina Cruz zu sitzen. Das Gelb-Ffeberspital war leer, im Leichenhäuschen wurde grosse Wäsche ge-halten, es beherbergte also keinen stillen Gast. Bevor Dr. Mc P.- kam,wurden die Toten bis zur Beerdigung die übrigens nach wenigen Stunden erfolgt einfach ins Gebüsch gelegt.
Auch im Spitale selber hat er manche Verbesserung eingeführt:eine ordentliche Küche, Drahtgeflechte an Tür und Fenstern gegen Fliegen und Moskitos, kleine Tische neben den Betten u. s. w. Unter den Kranken wurden mir drei Gelbfieberrekonvaleszenten und ein Unglücklicher gezeigt, dem vor zwei Tagen beide Beine abgenommen worden waren. Er wird von der Gesellschaft zwei künstliche Beine bekommen, auf andere Entschädigung hat er keinen Anspruch.
Einen ganz besonders hübschen Menschenschlag bilden die Zapotekanas, die Indianerfrauen aus Tehuantepec, der Salina Cruz
Aus Central- und Südamerica.nächstgelegenen Stadt, Ich hatte die ersten in Santa Lucrecia be-wundert, sollte drei nette Exemplare im Doktorhause kennen lernen und sie wiederum zahlreich auf dem Markte finden. Über dem blauen oder roten Rocke tragen sie ein ganz kurzes, farbiges, enges Hemdchen und bei besonderen Gelegenheiten eine breite, gekräuselte,weisse Garnitur um den Kopf, die gar sonderbar aussieht. Ihre Trägerin erinnert an ein kleines Kind, das im Tragkissen steckt.
Als es am dritten Tage hiess: „Um 10 Uhr auf dem Pier zur Einschiffung auf den „Ammon“!
freute ich mich herzlich. Ach, die Freude sollte kurz sein!
Uebergabe von Kaffee
Guatemala.
Zur festgesetzten Stunde fand ich mich an der weit entfernt liegenden Einschiffungsstelle ein. Viel zu früh, denn wir mussten zwei volle Stunden an der glühenden Sonne und ohne jegliche Sitzgelegenheit warten, bis wir uns in die schmutzige, nur durch einen kühnen Sprung erreichbare Barke begeben durften. Diese brachte uns wiederum nach langer Wartezeit auf den Ammon, „Zuerst kommt die Fracht, dann die Passagiere“, wurde mir gesagt und ach, dieses Wort sollte sich wie ein schwarzer Faden durch meinen fünfwöchent-lichen Aufenthalt auf dem Ammon ziehen.
Die Freuden und Leiden jener langen Zeit will ich im nächsten in den Mittelpunkt des Interesses.
Ein böser Stern hatte auf den im allgemeinen ziemlich passagier-losen Ammon eine 56köpfige, „dramatische“ Gesellschaft geführt,die, aus Spanien kommend, ihr Glück in Guatemala versuchen wollte.Sie verteilte sich auf die erste, zweite und dritte Klasse und erfüllte und überfüllte mit ihrer Gegenwart alle Räume. Sie lärmte, tobte,musizierte, lachte, zankte und prügelte sich, bespuckte und beschmutzte das ganze Schiff und bildete abwechselnd die Unterhaltung und den
Aus Central- und Südamerica.En Verdruss der übrigen anständigen Passagiere. Die Männer waren genial auffällig gekleidet, die Frauen trugen falsche Haarwülste und abgerissene Mullschleppröcke und Kinder, Hunde und Vögel schrieen,bellten und zwitscherten von früh bis spät auf Deck, während die Erwachsenen sich mit Kartenspiel die Zeit vertrieben. Ueber Ver-pflegung und die ihnen von Seiten der Dienerschaft erwiesene Geringschätzung zeigten sie sich empört. „Man behandelt uns hier wie ordinäres Komödiantengesindel, uns, die wir dramatische Künstler sind.“
Eine volle Woche wir ladeten an verschiedenen Stationen Kaffee genoss ich die
dramatischen Künstler, lernte sie so gut kennen, dass einzelne Typen sich mit
photographischer Genauigkeit meinem Gedächtnisse eingeprägt haben. Im Rauchsalon hausten
Gustavo, seine stets unordentliche Gemahlin Amelia und drei Kinder:Graziela, Julio und der
Nifio (Knabe). Wie die Eltern erzählten,hatte es bis jetzt an Zeit gefehlt, ihn zu taufen,
überhaupt nur einen Namen für ihn auszufinden, obschon er über ein Jahr zählte. Im
anstossenden kleinen Damensalon schliefen Conchita, eine üppige,mexicanische Schönheit,
ihr kaum 18 jähriger Mann, Don Leon, und ihr drei Monate altes Kind. Don Leon malte sich
jeden Morgen eine ordentliche Portion Schminke auf das feine Mädchengesicht. Dofia Amelia
kämmte zuweilen neben den Butterbrotschnitten echte und falsche Haarsträhne aus, damit war
aber der Tribut an die Reinlich-keit bezahlt. Steward und Passagiere gingen darin einig,
dass keines der eben genannten Familienglieder, d. h. des Gustavo und Leon,sich in den
acht Tagen jemals gewaschen oder Kleider gewechselt hätte. Gustavo schien auch von der
Lavandera (Wäscherin) vergessen worden zu Sein, denn er trug, ungeachtet der Hitze, einen
oben zu-geknöpften Staubmantel, der im Laufe der Tage mehr Risse und Feizen als ganze
Stellen zeigte. Die Kabine neben mir ‚hatte Dofia Viktoria, der Stern der Gesellschaft,
ein knochiges, hochaufgeschossenes Weib mit unnatürlich aufgerissenen, blaugrauen Augen
inne. Offen-bar war sie keine bequeme Ehegattin, Wegen der entsetzlichen Hitze mussten
nachts alle Türen offen bleiben, und da hörte ich häufig nächtliche Gardinenpredigten,
wobei der anfängliche Dialog sehr bald die Form eines heftigen, weiblichen Monologes
annahm und zwar in Begleit eines Geräusches, das schallenden Schlägen täuschend
ähnelte.Das friedlichste, anständigste Element war sicherlich Dofia Anita,eine Frau in den
Dreissigen, mit schön gewelltem, rotbraunem Haar,sanften, braunen Augen und dem feinen
Teint der Rothaarigen. Wie
79 war sie unter die wilde Bande geraten? Dabei schienen alle sie zu lieben, zu verehren und ihre Gesellschaft zu suchen.
Von den übrigen Passagieren erster Klasse will ich noch, als nicht zur dramatischen Gesellschaft gehörend, ein sehr zärtliches Hochzeitspaar aus Guatemala erwähnen. Wie zwei Turteltauben schnäbelten sie beständig zusammen, eng aneinandergedrückt, auf einem der harten Sitze dieses unkomfortabelsten aller Schiffe. Er-frischender wirkte ein immer fröhlicher, gutgelaunter Americaner,der wie ein Lama spuckte und sehr geheimnisvoll tat, in welchen Artikeln er eigentlich reiste. Schliesslich verriet er sich durch seine Kenntnisse und sein Interesse an der Hosenträger- und Strumpf-bänderbranche.
Endlich, :nach einer qualvoll heissen Woche, -Jandeten wir in San Jose, der Hafenstadt Guatemala’s, Hier sollte der Ammon wäh-rend sechs Tagen Kaffee laden, da Ilohnte es sich, die Eisenbahn-tahrt nach der hochgelegenen Hauptstadt Guatemala zu: unter-aehmen.
Fünf Tage in schöner Natur, in kühler Luft, frei von dem heissen,wenig angenehmen Schiffe, das lockte mächtig und liess mich nicht lange in der Koje ruhen. So stand ich am 3. Dezember früh unter den Ersten landungsbereit an Bord und konnte staunend die Meta-morphose betrachten, die mit der spanischen Theatergesellschaft vor sich gegangen. Wie fein hatten sie sich zum Abstieg vom Schiff und zur Eisenbahnreise nach der Hauptstadt, dem künftigen Schau-platz ihrer Taten, gemacht! Die armen, ungewaschenen, nie aus-gekleideten Kinder Gustavos prangten in rosa Kleidchen mit weissem Spitzenüberwurf. Frau Gustavo hatte sich gekämmt und etwas: mehr falsches Haar aufgetürmt. Gustavo selber stolzierte in reinem Hemde ınd buntem Schlipse. Die titianblonde Dofia Anita erschien in tiefer Witwentrauer, in schwarzem Krepp, während ihr künftiger Gatte,Don Antonio, das Monocle noch unternehmender eingeklemmt, in der feinen Mütze einem englischen Lord täuschend ähnlich sah. Viktoria,die tragische Königin, hatte sich diese, Nacht ruhig verhalten. Die Fama auf dem Schiffe ging freilich, sie hätte ihren Ehegemahl aus-gesperrt. Um 5 Uhr früh sah ich ihn. ausserhalb der Kabine mit Packen der Koffer beschäftigt. Er allein hatte sich nicht fein ge-macht. musste er doch vier Vogelkäfige und ein Hündchen tragen.
Da standen wir alle erwartungsvoll, das zärtliche Ehepaar, das lustige Theatervolk, der lange, fortwährend spuckende Americaner.Wir warteten alle. Worauf? Auf eine grosse Kiste, in die ein
Aus Central- und Südamerica.schmales Sitzbrett eingefügt und vorn ein Ausschnitt angebracht ist.Diese Kiste ist am ‚grossen Krahnen befestigt, der sonst die Kaffee-säcke in den Schiffsbauch befördert. Ja, damit sollten wir hinunter-gelassen werden, in einen Tender, wo die zahlreichen Koffer der Theatergesellschaft schon aufgetürmt lagen. Je zwei Passagiere wurden miteinander verladen. Ich gehörte zu den ersten. Conchita,ohne Kind, umklammerte mich schreiend. Eine ganze Weile schwebten wir in der Luft, bis wir ziemlich jählings auf einen Kofferberg ab-gesetzt wurden.
Da sass ich und konnte die übrige Gesellschaft hinunterfliegen sehen. „Pajaros, Pajaritos“ (Vögel, Vögelchen) schrieen sie alle und jedes durch die Luft sausende Paar wurde mit Halloh und Gelächter empfangen. Wir übrigen wippten im grellen Lichte der Tropensonne wohl eine Stunde lang auf und ab. Ursache der Verzögerung war Gustavo. Der hatte sich meuchlings in die Kiste schleichen wollen,als der Steward mit einer ellenlangen Getränkerechnung erschien.„Dreht mich um und um,“ schrie der unglückliche Mime. „Ihr werdet keinen roten Heller auf mir finden.“ „Dann bleibst Du auf dem Schiff!“ schrie der erboste Steward. Wohl oder übel mussten die Kollegen Geld zusammenschiessen, um Gustavo auszulösen.
Endlich schwankte unser Tender dem. weit in’s Meer hinaus-ragenden Molo zu.
Ein anderes Beförderungsmittel wartete hier unser, um hinauf-gewunden zu werden: ein eiserner Korb mit Schirmdach, in dem vier bis acht Personen sitzen konnten, Eine lange Zollrevision, und endlich wanderte ich dem Bahnhofe von San Jose zu.
Für die Beförderung vom „Ammon“ bis zum Pier wurden mir 13 Dollar abgefordert! Entsetzlich teuer!. Ganz so schlimm war es übrigens nicht. Die Geldverhältnisse Guatemalas stehen augenblick-lich so schlecht, dass 12!/» Dollar auf einen americanischen kommen.Gold- und Silbermünzen erblickt man keine, bloss Nickel. In meine Hände gelangten nur halbe und ganze Nickel-Reales (ungefähr 5 und 10 Centimes) und Banknoten. Letztere schon von 50 Centavos an,also etwa 20 Centimes unseres Geldes. Das Leben in Guatemala ist übrigens nach europäischen Begriffen nicht teuer. Meine Retour-fahrkarte nach der Hauptstadt (146 Kilometer) kostete bloss 34 Dollar,d. h. ungefähr 14 Franken. Man fährt sieben Stunden bergan, hält sich aber unterwegs viel auf.
Reizend ist die Fahrt. Kaum liegt San Jose hinter uns, so be-Änden wir uns in einer üppig
blühenden Natur: überall erblickte ich
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Bäume mit tausenden von Schlingpflanzen, tiefgrünen Guirlanden,purpurnen Winden und feurigen Bignonien in ungezählter Menge.Kokospalmen, einzeln und in Gruppen, schaukeln ihre federnden Blätter hoch in den Lüften und die mit trocknen Palmzweigen gedeckten Hütten, deren leicht durchsichtige, jedem Winde zugänglichen Wände aus Bambus gebildet sind, passen ebenso gut in die tropische, üppige Landschaft, wie die braunen, aufs leichteste bekleideten Kinder und die Indianerinnen, deren bunter Rock, weisses, bunt besticktes Jäckchen und ebenso buntes Kopftuch durch all’ das Grün scharf hervorleuchtet.
Indianerdorf.
Allmählich begann es kühl zu werden, wir waren schon 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Leider wurde es auch wolkig, die schönen Vulkane, an denen ich mich kaum erfreut, verschwanden und Regen prasselte herunter, so dicht, so heftig, dass wir nicht eine, sondern anderthalb Stunden hier Station machten. Weiter regnete es; selten nur stahl sich ein Sonnenblick durch die Wolken, der die herrlichen hellgrünen Zuckerfelder und die roten Beeren der Kaffeebäume in satten Farben aufleuchten liess.
Es dämmerte schon, als wir der langen, schönen Laguna (See)von Amatitlan entlang fuhren, einem stillen, unseren Bergseen ähn-lichen, von Berg und Wald eingerahmten See. Eines freilich unter-
Aus Central- und Südamerica.scheidet dieses feurige Kind der Tropen von unseren gletscher-entstammten Gewässern: vulkanischer Boden bildet den Grund der Laguna von Amatitlan. Da und dort steigen kochende Dämpfe aus dem Wasser empor. Wehe dem mutwilligen Finger, der sich prüfend hineinwagt. Lange fährt man an dem schmalen See, einmal sogar über einen Damm, so dass man sich plötzlich vom Wasser auf beiden Seiten umgeben sieht.
Im „Grand Hotel“ in Guatemala war alles überfüllt. Ich erhielt ein ganz kleines Zimmer ohne Fenster, nur mit Luftklappe oberhalb der Türe und diese Luftklappe ging auf das Billardzimmer, wo gezecht, geschrieen und bis 1 Uhr nachts gespielt wurde!
Den andern Morgen, Sonntag war es, wanderte ich früh durch Guatemalas Strassen. Die Stadt soll ungefähr 60,000 Einwohner zählen.Die Gassen sind schlecht, sehr schlecht gepflastert und grünes Gras spriesst überall zwischen den Steinen. Wagen und -Droschken gibt es daher nur wenige, der ganze Verkehr macht sich durch einen Maul-tiertram. Die zumeist einstöckigen Häuser zeigen dieselbe Einteilung,wie in Spanien und Mexico: eine Anzahl ineinandergehende Zimmer mit Türen auf einen breiten, bedeckten Säulengang, in dessen Mitte sich der Hof oder Patio befindet. Freier Himmel wölbt sich über ihm. Er bildet den Hausgarten, namentlich wenn er nicht gepflastert ist, sondern tiefe Erde den hohen Bananen und Orangen gestattet,sich zu entwickeln und schönen Schlingpflanzen in ungeahnter Blüten-pracht sich an den Säulen emporzuranken.
Hübschen, schönhaarigen, lichtgekleideten Mädchen, die zur Messe gehen, begegnete ich. Ihr spanisches Blut hat sich im Laufe der Jahr-hunderte mehr oder weniger mit Indianerblut vermengt. Rein weiss sind wohl nur die in den letzten Jahren eingewanderten Europäer und Americaner, Deutsche Arbeitskraft und deutsches Kapital soll sich hauptsächlich in Guatemala finden und auch die Schweizer bringen ihr Scherflein mit acht bis zehn Millionen Franken hinzu.In dem Staat Guatemala sollen ungefähr 200 Schweizer leben.
Ich betrat die Kirche, Sie heisst San Franzisco. Alles darin ist viel weniger reich und prunkvoll, viel weniger düster, als in Mexico. Lichter sind die Gotteshäuser in Guatemala, und die Be-völkerung weniger fanatisch. Ich kann mich hier ruhig hinsetzen,wo ich will, ohne dass unwillige Blicke sich auf mich heften. .
Auf der nebenan liegenden Post holte ich mir Briefmarken. Sie sind allerliebst in Farbe
und Zeichnung. Einige zeigen die reizenden Ufer des Amatitlansees, andere den später. zu
erwähnenden Minerva-
823 tempel, andere den Wappenvogel Guatemalas, den langschwänzigen Quezal, der hoch über den Bergwäldern der Stadt Quezaltenango,dem menschlichen Auge selten sichtbar, haust. Noch niemals hat ein Quezal. länger als eine Stunde in der Gefangenschaft gelebt.
Unweit der Post ist ein reizender öffentlicher Garten: Kon-kordia, und wenn ich diesen einen erwähne, kann ich erzählen,dass Guatemala deren eine ganze Anzahl besitzt. Neben schönen Blumen und Bäumen fehlt dabei niemals ein Musikpavillon, und die ganze Anlage ist viel reinlicher gehalten, als unsere bernischen öffent-lichen Gärten. Da liegen keine Papiere herum, noch Steine und Erde auf den Bänken. Gross angelegt ist der Paseo de la Reforma mit Statuen und öffentlichen Gebäuden, darunter eine grosse Artillerie-kaserne und das einen sehr guten Eindruck von aussen machende Militärspital. Ein Platz mit grosser, kühn aufgefasster Reiterstatue des Generals J. Rufino Barrios und ebenso das Nationalmuseum, das äusserlich mehr verspricht, als es innerlich hält, bilden das Ende des Paseo. Der Museumsdirektor führte mich persönlich umher. Die wenig hervorragenden Produkte der Kunstschule stehen anscheinend unbeachtet da und dort am Boden an die Wand gelehnt. Interessant ist eine Teufelsmaskensammlung aus Coban, von den Indianern na-mentlich in früheren Zeiten bei ihren Bailes (Bällen) gebraucht. Zu-weilen soll man auf den Finkas, so heissen hier die Kaffeeplantagen,Gelegenheit haben, diese Tanzfeste der Indios noch zu sehen. Sehr interessant ist auch für mich die Ähnlichkeit der alten, reliefartigen Skulpturen mit den Fundstücken in Mexico. Auch jene merk-würdigen, steinernen, grossen Hufeisen sind da, die in Mexico bei der Menschenopferung den zum Tode Bestimmten auf den Unterleib gelegt wurden, um die Brust mehr herauszupressen und dadurch das Ausschneiden des Herzens zu erleichtern. Ganz hübsche, erd-farbene Töpfereien, den mexicanischen freilich weder an Lasur noch an Farbenschönheit gleichkommend, sind die Überreste einer Industrie-Ausstellung aus dem Jahre 1896...
Traurig sieht es mit der zoologischen Sammlung aus Sie scheint das Schmerzenskind des Museumsdirektors zu sein, da er die Tiere selber ausstopft. Sie stehen alle in einer Ecke, zerzaust, mit abgestorbenen Farben. Teilweise hat das liebe Publikum die kleineren Vögel einfach vom Stengel gerissen und mitlaufen lassen; nur der herrliche, grünblau schillernde Quezal behauptet seinen Ehrenplatz in erhöhter Stellung.
Der Museumsdirektor, ein Schlichtes Männchen, war sehr ent-zückt, mir alles zu zeigen. Wir sind zusammen nach dem Paseo
Aus Central- und Südamerica.de la Reforma gefahren, er mit seinem Sohn, einem kleinen, zer-lumpten Bübchen, dessen verwaschene rosa Strümpfe mehr Löcher als ganzes Gewebe zeigen, aus dessen Hosen die Knie, aus dessen Schuhen die Fusszehen lustig herausschauen. Der Junge interessierte sich für meinen photographischen Apparat und fragte angelegentlichst,was ich dafür bezahlt. Als ich ihm die Summe nannte, schüttelte er hoffnungslos den Kopf, nein, so viel Geld, das wird er nie erschwingen können! Er tröstete sich etwas, als ich ihn mit dem Museumsgebäude und all’ seinen Löchern aufnahm und schrieb freudig seine Adresse auf, damit ich ihm einen Abzug schicken konnte,Er schreibt ganz hübsch, und der Minervatempel draussen vor der Stadt mit seiner Inschrift bezeugt, dass sich Guatemala etwas für die Erziehung seiner Söhne und Töchter kosten lässt.
Dieser Minervatempel, nach griechischem Muster, ist, wie die Inschrift lautet, durch den Präsidenten Manuel Estrada Cabrera der fleissigen Jugend geschenkt worden. Dort soll und wird seit 1901 jedes Jahr ein Schulkinderfest gefeiert, wie in St. Gallen. „Schul-zwang für alle und kostenfreie Erziehung“ lautet jetzt auch die Parole für Guatemala. Weiter heisst es: „Bildung ist die Basis des Fortschrittes, denn durch die Bildung des Volkes schreitet die Zivili-sation, die den Reichtum und das Wohlsein der Nationen festsetzt,vor. Die Erziehung durch Laien (im Gegensatz zur geistlichen) ist das Band der Gesundheit, das die Zivilisation zwischen die fana-tischen Vorfahren und die modernen Nationen gelegt hat. Wenn Guatemala, dessen goldene Flügel sich augenblicklich im weiten Horizonte des Fortschrittes entfalten, an diesem Gedanken festhält,wird es das tiefste Problem der modernen Zeit gelöst haben.“
Alle diese und noch viele andere schöne Phrasen habe ich in einer Festschrift gelesen. Wie steht es in Wahrheit?
Fragte ich nach der Beliebtheit des Präsidenten, so erhielt ich keine bestimmte Antwort. „Unser Zar ist am besten, wenn er schläft“,hörte ich unter anderem sagen. Nichtsdestoweniger ist er zum zweitenmale auf sechs Jahre gewählt worden, hat. somit Gelegen-heit, ungeachtet seines unbedeutenden Gehaltes einige Millionen in seine Privatbörse verschwinden zu lassen. Getreulich wird das Beamtentum diesem Beispiele folgen.
Licenciado Don Manuel Estrada Cabrera Benemerito de la Patria y Presidente Constitucional
de la Repüblica de Guatemala steht unter seinem Bilde geschrieben, das einen Mann von
ungefähr 40 Jahren mit nicht hässlichen, aber durchaus unansprechenden Zügen
zeigt.
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Geht er aus, so geschieht dies stets in Begleitung einer grossen Garde, die ihn vor allfälligen Angriffen seiner getreuen Untertanen schützen soll. Wie anders der allbeliebte, alte. Präsident Mexicos,Porfirio Diaz! Hier sieht man übrigens nicht so viel Schmutz, Elend,Trunksucht, wie in Mexico, hier wird nicht Lotterie gespielt, nicht Pulque getrunken, Waffen werden weniger oder eigentlich keine getragen und gebettelt nur Samstags. Samstag ist offizieller Betteltag.Da wird an allen Privathäusern angeklopft, in jedes Geschäft getreten,um wenigstens ein Kerzenstümpchen, eine Zündholzschachtel, etwas Essen, am liebsten einige Nickel einzuheimsen.
Guatemala um etwas Statistik zu erwähnen hat einen Umfang von 125,100 km*.und etwa 1'/z Millionen Einwohner. Die Hälfte der Gesamtbevölkerung sind reine Indianer, die übrigen meistens Mestizen, hier Ladinos genannt. Japaner und Chinesen finden sich hier .nur in verschwindender Zahl. Die katholische Religion ist die vorherrschende. Auch haben sich die Indianer meist der europä-ischen Kultur angeschlossen und selten nur lassen sich Anklänge aus vorspanischer Zeit bemerken. Wie interessante Studien liessen sich in dieser Beziehung machen! Aber die Indios bringen den Europäern grosses Misstrauen entgegen, und so sind Beobachtungen für flüchtige Reisende vollends schwierig, ja unmöglich.
Guatemala, die Hauptstadt, 1480 Meter über Meer gelegen, erfreut sich eines gesunden, herrlichen Klimas. Ohne dass je der Winter seinen Einzug daselbst hielte, ist doch die Hitze eine sehr gemässigte,aur die Monate Februar und März sollen sehr warm sein. Wenn es sich schön in der Stadt wohnt, so lebt es sich noch weit schöner draussen auf dem Lande, über das Mutter Natur ihre Gaben in reichster Fülle geschüttet. Alles kann in diesem reich gesegneten Erdflecke gepflanzt werden: Tabak, Baumwolle, Weizen, Apfelsinen, Bananen,Zucker und besonders Kaffee.
Ja, Kaffee gibt es draussen im Feld genug, und drinnen im Hause spricht jedermann gern vom Kaffee. Wenn es mir in den kurzen Tagen meines Aufenthaltes auch nur vergönnt war, draussen vor der Stadt durch einen bescheidenen Kaffeegarten zu wandeln,so hat mir doch unser schweizerischer Konsul treulich berichtet,wie es auf solch einer grossen Finka hergeht. Ich will versuchen,ihm nachzuerzählen, wie sich die braunen, roten und grünen Beeren,die er Kirschen nannte, in unsere liebe, allbekannte Kaffeebohne verwandeln, Die Blütezeit dauert vom Jannuar bis Mai, und zur Reife der Bohne braucht es sieben Monate. Die Ernte dauert vom
Aus Central- und Südamerica.
August bis Januar und da die Früchte je nach ihrer Blüte zu ganz verschiedener Zeit am selben Baume reifen, muss er gewöhnlich in vier verschiedenen Malen abgeerntet werden. Dabei kommt es den-noch vor, dass einzelne Kirschen am Baume eintrocknen, Diese werden Cerezo genannt, liefern eine schmutzig-farbige, kräftige,aber weniger feine Kaffeebohne. Die glänzendrote Kirsche ist die wertvollste. Die gepflückten Kirschen kommen zunächst durch eine Maschine, Depulpador genannt, die sie enthülst. Fünf Zentner reife Kirschen ergeben einen Zentner trockenen, enthülsten Kaffee. Nach etwa 48 stündigem Aufenthalte im Fermentierbassin kommen sie durch einen Wascher (reines Wasser) und dann ins Schwemm-bassin, wo der schwere, gute Kaffee am Boden bleibt, der schlech-tere, leichte, obenauf schwimmt. Das: Wasser wird abgedreht, der Kaffee aber noch immer fleissig hin und her gewendet, damit der „Honig“ (Miel), eine klebrige Flüssigkeit, die zwischen Schale und Frucht der Bohne noch haften geblieben ist, fortkomme. Noch ein-mal wird das Wasser erneuert, und der Kaffee kommt auf einen sogenannten Patio, einen zementierten Boden, wo er bei starker Sonnenhitze günstigsten Falles in 30 Stunden trocknet. Manchmal freilich dauert es damit viel länger. Unter keinen Umständen darf er der Feuchtigkeit preisgegeben werden und darf nachts nicht im Freien liegen bleiben. Daneben gibt es auch künstliche Trocken-maschinen, Seccadores genannt. Entweder wird der Kaffee in den Hülsen verschifft und später enthülst, oder es geschieht dies schon an Ort und Stelle, wobei aus 125 Pfund Hülsenkaffee 100 Pfund enthülster entstehen, Enthülst kommt er durch Separadores und wird je nach der Grösse durch die Maschine geteilt, zunächst in die runden Bohnen des Perlkaffee, dann in die vier verschiedenen Klassen der flachen Sorten. Kultiviert wird namentlich arabischer Kaffee, soge-nannter Creiollo und Bourbonkaffee. Wasser dient zur Betriebskraft.Auch Dampfmaschinen und elektrische Motoren werden angewandt.
Der Durchschnittsertrag eines Kaffeebaumes differiert von 11/23 Pfund oro, d. h.
enthülsten Kaffee. Auf eine Hektare Land können 10001200: Kaffeebäume gepflanzt werden.
Gedüngt wird im ganzen nicht viel, wenn ja, wird das Fleisch der Kirschen, Pulpa
genannt,mit Holzasche und Stalldünger vermischt, benutzt. Dass die leichte,vulkanische
Erde dem Kaffeebaume vortrefflich zusagt, beweist die diesjährige, vortreffliche Ernte,
Den 24. Oktober 1902 brach der schöne Vulkan Santa Maria aus und überschüttete weithin das
Land.Auf der einen Finka Miramar (1000 Hektaren) allein hat man die
87 Masse des Sandes und der gefallenen Bimssteine annähernd auf 100 Millionen Zentner berechnet. Häuser und Menschen wurden verschüttet und gross waren Jammer und Schaden. Die Kaffeebäume mussten herausgeschaufelt und von der Asche möglichst befreit werden.Was aber blieb, das liess den Baum herrlich gedeihen und heute ist die Ernte gerade in diesem heimgesuchten Distrikt die reichste.Was fehlt, sind Arbeiter. Nicht Weisse, deren Gesundheit beim Kaffeebau nicht stand hält, sondern Kinder des Landes. Die Indios und Ladinos haben es denn auch sehr gut auf den Finkas. Ihre Herren müssen ihnen fleissig Vorschüsse geben, um sie bei guter Laune zu halten. Ziehen sie es vor, die Vorschüsse nicht durch ihrer Hände Arbeit zu begleichen, so laufen sie fort und finden bald einen Herrn, der ihnen abermals vorschiesst. Der tägliche Arbeitslohn beträgt nach unserem Geld etwa einen Franken. ‚Die sogenannten Colones wohnen frei, bekommen Holz nach Bedarf und Land zum Bebauen und ihre Frauen und Kinder können beim Kaffeepflücken reichliche Arbeit finden. Auch die Lebensmittel werden ihnen von dem Plantagenbesitzer sehr billig überlassen.
Doch genug vom Kaffee, dessen braunen Trank ich in bester Qualität in Form eines kalten Extraktes mit heisser Milch gemischt häufig zu geniessen bekam.
Es ist nun Zeit, von unserem schweizerischen Konsul und seiner liebenswürdigen Gattin Dofrfia Juanita zu erzählen, in dessen gast-freundlichem Hause ich viel Liebes erfahren. Dofia Juanita ist in Guatemala als Tochter eines Luxemburgers geboren. Sie spricht das Deutsche ebensogut wie das Spanische und ist dabei eine gute Schweizerin geworden. Als ich mich schon früh morgens in ihrer Wohnung einfand, hiess es: „Mein Mann ist zwar nicht zu Hause,aber natürlich werden Sie gleich mit mir frühstücken“, und als ich mein Leid wegen des schlechten Zimmers klagte, wusste Dofia Jua-nita sofort Rat. Sie brachte mich zu einer befreundeten, holländischen Dame, die stets einige Pensionäre aufnimmt und in dem holländisch reinlich gehaltenen, stillen Hause, das den schönsten Patio Guatemalas besitzt, verlebte ich genussreiche Tage.
Eines Morgens brachte mich Dofia Juanita in das grosse Stadt-spital. Einer der Ärzte, sowie der vortrefflich Französisch sprechende Chefarzt, er hat seine Studien in Paris gemacht, führten uns durch die Gebäude. Das Spital in Guatemala kann sich den Luxus erlauben, 600 Kranke unentgeltlich aufzunehmen. Nur in der so-genannten Casa de Salud bezahlen bemittelte Patienten ein ver-
Aus Central- und Südamerica.hältnismässig sehr geringes Kostgeld. Peinliche Sauberkeit herrscht in den sehr grossen Krankensälen, in denen je 30 und mehr Betten stehen. Jeder üble Geruch ist in den luftigen Räumen, die alle auf verschiedene, zum Teil blumengeschmückte Patios ausgehen, aus:geschlossen. Hübsche Decken liegen auf den schneeweissen Betten,und in besonderem Raume werden Matratzen und Kissen nach jedem Todesfalle gewaschen und mit frischem Maisstroh aufgefüllt. Neben der schönen Kirche besitzt jeder Krankensaal seinen besonderen Altar und seine Heiligenbilder, jedoch wird in letzter Zeit besonders darauf geachtet, dass die frommen Schwestern von San Vicente, die mit ihren grossen, weissen Flügelhauben, gleich Riesenschmetterlingen,von Bett zu Bett huschen, keine Bekehrungsversuche an Anders-gläubigen machen. Ein neuer Operationssaal wird jetzt gebaut und mit allen Erfordernissen der‘ modernen Chirurgie ausgestattet werden.Mit Stolz wurden mir die Neuerungen gezeigt, besonders auch alles,was zur gründlichen Desinfektion dient, Dass jeder Raum elektrisch beleuchtet werden kann, brauche ich hier nicht besonders zu er-wähnen, bildet doch die vortreffliche, elektrische Beleuchtung, deren sich in Guatemala jedes Haus und jede Hütte für geringes Geld erfreut, den Stolz aller Bewohner der Hauptstadt, Auch ein Telephon besitzt jedes Geschäft, jede etwas besser situierte Familie.
Eine besondere Freude gewährte mir im Spital der Anblick der Prachtküche und der
Apotheke. Beide waren blitzblank. Die Riesen-messingkessel und -Pfannen, in denen für
ungefähr 650 Personen gekocht wird, glänzten wie eitel Gold, und die Bananen, die eben
gebacken aus der Pfanne gezogen wurden, rochen ausgezeichnet und sahen so appetitlich aus,
dass ich nicht wiederstehen konnte und mir tüchtig den Mund verbrannte. Die Apotheke mit
ihren drei als wohltätige Geister darin waltenden Schwestern bot ein Bild, das ich nicht
leicht vergessen werde, Auf dem Fussboden hätte man ruhig essen können. Da war kein
Stäubchen zu erblicken, ebensowenig wie auf den zahlreichen Töpfen, Flaschen und
Fläschchen. Auch in der anstossenden Küche mit ihren Tiegeln, in denen all die heil-samen
Tränklein gebraut werden, herrschte Ordnung und Reinlichkeit.Die Schwestern haben
ordentliche Apothekerstudien gemacht und führen selbständig alle Rezepte der Ärzte aus.
Ich fragte mich dabei unwillkürlich, warum bei uns so wenige studierende Frauen zu einem
Berufe greifen, der für sie wie gemacht scheint. Hier in Guatemala werden noch viele
Medizinen geschluckt, das geringe Volk wünscht sie, wie übrigens auch bei uns, und wie bei
uns
89 wechselt der Arzt zuweilen die Farbe desselben Tränkleins und der Kranke behauptet: „Die rote Medizin ist viel kräftiger, viel wohl-tätiger gewesen als die gelbe. oder braune“.
Den schönsten Aussichtspunkt Guatemalas bildet der kahle Cerro del Carmen mit dem Kirchlein gleichen Namens. Wandert man da hinauf, und ich tat es namentlich gerne in der Morgenfrühe,so hat man die Stadt mit ihren vielen grossen Kirchen zu Füssen,keine alte Stadt freilich, denn sie stammt aus. dem Ende des 18. Jahr-
Cerro del Carmen.hunderts. Die ehemalige Hauptstadt Guatemalas, jetzt Antigua ge-nannt, ist zu jener Zeit durch Erdbeben teilweise zerstört worden,und die Regierung hatte ihre Bewohner gezwungen, die Stadt zu verlassen und eine neue zu bauen. Antigua galt damals für die schönste Stadt Centralamericas und heute noch sollen ihre Ruinen höchst sehenswert sein. Eine Post führt in fünf Stunden von Gua-temala nach Antigua; da jedoch ihre Abfahrts- und Ankunftsstunden derart eingerichtet sind, dass man für den Ausflug drei Tage ge-raucht, ungerechnet Verspätungen und dem Risiko, umgeworfen zu werfen, musste ich leider verzichten.
Vom Cerro del Carmen hat man aber nicht nur den Blick auf die Hauptstadt. und ihre herrlich tropische Umgebung, sondern auf
Aus Central- und Südamerica.die drei schönen Vulkane Agua (3700 Meter hoch) und die beiden noch höheren Vulkane Fuego und Acatenango. Erinnert die schöne,regelmässig ruhige, abgeflachte Pyramide des Agua an den Niesen - er soll auch ganz leicht zu besteigen sein , SO zeigen die der Küste näheren und. dadurch niedriger erscheinenden Zwillingsbrüder Fuego und Acatenango viel phantastischere, wildere Formen,
Die kleine Kirche auf dem Cerro del Carmen ist die älteste Gua-temalas und hat sicher schon vor Gründung der Stadt hier gestanden.Man erzählt, es befände sich ein grosser Schatz darunter, allein als man ihn heben wollte und auch als man zur Reparatur der Kirche schritt, hätte jedesmal die Erde zu beben begonnen und kein Arbeiter mehr Hand an die geweihte Stätte legen wollen. Neben dem kleinen Kirchlein, dessen Hauptfassade mit weissem und gelbem Stuck ver-kleidet ist und auf dessen Rückseite noch ein zertrümmertes, altes Relief und ein Muttergottesbild angebracht sind, steht ein niedriger Glockenturm, von einer schönen, hohen Palme überragt. Auf dem unebenen Kirchplatz ist noch ein eigentümlich geformtes, päpstliches Kreuz mit drei parallelen, nach oben kürzer werdenden Querbalken ein rundes Türmchen und zwei kapellenartige, leere Räume. Niemand hat mir etwas Näheres über diese alten Gebäude erzählen können,auch habe ich die Kirche jedesmal verschlossen gefunden.
Die vorletzte Nacht in Guatemala war sehr unruhig. Fast unauf-hörlich bimmelten die verschiedenen Kirchenglocken und dabei er-schütterte Schuss auf Schuss die Luft. An Brand, ja an Revolution hätte ich leicht denken können, wenn ich nicht gewusst, dass fol-genden Tages das hohe Fest der „Concepcion“ in Guatemala gefeiert würde, Seit Tagen schon waren die Kirchen aussen und innen geschmückt worden. Die Kathedrale besonders nahm sich sehr elegant aus in ihren frischen, blauen und weissen Draperien, deren geschmackvolle Anordnung jedem Pariser Tapezierer Ehre gemacht hätte. Draussen an der Fassade waren zur Beleuchtung Sterne und das Wort Maria in Riesenbuchstaben angebracht worden und rings um die Säulen der Statuen vor der Kirche wanden sich tiefgrüne Palmenzweige. ;
Ich lag nahezu die ganze Nacht wach und so war es mir leicht,schon um 6 Uhr früh in die
dicht angefüllte Kirche zu schauen, wo mehrere hundert Kinder die erste Kommunion
empfingen. Gesungen und gespielt wurde dabei und zwar weltliche Weisen im schleppenden
Kirchenton. Ich begrüsste unter anderem als alte Bekannte eine Arie aus Norma und
Mendelsohns reizendes Frühlingslied.
91
Die Guatemaler sind musikalisch veranlagt und besitzen eine Militärkapelle von 75 Mann, die mit Feuer und Präzision mehrere Abende in der Woche auf der Plaza de Armas gratis konzertiert.Mit klingendem Spiele durchziehen die Vaterlandsverteidiger Guate-malas die Stadt und es scheint mir hier viel „militärlet“ zu werden.Die kleinen gedrungenen Kerle sehen ganz fix aus, sollen aber den Donner der Kanonen durchaus nicht vertragen, wie mir wenigstens gesagt wurde,
Am Nachmittage fand eine grosse Prozession statt, an der sich nahezu ganz Guatemala beteiligte. Frau Konsul K. brachte mich in das zweistöckige Haus einer Schweizerfirma, und hier konnte ich vom Balkon aus den wirklich schönen, interessanten Anblick geniessen und die hübschen, jungen Mädchen Guatemalas, als Töchter Marias in duftiges Weiss gekleidet, bewundern. Der sich ins Unendliche ausdehnende Zug war in Gruppen geordnet. Jede trug ihre schöne,gestickte Fahne, ihr Kreuz, viele ihre lebensgrossen, wenig geschmack-vollen, flittergekleideten Erzengel. Es wurde abwechselnd gesungen und gespielt. In langsamstem Tempo, oft stille stehend, aber in tadellosester Ordnung, bewegten sich die Gruppen, dem Zuschauer reichlich Zeit lassend, die vielen hübschen, eleganten Frauen und Mädchen, die reizenden Kinderchen zu bewundern. Alles ging mit,die Vornehmsten und die Geringsten. Zuletzt erschien auf hohem Gerüste die heilige Jungfrau, auf einer von Engeln getragenen Wolke schwebend. Glockengeläute verkündigte schon längst ihr Kommen;grüne Blätter lagen jetzt auf der Strasse. Hinter der Gnadenmutter aber zogen in buntem, fröhlichem Gewimmel hunderte von Indianer-weibern, meist ihre Kinder, in ein Tuch gewickelt, auf dem Rücken tragend. Wie reizend war dieser Anblick, wie malerisch! Wie harmonisch spielten die warmen Farben der dunkelgelben, oliven-grünen, dunkelroten, mattblauen und verwaschen rosa gefärbten Kopf-tücher miteinander. Dazwischen hoben sich die roten oder blauen Stickereien der weissen Jäckchen scharf ab und die goldenen Münzen und bunten Glasperlen der Halsbänder glitzerten. Für mich war diese zwanglose, impulsive Indianergruppe, die sich an ihrer holden Mutter-gottes freute, das Schönste des ganzen Zuges!
Das Fest hatte schon einige Tage vorher im Hausstande der Mrs. W., wo ich wohnte, die Köpfe unruhig gemacht. Einmal war die Köchin, einmal die Zofe ausgeblieben und jetzt verlangte auch das Faktotum Gaetano zweitägige Ferien zum Besuch der Kirche.Eine Übereinkunft wurde zwischen Herrin und Diener getroffen;
Aus Central- und Südamerica.
Gaötano durfte zwar fleissig seines Seelenheils pflegen, aber sollte doch zu gewissen Stunden des Tages seines Dienstes walten. Ach,sein Körper war wohl da, doch sein Geist weilte wir wollen an-nehmen in der Kirche und mit Sorgen gedachte ich des morgenden Tages, wo ich in aller Frühe geweckt und mit meinem Gepäck zur Bahn befördert werden sollte. Verfehlte ich den Zug, so verfehlte ich auch mein Schiff „Ammon“. Der Konsul, dem ich mein Leid klagte und der guatemalitische, dienstbare Geister kennt, versprach mich zu wecken und machte die Runde um das Haus, um sich mein Fenster zu merken und mir von der Strasse aus rufen zu können.
Alles schien aufs Beste eingefädelt. Ich erwachte natürlich von selbst gegen 5 Uhr, drehte das elektrische Licht auf und bemerkte,dass es sofort auslöschen würde. Flugs Schuhe und Strümpfe ange-zogen, dann umhüllte mich Nacht. Kein Licht, keine Lampe! Ich lief durch den dunklen Gang, weckte die Hausfrau, natürlich auch die übrigen Gäste. Auch sie hatte kein Licht, hatte nicht bedacht, dass die Elektrizität um 5 Uhr morgens ausgeht. Die dienstbaren Geister liefen auf Klingeln und Rufen endlich herbei, eine Lampe fand sich,ich hatte Streichhölzer und war gerettet. Gaetano und das Früh-stück stellten sich pünktlich ein, den langen Weg nach dem Bahnhofe wollte ich mit dem Maultiertram zurücklegen. Ja, da stand ich und wartete. Um 6'/% Uhr sollte er vorbeikommen er kam nicht. Ich wartete fünf, wartete zehn Minuten und trabte dann im Galopp auf den Bahnhof. Um 7 Uhr fuhr der Zug, der Tram war einfach aus-geblieben.
Lachender Sonnenschein lag über der schönen Landschaft Gua-temalas, als ich dem Meere
zufuhr. Der Himmel leuchtete um die Wette mit den blauen Wassern des Amatitlansees und
üppiger blühten Busch und Baum. Um 2 Uhr war ich in San Jose und nach etlichem Herumbalgen
mit Zöllnern und Hafenbeamten mortificationes würden das die Mexicaner nennen schwebte:
ich auf schwankem Stuhle, mehrmals zwischen Himmel und Wasser Kreise beschreibend,in den
kleinen Kahn, der mich auf den jetzt spiegelblanken „Ammon“brachte,le
Küstenfahrt.
Nun war ich einzige Passa-gierin erster Klasse, freilich nur nominell. Auf dem ersten Platze sassen, obschon mit Fahrkarten zweiter und dritter Klasse, von [rüh bis spät ein englischer Minenarbeiter und ein deutsches Ehepaar; sie krank, er der an-massendste Mensch, den ich je gesehen. Dem Kapitän und dem Doktor schien dies zu impo-nieren, und ich musste mich in das Unvermeidliche fügen, den unangenehmen Gesellen stets in und auf meinem Wege zu inden.
Ausladung der Passagiere.Am späten Abend des 7.Dezember lichtete unser „Ammon“ die Anker für „La Union“ im Staate Salvador, und als ich in der Frühe des folgenden Tages auf Deck kam, lag eine herrliche Bergkette vor mir. Unter dieser fällt der izalco (1240 m) nicht sowohl durch seine Höhe sein Hintermann ist bedeutend höher als dadurch auf, dass er regelmässig jede Viertelstunde eine gewaltige Rauchsäule hervorstösst. Am tiefblauen Himmel bildete sie jedesmal eine grosse Wolke, die allmählich in einem langen Strich aufging, während immer wieder neue Wolken sich nachschoben.
Bis zum Abend fuhren wir der schönen Bergküste entlang, dann rasselte die Ankerkette. Der Kapitän wagte bei Nacht nicht die durch bergige Inseln beengte Einfahrt.
Aus Central- und Südamerica.
{n aller Frühe steuerten wir durch die wunderschön geformten,phantastisch aus dem Meer empor steigenden Felsen und Klippen und erblickten schon die weisse reinliche Stadt La Union, als ein kleines Dampferchen auf uns zufuhr.
„Da ist unser Agent,“ meinte der erste Offizier, „was mag der wollen?“ Das sollten wir bald wissen. „Es ist hier ein Telegramm eingetroffen: Das Schiff muss sofort nach Okös zurück, um dort 6000 Säcke Kaffee zu laden.“ Ach, wie lang wurden da die Ge-sichter, meines besonders, denn dies bedeutete wenigstens eine Woche längeren Aufenthalt auf dem mir so unsympathischen „Ammon“.Okö6s liegt in Mexico; wir waren dort schon zwei heisse lange Tage gesessen, bevor wir die Landungen in Champerico und San Jose abgetan.
Das Schiff wurde gewendet. Diesmal kam mir die gestern reizend gefundene Küstenfahrt gar nicht mehr so schön vor und erst der Izalco, dessen Rauchsäule sich nachts ebenso regelmässig alle Viertelstunden in eine Feuergarbe verwandelt, gab mir die Stim-mung wieder.
Nach 30stündiger Fahrt kamen wir nach Okös und fanden dort einen Dampfer der Kosmoslinie, den Nekko. Er musste. vor uns abgefertigt werden und so ging ebenfalls wieder ein halber Tag verloren. Diesmal wollte ich ungeachtet der schweren Brandung an das Land, ich wollte Muscheln suchen am Strande und im schönen Urwald spazieren gehen. Der lag so verlockend, schatten-voll da. Halb zu Fuss und halb getragen und ganz durchnässt landete ich. Der ganze Strand lag voll Bimssteine, die der Santa Maria bei seiner letzten, schon erwähnten Eruption bis nach Mexico ausgeworfen hatte. Die Muscheln dagegen zerschellt wohl die ge-waltige Brandung gleich bei ihrer Landung, denn ich fand nur Bruchstücke.
„Wie schön wird es im Walde sein“, dachte ich und watete tapfer durch den Sand. Eine ganze Moskitowolke flog mir entgegen,und während ich abwehrend um mich schlug, verloren meine Füsse den Grund, und ich sank bis zu den Knöcheln ein. Unter Lianen und Orchideen lauert ein Sumpf. Wohl mir, dass ich nicht tiefer eingedrungen war.
Unterdessen flogen die Kaffeesäcke in den unersättlichen Bauch des „Ammon“, doch liess
leider bald der Eifer nach und vier volle,trostlose Tage sassen wir vor Okös, Die
herrlichen, duftigen Berge von Guatemala konnten mich freilich nicht immer über die
Hitze,
95 den Mangel an Eis und Obst auf dem Ammon trösten und die langen Nächte, in denen ich vor der Glut meiner Kabine mein Ther-mometer zeigte 34° Rettung suchend auf Deck irrte, oder in dem winzigen Salon lag, werden mir unvergesslich bleiben. Den letzten Abend ass der deutsche Konsul und zugleich Agent der Kosmos-gesellschaft mit uns. Im Laufe des Gespräches fanden wir uns als Landsleute. Grosse, beiderseitige Freude!
Ein drittes Mal glitten die Ufer San Salvadors an mir vorbei.Der Aufenthalt in La Union war kurz und nach nicht viel längerer Fahrt landeten wir in Amapala, einer Hafenstadt der Republik Honduras. Das 2000 Einwohner zählende Städtchen liegt an einer stillen Bucht. Bewaldete Felsgebirge befestigen sie von allen Seiten und machen aus Amapala einen ausgezeichneten Hafen. Einen herr-lichen Hintergrund geben die lilablau gefärbten Bergketten Salvadors mit dem breiten Vulkankegel San Miguel.
Es war Abend, als der Ammon sich hier vor Anker legte. Gross stand der Mond am Himmel und Musik klang über dem Wasser zu uns herüber. Am folgenden Morgen in aller Frühe fuhr ich an das Land. Fern von dem Schiff fühlte ich mich als ein anderer Mensch,ich genoss meinen Spaziergang, wie man den ersten Sonnentag nach langer Regenzeit geniesst, oder wie man nach schwerer Krankheit der ersten Ausfahrt sich freut.
Zunächst gelangte ich auf einen neu angelegten Platz. Um den Musikpavillon zieht sich ein Gitter, dessen vier Enden mit je einem grossen, beschopften, grünbemalten Papagei schön gekrönt sind. Die Vögel passen gut in diese Landschaft, viel besser, als der alte Herr,der in einer in Europa vor hundert Jahren getragenen Tracht, von hohem Sockel, sinnend auf das Meer schaut. Das Denkmal ist soeben errichtet worden und stellt den General Morazon dar, der 1823 Hon-duras zum selbständigen Staate machte.
Weiter wanderte ich auf mit graubraunen, stark gerippten Muscheln gepflasterten Strassen durch den Flecken. Dies sieht freilich hübscher aus, als es sich bequem darauf geht. Vor den niedlichen,bunten Häuschen standen und sassen hübsche Mädchen in hellen,schleppenden Mullkleidern, glatten, hinten zugeknöpften Taillen und leichten, lichtfarbenen Schärpen, die bald als Kopf- bald als Hals-tuch getragen werden. Männer und Frauen haben hübsche, charak-teristische Gesichter, schwarzes, leicht gewelltes Haar, sehen sehr reinlich aus und zeigen ein manierlich freundliches Wesen. Zwei hübsche Mädchen baten mich, sie zu photographieren. Als ich mich
Aus Central- und Südamerica.dazu bereit erklärte, fuhren sie sich flugs mit dem Kamm durch die Haare, steckten nach Art der Birmaninnen eine Blume hinein, dra-pierten anmutig ihr Kopftuch und standen fertig da. Auch Bleistift und Papier waren flugs bei der Hand zum Aufschreiben der Adresse.Leider ist das Bild nicht gelungen.
Bald hatte ich die Häuser des Städtchens hinter mir und wan-derte unter herrlichen Banianbäumen einem verwahrlosten Garten zu. Der kopflose Rumpf einer griechischen Göttin nimmt sich in dieser tropischen Welt ganz sonderbar aus, viel besser passt die muschelgepflasterte Eingangspforte. Graue, gelbhaubige Papageien kreischten hässlich in den Zweigen und eine vielköpfige Schweine-familie wühlte Löcher in den Boden, sonst war kein Lebewesen im Garten. Lange blickte ich hinab auf das tiefblaue Meer, auf das nur der Ammon einen Schatten warf.
Auf dem Ammon ging es wie immer zu, nur flogen diesmal statt Kaffeesäcke Farbhölzer mit lautem Gepolter in seinen unersättlichen Bauch. Ein schneidiger Junge leitete die Ladungsarbeit, Er nannte sich Eduardo Berlioz und behauptete der Familie des berühmten Komponisten zu entstammen.
„Ich bin zwar’ hier geboren, aber dafür doch kein Bürger von Honduras. Wer wollte Bürger sein in diesem Land der Revolutionen?Ich reise demnächst nach Frankreich, um dort meinen Militärdienst zu machen. Hier sind. nur die ganz Armen Soldaten und erhalten einen Tagessold von 40 Centavos. In der Kaserne wohnen 200 Sol-daten, und sehen Sie da oben auf dem Hügel die Krupp’sche Kanone?Sie darf nicht abgeschossen werden, sonst würden die Fenster in der Stadt alle zerschmettern, aber tapfer sind sie, die Soldaten von Amapala, wenn nur jemand sie gut anführte; jeder würde mit Freuden gegen das verhasste Guatemala losziehen“. So sprach Eduardo Berlioz.Von anderen hörte ich, dass Honduras ein schönes, fruchtbares und im ganzen gesundes Land sei, wo die Produkte der gemässigten und heissen Zone gleich gut gedeihen, und namentlich eine Menge Silber und Gold noch der Ausbeutung harrt.
Eine freudige Überraschung wurde mir vor der Abfahrt von Amapala, wo wir zwei Tage Waren
geladen hatten, zu teil. Dr. W.,mein unsympathischer Mitpassagier, bekam hier plötzlich
einige Pa-tienten und blieb mit seiner Frau in Amapam. Dafür erschienen zwei Herren Sotos,
diesmal wirkliche Passagiere erster Klasse an Bord.Der Sohn Sotos, ein anscheinend recht
eitler Herr, war die Haupt-person, der Vater nur das Echo, der
Schatten.
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Sotos Sohn spielte mit grosser Verve Walzer und Polkas und sprach ein tadelloses französisch, er hatte in Paris Medizin studiert.„Mon fils est un genie“, wiederholte immer wieder der entzückte Vater. Wie dem auch sei, der junge Mann ist Generalkonsul Argen-tiniens in Nicaragua und, wie ich glaube, zugleich in Honduras; er wurde sowohl in Amapala wie ein grosser Herr feierlich an Bord geleitet, als auch in Corinto mit Musik empfangen.
Es war ein herrlicher Mondabend, und wir wunderten und ärgerten uns, dass der Kapitän die Nacht nicht zur Weiterfahrt benutzte, was uns einen ganzen Tag in Corinto und die Möglichkeit gegeben hätte,mit der Eisenbahn nach der Hauptstadt Nicaragua’s zu fahren. Der Zug ging vormittags, wir aber kamen erst mittags 1 Uhr an und lagen bis zum folgenden Mittag vor Anker. Ja, das war mit eine Schattenseite dieser Ammonfahrt; wo es am Lande nichts zu sehen gab, lagen wir tagelang vor Anker, war dagegen ein interessanter Ausflug zu machen, so verfehlten wir regelmässig den Anschluss.
Doch, ich greife vor. Wir fuhren also den 20. Dezember mit neun Knoten per Stunde in der Frühe von Amapala ab und bekamen gegen 1 Uhr die Berge Nicaragua’s in Sicht. Ein Pilote erschien an Bord, um uns bis Corinto durchzulotsen. Eine langgestreckte Insel lagert vor der Stadt, auf der ein befestigter Turm und 22 Ka-nonen recht imposant wirken würden, wenn man nicht wüsste, dass keine von ihnen im Stande ist, einen Schuss abzugeben. An der Einfahrt lauert ein Kriegsschiff. Lustig begrüsste die weiss-blaue Flagge Nicaragua’s unseren friedlichen Frachtdampfer. ;
Da lag Corinto vor uns, nicht das berühmte, griechische, sondern das unberühmtere,
nicaraguanische. Nicaragua ist freilich in den 70°und 90° Jahren des letzten Jahrhunderts
auch zu einer Art Berühmtheit gelangt durch den geplanten Schiffskanal, der in Konkurrenz
mit dem Panamakanal dem Seeverkehr zwischen dem Atlantischen und Grossen Ocean, den Umweg
durch die Magalhäesstrasse ersparen sollte. Die Kosten der Herstellung sollten 100
Millionen Dollar betragen, der Kanal denjenigen von Panama um ein vierfaches an Länge
übertreffen.Die Kosten sollten aber dadurch viel geringer sein, dass man nur 43,10
Kilometer zu graben hatte und das gewonnene Material zur Anschüttung der Einfassungsdämme
der grossen Staubassins ver-wenden konnte. Die Arbeiten wurden mit Eifer angefangen, dann
fallen gelassen. Warum, weiss ich nicht. Vielleicht bereuen die Vereinigten Staaten dies
nachträglich, seitdem auch für sie der Panamakanal zum Schmerzenskind geworden ist.
;
Aus Central- und Südamerica.
Corinto besitzt ganz europäisch gebaute Häuser, die zu den dunkeln,tropischen Cocoshainen gar nicht passen wollen. Diese Bauart und die furchtbare Hitze verleideten es mir, an das Land zu fahren. Sotos Vater und Sohn nahmen. hier Abschied und sandten mir abends noch einen Gruss in Gestalt eines Ständchens, das sich im Mondenschein und auf dem Wasser entzückend ausnahm. Einige Stunden vorher hatte der Abend einen herrlichen Sonnenuntergang gebracht. Wie Feuer lag es über Corinto, und tiefschwarz hoben sich die feinen,federnden Cocoshaine von dem Horizont ab. Das Thermometer sollte diese ganze Nacht auf 34° bleiben. Eines nur brachte die Dunkelheit: Befreiung von der schrecklichen Fliegenplage. Die Zahl der Fliegen an Bord spottet jeder Beschreibung. Die Speisen waren oft schwarz damit überzogen. Kam die Nacht, so verschwanden die Fliegen, die noch schlimmeren Moskitos hielten dafür ihren Einzug.
Um 4*/2 Uhr früh schon begann der Lärm des Ladens auf dem Ammon, und zugleich erschienen Händler mit Ansichtskarten, schönen Papageien, Früchten und hübschen Schalen aus Cocosnuss mit bräun-lichweissen Reliefschnitzereien. Viele Händlerinnen sind übrigens auch da, ähnlich gekleidet wie in Amapala, hübsch, aber zumeist mit schlechten Zähnen. Sie verstehen vortrefflich zu handeln. Ich hatte mir etwas nicaraguanisches Geld eingewechselt. „Ach, das geht bei uns nicht, wir wollen weder Nickel, noch Papier, wir wollen americanisches Gold und Silber, damit macht man Geschäfte. Nica-raguageld ist gut am Land, an Bord wollen wir nur americanisches Geld.“ Mit ihren Einnahmen kauften sie deutsches Flaschenbier.Dies war übrigens in jedem Hafen der Fall, und der Ammon muss ein ordentliches Biergeld gemacht haben.
Unserem Doktor, der Tiere zum Ausstopfen sammelte, wurde ein lebender Leguan oder Iguan
gebracht. Ich hatte schon einen in San Jose unter einem Haus hervorschlüpfen gesehen. An
Gestalt einer graugrünen Rieseneidechse ähnlich, soll der Iguan ein durch-aus harmloses
und nützliches Tier sein, da er Mäuse und allerlei Ungeziefer fängt. Nichtsdestoweniger
wird er viel verfolgt und aus-gerottet. Der arme Iguan war, die kräftigen Beine stark
gefesselt,an Bord gebracht worden. Er mass mit dem Schwanz 1'/ Meter und sein Rücken war
mit einem borstigen Kamm besetzt. Der Kopf war wie in eine Hornhaut gehüllt. Ich weiss
nicht, warum der Doktor ihm nicht sofort den Gnaden- und Todesstoss gab, er brachte den
armen Gefesselten in seine Kabine und kümmerte sich nicht weiter um ihn. Als er endlich
ein paar Stunden später das Tier
Mittags verliessen wir das heisse Corinto und fuhren zu meiner Freude ohne Unterbrechung bis nach Punta Arenas in Costa Rica.Als wir ankamen, guckte der Mond zuweilen strahlend zwischen schwarzen Regenwolken durch. Die Nacht war auch hier glühend heiss.
[ch brachte sie grösstenteils auf Deck zu. Wenn nur mein Liegestuhl bequemer und die Morgen-dämmerung nicht immer so fieberfeucht an-gebrochen wäre! Wie lange sollte diese Reise noch dauern? Die bange
Frage finde ich nahezu auf jeder Seite meines Tage-buches.
In grausamer Hitze sas-sen wir anderthalb Tage in Punta-Arenas, das, wie sein Name sagt, die Spitze einer niedrigen, sandigen Land-zunge bildet. Etwas weiter von uns, aber wiederum nicht erreichbar, liegt das herrliche Tafelland von San Jose, wo ein ewiger Früh-ling herrscht. Meine einzige Zerstreuung bot das Räu-chern des Schiffes und un-serer Personen. Der Ammon hatte zwar schon vor Monaten San Francisco, wo Pest oder Cholera sogenannt regierte, verlassen, aber wir sollten doch desinfiziert' werden.
Am Mittag des 24. Dezember verliessen wir Punta Arenas und waren auf hoher See, als abends 5 Uhr im Speisesaal ein kleines,künstliches Weihnachtsbäumchen angesteckt wurde.
Ach, nicht nur der würzige Tannengeruch, sondern auch die Weihnachtsstimmung fehlte vollkommen. Wir alle sehnten uns nach Hause, vielleicht ich am meisten. Fühlte ich mich doch so einsam
Indianerin.
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Aus Central- und Südamerica.und verlassen! Auf dem ganzen Schiff war keine andere Frau und während die Mannschaft hinten im Schiff Weihnachten feierte, und Doktor und Offiziere in der Kapitänskajüte bei der Flasche sassen,spazierte ich mutterseelenallein auf Deck. Nur der liebe Mond stand tröstend am Himmel, derselbe, zu dem meine fernen Lieben auch emporblickten. Strahlende Sterne flimmerten zu tausenden über mir,und bog ich mich über den Schiffsrand, so sah ich auch in der dunkeln Tiefe des Kielwassers grosse Sterne aufblitzen.
Der Weihnachtstag verging auf hoher See. Fliegen und Hitze waren uns treulich gefolgt, doch sollte es den nächsten Tag damit besser werden. Je näher wir dem Äcquator kamen, desto kühler wurde es. Den 27. Dezember früh 6'/2 Uhr passierten wir die Linie,das Thermometer zeigte 23° und ein starker Wind sauste über das Deck. Ich holte meinen Pelzkragen hervor und fror und kroch nachts unter alle Decken, die ich besass. Während drei Tagen bekamen wir kein Land in Sicht und erst den 28. Dezember in der Frühe kündeten uns zahlreiche Möven das nicht mehr ferne Festland. Von hier aus hätten wir eigentlich den Chimborasso sehen sollen, allein alles stack im Nebel, nur die Felsen der Insel Santa Clara zeigten ihre dunkeln Umrisse. Freund Ammon lief nur noch acht Knoten die Stunde, wie der Maschinist behauptete, infolge der zahlreichen Muscheln und Gewächse, die sich besonders in Okös in sein Eisen-werk gesetzt hätten und in dem Süsswasser vor Guayaquil wieder weichen würden.
Um 2 Uhr gelangten wir nach der Insel Puna, einem malerischen Punkt an der Mündung des Guayasflusses. Die Bewohner der un-gesunden Stadt Guayaquil kommen hierher in die Sommerfrische und zum Gebrauch der Seebäder, daher das grosse Hotel.
Leider durften wir nicht an Land gehen, da wir irgend einer Krankheit, ich weiss nicht mehr welcher, verdächtig waren. Der Ammon wurde abermals geräuchert, ein Arzt erschien und nahm uns einzeln in Augenschein. Dazu gab es reichlich Zeit, denn wir mussten die Flut abwarten, um die Reise nach Guayaquil fortzusetzen. Die ganze Nacht lagen wir in der Nähe eines alten, seeuntüchtigen Dampfers,der seit zehn oder zwölf Tagen einer aus Peru kommenden Familie zur ebenso ıunbequemen, als kostspieligen Quarantänestation diente.
Um 8 Uhr früh erst durchschnitt der Kiel unseres Ammon die gelben Fluten des
Guayasflusses, Die Fahrt bot grosse Abwechslung,denn köstlicher Urwald kränzt beide Ufer,
Verbergend und schützend aimmt er wohl alles bei ihm Hülfesuchende in seinem Schosse
auf.
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Seine dichten Luftwurzeln und Schlingpflanzen halten Wacht vor der Höhle der wilden Tiere, und in der Dämmerung dunkler Büsche ver-birgt er die mit Eier gefüllten Nester der kleinen Vögel. In dem dunkeln Grün leuchten die lichten Blätter und goldene Früchte wilder Apfelsinenbäume, und dazwischen bilden märchenhafte Orchideen ein herrliches Farbenspiel. Zahlreiche Pelikane beleben den Fluss, bald schweben sie auf dem Wasser, bald setzen sie sich Schwänen gleich auf die Wellen, oder tauchen ihre grauen Riesenschnäbel nach zap-pelnder Fischbeute unter,
Sobald ich Gelegenheit hatte, fuhr ich an Land. Die dem Strom entlang gebaute, lange Häuserreihe sieht freilich von weitem male-rischer aus, als in der Nähe, immerhin bot mir die Stadt genug Ab-wechslung. Guayaquil zählt etwa 50,000 Einwohner und ist der grösste Hafen Ecuador’s. Zu den grössern Geschäften wird das Haus Osa gerechnet, dessen Chef Herr M. M. aus St. Gallen schon seit 14 Jahren hier lebt. Mehrere Angestellte sind Appenzeller. Sie bleiben zumeist nur drei Jahre im Lande, dann vertreibt sie das schlechte Klima und besonders das gelbe Fieber.
Sehr originell ist die hölzerne Kathedrale, die mit ihrer wappen-geschmückten Fassade mehr wie ein Feudalschloss aussieht. Ebenso unkirchlich ist das Innere. Die in Felder geteilte Decke ist ganz willkürlich angestrichen und der Hochalter ja, der sieht wie ein Puppenhaus aus. Buntgefärbte Federn und papierene Blumen sind ringsum gesteckt und bilden die Umzäunung für alle möglichen aufgestellten Häuschen aus Pappdeckel. Da steht eine chinesische Pagode und ein sogenannt chinesisches Wohnhaus mit der Aufschrift:„Pasageros chinos“; etwas weiter ein auf hohen Stelzen, stehendes,aus feinem Bambus gefügtes Haus aus Ecuador, es fehlt nur das geschnitzte Schweizer Chälet. Gegen die Mitte zu bildet ein grosses,rundes Blechbecken einen Teich. Kähne mit Bemannung, schöngefärbte Enten und Fische schwimmen darin. Dann kommt die sehr natur-getreu mit Stroh angefüllte Krippe in Betlehem und mitten in all’der Herrlichkeit sitzt mit goldenem Krönchen und fein aufgeputzt Christus in der Grösse eines zweijährigen Kindes. An den Altar selber ist das Paradies gemalt, nach dem Sündenfall, denn Adam und Eva tragen förmliche Hosen aus Laubwerk, Ihnen gegenüber,in ein graues Gewand gehüllt, steht eine Frauengestalt mit grossem Papageischnabel. Da sich eine Schlange um ihren Leib windet, ver-stehe ich sofort, wen sie darstellt. Einige Vierfüssler unbestimmter Klasse und eine Ente, die sie an Grösse weit überragt, blicken mit
Aus Central- und Südamerica.Adam und Eva die Schlange starr an. Neben all’ diesem Baroken zeichnet sich die Kathedrale durch grosse Reinlichkeit aus. Auch die Bewohner Guayaquils machen einen guten Eindruck. Die Frauen tragen Kopftücher oder feine, weisse Panamahüte und jedermann ist höflich und freundlich. Vor der Kathedrale steht ein reizender Blumen-garten mit der Reiterstatue Bolivars. Der Hüter des Gartens pflückte mir einen grossen Strauss, der bei uns so kostbaren, starkduftenden Gardenien, Auf dem sehr belebten Obstmarkt kaufte ich noch einige pifia blanca, weissfleischige, ausgezeichnete Ananas und so beladen mietete ich mir eine Boot, um auf den Ammon zu gelangen. Unter-wegs traf ich mehrere sogenannte Balsas, mit Draht und Weidenruten gebundene Flösse, auf denen eine Hütte erbaut ist. Sie hat oft mehrere Abteilungen und eine Feuerstelle. Auch Hängematten sind angebracht und Schweine, Federvieh, Papageien, nackte Kinder und Erwachsene bewohnen in trauter Eintracht solch ein Floss.
Am Abend machte die beleuchtete Stadt vom Ammon aus einen wahrhaft zaubervollen Effekt. Eine Eigentümlichkeit fiel mir während den zwei Tagen und Nächten unseres Aufenthaltes auf: Ebbe und Flut sind so stark in dem Strome, dass sich das Schiff je einmal bei Tag und einmal bei Nacht am Anker vollständig wendet, so dass die Stadt bald zur Rechten und bald zur Linken erscheint.
Auch der zweite Morgen fand mich auf dem Festlande. Die Hitze von 29° kümmerte mich
wenig, nachdem ich öfter 34° in der Kabine erlebt hatte. Ich fuhr mit der Trambahn nach
dem sogenannten Salado. Dort, wo der Fluss sich in mehrere Arme teilt, führt eine lange,
hölzerne Brücke an das jenseitige, bergige Ufer. Bänke zum Ausruhen und Zuschauen sind da
angebracht. Zuschauen? Ja, hier ist eine grossartige Schwimmanstalt mit Badezellen,
Springbrettern,Kähnen und Baumstämmen und die Jungmannschaft Guayaquils macht eifrigen
Gebrauch davon. Es ist ein Vergnügen, die dunkelbraunen,nervigen Gestalten tauchen,
schwimmen und springen zu sehen. Ofli beängstigend lang blieben einzelne unter dem Wasser
verschwunden,um endlich weit entfernt wieder aufzutauchen. Viele sassen rittlings auf
Baumstämmen und liessen sich flussabwärts treiben. So sah ich die Nubier am oberen Nil,
aber zivilisierter als diese, tragen die Badenden hier lange Hosen. Kommt ab und zu eine
beladene Balsa herangerudert, so klettern stets einige Schwimmer als blinde Passa-giere
hinauf, pflücken sich von dem mächtigen an der Hütte hängenden Bananenbündel, legen sich
behaglich ein Weilchen auf den Rücken und verschwinden dann wieder im feuchten
Element.
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Jenseits der Brücke führt steiles Geröll bergan; nur kurze Zeit,dann schlängelt sich ein Fusspfad auf halber Höhe dem Fluss entlang.Er sieht neu aus, Feuer musste zur Urbarmachung dieser Strecke angewandt werden, aber nicht einmal diesem ist es gelungen die ganze lebensstrotzende Vegetation der Tropen zu beseitigen. Da und dort steht noch ein Baumwollstrauch mit seinen flockigen Kapseln und daneben ein mimosenartiger Baum mit braunen, länglichen Beeren.Auf der andern Seite neigen sich Bäume mit wie Schiffstaue gedrehten Luftwurzeln hinab zu dem wellengekräuselten Wasser des Flusses,auf das ihr Schatten schwarze Reflexe wirft. Buntfarbige Papageien Mattern in den Zweigen, aber nach Alligatoren suchte ich vergeblich.Plötzlich raschelte es hinter mir; erschreckt drehte ich mich um,glaubte ich mich doch ganz allein in dieser verwunschenen, grünen Welt. Zwei halbwüchsige Knaben hatten mich eingeholt. „Wir wollen Beeren pflücken, kommen Sie mit?“ Sie meinten die Beeren, die ich schon bemerkt und gaben mir davon zu kosten, Sie schmeckten süss wie Kirschen. Ich ging ein Stück Weg mit, dann wurde die Hitze zu gross und ich kehrte zurück. Jenseits der Holzbrücke sah ich eine Inschrift: „Damenbadeanstalt.“ Bald plätscherte ich in dem köstlichen Wasser. Ich war mutterseelen allein. Die Damen Guaya-quils scheinen keine Freude an Schwimmbädern zu empfinden.Erfrischt kehrte ich auf den Ammon zurück. „Was! Sie haben ge-badet? Gerade da holt man sich am sichersten das gelbe Fieber.“Gottlob verschonte es mich, ebenso wie das in tropischen Gegenden so heimtückische Malariafieber. Unser Kapitän dagegen lag seit Okös schwer krank an Gelenkrheumatismus, und nun legte sich hier auch unser erster Offizier mit Malaria.
Ich fand drei neue Passagiere vor: eine Peruanerin, namens Vittoria Savaretti, einen Deutschen und einen Engländer. Nichts desto-weniger brachte mir der Sylvesterabend trübe, einsame Stunden. Seit dem 23. November schon weilte ich auf dem Ammon und noch standen uns fünf Landungen vor, ehe wir nach Callao kommen sollten. Ach, wie sehnte ich mich nach Hause, und wie trübselig sah ich dem neuen Jahre entgegen. Es kam mir vor, als sei ich meiner Reiselust wegen verdammt, mein Leben auf dem Ammon zu beschliessen.
Abends lichteten wir die Anker und fuhren durch die Neujahrs-nacht von Ecuador nach Peru.
Eine trostlos öde, kahle Küste empfing uns. Um 10 Uhr landeten wir in Paita. Der Eindruck
des Städtchens,wie der Gegend war grau. Häuser, Dächer, Klippen, Sand, alles starrte in
grau. Kein Baum, kein Grashalm! Dasselbe Bild wie Paita
Aus Central- und Südamerica.bietet die ganze Küste bis Valparaiso. Hie und da nur, in grossen Zwischenräumen ist sie von bandartigen, grünen Streifen durchzogen.Sie bezeichnen den Lauf eines Baches, der sich von den Bergen zu der See hinab den Weg erkämpft hat. Landeinwärts, fern von der Trockenheit der Küste und der Salzluft des Meeres, ist Peru reich an schönen, fruchtbaren Tälern.
Die letzten vier Monate war Paita von der Beulenpest stark heimgesucht. Von 1300 Bewohnern erkrankten 139 daran und 67 starben. Die schwarzen Kreuze ihrer Gräber heben sich auf dem Hügel oberhalb der Stadt scharf vom Horizont ab. Da man fürchtete,wir würden von Guayaquil das gelbe Fieber einschleppen, liess man niemand von uns an Land, und der Ammon musste sich eine abermalige Räucherung gefallen lassen. Durften wir nicht vom Schiffe fort, so kam dafür die elegante Welt Paitas zu uns, um Bier zu trinken und Klavier zu klimpern. Was besonders der „Pest“-Doktor in letzterer Rubrik leistete, ist unglaublich. Er hatte in Lima studiert, sprach etwas französisch und englisch und langweilte sich grausam in Paita. So kam ihm der Ammon und sein Klavier wie eine wahre Gottesgabe vor.
Auch das gewöhnliche Volk, kleine, gedrungene, hässliche Men-schen, überflutete das Schiff mit grauen Eichhörnchen, Paraquiten,Hühnern, Eiern, alt peruanischen Ausgrabungen, Panamahüten. In Paita werden die meisten dieser teuren und in Europa hochgeschätzten Hüte verfertigt. Man verwendet dazu eine niedrige, der Palme ähn-liche Pflanze, die Carludovica palmeta.
Wen das Verbot an Land zu gehen am härtesten traf, war die peruanische Dame. Sie wohnte in Piura und war in Guayaquil auf Besuch gewesen. Als sie vor vier Monaten nach Hause zurückkehren wollte, hatte Ecuador über Peru die strengste Quarantäne verhängi und Peru darauf sich mit ebenso energischen Massregeln gegen all-fälliges Einschleppen des gelben Fiebers von Ecuador gerächt.
Zwei Wege standen unserer Mitreisenden offen: heimlich an das Land zu fahren, oder mit
uns bis Callao zu reisen und sich dort nach Paita zurück einzuschiffen, eine
Vergnügungsfahrt, die ihr eine Menge Geld und mindestens drei Wochen Zeit gekostet hätte.
Sie zog das Wagnis einer heimlichen Flucht vor, Wir waren alle. mit im Kom-plott. Vor
allem galt es die Aufmerksamkeit des Doktors abzulenken.Als es dunkelte, lockte ich ihn an
das Klavier und liess ihn so lange spielen, bis ich das Boot, das den Flüchtling holen
sollte, schon nahe am Lande wusste. Es setzte denn auch die Sefiora ziemlich weit
105 vom Städtchen bei Nacht und Nebel ab, und in aller Frühe am fol-genden Morgen konnte sie die Eisenbahn nach Piura nehmen.
Wir benutzten. die Krankheit des Kapitäns und des ersten Offiziers,um uns an Bord eine kleine Menagerie zu halten. Mein Liebling war ein für den zoologischen Garten in Hamburg bestimmter, junger Puma,der peruanische Löwe, Er war zahm wie eine Katze. Einen grauen Fuchs hatte ich in Guayaquil tierquälerischen Händen entrissen, aber er war scheu und kauerte immer nur hinten in der Kiste. Ein paar niedliche Papageien gehörten den Matrosen und Eduard, der Steward,hatte einen ganz gemeinen Raubvogel erstanden, den er als Adler in Hamburg für 20 Mark zu verkaufen hoffte.
Anderthalb Tage verlebten wir in Paita. Als wir die Anker lich-teten, ging die Sonne eben unter. Die grauen Felsen und Sandflächen hatten sich in Purpur gehüllt und Purpur lag auch auf der Meeres-fläche.
Bis Salaverry fuhren wir 24 Stunden lang. Vor einem grauen,gleichsam beweglichen Sandberg, dessen mächtiges, schwarzes Kreuz ihn zum Kalvarienberg stempelt, legten wir uns vor Anker. Wiederum war es die Zeit des Sonnenunterganges. Die Färbungen wurden schöner und schöner und ein richtiges Alpenglühen verklärte mit rosigstem Licht die wild gezackten Berge des Hintergrundes, und den vegetations-losen Pilgerberg, während ein olivgrüner Schimmer sich über die wild drohende Brandung legte.
Salaverry’s Küste ist berühmt und berüchtigt durch die beständige Dünung und die in Folge davon schrecklichen Aus- und Einschiffungen.Nichtsdestoweniger machte ich mich bereit, den: folgenden Morgen früh an das Land zu gehen und einen Besuch in Trujillo zu machen,Wunderbarerweise wurde uns hier kein Hindernis in den Weg ge-legt. Vermutlich fand man die Schwierigkeit der Landung ein ge-nügendes Abschreckungsmittel.
Glücklich gelangten der Engländer und ich die schwankende,eiserne Treppe am Molo empor und in den Eisenbahnzug, der uns zwölf Kilometer weit nach Trujillo fahren sollte. Unser Waggon war sauber und nett, unsere Mitreisenden freundlich und mitteilsam. Ich erinnere mich an eine kleine, dunkelfarbige Peruanerin, die ihre Puppe vermutlich deutscher Manufaktur ebenso zärtlich an das Herz drückte und hegte, wie unsere europäischen, kleinen Mädchen es tun. Zunächst fuhren wir durch eine öde, graue Wüste. Kahl und melancholisch guckten die hochstelzigen, kleinen Bambushäuschen,mehr Hundehütten. als menschlichen Behausungen ähnlich, in das
Aus Central- und Südamerica.Land. Auch ein an einer Sanddüne gebetteter Friedhof mit einer Menge schiefgesteckter Kreuze sah trostlos aus. Nach einer Viertel-stunde wurde es besser, Palmen und Bananen erschienen und wohl-gepflegte, hinter hohen Adobemauern sorgfältig abgeteilte Felder!
In dieser Gegend lebten einst die Chimus, ein älteres Volk als die Incas und anfangs deren erbitterte Feinde. Als sie aber von diesen in langen Kämpfen besiegt worden waren, wurden sie die treuesten Vasallen der Incas, denen sie manche Kunstfertigkeit lehrten. Zeit hatte ich leider keine, den Ruinen der Chimus nachzugehen. Der Ammon wollte ja gegen Abend weiter und schon die kurze Fahrt nach Trujillo litt einigermassen an Überhastung.
Trujillo wurde im Jahr 1535 durch Pizarro gegründet und nach seiner Geburtsstadt in Estremadura benannt. Zu Anfang des 17. Jahr-hunderts war Trujillo eine grosse, blühende Stadt und viele reiche und vornehme spanische Familien wohnten dort, bis 1619 die Stadt durch ein Erdbeben vollständig zerstört wurde. Jetzt zählt sie un-gefähr 6000 Einwohner. Ein bequemer Pferdetram fährt durch lange,schlecht gepflasterte Strassen auf einen grossen Platz, in dessen Mitte ein monumentaler Brunnen steht. Auf einer Seite liegt die leider geschlossene, zweitürmige Kathedrale und schräg gegenüber ein moscheenartiges, ebenfalls geschlossenes Gebäude mit der Auf-schrift „Universitad 1831“. Etwas weiter steht ein grosser, Ööffent-licher Garten. Private, oder die Stadtverwaltung, scheinen einen Auf-schwung genommen zu haben, ihn mit allen möglichen Attraktionen zu versehen, Da steht eine russische Rutschbahn und ein riesiges Rad, vermutlich von einer Ausstellung her, da stehen Mauern und Zinnen, alles etwas verlottert und hinfällig. Das Schönste ist die herrliche Aussicht, eine wunderschöne Palmenallee und einige Hecken blühender, weisser und roter Röschen. Sie haben den süssen Dufit unserer aus der Mode gekommenen, hundertblättrigen Rosen. Dieser Duft verfolgte mich durch die Calle del Progreso, wo die ebenso altmodischen, leicht rosa, grün oder blau angestrichenen, einstöckigen,wappengeschmückten Häuser mit den stattlichen Eingangstoren und den grossen Freitreppen stehen. Vor 200 Jahren mag Trujillo gerade wie heute ausgeschaut haben und wird sich in den nächsten 200 Jahren kaum verändern, wenn nicht ein Erdbeben seinem friedlichen Dasein ein jähes Ende bereitet.
Da die Dünung zugenommen, war die Rückfahrt auf den Ammon noch schwieriger, Die
Temperatur hatte sich nicht wenig abgekühlt.Mein Thermometer zeigte nur noch 12!/2°% Wir
fuhren die ganze
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Nacht, bis wir den 5. Januar, mittags 1 Uhr, vor Huacho ankerten.Ja, da lag schon ein
englisches Schiff und wieder einmal verloren wir 24 Stunden. Dann erst durften wir die
Menge Holzbalken aus-laden, die der Ammon zum Bau einer Eisenbahn in dieses holzarme Land
mitgebracht. Huacho bietet keine Sehenswürdigkeiten. Ich konnte das ganze Städtchen vom
Schiff aus übersehen, und die ge-waltige Brandung liess nicht den Wunsch aufkommen, an
Land zu gehen. Drei lange Tage lagen wir vor Huacho, aber ich hatte einen Trost: Callao
hiess unser nächstes Ziel!
Lima, die Stadt der Könige.
Am 9. Januar schlug mir die glückliche Erlösungsstunde von der 44 Tage dauernden Fahrt auf dem „Ammon.“ Ich konnte kaum an die schöne Wirklichkeit glauben, als mir verkündigt wurde: „Morgen früh landen wir in Callao.“ Die ganze Nacht lag ich wach. Jeden Augenblick schreckte ich auf: „Jetzt bricht noch die Schraube.“„Horch, ein Agent fährt uns nach, um dem Kapitän eine neue Ladung zu melden.“ „Wir bekommen ganz bestimmt Pestquarantäne.“
Meine nervöse Spannung liess mich nicht den Augenblick ab-warten, wo der Ammon sich an den Kai legte. Sobald mich der Arzt angesehen, sprang ich in das nächste Boot, liess mein Gepäck in der Obhut des Steward und fuhr an das Land. Eine elektrische Bahn war bald gefunden und durch hoch aufwirbelnde Staubwolken luhr ich in rasendem Tempo, glückseliger als ein Schuljunge, dessen Ferien beginnen, Lima, der Stadt der Könige zu.
Ein kleiner Dämpfer liess natürlich nicht auf sich warten. Die alleinreisende, gepäcklose Dame erschien dem Besitzer des feinsten Gasthofes in Lima entschieden nicht vertrauenerweckend. Erst liess ar mich eine ganze Weile stehen, dann führte er mich durch ein Wirrwarr von Gängen und Treppen in einen Neubau, wo Zimmer-leute und Maler fleissig arbeiteten. Die Türe des Zimmers, das er mir anwies, wurde eben gestrichen und vor dem Fenster hing ein Gerüst, auf dem zwei Maurer mit Mörtel und Kelle eifrig hantierten.„Haben Sie kein besseres Zimmer?“ Eine tiefe Verbeugung: „Lo siento mucho, pero no tengo otro quarto.“*) Unter diesen Umständen kam mir der Preis von 6 soles (15 Fr.) täglich recht hoch vor. Über-haupt wurde auf dieser Reise alles crescendo teurer. „Sie können dafür die ganze Speisekarte durchessen“, meinte der Wirt auf meine Bemer-
') Es tut mir sehr leid, aber ich habe kein anderes Zimmer.
Aus Central- und Südamerica.kung hin. Lang war sie freilich, ellenlang, diese spanische Speisekarte,Spanisch schmeckten mir auch die Gerichte, und regelmässig wählte ich gerade das, was ich nicht wollte, Auch das einsame Essen an einem kleinen Tisch in dem riesigen Speisesaal wirkte entmutigend,Nein, ich wollte am nächsten Tag ein neues Quartier suchen.
Horch, da klang der tiefe, wunderbar süsse Ton einer grossen Glocke an mein Ohr. Er lockte mich hinab auf die Strasse, und nach wenigen Schritten stand ich auf der weiten Plaza de Armas, dem Mittelpunkt Limas.
Die Stadt mag ungefähr 140,000 Einwohner zählen. Sie wurde am Dreikönigstage des Jahres 1535 durch Francisco Pizarro gegründet und erhielt deshalb den Namen „Ciudad de los Reyes.“ Lima ist ein moderner Name, den einige Gelehrte von Rimac (Tal, Ebene)ableiten. Die alten Chroniken sprechen stets von „La muy noble y leal Ciudad de los Reyes.“ In dem Stadtwappen stehen die zwei Herkulessäulen mit der Inschrift: „Non plus ultra“ als Einrahmung eines azurblauen Feldes mit drei Kronen und dem darüber schwe-benden, geschweiften Stern Bethlehems.
Auch das Wappen Peru’s ist interessant. Es stellt in drei Fel-dern das Tierreich durch ein Lama, das Mineralreich durch ein Füllhorn voll kostbarer Erze, das Pflanzenreich durch einen Chinchona (Chinarindenbaum) dar,
In Peru wurde zuerst die heilende Kraft der Chinarinde ent-deckt. Ein fieberkranker
Indianer stillte seinen Durst mit dem Wasser eines Teiches, an dessen Ufern
Chinarindenbäume wuchsen. - Er fühlte sich sofort besser, schrieb dies den Wurzeln der
Bäume zu und gab auch andern Fieberkranken Wasser zu trinken, in das er Chinchonawurzeln
legte. Alle wurden gesund. Hierauf ging er nach Lima und teilte seine Entdeckung einem
Jesuitenpater mit. Das mochte um das Jahr 1631 sein. Damals gerade erkrankte die junge
Gattin des Vizekönigs von Peru, Gräfin Leonore Chinchon, an einem heftigen Fieber. Die
Ärzte hatten sie aufgegeben, und wehklagend wiederholte ihr Gatte immer wieder: „O
Leonore, so jung, so schön,muss ich Dich verlieren!“ -„Sie soll nicht sterben,“ rief eine
Stimme.Es war ein Priester, ein Sohn Ignaz von Loyola, der also sprach.„Führt mich zu der
Kranken!“ Der Priester wandte das wunder-bare Heilmittel des Indianers an, und einen Monat
später gab der Vizekönig ein grosses Fest zur Feier der Genesung seiner Gattin.Einige
Jahre lang bewahrten die Jesuiten das Geheimnis dieses Mittels und heilten alle Fälle von
Wechselfieber. Man nannte es
Von den Vizekönigen weiss die alte Chronik Limas gar manches und nicht immer Rühmliches ‚zu berichten. Nicht weniger als 44 Vizekönige haben vom Jahre 15441821 als allmächtige Herrscher in Lima gewaltet und zeitweise die Stadt zum Sitz des üppigsten,
Kathedrale in Lima.verworfensten aller vizeköniglichen Höfe gemacht, Im Jahre 1681 ritt der Vizekönig La Palata auf einem Pferde, dessen Mähnenhaar mit Perlen durchflochten, dessen Hufe mit Gold beschlagen waren.Von Silberbarren -war das Pflaster, das diese Hufe berührten. Wenn La Palata ausritt, pflegten jedesmal alle Kanonen zu erdröhnen und alle Glocken zu läuten. Diese Sitte behielten seine Nachfolger bei.Mancher freilich schenkte sich die Schüsse und liess sich dafür das Schussgeld einhändigen, aber das Geläute kostete nichts.
Die Glocken sollten einem dieser mächtigen Herren zum Fall-Strick gereichen. Er war ein leichter Vogel und gerne strich er
Aus Central- und Südamerica.nachts verstohlenen Liebesabenteuern nach. Mit der Heimlichkeit nahm es aber bald ein Ende. Unter den Höflingen weilte ein arger Schalk. Der lauerte seinem Herrn auf, und wenn dieser in nächt-licher Stille zu einem Liebchen schlich und im ersten Morgengrauen in seinen Palast zurückkehrte, läuteten alle Glocken, und die Bürger der muy noble y leal Ciudad wussten genau um die Gänge ihres hohen Gebieters Bescheid.
Rechts von mir stand die Kathedrale. Die letzten Töne der grossen Glocke zitterten noch leise aus den offenen Schallbogen des Glocken-stuhles, als ich die zur Kirche führende Freitreppe erstieg. Von der ursprünglich dem Dom in Sevilla genau nachgebildeten Kathedrale steht nur noch der 18 Meter hohe Unterbau. Alles übrige wurde 1746 durch ein grosses Erdbeben zerstört. Die ganze Ornamentik beschränkt sich auf die reich Skulptierte sogenannte Gnadenpforte,Der übrige Teil der Fassade ist nackt, kalt, langweilig. Ebenso verhält es sich mit der auf die Calle Manta gehenden Langseite. Die nördliche existiert überhaupt nicht, da Häuser angebaut sind. Diese Verwertung der Kirchenmauern fiel mir auch in andern Städten Süd-americas unliebsam auf. Da haben die muhamedanischen, indischen Baumeister und die heidnischen Japaner einen viel idealeren, künst-lerischen Sinn gezeigt. Sie umgaben ihre herrlichen Grabkirchen von allen Seiten mit einem wunderschönen Garten, oder stellten ihre Tempel in einen grossen, weiten, hehren Hain.
Das Innere der Kathedrale entspricht mehr dem peruanischen leichten, frohen Sinn, als der ernsten, mystisch religiösen Auffassung der alten Spanier. Da gibt es keine schmalen Fensterritzen, durch die nur selten ein Sonnenstrahl sich stiehlt, keine hohen, schweren Eisengitter, keine finsteren Winkel, wo die Inquisition lauert. Nein,diese Kirche ist luftig, hoch und hell. Die in alt-rosa, alt-blau, und gold gehaltene Decke harmoniert prächtig mit den weiss-goldenen Altären und Kanzeln. Alt nur sind die herrlich aus Cedernholz skulp-tierten Chorstühle, eine Arbeit aus dem 16. Jahrhundert. Über dem Chor wölbt sich eine Decke mit allerliebsten, herabschwebenden Engelskindern. Schalkhafte Liebesgötter hat der Maler aus ihnen gemacht, und unwillkürlich suchte ich.unter den Rosengewinden den versteckten Pfeil, womit sie auf die ehrbaren Glatzen der ernsten.geistlichen Herren zielen.
Eine finstere Ecke besitzt übrigens auch die heitere Kathedrale von Lima, ein
unheimliches Etwas unter einem schwarzen Tuch, das ich suchte, Es liegt eingeschlossen in
einer Seitenkapelle, und eis-
113 kalt überlief es mich, als der Sakristan das Tuch für mich lüftete.in gläsernem Sarge erblickte ich in brutaler Nacktheit das Skelett eines Riesen. Neben ihm lag ein: Gefäss voll Eingeweide und ein altes Dokument. Das bezeugte: „Der Tote ist Francisco Pizarro, der Gründer Limas und der grausame Eroberer Perus“. Wie viel un-schuldig verflossenes Blut mag an diesen Knochenhänden kleben!Doch auch ihn erreichte sein Geschick, er fiel unter den Schwert-streichen eines Mörders den 26. Juni 1541. Pizarro ist um 1478 zu Trujillo in Estremadura geboren. Seine glänzende Laufbahn begann ar als Schweinehirt,
Lange sass ich auf einer Bank der schönen, weiten, mit herrlichen südlichen Pflanzen geschmückten Plaza. Vor mir streckte sich das niedere, lange, dunkle Regierungsgebäude aus, und dahinter ragte der völlig kahle San Christobalberg empor. Zur Linken und im Rücken hatte ich stattliche Arkaden, hier Portales genannt, mit Kaufläden, wie bei uns, nur sind diese Lauben viel höher und Iluftiger. Auf dem Platze steht noch ein alter Brunnen von 1578, eine schöne Arbeit aus Bronze.
Hie und da setzte sich jemand zu mir und fragte mich aus,Gern liess ich mir die Neugier gefallen, erkundigte mich meinerseits und betrachtete das Publikum. Ich fand dabei reichliche Gelegen-heit zu ethnographischen Studien. Nirgends so wie in Lima kann man die Stänme Sem, Ham und Japhet vertreten sehen. Weiss, gelb,braun und schwarz und dazwischen die feine Stufenleiter mehr oder weniger glücklicher Kreuzungen. Vom stolzen spanischen Sieger und der unterjochten Indianerin stammt der Kreole, vom Weissen und der Negerin der Mulatte, vom Neger und der Indianerin der Chino der Zambo, vom Indianer und der Weissen der Chola, vom Zambo ind der Chola der Chino-Cholo. Dazu kommen noch der Mestize und der Dudoso, der Zweifelhafte, sich schwer vom rein Weissen unterscheidende. Zu dieser bunten Gesellschaft trat im Jahr 1850 der Chinese. Von diesem Zeitpunkt bis zum Jahr 1874 sollen 97,629 Chinesen von Macao aus nach Peru importiert worden sein. Selbst-verständlich suchten sich die Söhne aus dem Reiche der Mitte,Frauen in dieser bunten Rassenversammlung, und zwar wählten sie mit Vorliebe eine Chino-Cholo. Dass diese Kreuzung hübsche Kinder hervorbringt, kann ich nicht behaupten. ;
So sehr die alten Spanier die Spuren einer dunkeln Verwandt-schaft scheuten das Negerblut war ja Sklavenblut , so wenig Fürchteten sie eine Vermischung mit Indianerblut, Es konnte ja mög-
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Aus Central- und Südamerica.licherweise königliches Incablut sein! Und dieser königliche Bluts-tropfen spielt gewiss eine Rolle bei der grossen Schönheit der Frauen Limas. Enthusiastisch sprechen alle männlichen Reisenden von den dunkeln, schwermütigen Augen, dem tiefschwarzen Haar,der anmutsvoll graziösen Haltung der Limenerinnen. Auch ich konnte mich oft nicht sattsehen, wenn solch ein reizendes Geschöpf in meiner Nähe im Tram sass. Ein junger, americanischer Freund, der schon längere Zeit sich in der Limenergesellschaft bewegt, behauptete freilich, die Augen versprächen mehr, als sie hielten, viel Geist wäre nicht da, und hätte man der Dame einige schöne Komplimente ge-macht und über Kleider und Parisermoden gesprochen, so wäre man am Ende. „Ich verliebe mich zwar“, fuhr er fort, „jede Woche sterb-lich in eine andere, aber der Gedanke, ich könnte mich wirklich hin-reissen lassen, solch eine Puppe zu heiraten, schwebt mir wie ein Schreckbild vor.“ Diese „Puppen“ bewegen sich übrigens viel selb-ständiger, als in Mexico; man sieht sogar abends auf der Plaza junge Mädchen, freilich immer zwei oder drei miteinander, ohne Ehrendame spazieren gehen.
Einstweilen verbietet ihnen eine kirchliche Verordnung, ihren reizenden Kopfputz, die schwarze Spitzen-Mantilla, oder die Manta mit dem Pariserhut zu vertauschen, wozu sie nicht übel Lust hätten.Mit dem Hut auf dem Kopf darf in Peru keine Frau die Kirche betreten. Tut sie es, so setzt sie sich den grössten Unannehmlich-keiten aus. Durch meine Bekannten auf diese Sitte aufmerksam ge-macht, trug ich stets den Hut in der Hand. Als ich dies einmal in der „Compafiiakirche“ in Arequipa vergass, stürzten zwei Frauen mitten aus ihrer Andacht auf mich los und bezeigten nicht wenig Lust, mich an die Luft zu setzen.
Den folgenden Morgen hiess es Entschlüsse fassen. Noch lag mein Gepäck unten in Callao
auf dem Ammon, und ich wollte mein farbenduftendes Zimmer im Hotel Maury so schnell wie
möglich vertauschen. Unter den verschiedenen Empfehlungen, die ich an Familien in Lima bei
mir hatte, war eine peruanische. Dorthin ging ich zunächst und fand an Sefiora A. eine
mütterlich vertrauenerweckende Dame. „Wissen Sie mir hier eine Pension?“ „Aber Sie können
ja bei uns wohnen, ich habe ein Zimmer frei“. Alle meine Einwendungen liess sie nicht
gelten. „Was wird Sefior A. sagen, wenn Sie einen stockfremden Gast ins Haus nehmen“?
„Meinem Mann gefällt, was mir gefällt“. Und wirklich, eine einträchtigere Familie, als die
A., habe ich niemals getroffen. Vier Generationen wohnen in demselben Haus-
Meine freundlichen Gastgeber bilden eine rühmliche Ausnahme.Natürlich sprechen auch sie gerne von vergangenen glanzvollen Zeiten, von ihren Gütern und all’ den ihnen von den. bösen Chilenen geraubten Gold- und Silbersachen, aber als der grosse Krach kam,zog Sefior de A. aus seinem schönen Musiktalent Nutzen und gab Klavierstunden. Auch jetzt noch läuft das alternde Männchen mit fröhlich zufriedenem Gesichte anders habe ich ihn nie gesehen den ganzen Tag seinen Stunden nach. Unterdessen schneidert Dofia Rosita von früh bis spät Kleider für sich, für ihre Mutter,Schwester und Tochter. Letztere, eine schmachtäugige, sehr schöne Peruanerin und ihr etwa 20 jähriger Bruder leben wie die Lilien auf dem Felde. Die Mutter seufzt freilich manchmal über ihren hübschen, offenbar ganz begabten Alejandro, wenn sie ihm spät abends das Essen aufwärmt, oder mittags 12 Uhr die Cazuela an das Bett trägt. „Was wollen Sie, alle seine Freunde tun nichts,und treiben es ebenso“, meinte sie entschuldigend.
Auch die nach unseren Verhältnissen sehr zahlreiche Dienerschaft lässt es sich wohl sein. Wenn ich früh in das Badezimmer ging,fand ich regelmässig die ganze Gesellschaft in Decken gehüllt und in malerischer Unordnung schnarchend am Boden eines gegen den Hof geöffneten Raumes liegen. Zofe, Amme und zehnjähriges adop-tiertes Waisenkind sind reinblütige Indianerinnen, die Köchin eine Negerin, die Waschfrau eine Mulattin.
Die gute, kleine Sefiora de A. meinte am ersten Tag: „Unser peruanisches Essen wird Ihnen
natürlich nicht schmecken, aber sprechen Sie mit der Köchin, sie ist geschickt und wird
Ihnen gerne nach Ihrer Angabe französische Speisen bereiten“. Natürlich unterliess ich
dies:Erstens hätte ich mir als Gast niemals erlaubt, Extragerichte zu be-anspruchen,
zweitens besitze ich leider nicht die blasseste Ahnung
Aus Central- und Südamerica.von der edien Kochkunst, hätte somit eine traurige Lehrerinnenrolle gespielt, drittens gestattet mir ein bombenfester Magen unbeanstandet auch die exotischsten Gerichte zu bewältigen, viertens freute ich mich darauf, peruanische Hausmannskost zu erproben.
Die öftere Gelegenheit, in und mit einheimischen Familien zu leben, hat diese südamericanische Reise für mich besonders genuss-und lehrreich gestaltet. Als ich seinerzeit mit Stangen in den Orient und später mit Cook nach Bosnien reiste, kam ich sozusagen nie-mals mit Landeskindern in Berührung; ich hatte meinen Führer,meine Reisegefährten, die von Land und Leuten gerade so viel oder noch weniger als ich wussten, und damit war es fertig. Wenig besser wurde dies auf der Reise um die Welt. Ich kam zwar, namentlich die ersten Monate, häufig in Familien, sie waren aber zumeist selber Ausländer. Als ich später meinen Reisegefährten gefunden, ver-kehrten wir ausschliesslich mit Globetrottern englischer und america-nischer Nationalität, wohnten stets im Gasthofe und konnten uns aus Unkenntnis der chinesischen, malayischen, hindostanischen Sprache mit dem Volk nicht unterhalten. Diesmal war es anders. Ich reiste mutterseelenallein durch von Vergnügungsreisenden wenig besuchte Länder. Die Gasthöfe sind dort durchschnittlich schlecht, in ein-zelnen Gegenden gar nicht vorhanden; mehr als je war ich auf persönliche Empfehlungen angewiesen. Sie öffneten mir zunächst die Türen, später, wie ich hoffe, auch die Herzen. Ich lernte viele Menschen kennen, trat mit manchen in dauernde Verbindung.
Gerade in der Familie de A. war viel Verkehr, Jede Woche kamen die Freunde einen Abend in das Haus, man unterhielt sich,musizierte, trank, wenn es hoch herging, ein Glas Bier oder ein Glas Wasser, und trennte ‚sich seelenvergnügt lange nach Mitternacht.
Ich kehre zu den kulinarischen Genüssen der Casa de A. zurück.Früh bekam ich eine Tasse
Tee und ein Brötchen ins Zimmer. Das Menu des zweiten Frühstücks war unveränderlich
dasselbe: Cazuela:eine Suppe, in der Yuccawurzeln, gesottenes Rindfleisch, Mais,
Erbsen,manchmal auch Krebse schwammen. Die Cazuela bildet eine voll-ständige Mahlzeit an
und für sich, besonders da man ja Abwechslung hinein bringen kann. Man würzt sie
ordentlich mit Aji (spanischem Pfeffer). Die schneeweisse, etwas faserige Yuccawurzel
(sancochado)ersetzt die Kartoffel und schmeckte mir sehr gut. Auf die Cazuela folgten
regelmässig, ich fürchte, mir zu Ehren, kleine Beefsteaks und Reis, dann kamen Kaffee und
Früchte auf den Tisch. Unter letzteren waren Palta und Grenadilla, Bekannte aus Mexico.
Erst nach und
Ich fühlte mich bald in Haus und Stadt heimisch. Lima besitzt für mich den Zauber einer Vergangenheit und dabei einen gewissen naiven, farbenfrohen Rokokogeschmack spanischer Kleinstädte. Alte Häuser gibt es nur wenige, zu viele Erdbeben haben schon hier gewütet. In einem schönen, alten, ehemaligen Palast, Torre Tagle,wird jetzt eine Gemäldesammlung gezeigt, in der, soviel ich mich darauf verstehe, manches Bild wider alles Recht den Namen eines berühmten Malers trägt.
Kirchen und Klöster will ich hier nicht beschreiben. Eines haben sie miteinander gemein: Die Darstellung Christi mit dem langen,wohl von geistlicher Prüderie ersonnenen, sammtenen Weiberrock,den langen, dunkeln Haaren und den sich um seine Dornenkrone schlingenden Rosen. Die Muttergottes wird konventionell unschön dargestellt, das grämlich alt blickende Christuskind hält meist die Weltkugel in der Hand.
Die heilige Rosa, Schutzpatronin der Stadt Lima, besitzt in jeder Kirche ihren eigenen, rosengeschmückten Altar. Sie ist die einzige heiliggesprochene Frau in America und heisst deshalb „la Padrona de todas las Americas“, Rosen werden mit besonderer Liebe in Lima gepflegt und blühen das ganze Jahr hindurch. „Rosa“ ist der Lieblings-name für kleine Mädchen. Bei meinen Gastfreunden heisst die alte Grossmutter Rosa, die Tochter Rosita und die Enkelin Rosa Mercedes.Die heilige Rosa wurde im Jahr 1586 in Lima geboren und lebte 30 Jahre.
Aus Central- und Südamerica.
Lima besitzt schöne öffentliche Anlagen. Sehr entzückte mich die „Exposicion“ mit herrlichen, alten Baumgruppen, weiten Gärten,anmutigen. Pavillons, schönen, blühenden Rosenhecken und vielen Tieren. Leider steht kein einziger Name an den Käfigen. Bitter ent-täuschte mich dagegen der‘ berühmte Paseo de los Descalzos (Bar-füsserpromenade). Ehemals standen dort nicht weniger als fünf Reihen herrlicher Orangenbäume, und in ihrem Schatten fuhren die schönen Limenerinnen in vergoldeten Kaleschen spazieren. Zogen sie eine Gondelfahrt vor, so fanden sie dicht dabei den Paseo de Aguas.ein grosses Wasserbecken, das ein Vizekönig für eine schöne. Schau-spielerin graben liess. Jetzt sind die schönen Orangenbäume ver-schwunden, ein schlecht gehaltener, langer Weg läuft zwischen einer Doppelallee elender, staubiger Bäume, das grosse Teichbecken ist aufgeworfen worden und ein Stallgebäude und Wagenschuppen für die Pferdebahn steht darauf. Sic transit gloria mundi!
Ich muss wohl recht niedergeschlagen ausgesehen haben, denn eine Lechera fragte mich von ihrem hohen Sitze herab, was mir fehle Die Lechera ist eine typische Figur in Limas Strassenleben. Diese hier war eine alte, braune Chola mit runzligem Gesicht und grossem Strohhut. Sie sass rittlings auf einem ausgehungerten Schimmel und hielt ihren Milchvorrat in Blechflaschen an beiden Seiten des Sattels Während sie mit mir sprach, reichte sie mit langer Schöpfkelle einem Käufer die Milch herab, ohne ihren erhabenen Sitz zu verlassen. Als sie mich nach woher und wohin ausgefragt, hieb sie mit der Schöpf-keile auf den müden Gaul ein. Erschrocken erhob dieser einen grämlichen Galopp auf‘ dem holprigen Pflaster, wobei die Blech-flaschen klirrend auf und nieder hüpften. Lange klang mir noch der gellende Ruf „lechera, lechera“ in den Ohren nach.
Lima besitzt natürlich, wie jede südamericanische Stadt, ihre Denkmäler. Da steht die
hohe Säule des „Dos de Mayo.“ Hoch oben leuchtet die vergoldete Freiheit mit Schwert und
Palmzweig. Am Sockel der Säule lehnen vier schöne Frauengestalten, als Sinnbilder der vier
verbündeten. südamericanischen Republiken. Leider liegen sich diese „Verbündeten“ stets in
den Haaren, und Frau de A. meinte.eigentlich sollte man die Statue der „Chile“ vom Sockel
werfen.Wenn ich nicht irre, ist auch die Gestalt des sterbenden Kriegs-ministers Galvez an
der Säule angebracht. Am 2. Mai 1866 war es,als die Spanier während vier Stunden Callao
beschossen, ohne viel Schaden anzurichten. Die Peruaner schossen etwas besser, schlugen
die spanische Flotte in die Flucht, verloren aber Galvez.
119 Das andere Denkmal ist Simon Bolivar, dem „Befreier“ geweiht.Auf bäumendem Rosse schwenkt Bolivar grüssend seinen Hut. Das lebensvolle, schöne Denkmal ist in Rom von dem Bildhauer Adam Tadolini modeliert und in München gegossen worden. Der Reiter steht mitten in einem schönen, grünen, friedlichen Garten. Wer würde ihm ansehen, dass von hier aus die grausamsten, ungerechtesten Urteile gesprochen .wurden, die finsterer Religionsfanatismus ersinnen kann? Wir sind hier auf dem alten Platze der Inquisition.
Parkanlagen.
Schon im Jahre 1569, es waren gerade 34 Jahre seit der Gründung Limas, wurde die Inquisition in Peru eingeführt. Ein frommer Padre hat sich darüber ungefähr folgendermassen geäussert:„Die grösste, wichtigste Wohltat, die unsere katholischen Könige diesem neuen Lande haben zuteil werden lassen, war die frühzeitige Errichtung dieses heiligen Tribunals. Durch seine ‚ausgezeichnete Fürsorge, seinen heiligen Eifer geniesst dieses Königreich die heil-same Nahrung der gesunden und reinen Lehre, mit der unsere heilige Mutter, die Kirche, ihre treuen katholischen Kinder ernährt und zwar
Aus Central- und Südamerica.ganz ohne Beimischung des Unkrautes der verschiedenen Irrtümer,die in unseren Zeiten den grössten Teil Europas geschädigt und angesteckt haben.“
Es wurden drei verschiedene Arten Folter verwendet: 1. Der Angeklagte wurde, mit auf dem Rücken gefesselten Händen, vermittelst eines über eine Rolle laufenden Seiles an die Decke des Zimmers aufgehängt. Schwere Gewichte an den Füssen zogen ihn dabei zu Boden. 2. Der Angeklagte wurde mit verbundenen Augen, gefesselten Händen und Füssen über eine Bank gespannt und ausserdem an Oberarm, Schenkeln und Waden Schnürapparate angebracht. Ein Trichter wurde ihm in den Mund gesteckt und langsam Wasser hineingegossen, so dass der Unglückliche jeden Augenblick zu er-sticken meinte, 3. Die Füsse des Angeklagten wurden in einen Bock geschlossen, die Fussohlen einem Kohlenfeuer genähert und langsam gebraten. Wenn die Qualen ihren Höhepunkt erreicht hatten, so wurde der Gefolterte gefragt, ob er gestehen wolle. Meistens umfing schon nach einer halben Stunde eine wohltätige Ohnmacht den Unglücklichen,aber es kam auch vor, dass die Marter fünf Viertelstunden lang dauerte,
Bei schwereren Verbrechen fanden die Autos de Fe auf dem Hauptplatz unter schauerlichem Pomp statt. Der Vizekönig, der Erz-bischof, die hohe Geistlichkeit, die weltlichen Behörden und eine ungeheure Volksmenge nahmen Teil an dem schrecklichen Schauspiel.Der Verurteilte erschien in einem gelben Oberkleid, San Benito ge-nannt. Das Bild des Trägers, von Flammen, Teufeln und Drachen umgeben, war darauf gemalt. Eine hohe, spitze, mit Teufelsfratzen und Flammen bemalte, papierene Mütze bildete den Kopfputz. Allein der Tod des oft unschuldig Verbrannten genügte seinen grausamen Peinigern nicht, seine ganze Familie wurde mitbestraft. Zunächst hing man, zur ewigen Schande für seine Angehörigen, das San Benito in der Parocchialkirche des Verbrannten auf. Die ganze Sippe wurde aller bürgerlichen Rechte verlustig erklärt. Söhne und Enkel durften weder geistliche noch weltliche Würden und Ämter bekleiden,und, so hiess es weiter, „wir verwehren ihnen an sich und ihrem Leibe Gold, Silber, Perlen, köstliche Steine, Korallen, Seide, Samt und feines Tuch zu tragen. Sie dürfen nicht auf Pferden reiten, keine Waffen führen und keine der Dinge gebrauchen, die durch das gemeine Recht dieses Königreiches und die Verfügungen des heiligen Amtes der-gleichen Unehrlichen untersagt sind.“
Das erste Auto de F& in Lima fand den 15. November 1573, das letzte den 7. April 1776
statt.
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In dieses Dunkel geistlicher Unwissenheit und Unduldsamkeit werfen die um jene Zeit in Lima entstandenen wohltätigen Anstalten ein helles Licht. Es war, als ob einzelne fromme Männer die Grau-samkeiten ihrer Landsleute sühnen wollten. Noch besteht das durch Luiz de Ojeda, oder wie er sich nannte, Juan el Pecador (Johannes der Sünder), gegen Ende des 16. Jahrhunderts gestiftete Findelhaus.Die Kirche de los Desamparados wurde im Jahre 1630 durch Barto-lome Calafre erbaut, nachdem er eine Brüderschaft gegründet. Diese machte es sich zur Aufgabe, die Desamparados, auf deutsch die „Un-beschützten“, zu bestatten. Unter diese wurden namentlich die auf dem Felde gefundenen Ermordeten und die Hingerichteten gerechnet.
Mehr als alle nahm sich der erste Erzbischof von Lima die Not der armen Indianer zu Herzen. Für sie stiftete er das Hospital Santa Afia im Jahre 1550 und opferte dafür sein ganzes Einkommen, seine sonstige Habe, ja sogar die wenigen Kostbarkeiten, die er besass.Seine Zeit schenkte er den armen Kranken, und als er sein Ende nahe fühlte, verlangte er, inmitten seiner lieben Pfleglinge zu sterben und im Spital begraben zu sein. Später wurden die Gebeine Fray Geronimo de Loaysa, so lautete sein Name, in die Kathedrale überführt.
In dieses Spital führte mich die französische Frau meines Land-mannes, von dem ich später reden werde. Mit offenen Armen empfingen uns die Pflegerinnen, französische Schwestern. Freundliche, liebe Gesichter bergen sich hinter den grossen, weissen Flügelhauben, und mit Freuden denke ich an den feinen, intelligenten Ausdruck der soeur Madelaine zurück. Sie ist die Apothekerin von Santa Afia und bereitet nicht nur die Medizinen für die Kranken dieses Spitales,sondern hat auch noch die Ablage der Medikamente und Verband-stoffe für sämtliche derartigen Anstalten Limas unter sich. Apotheke und dazu gehörende Küche sehen wie Schmuckkästchen aus. Neben soeur Madelaine amtet noch ein Provisor und ein Lehrling, beide natürlich weiblichen Geschlechtes,
Die Mere Superieure selber führte uns durch die Krankensäle.Da ist einer für Tuberculöse,
einer für Wöchnerinnen, einer für kleine Kinder, salle 4 musique genannt, u. s. w. Die
sehr grossen Räume sind in Kreuzesform gebaut und besitzen alle ihren Hausaltar. Kranke
aller Farben und Konfessionen werden in Santa Afia aufgenommen,Bekehrungsversuche an
Andersgläubigen sind untersagt. Ob diese Verordnung immer streng befolgt wird, möchte ich
nach dem naiven Wort einer der jungen Schwestern etwas bezweifeln. Sie sagte mir:„On ne
fait pas de conversions, c’est defendu, mais on aime pour-
Aus Central- und Südamerica.tant bien mettre les protestants sur la bonne voie et les faire entrer au ciel.“
Glänzend ausgestattet und nach allen Erfordernissen moderner Hygiene ist das grosse Spital „Dos de Mayo“. Im Jahr 1868 gegründet,wurde es 1875 eröffnet, umfasst mehr Raum als ein ganzes Strassen-geviert und kostete 2,125,000 Franken. Auch hier sind die franzö-sischen Schwestern von Saint Vincent de Paul die Pflegerinnen.
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Auf der Oroyabahn.
Wenn die Spanier etwas sehr Kostbares bezeichnen wollen, so sagen sie noch heute: „Vale un Perou“ und auch bei uns ist das „gold-reiche Peru“ sprichwörtlich geworden. Das war das Land wirklich zur Zeit.der Incas,als das galt es noch bis zum Jahr 1875, wo sich die Re-gierung für bankerott er-klärte. Dennoch begann es jenen unsinnigen Krieg mit Chile, der mit der vollstän-digen Niederlage Perus, der einst mächtigsten südameri-canischen Republik, endigte.
Im Friedensvertrag von An-con, 1883, musste es Chile seine silber- und salpeterreichsten Pro-vinzen teilweise vollständig, teilweise auf zehn Jahre abtreten.
Die Guanolager waren erschöpft; Peru mittellos und verschuldet,Dreimal hatte England, in den Jahren 1869, 1870 und 1872, Peru Geldanleihen gemacht. Schliesslich belief sich die Schuld auf 33 Millionen Pfund Sterling. Ist es daher erstaunlich, wenn, freilich nach vielen Kämpfen, die unglückliche Republik gezwungen wurde,im Jahre 1886 mit England einen Vertrag einzugehen, der die Eng-länder einfach zu den politischen Herren des verarmten Landes machte?
Die „Peruvian Corporation“ in London besitzt und betreibt sämt-liche peruanische Eisenbahnen, die Dampfschiffahrt auf dem Titicacasee
Meine Draisine.
Aus Central- und Südamerica.und dem Desaguadero (dieser Fluss führt das Wasser des Titicacasees nach dem Aullagassee in Bolivien); sie besitzt ferner den grössten Teil der Minen und nennt auch noch eine bedeutende Strecke Grund und Boden ihr eigen.
Der allmächtige Direktor der allmächtigen Peruvian Corporation ist, oder war es wenigstens bis vor einigen Monaten, mein Lands-mann Herr A. Sch. Als Ingenieur bei der transandischen Bahn tätig,berief ihn, wenn ich nicht irre, im Jahre 1896 die Peruvian Corporation zu dem glänzend honorierten Posten eines Direktors. Jedenfalls müssen Herrn Sch’s. Verdienste und Fähigkeiten gross gewesen sein, sonst hätte die Corporation natürlich einen Engländer vorgezogen. Wie er mir sagte, sprach Herr Sch. damals nicht einmal englisch.
Ich hatte eine officielle und eine private Empfehlung an Herrn Sch. und wurde von ihm: und seiner liebenswürdigen Gemahlin, einer Französin, auf das freundlichste empfangen. Bald war ich täglicher Gast im Barranco. Wie gerne flüchtete ich mich aus der Hitze und dem Staub Limas in das hoch auf einem Felsen gelegene Haus mit seiner herrlichen Meeresaussicht, dem schönen, tropischen Garten, den vielen Haustieren und den interessanten Altertumssammlungen aus der Zeit der Incas.
„Morgen möchte ich die Oroyafahrt unternehmen“, sagte ich eines Abends, als ich im Barranco bei Tische sass. „Ja, warum denn gerade morgen?“ fragte Herr Sch. „Nun morgen ist der Tag, wo die Eisen-bahn hinauffährt, es gibt ja nur zwei Züge in der Woche!“ „Darauf brauchen Sie doch nicht Rücksicht zu nehmen. Ich gebe Ihnen einen Extrazug“. Ich muss Herrn Sch. sehr erstaunt angestarrt haben, er lachte: „Warum denn nicht? Lassen Sie mich nur machen, ich richte Ihnen das alles ein und will auch für angenehme Reisegesellschaft sorgen“.
Den 14. Januar 1905 stand ich mit Herrn Sch. vor dem niedlichen Salonwagen „La Favorita“, der mich 4774 Meter, eventuell 4812 Meter hoch hinauf tragen sollte. Die Favorita enthält Raum für 6 Reisende.Eine Glaswand trennt diese von der mit Petrol geheizten Maschine und ihrem Maschinisten. Auf den übrigen drei Seiten sind grosse Glaswände eingelassen und hinten noch eine Terrasse angehängt, So dass dieser Glaskasten einen idealen Aussichtswagen bildet.
„Ach, da kommt Kapitän C.!“ Nachdem er ihn vorgestellt, fuhr Herr Sch. fort: „Kapitän C.
wird Ihr Reisemarschall sein und Ihnen alles, was Sie wünschen, erklären, er weiss wohl
Bescheid. Ich habe ausserdem Herrn J., den spanischen, und Herrn S., den englischen
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Konsul eingeladen Ihnen auf der Fahrt Gesellschaft zu leisten. Einen Augenblick später erschien Herr J., der sehr behäbige, spanische Konsul mit einem grossen Koffer und gleich nach ihm Mr. S., der Engländer,mit noch mehr Gepäck. Gewiss steckten Frack und weisse Halsbinde darin. Nachdenklich blickte ich auf meine bescheidene Plaidrolle.Nur praktische, warme Sachen waren mit, an ein sonntägliches Ge-wand hatte ich nicht gedacht. Was Anspruchslosigkeit der Aus-rüstung anbetrifft, sah ich mich übrigens durch Kapitän C. weit übertroffen. Den Inhalt seines winzigen, in grünes Seidenpapier ge-hüllten Päckleins taxierte ich auf eine Nachtmütze und eine Zahn-bürste, Es sollte noch mehr enthalten, und zwar war ich es, die später den ausschliesslichen Gebrauch von dem grossen, geblümten, seidenen,altmodischen Taschentuch machte, das der grünen Hülle entstieg,
Herr Sch. hätte sich eben verabschiedet, die Favorita sich in Bewegung gesetzt, als ein keuchender Diener Herrn J. eine weisse Düte in den Wagen warf. Mit sichtlicher Befriedigung nahm sie der Spanier in Empfang. „Wie gut, dass meine Frau daran dachte.“ Es waren Knoblauchzwiebeln darin. Auch mir hatte Sefiora de A. beim Abschied einige dieser wohlriechenden Knollen in die Hand gedrückt.„Sobald Sie den „Soroche“ im Anzug fühlen, so reiben Sie sich Nase und Ohren damit ein, das Mittel ist probat.“ Das konnte ja hübsch werden, wenn wir uns alle in dem geschlossenen, engen Raum, mit Knoblauch anstrichen. Zum Glück sollte es ohne dies abgehen, und Herr J., der ordentlich auf den „Soroche“ gelauert hatte, fühlte sich nachher „stolz, wie ein Spanier“, ungeschlagen davon gekommen zu sein. Er schrieb dies natürlich dem Knoblauch in der Düte zu.„Soroche“ nennt man in Peru die von der dünnen Luft bewirkte Bergkrankheit, wie sie auch bei uns vorkommt. Sie kündet sich mit Atemnot, Herzklopfen, Kopfschmerzen, Erbrechen, hie und da auch geschwollenen Händen, Nasen- und Ohrenbluten an. So ziemlich jeder Hochlandsreisende wird das eine oder andere Mal davon gepackt.Auch ich sollte den „Soroche“ später noch kennen lernen.
Um uns möglichst dagegen zu wappnen, hatte Herr Sch. unsern Ausflug folgendermassen eingerichtet: Wir sollten unser erstes Nacht-quartier in Tamboraque, 3000 Meter hoch nehmen, den folgenden Tag nach Oroya und Maurocacha fahren und wiederum in Tambo-raque übernachten. So war der Übergang zwischen der Ebene und den höchsten Höhen etwas vermittelt.
Die Oroyabahn ist die höchste Eisenbahn auf Erden und eines der wunderbarsten,
grossartigsten Werke des 19. Jahrhunderts, Sie
Aus Central- und Südamerica.wurde im Auftrag der peruanischen Regierung im Jahr 1870 durch den americanischen Ingenieur Meiggs begonnen und bis Chicla ge-baut. Als im Jahr 1875 Perus Kredit ins Wanken kam und Meiggs zwei Jahre später starb, wurde der Bau unterbrochen und erst 1890 durch die Peruvian Corporation wieder aufgenommen. Diese vollen-dete sie bis Oroya und baute noch die Zweiglinie nach Maurocacha,Die Entfernung zwischen Callao und Oroya beträgt 207,75 Kilometer oder 130 englische Meilen. Meiggs veranschlagte die Kosten auf 32,000,000 Soles (ein Sol beträgt gegenwärtig Fr. 2.50, damals stand er aber höher.) Der Bau soll gegen 7000 Menschenleben erfordert haben,
Durch Staub und Hitze wand sich unsere Favorita nach Chosica #853 m) empor. Dort war schon die Luft bedeutend besser, und ich fühlte mich den Bergen nähergerückt. Chosica ist eine Sommerfrische der Limener und soll ein ausgezeichneter Aufenthaltsort für Schwind-süchtige sein. Interessant wurde die Fahrt erst von San Bartolome (1495 m) an. Dort kam die Favorita auf die erste Kehrweiche, welche die Linie innerhalb vier Kilometer um 183 Meter hebt. Die kleine Maschine schob uns dabei und nahm erst wieder nach einigen Kurven die Spitze ein.
Der erste Tunnel Esperanza lag hinter uns, wir tosten über die luftige, 172 Meter lange Verrugasbrücke. Im Jahr 1889 hat eine Lehm-lawine den Mittelpfeiler zerstört und 1891 ist eine neue Brücke feierlich dem Betrieb übergeben worden. Puente de las Verrugas,Warzenbrücke! Der hässliche Name stammt von einer Krankheit, an der die Bewohner jener Talsohle häufig leiden. Sie beginnt mit Fieber und Schmerzen in Kopf und Gliedern, worauf ein förmlicher Warzenausbruch folgt. Der Körper bedeckt sich mit erbsengrossen,hochroten und leicht blutenden Auswüchsen. Auch die Schleimhäute leiden darunter. Die Krankheit kann monatelang dauern und tötlich werden, wenn der davon Befallene sich nicht zu einer Luftveränderung versteht. Sobald er das Tal verlässt, welken und vertrocknen die Warzen. Man schreibt diese merkwürdige Erscheinung dem Trink-wasser zu.
Graubraune, kahle Berge schliessen uns ein, gerade so vegeta-tionslos, wie die engen Täler, durch die unser Weg in die Höhe führt. Nur da und dort ein kümmerlicher Kandelaberkaktus, oder eine weissliche, stachlige Fettpflanze! Auf dem braunen Gestein erscheint sie wie ein Schneefleck., ;
Früher, vor den Spaniern, sah es hier anders aus! Wo irgend möglich, d. h. wo immer das
bescheidenste Quellchen den Fels hinab
127 mieselte, hatte das fleissige Volk der Incas bis hoch an dem Berges-hang Terrassen gebaut und angepflanzt, genau nach dem System der Reisfelder in den Bergen Javas. Noch jetzt bestehen die verfallenden Terrassen, noch jetzt schlängeln sich, wie breite Bänder, die von den Incas nach allen Richtungen in den Bergen angelegten Saumpfade.Sie dienen dem heutigen Geschlecht und führen zum teil zu von den Incas schon bearbeiteten Minen. Bei Surco (2020 m) sind auch sinige Incasterrassen wieder zu Ehren gezogen und bepflanzt worden.Das ganze Surco bildet mit seinen grünen Wiesenflecken eine lieb-liche Oase in dem graubraunen Einerlei dieser Andenfahrt. Es scheint Futterlieferantin für die ganze Umgebung zu sein, und ich sah dort ganz besondere Apparate, um das zu versendende Heu zu pressen.
Die Nacht war schon angebrochen, als wir in Tamboraque,unserem Nachtquartier, verspätet eintrafen. Alles war zu unserem Empfang bereit. Der Gasthof ist erstaunlich gut für die Wüstenei, in der er liegt. Er gehört natürlich der Peruvian Corporation und soll sich allmählich in ein Sanatorium verwandeln. Nach dem Essen wanderten wir noch etwas im Mond- und Sternenschein herum.Meine Füsse waren eiskalt, eisig auch das hübsche Zimmer und das gute Bett. Ich zog alles an, was ich besass und träumte von Schnee und Eis. Wie ein schwerer Druck lag es auf meinem Kopf,ich schrieb dies dem Einfluss der Höhenluft zu.
Um 5 Uhr früh sollten wir, laut Programm, geweckt werden und punkt 6 Uhr abfahren. Kapitän C. klopfte zeitig an unsere Türen,zeitig waren wir fertig, d.h. Sefior J. und ich, der englische Konsul wollte in Tamboraque bleiben. Aber im Rat der Mozos war es anders beschlossen. Offenbar hatten sich die dienstbaren Geister in einen Stall verkrochen und uns einfach eingeschlossen. Kein Rufen,kein Schimpfen, kein Klopfen half. Der biedere Kapitän schrie sich braun vor Ärger und Anstrengung. Wir waren und blieben Gefangene.Um 6’/2 tauchte der erste Mozo auf. Schlaf- und Chichatrunken bereitete er den Kaffee, und erst lange nach 7 Uhr nahmen wir unsere Plätze in der Favorita ein.
Ein herrlicher Tag! Die liebe Sonne war schon lange aufge-standen; sie hatte die kahlen
Berge purpur-violett und safrangelb bemalt und warf nur ab und zu einen mitleidigen Strahl
auf unsere vor Kälte geröteten Nasen. Eine ganz ungewöhnlich lange besass der Mann, dessen
Schatten sich plötzlich auf der Aussichtsterrasse scharf abzeichnete. „Wer ist denn das?“
fragte ich Kapitän C. „Sie haben ja Herrn Sch. den Wunsch geäussert, mit der Draisine den
Aus Central- und Südamerica.
Berg hinab zu sausen. Das ist der Maschinist der Draisine,“ sagte der Kapitän lächelnd. Jetzt erinnerte ich mich, wie ich Herrn Sch.erzählt, dass ich auf dem Wege nach Darjeeling solch einer Draisine begegnet sei und damals den brennenden Wunsch empfunden hätte,mit darauf zu sitzen. „Das kann ich Ihnen auf der Oroja gerne verschaffen“, meinte Herr Sch., „aber nach zehn Minuten werden Sie den sehnlichsten Wunsch empfinden, von der Draisine weg zu kommen“,Also auch diese Laune erfüllte mir der gute Herr Sch.
Hinter San Matteo, einer sehr grossen Ortschaft, beginnt der schönste, interessanteste, wildeste Punkt der Oroyafahrt, das soge-nannte Infernillo, die kleine Hölle. Wie zum ausgelassensten Hexen-sabbat türmen und drängen sich die grauen Berge und Felsklötze dicht aneinander. Darunter sein ewiges Sturmlied singend, braust und saust der Rimacfluss. Seine zornigen, schneeweiss schäumenden Fluten haben im langen Laufe der Jahre tiefe Höhlungen und Löcher in die verwitterten Felswände gebohrt. Der trübe, braune Rimacfluss in Lima ist hier oben noch der reine, freie, von keinem Schmutz be-sudelte Bergstrom. Kaum glaublich! Und doch, wie manchem un-schuldigen, reinen Kind der Berge ergeht es nicht, wie dem Rimac,wenn es von seiner Höhenluft hinabsteigt in den Sumpf der Städte!
Die Favorita führt uns in kurzem Tunnel durch die wilden Wände des Infernillo auf eine kühne, über den Rimac gespannte Brücke.Ein kurzer Halt. Wir blicken in die Höhe; unheimliche Felswände schlagen über unserem Haupte zusammen; wir blicken durch das unglaublich leichte Gitterwerk der Brücke in die wilden Fluten des Rimac und erschauern. Schon wieder ein Tunnel! Brücke auf Brücke,Tunnel auf Tunnel folgen sich auf dieser Strecke. Die Favorita nimmt sie alle im Sturm, wie ein mutiger Renner die Hindernisse, und er-reicht bald in scharfer Steigung das 3330 Meter hoch gelegene Chicla,Im Jahre 1881 haben die bösen Chilenen ich fange an peruanisch zu fühlen den stattlichen Ort zerstört, noch stehen die grau-braunen Ruinen der vernichteten Stadt. Die Bürger Chiclas haben sich etwas weiter ab neue Heimstätten gebaut, genau wie die alten, aus grau-braunem Lehm, Die Farbe harmoniert prächtig mit den wilden, das Tal einschliessenden Bergwänden. Eine grau-braune Stimmung scheint ordentlich über dieser häuserreichen und doch weltabgeschiedenen Stadt zu schweben.
Auf dem Berge werfen schwarze Kreuze ihre düsteren Schatten.Der abergläubische Sinn des
Indianers liebt es, damit sein Haus und seine Berge als Abwehr gegen die Ränke des Teufels
zu schmücken.
129 Ich zählte hier vier in regelmässigem Viereck von einander abstehende Kreuze. Kapitän C. war folgende Sage über die vier Kreuze von Chicla bekannt: ;
„Der Teufel zeigte eine Vorliebe für diese Gegend, deshalb be-schloss die indianische Bevölkerung, möglichst viele Kreuze aufzu-stellen. Kann man doch mit diesem heiligen Zeichen den Bösen vertreiben! * Drei Kreuze waren schon gesetzt, eines nur fehlte, um das Viereck zu bilden. Da kam der Teufel wieder einmal. Neugierig,wie er ist, ging er durch die’ noch freie Seite in den Kreuzesbezirk,um sich die Arbeit anzusehen. Da setzten die Indianer hurtig das vierte Kreuz, der Teufel war gefangen, in diesen Kreis gebannt,denn er darf ja neben keinem Kreuz vorbeigehen. Da freuten sich die Indianer nicht wenig über ihren Fang.“
Weniger schlau zeigten sich die Indianer bei einer früheren Gelegenheit. Es ist freilich schon lange her, die Vizekönige thronten noch in Lima. Damals waren die Melonen dort noch nicht bekannt,weshalb ein vornehmer Herr, ich weiss nicht von wo aus, drei dieser Früchte dem Vizekönig zum Geschenk schickte. Zu Über-bringern hatte er zwei Indianer erkoren und ihnen zugleich einen Brief mitgegeben. Der Weg war heiss und lang, die Früchte dufteten lieblich verlockend, und die Indianer wurden immer durstiger. „Wollen wir nicht eine der Früchte essen?“ „O nein, das könnte uns schlecht bekommen, das Papier mit den krausen Zeichen würde uns jedenfalls verraten“, meinte der Ältere. Stillschweigend setzten die Beiden ihren Weg fort und wurden dabei immer durstiger, „Weisst Du was“,meinte der Erste, „wir wollen das Papier hinter diese Mauer legen und auf der andern Seite die Frucht essen, dann merkt das Papier nichts davon, durch die dicke Mauer kann es ja bestimmt nicht sehen.“ Gesagt, getan. Die Melone wurde hinter der Mauer gegessen.m dem Brief aber waren unglücklicherweise drei Früchte erwähnt,und die armen Schelme erhielten eine gehörige Tracht Prügel. „Siehst Du“, meinte der Eine betrübt auf dem Rückwege, „das Papier hat uns doch durch die Mauer beobachtet, wir wollen es das nächste Mal vergraben.“
Ganz nahe von Chicla und dem Schienenweg steht eine alte,verfallene Mine, in der die
Spanier vor mehreren Jahrhunderten in grossen, runden Vertiefungen das Silber
bearbeiteten. Im Gegensatz zu ihr wird auf der nächsten Eisenbahnstation in Casapalca
(4140 m)die Ausbeutung des Silbers nach neuestem System betrieben, Eine Drahtluftbahn, auf
der sich die abwärtskommenden, mit Steinen \
Aus Central- und Südamerica.gefüllten Wagen, in der Mitte mit den leeremporsteigenden, be-gegnen, verbindet den Silberberg mit dem Maschinenraum. Soviel ich verstanden, kommt das Silber unverarbeitet nach Europa. Casa-palca, einst im Privatbesitz, wird jetzt durch eine englische Gesell-schaft betrieben und gehört zu den bedeutendsten Silberminen Perus.
Wir blieben eine ganze Weile in Casapalca, so dass ich reichlich Zeit fand, mir den Markt anzusehen und die ersten Lamas ausser-halb eines Tiergartens zu bewundern. Ja, es waren die ersten, und ich freute mich damals kindlich über die schönäugigen, buntgefleckten,stillen Tiere. Auch während der nächsten Wochen, wo unzählige Lamas täglich meinen Weg kreuzten, blieben mir diese Tiere stets anziehend und interessant. Ich jubelte, wenn sie in hüpfenden,elastischen Sätzen herdenweise vor der herannahenden Lokomotive,oder dem plumpen Postwagen querfeld flohen, ich studierte eifrig die mannigfachen Färbungen ihres Felles und ihrer Zeichnung, ich sah sie gerne unbeweglich auf den öden Plätzen weltabgeschiedener Hochlandsdörfer ihrer Ladung harren.
Indianer und Lama sind die Produkte, die Kinder dieses rauhen,unwirtlichen Bodens. Still, genügsam, geduldig fühlen sie sich hier nur heimisch. Ein festes Band knüpft die Beiden aneinander. Das Lama wird zur Familie gerechnet, dafür trägt es seinem Herrn die Lasten, nährt ihn mit seinem Fleisch und kleidet ihn mit seinem Fell. Es gehört zu den Wiederkäuern, bedarf nur selten Wasser und nimmt mit der spärlichsten Weide vorlieb. Ein Lama kostet zwischen 25 Soles, Es lebt ungefähr 15 Jahre. Von dem vierten Jahr an werden die Männchen als Lasttiere verwendet, die Weibchen dagegen führen ein freies Leben auf der Weide und dienen nur zur Fort-pflanzung. Die auf beiden Seiten gleichmässig verteilte Last darf 50 Kilo niemals‘ übersteigen. Ist es mehr, so speit das Lama seinen Bedrücker an, das mussten schon die spanischen Eroberer erfahren:Überhaupt lässt sich sonderbarerweise kein Lama von einem Weissen lenken. Ein Indianer, sein Weib und sein Hund dagegen können mit grösster Leichtigkeit 5060 Lamas vor sich hertreiben. Ein mit der Schleuder geworfener Stein genügt, um das von der Herde ab-irrende Tier augenblicklich wieder in Reih’ und Glied zurückzuführen.
In langen Kurven zieht sich’die Bahn an kahlen, steilen Hängen empor. Überrascht
erblickten wir an manchen Stellen fünf-, sechs-,ja siebenmal die durchfahrene oder noch zu
befahrende Linie, sahen das eben verlassene Städtchen, je fach Höhe und Entfernung, von
drei bis vier Seiten.
131
Wir näherten uns dem Eis- und Schneegebiet und die dünne Luft legte mir einen schweren Druck auf Kopf und Brust. Eisig kalt war es hier oben, darüber konnte uns nicht einmal die mit dem ewigen Eis eines schönen Gletschers kokettierende Sonne hinweg-täuschen. Vor uns lag der 5337 Meter hohe Mount Meiggs. Das Kreuz auf seiner Spitze soll Meiggs eigenhändig hinauf getragen und aufgestellt haben.
Wenn der Berg nicht seinen Namen trüge, wüssten nur wenige mehr etwas von Meiggs, und doch war er von 186075 ein grosser Mann in Chile und Peru. Henry Meiggs ist ein echtes Produkt ameri-canischen Strebertums. In Catskill, Staat New York, 1811 geboren,stand er schon als 12jähriger Junge an der Spitze selbständiger, ein-träglicher Unternehmungen, Später ging er nach New York, dann nach San Francisco, wo er eine Menge Bauten unternahm und zuerst glücklich, dann unglücklich spekulierte. Mit Hinterlassung einer Million Dollar Schulden verschwand er aus San Francisco und tauchte im Jahre 1855 in Chile auf. Dort baute er von 186163 die schwierige Bahnstrecke Valparaiso-Santiago und lebte auf grossem Fuss. Auf so grossem, dass er eine um diese Zeit an ihn ergangene Einladung der peruanischen Regierung mit Freuden annahm und nur noch an Schulden reich in Lima eintraf, Die Peruaner waren infolge der fabelhaften Guanoeinnahmen samt und sonders von dem Eisenbahn-Baufieber erfasst worden. Meiggs wurde zunächst der Bau der Bahnlinie Mollendo-Arequipa nach Plänen Blume’s und Echegaray’s übertragen. Er bekam dafür 12 Millionen Soles oder 100,000 Soles für jede englische Meile ausbezahlt. Schon vor Ende des ersten Baujahres wurde ihm der Bau der Arequipa-Puno- und der Oroya-bahn angeboten. Meiggs sollte nur die Linie Mollendo-Arequipa fertig bringen und zwar fünf Monate vor der auf drei Jahre fest-gesetzten Bauzeit. Er besass das unbeschränkte Zutrauen der Republik und die Liebe und Verehrung seiner Arbeiter, denn er zeigte sich ausserordentlich freigebig am rechten Ort, freilich zumeist auf Kosten des Staates. Als im Jahr 1875 der Kredit Perus wankte, schwand auch Henry Meiggs Reichtum und so kam im Jahr 1877 der Tod als Erlöser zu dem verarmten und von seiner Familie verlassenen Mann.
Hier oben standen wir an der Wasserscheide des Rimac und erreichten in dem 1173 Meter langen Galeratunnel mit 4750 Meter Höhe den Gipfelpunkt der Oroyabahn. Eine Zweiglinie führt von hier nach dem 50 Minuten entfernten 4812 Meter hoch gelegenen Mauro-cocha. Herr Sch. hatte diesen Abstecher auf das Programm gesetzt,
Aus Central- und Südamerica.um mich die Höhe des Montblanc erreichen zu lassen. Da aber Güterwagen auf dem Geleise standen, wurde beschlossen, zunächst nach Oroya zu fahren.
Eine wunderbare Schneelandschaft umgab uns hier. Schwarze,klippenartige Felsen kontrastierten scharf mit dem reinen Schnee, dem Blau des Himmels. Ebenso scharf stachen von der rötlich-gelben Erde grosse, grau-blaue Fettpflanzenflecke und morastige Tümpel ab, in denen die Sonne prismatisch spielte,
Auf ziemlich ebener Linie gelangt man von hier über die Minen-stadt Yauli nach dem 3733 Meter hoch gelegenen Oroya, wo ein spätes, leidliches Frühstück auf uns wartete, Offenbar hatte der Wirt appetitlose Gäste erwartet, denn die meisten Reisenden kommen hier mit Soroche an. Oroya ist ein melancholisches, weltabgeschiedenes Nest. Zu der düsteren Berglandschaft passen die braunen, zerfallenden Lehmhütten, die wortkarg ernsten, spinnenden Indianer und India-nerinnen, die sanften, genügsamen Lama, Ich begriff die Art Zu-dringlichkeit, mit der ein hier angestellter, junger, americanischer In-genieur sich an unsere Sohlen heftete. Eine americanische Linie führt nämlich von Oroya über den Cerro de Pasco. Der Ingenieur zeigte uns den Anfang der Linie. Die wuchtige Eisenbahnbrücke und die im Schuppen stehende Riesenlokomotive bilden einen grossen Gegen-satz zu dem Zzierlichen, leichten Material der englischen Linie.Ebensosehr unterscheidet sich die unter dem neuen, eisernen Koloss über den Fluss führende Fussgängerbrücke, eine Arbeit der Ein-gebornen. Sie besteht aus sechs Drahtseilen, von denen vier den Boden der Brücke tragen und zwei die Brustwehr bilden. Der Boden der Brücke wird ausserdem mit Palmblättern und Streifen von Ochsen-haut durchflochten und ist sehr elastisch.
Als wir an dem grossen Tunnel wieder angelangt waren, hatte sich das Wetter vollständig verändert. Dichter Nebel umhüllte die Berge und grämliche Schneeflocken mahnten mich, dass mein Feind,der Winter, noch nicht aus der Welt verschwunden, sondern nur ich ihm bis dahin aus dem Wege gegangen war. Nichts destoweniger wendeten wir uns Maurococha zu, erreichten aber nicht völlig das Ziel, da der dichte Nebel und die späte Stunde mahnten, baldmög-lichst Tamboraque zuzufahren.
Da stand plötzlich, wie aus dem Boden gewachsen, der lang-nasige Maschinist und meine
Draisine vor mir. „Wollen Sie jetzt fahren?“ Die Draisine ist ein niedriges, offenes,
eisernes Wägelchen mit zwei hölzernen, vom Nebel nassglatten Bänken. Finladend sah
Der Spanier äusserte sich später dem englischen Konsul gegen-über, die Schweizerin hätte den Teufel im Leib. Ein Kompliment,das mir. auf dieser Reise noch einmal gemacht wurde. Sefior J. blieb in der Favorita, der gute, alte Kapitän C., eingedenk seiner Reise-
Indianerbrücke.marschallrolle, setzte sich mit mir auf die Draisine. Die ersten zehn Minuten kämpfte ich mit vollständiger Atemlosigkeit, es war dieselbe Empfindung, wie auf den russischen Rutschebahnen, nur in verstärktem Mass. Dann genoss ich die Fahrt; gegen die beissende Kälte war ich mit warmen Decken geschützt, um den Kopf hatte mir der gute Kapitän sein geblümtes, seidenes Taschentuch gebunden; das hielt Hut und Ohren im Gleichgewicht und Nebel und Schnee hatten wir oben gelassen. Die erste Stunde legten wir 54 Kilometer, die zweite 76 zurück. Wie der Blitz sausten wir um die Kurven und verschwanden in den finsteren, oft langen Tunnels, Die ersten Male pflegte ich erleichtert aufzuseufzen, wenn unser Schienenweg wie eine silberne Schlange in der Dunkelheit aufleuchtete, dann war der Ausgang nahe.
Aus Central- und Südamerica.
Ein grösserer Stein, und es wäre um uns geschehen gewesen.Doch der Weg ist tadellos gehalten, der Maschinist sicher und die Draisine kann gebremst werden. Eine Gefahr ist da, die ganze Linie ist einspurig, der Güterverkehr der Bergwerke wegen ein reger, und unsere Fahrt ist im Fahrplan nicht verzeichnet. Deshalb musste der Telegraph von einer Station zur andern spielen.
Wie viel schöner, freier war der Ausblick von dem offenen Wagen aus! Als die starren Wände des düsteren Infernillo uns um-gaben, hielt der Maschinist mitten auf der Brücke still. Die Abend-sonne vergoldete die Felsränder. „Schauen Sie sich recht um!“ Ich tat es, blickte zum Sonnengold empor, blickte in die tosende Tiefe und. prägte mir die ganze, wilde, spuckhafte Romantik fest ein.
Unsere zweite Nacht in Tamboraque sollte keine friedliche werden.
Seit mehreren Tagen schon lag ein americanisches Kriegsschiff auf Besuch im Hafen von Callao. Seit die Vereinigten Staaten Panama besitzen, scheinen sie von einer heissen Freundschaft für die süd-americanischen Republiken am Stillen Ocean ergriffen zu sein. Ob allfällige spätere Annexionsgelüste dabei mitspielen, wage ich nicht zu entscheiden? Peru empfing die Gäste auf das freundlichste, ver-anstaltete alle möglichen Festlichkeiten zu ihren Ehren und lud sie auch zu einer Fahrt nach der Oroya ein. Die Offiziere waren schon oben gewesen. Nun kam die Reihe an die zweihundertköpfige Mann-schaft. Unglücklicherweise sollte sie zugleich mit uns in Tamboraque übernachten. Meine Liebe und Verehrung für die Nordamericaner hat in jener Nacht einen empfindlichen Stoss erlitten. Zugegeben,solch seltene Urlaubstage am Lande müssten gehörig genossen werden, so überstieg denn doch das Benehmen der freien Bürger Americas alle Begriffe des Anstandes. Sie drangen in alle. Zimmer,plünderten Küche und Vorratskammer, spuckten unter und auf die Tische und gröhlten, johlten und brüllten die ganze Nacht. Da-zwischen erschallten die Jammertöne der Betrunkenen und Berg-kranken. Ihre schrecklichen Spuren liessen uns in aller Frühe un-gefrühstückt aufbrechen.
Diesmal kam auch der englische Konsul mit auf der Draisine,und als in Chosica der Weg
nicht mehr steil abwärts ging, be-schloss sogar der behäbige Spanier, der Einsamkeit in
der Favorita müde, sich dem gefährlichen Ding anzuvertrauen. Die letzte Strecke zeichnete
sich durch Hitze, Staub und üble Gerüche aus. Da und dort lag ein totes Pferd, ein toter
Esel, dicht am Geleise, und ganze Scharen kleiner, dunkler Geier stritten sich um das
Aas.
135
Wenn Limas Umgebung eine Wüste ist, so besitzen dafür die Limener eine Auswahl herrlicher Seebäder, wie: Callao, Barranco,Miraflores, Chorilla und Ancon. Überall hin führen Eisenbahnen oder ausgezeichnete elektrische Tram.
Ancon ist, den vielen Funden nach zu schliessen, eine gross-artige Begräbnisstädte der alten Incas gewesen. Zu Tausenden werden sie hier gefunden, jene schrecklichen, sitzenden Mumien. Der Kopf ruht auf den Knien, um welche die Arme geschlungen sind. Um das Ganze sind Hüllen verschiedener Art gelegt, je nach Stand und Reichtum des Toten. Die Leiche ist zumeist in feines Baumwolltuch gewickelt,über das Decken aus Vi-cufia- und Alpacawolle mit fein eingewobenen,verschiedenfarbigen Mus-tern kommen. Zierraten aus Gold und Silber schmücken den Toten.
Neben ihm und an seinem
Körper befinden sich die
Gegenstände, deren er sich im Leben zumeist bedient, die ihm lieb und wichtig gewesen sind.
Dass die Überlebenden ihren Lieben all’ diese
Gegenstände mitgaben,offenbar um ihnen in einer anderen Welt zu dienen, beweist, wie auch diese weltabgeschiedenen Indianer den Glauben an ein zukünf-tiges Leben gehegt haben. Die Fundstücke helfen uns aber auch manches erfahren über die Lebensweise eines Volkes, das keine Schriftsprache besessen hat,
In Herrn Sch.’s Sammlung betrachtete ich immer mit besonderem Interesse die Quippus, eine Art Gürtel, an den sich Schnüre ver-
Aus Central- und Südamerica,schiedener Länge reihen. Diese Schnüre werden durch Knoten unter-brochen, die mehr oder weniger von einander entfernt sind und, wie man glaubt, an Stelle von Buchstaben oder Zahlen stehen. Ich sah einfärbige, aber auch weiss und rote oder braun und weisse Quippus.
Nach Ancon fuhr ich eines Morgens mit Sefiora de A., leider nicht um archäologische Studien zu betreiben, sondern um mir den fashionabelsten Badestrand Perus zeigen zu lassen. Zunächst führt die Eisenbahn wohl eine halbe Stunde an zwei Haciendas entlang,wo Zuckerrohr kultiviert und Weinbau betrieben wird. Plötzlich ändert sich die Landschaft. Die bizarr geformten, sandigen Ausläufer der Kordilleren rücken und drängen dem Meer und der Bahnlinie zu. Es war mir, als könnte ich sie mit der Hand berühren. Die Bahnschienen laufen durch beweglichen Sand. Das Wüstenbild ist ein vollständiges. In dem Sande liegen da und dort bleichende Menschen- und Tierknochen, sonderbare Geräte, zuweilen auch ein sackähnlicher Gegenstand, in dem eine Mumie kauert. Der Wind treibt sie hierhin und dorthin, bald bläst er schützend einen Haufen Sand darüber und verhüllt sie barmherzig den Augen der Neu-gierigen, bald gibt er ohne Rücksicht ihr Versteck preis und über-lässt sie den beutegierigen Händen des Archäologen und des Händlers.
Das moderne Ancon besteht aus einer Doppelreihe von Gast-höfen, und jedes Haus scheint dabei eine Menge Gäste zu beherbergen.Der Strand ist vorzüglich, der steinfreie Sand, das meist ruhige Wasser machen das Bad für Alt und Jung, Gross und Klein zu einem Hochgenuss, Ein idyllisch-komisches Bild wird mir unver-gesslich bleiben: Weit ausschreitend marschierten sechs alte Nonnen in die blaue Flut, Ihre weiten Bademäntel flogen im Winde und grosse, silberne Kreuze, ihren geistlichen Stand verratend, baumelten bis an die Taille. Unmittelbar neben ihnen plätscherten vier ehr-würdige Padres. Eine herzliche Begrüssung und eine eifrige Unter-haltung war bald im Gange, und kein Mensch nahm daran Anstoss!
AR
Lamaherde.
In dem peruanischen Hochland.
Den 21. Januar 1905 schied ich von Lima, den lieben A. und Frau Sch., um eine Hochlandsreise anzutreten. Herrn Sch. sollte ich in Mollendo finden. Als ich vor zwölf Tagen in Callao gelandet war, hatte ich meine Koffer auf dem Zollamt durchstöbern lassen.Jetzt, bei der Abreise, sollten sie der hier herrschenden Pest wegen gründlich geräuchert werden. Man betrieb, so hiess es, dieses Ge-schäft mit untadeliger Gründlichkeit und flüssigem Material, so dass manches Kleid und besonders manches Paar Schuhe unaustilgbare Flecken als Andenken davon trugen.
Frau Sch. hatte mich auf den Bahnhof gebracht und einem Bahn-beamten empfohlen. Alles spielte sich wie ein Zauber ab. Der Arzt sah mich, dann meine Koffer an, klebte auf jeden ein hellrosa Papier mit: „Examinado Pase“ und die Räucherei war zu Ende, Dienstbare Geister ergriffen mein Gepäck, und bei glühendem Sonnenschein trabten wir der „Mexico“ zu.
Es fehlte mir an Zeit und besonders an Lust, es noch einmal mit einem der ägyptischen
Götter der deutschen .Kosmoslinie zu versuchen; ich fuhr unter englischer Flagge und fuhr
gut. Die „Mexico“ der P. S. S. Company ist ein Prachtschiff und mit der „California“ das
neueste und schönste der Gesellschaft. Da gibt es
Aus Central- und Südamerica.keine unterirdischen, oder vielmehr unterseeischen Räume. Aus den grossen, luftigen Kabinen mit ihren sehr breiten Kojen führen sowohl Türen als Fenster auf das weite Promenadendeck. Der grosse Speise-saal steht auf derselben Flucht und von ihm gehen breite Treppen direkt zu dem Iluxuriös und behaglich eingerichteten Salon. Dort lässt es sich mit derselben Bequemlichkeit schreiben, lesen, faulenzen,oder mit seinen Reisegefährten der Unterhaltung pflegen.
Ein älterer Herr suchte häufig meine Gesellschaft auf und wusste dabei immer wieder die Unterhaltung auf unsere schweizerischen,staatlichen Einrichtungen zu bringen. Das lebhafteste Interesse nahm er an der Person unseres Bundespräsidenten. Es kam ihm unbegreiflich vor, dass der Präsident unter den übrigen Räten wenig hervortritt,schlicht bürgerlich weiter lebt und, wenn er besonders bescheiden ist,es sich sogar verbittet, „Herr Bundespräsident“ angeredet zu werden.„Es kann sogar gebildeten Schweizerbürgern begegnen, nicht zu wissen,wie der augenblicklich „Regierende“ heisst. Dies ist“, fuhr ich fort,„die echte Republik. Sie setzt ihren Präsidenten nur auf ein Jahr an das Ruder, damit er nicht Zeit hat, sich allzusehr als Herrscher zu fühlen und einen Hofstaat um sich zu bilden. Sehen Sie sich dagegen Nordamerica und Ihre südamericanischen Republiken an. Durch die mehrjährige Amtsdauer und Möglichkeit einer sofortigen Wiederwahl schaffen Sie sich Monarchen, oft auch Tyrannen und zuweilen gar Revolutionen.“
„Wissen Sie, wer der Herr ist, mit dem Sie eben so angelegent-lich sprachen“? fragte mich der erste Offizier. Keine Ahnung! „Es ist C., der frühere Präsident Boliviens. Er wurde abgesetzt und landesverwiesen.“ Das freilich kommt bei unseren Präsidenten nicht vor!
Sehr angenehm war mir die Bekanntschaft des nach La Paz reisenden, americanischen Konsul in Callao, Herrn G. Er beschäftigt sich viel mit der Geschichte Perus, namentlich zu der Zeit der Incas und konnte mir manche Fragen beantworten, manches darauf bezüg-liche Werk angeben.
Unsere „Mexico“ steuerte ihren Kurs ziemlich nah an den einst berühmten Chincha-Inseln
vorbei. Auch jetzt umflatterten eine Menge weisser Vögel die phantastisch gefofmten Felsen
und flogen in ihren Höhlungen aus und ein. Während 30 Jahren, von 184171, haben die drei
kleinen, unfruchtbaren Felseneilande dem einst goldenen Peru seinen alten Ruf
zurückgegeben. Damals galten ihre Guano-vorräte für unerschöpflich, und bis 60 Meter hoch
türmte sich stellen-
139 weise der Düngstoff empor. Man entnahm ihm über 20 Millionen englische Tonnen, dann war die Herrlichkeit zu Ende. Von alters her ist der peruanische Guano in seinem Vaterlande als ein ausgezeich-netes Düngmittel bekannt gewesen. Schon Garcilasso de la Vega erwähnt seiner, Humboldt brachte im Jahre 1802 die erste Probe nach Europa, und als im Jahre 1841 die erste Schiffsladung Guano in Liverpool landete, riss man sich förmlich darum und gab 1416 Pfund Sterling für die Tonne. Die Spekulanten bemächtigten sich natürlich des neuen Artikels, enorme Summen wurden eingenommen und ebenso wieder aufgebraucht. Auch an anderen Plätzen fanden sich Guano-Ablagerungen, doch galt derjenige von den Chincha-Inseln stets für den besten. Der sogenannte Guanovogel ist etwas grösser, als die Möwe, hat einen weissen Leib, grauen Rücken und Flügel, kurze Füsse und langen Schnabel. Neben ihm wirken Pelikane und Pinguine als Guanofabrikanten. Die Guanoausfuhr hat sozusagen aufgehört, Salpeter wird jetzt an seiner Stelle verwendet,Immerhin steht in der Abrechnung der Peruvian Corporation für 1904: Guanoverkauf: 176,776 Pfund Sterling,
Nach zwei Tagen landeten wir in Mollendo. Dies schreibt sich leichter, als es sich ausführen lässt. Mollendo gehört zu den ver-rufensten Landungsplätzen. Heute lag die See ausnahmsweise ruhig und glatt vor uns, und nur kleine, zornige, weisse Wellchen züngelten an den schwarzen, malerischen Klippen der Rhede empor. Die Pe-ruvian Corporation beabsichtigt, hier einen ordentlichen Hafen zu bauen, deshalb war Herr Sch. gekommen. Ich freute mich, meinen Landsmann zu finden. Er stellte mir den Superintendanten der peru-anischen Eisenbahnen vor und empfahl mich seinem Schutze bis Arequipa. Dank der freundlichen Fürsorge und den Empfehlungen des Direktors der Peruvian Corporation, bin ich wie eine Prinzessin durch das Land gereist.
Mollendo ist ein schmutziges, armseliges Nest und bietet, mit Ausnahme der herrlichen Lage, gar nichts. Ich schlenderte durch die langen, steil emporsteigenden Strassen zum hochgelegenen Friedhof.Kein Gras, kein Blümchen schmückt die Gräber, nur ab und zu kündet ein aus dem Sand ragendes, windschiefes, hölzernes Kreuz,dass ein müder Pilger sich in dem heimatlichen Sand zur ewigen Ruhe niedergelegt hat. Hölzern sind die einfachen Häuschen der Lebenden, hölzern die zweitürmige Kirche, und alles steckt im Sand,Sand durchweht den ganzen Ort, barmherzig bedeckt er alles mög-liche Hässliche. Tote Tiere liegen da, Gefässe, die man sonst nicht
Aus Central- und Südamerica.der Öffentlichkeit preisgibt, werden einfach das heisst ihr Inhalt auf die Strassen geleert. Wäre kein Sand und keine Seebrise, so hielte man es in diesen Miasmen nicht aus.
Am folgenden Morgen in der Frühe brachte mich Herr Sch. zur Eisenbahn. Herr C., der americanische Konsul, und ich, sassen in einem Extrawagen. Meine Reise nach dem weltabgeschiedenen Hoch-Peru begann aufs bequemste. Vorläufig war es eine Fahrt durch die Wüste, Merkwürdig geformte Felsen stiegen aus dem Sandmeer gleich Inseln empor, und je höher der Schienenweg aufwärts klettert,um so wilder, phantastischer wird die Landschaft... Es war heller Tag, das Sonnenlicht zitterte förmlich in der Luft und doch stand ich unter dem sonderbaren Eindruck, durch eine Mondlandschaft zu fahren, Allerlei Spuckgestalten glitten an mir vorbei, schaute ich scharf hin, so waren es bewegliche, weisse, grosse Sandhügel, die man Medanos heisst. Der Wind hat ihnen halbmondförmige Gestalt gegeben und treibt sie unaufhörlich, wenn auch allmählich, weiter und weiter. Nähern sie sich der Bahnlinie, so gebieten ein paar auf sie geworfene grosse Steine den ewig Ruhelosen zeitweise etwas Halt. Können sie aber ihren Wandertrieb nicht länger bezähmen, so schaufeln sie die Eisenbahnarbeiter auf die andere Seite des Geleises.
Weiter oben nimmt die Wüste die Gestalt eines Meeres an, über dessen buntgefärbte, wilde Wellen ein mächtiger Zauberer seinen Stab geschwungen und sie plötzlich in Stein verwandelt hat. Tiefe Abgründe klaffen dazwischen, so zerissen und grundlos, dass das Auge mit banger Scheu hinab blickt. Über dieser chaotischen, un-ruhigen Welt thronen in stiller Majestät und ewigem Schnee drei mächtige Bergketten, In der Mitte die schöne Pyramide des Misti (5685 m), westlich und sich daran lehnend die höhere Chachanikette (5790 m), nordöstlich die nur 5400 Meter hohe Kette des Pichu-Pichu.
Immer mächtigere Kurven beschreibt die Bahn, es ist als suchte sie einen Ausweg aus
dieser Sand- und Steinwelt. Eigentümlich!Diese Wüste besitzt reiche Seitentäler, wo Flüsse
und Bäche rauschen,Zucker, Getreide und köstliches Obst gedeihen. Etwas Wasser, etwas
Regen, und diese Wüste hier würde zum herrlichen Garten. Aber die ganze Küste kennt keinen
Regen; auch in Lima regnet es nie,es gibt dort nur feuchte Nebelniederschläge in den
Wintermonaten.Die spärlichen Stationen zwischen Mollendo und Arequipa erfreuen sich einer
Wasserleitung: da wachsen Heliotrop, Geranien und Rosen als Blüten übersäete Hecken,
mächtige Granat- und Feigenbäume bieten schönen Schatten, und süsse Früchte in Hülle und
Fülle. Auch
Einmal auf der Passhöhe kamen wir rasch bergabwärts, und nach achtstündiger Fahrt lag die weisse Stadt Arequipa am Fusse des Misti vor uns,
Herr Sch. hatte bestimmt, ich solle während meines Aufenthaltes in Arequipa in der Familie des Superintendanten C. wohnen. Der gute Mr. C. konnte natürlich nicht anders, als diesen Wunsch seines Chefs einem Befehle gleich erachten und lud mich, übrigens sehr herzlich, in sein Haus. Offenbar besitzt aber Mr, C. einen noch mächtigeren Vorgesetzten in der Person seiner besseren Hälfte. Unter-wegs telegraphierte Mr. C. und empfing ein Telegramm, worauf sich die Miene des erst so heiteren, redseligen Mannes sichtlich verfinsterte.Er wurde schweigsam und nachdenklich. Im Anblick Arequipas musste er sich endlich des peinlichen Auftrags entledigen. „Meine Frau telegraphiert mir, es wäre ihr leider augenblicklich unmöglich,zinen Gast zu beherbergen, sie lässt Sie aber für morgen zum Früh-stück bitten“. Zaudernd kam das alles hervor. Ich nahm die Ein-ladung zum Frühstück an, versicherte Mr. C., dass ich sehr gerne in den Gasthof ginge und freier von dort aus Arequipa nach allen Richtungen durchstreifen könne, nahm einen Tramwagen und fuhr in anscheinend ewig dauernder Fahrt dem Gasthof zu. Dieser war nicht besonders gut, aber auch nicht schlecht. Mein grosses Zimmer iag eine Treppe hoch und ging auf das flache Dach. Riesengross schwebte darüber die herrliche Pyramide des Misti. Er hatte sich in ein purpurfarbenes Abendgewand gehüllt und sah unbeschreiblich schön aus. Als ich nach dem Essen wieder mein Zimmer betrat,war die Nacht schon angebrochen. Der hohe Berg leuchtete jetzt im silbernen Glanz des Mondes und erweckte in mir sehnsüchtige Ge-danken nach der Heimat. Wie fern, wie unerreichbar kam sie mir vor!
Mitten in der Nacht wurde ich plötzlich durch ein heftiges Schütteln im Bett geweckt. „Was ist das?“ Waren ich oder mein Bett toll geworden? Dass ich nicht gleich auf den Gedanken eines Erdbebens gekommen bin, in diesem Land der Vulkane und Erderschütterungen!Nach dem vierten Stoss trat Stille ein. Zu träge zum Aufstehen, drehte ich mich auf die Seite und war bald wieder im Land der Träume.
Arequipa, nach Lima die grösste Stadt Perus (30,000 Einwohner)liegt 2325 Meter über Meer in einem fruchtbaren Tal, das einst wohl
Aus Central- und Südamerica.ein See gewesen ist. Die Stadt wird durch das Flüsschen Chili in zwei Teile geteilt. Die Incas hatten an der Stelle der heutigen Stadt Arequipa eine Haltestelle zur Erleichterung des Verkehrs zwischen Cuzco und der Küste errichtet und dieselbe Ari-que-pai (ja, ruhe hier)genannt, woraus der Name, der von Pizarro 1545 gegründeten Stadt entstanden ist. Nicht weniger als 15 Male ist Arequipa von furchtbaren Erdbeben heimgesucht und zerstört worden, und man wundert sich mit welcher Hartnäckigkeit immer wieder ein neues Arequipa an den Fuss des Misti gestellt wird. Dieser in früherer Zeit untätige Vulkan wurde plötzlich lebendig. Bei der Beschreibung des letzten schrecklichen Erdbebens im Jahre 1868 heisst es: „Der Berg Misti speit Lava, Rauchwolken und Schlammassen aus und Finsternis verhüllt seine Hänge. Wir hören beständig das Geräusch von stürzenden Felsen, das Getöse von schweren Schnee- und Eis-lawinen und der Fluss ist wegen seines Schwefelgeruchs nicht zu passieren“, Dieses Erdbeben, das am 13. August 1868 stattfand,hat weit über 600 Menschen das Leben gekostet und mit wenigen Ausnahmen alle Gebäude dem Boden gleich gemacht. Man zählte damals gegen fünfzig Stösse.
Die Kathedrale, der Stolz Arequipas ist somit ein modernes Riesen-werk. Sie nimmt die Nordseite des grossen, etwas abschüssigen Hauptplatzes ein und entspricht durchaus nicht meinem Schönheits-ideal einer Kirche. Die verhältnismässig niedrige Fassade ist volle 76 Meter lang und mit Ausnahme korinthischer Säulen verschiedener Höhe völlig schmucklos. Zwei unverhältnismässig schmächtige Türme sitzen auf dem flachen Dach, ebenso einige leere Postamente. Ob je Statuen darauf gestanden und die Opfer eines Erdbebens geworden,weiss ich nicht. Das Innere der Kathedrale ist merkwürdig ruhig,geschmackvoll gehalten. Vor der ganzen, langen Front läuft eine Terrasse, die an beiden Enden freistehende Bogen hat. Diese werden vermittelst schönem Gitterwerk nachmittags geschlossen. Den Are-quipanern scheint der Kirchenbesuch des Morgens zu genügen.
Die grosse Plaza ist mit herrlichen Blumen- und Baumgruppen bepflanzt, und wie in Lima umgrenzen sie sogenannte Portales mit Kaufläden. Also auch hier fand ich meine Berner-Lauben wieder,
Die in der Nähe gelegene Jesuitenkirche stammt aus dem Jahre 1698, hat also verschiedenen
Erdbeben Widerstand geleistet. Ihre Fassade ist von oben bis unten mit Skulpturen
überdeckt. Etwas roh ausgeführt freilich, aber der vulkanische, weisse Tufstein erlaubt
wohl keine feine Arbeit, Das hübsch geplante Innere wird durch
1423 grelle Bemalung der Säulen und Gesimse völlig verdorben. Sehr stolz sind die Arequipaner auf eine grosse Malerei an der Aussenwand.Alles steht darauf, was sich auf Christi Kreuzigung bezieht: Leiter,Mantel, Rock, Schweisstuch, Ohr des Malchus, Würfel, Schwamm,Geldbeutel des Judas, u. s. w. Jedesmal, wenn ich nach etwas altem zum Photographieren fragte, wies man mich auf dieses Kunstwerk.
Arequipa scheint höchst selten photographierende Touristinnen in seinen Mauern zu beherbergen, dem Aufsehen nach zu urteilen,den mein Apparat überall schuf. Ging ich durch die Strassen, so war stets ein ganzes Gefolge hinter mir, und ich hatte meinen Spass an der kaffeebraunen Jugend. Auch die weisse Bevölkerung ist durchwegs mit Indianerblut vermischt.
Die Häuser sind alle aus demselben weissen Tuffstein erbaut,wie die Kirchen. Der vielen Erdbeben wegen haben sie dicke Mauern,sind meist einstöckig und mit einem massiven, flachen Dach versehen.Ich weiss nicht, was mich auf den Gedanken verfallen liess, eine dieser Azoteas zu besteigen. Es war in einer recht übelriechenden Nebenstrasse, aber der Misti hatte eben so schön durchgeleuchtet,dass mir ganz sehnsüchtig zu Mute wurde, „Ja, gewiss, das Haus steht zu Ihrer Verfügung“, lautete die echt spanische Antwort, als ich in einem beliebigen Haus um Einlass bat. Durch einen unsauberen Hof gelangte ich an eine enge, ausgelaufene Steintreppe mit unver-hältnismässig hohen, wackligen Stufen. Endlich war ich glücklich oben angelangt und hatte reichliche Gelegenheit, neben dem poetischen Misti allen möglichen unpoetischen Gerümpel zu schauen. Unbe-schreibliche Gegenstände lagen in tollem Wirrwarr auf dieser und den benachbarten Azoteen, schrecklich sowohl für das Auge, als für die Nase! Nicht einmal der reinen Bergluft gelingt es, diese Düfte zu verscheuchen! Die ganze Familie hatte sich versammelt und be-stürmte mich mit neugierigen Fragen. Der Abstieg von des Daches Zinne war schauderhaft. Schliesslich rissen mich ihrer Zwei an den Beinen herunter, und gerne spendete ich einen Extraobolus für diese Lebensrettung.
Einige alte Häuser haben die Erdbeben aber doch verschont.Sie besitzen die schweren, hölzernen, spanischen Tore mit den grossen,schönen Nägeln, eine Vorhalle, einen oder zwei reich skulptierte Höfe und im Inneren einen, der hohen Lage Arequipas ungeachtet, sehr südlichen Patio. Jonische, oft plumpe Halbsäulen, Wappen und un-beholfene Skulpturen schmücken die Portale, Meist sind diese vor-nehmen Häuser in den Besitz fremder Kaufleute übergegangen. In
Aus Central- und Südamerica.den Höfen stehen höchst unaristokratische Kisten und Säcke auf-gespeichert. Eines der am reichsten dekorierten Häuser hat das bel-gische Konsulat inne,
Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang war ich ununterbrochen unterwegs, die frische Bergluft elektrisierte mich förmlich nach den heissen Zonen, in denen sich mein Dasein die letzten Monate bewegt hatte. Als ich zur Frühstückszeit mit der Trambahn zu der im andern Stadtteil wohnenden Familie C. fahren wollte, blieb sie einfach aus,„Das kommt öfters vor“, meinte tröstend der Wirt, So schnell meine Füsse mich trugen, musste ich den halbstündigen Weg zurücklegen.Ich fand einen freundlichen Empfang und ein Frühstück, das jede Ungastlichkeit des vorherigen Tages verwischen sollte und auch verwischte.
Am folgenden Tage stand ich in aller Frühe auf dem Bahnhof.Diesmal nahm mich leider kein Especial, sondern der ganz gemeine,vollgestopfte Erste-Klasse-Wagen auf... Der Zug führt zunächst über eine lange, eiserne Brücke. Mitten in der Niederung, die sie über-schreitet, fliesst in steinigem Bette das Chiliflüsschen. Ähnlich wie hinter Mollendo beginnen auch hier die Kurven der Bahn sehr plötzlich.Wiederum bietet diese Gegend mit den darin liegenden Stationen als Oasen den Anblick einer Wüste. Yura bildet eine solche mit ihren leuchtenden Geranien- und Rosenbüschen und den mit Früchten vollbehängten Pfirsichbäumen. Eisen- und schwefelhaltige Thermal-quellen machen Yura zu einem beliebten Kurort,
Bei Pampa de Arrieros wurde Mittagsstation gehalten. Die mit Aji rotgefärbte Chupe (eine Art Suppe) verbrannte mir Hals und Eingeweide,aber auch meine peruanischen Reisegefährten litten an Appetitlosigkeit.Schon eine Stunde vorher war die laute Unterhaltung im Wagen verstummt, Frauen und Kinder lagen nach Atem ringend auf ihren Sitzen, und bald nachher wurden neben dem Keuchen auch die stöhnenden Laute der See- oder vielmehr Bergkrankheit hörbar,Vorläufig hielt ich mich noch und konnte die wenigen Lichtblicke dieser trostlosen Landschaft geniessen. Unter diese rechne ich:Grosse Lamaherden, an einzelnen Stellen genzianenartige, blattlos aus dem Sand emporwachsende, rote Blumen, hinter der Station Sumbay eine wunderbare Schlucht und vor Crucero Alto tiefgrüne,malachitartige Steine.
In Crucero Alto, 4460 Meter, erreicht die Bahn ihren Höhepunkt.„Und da oben wohnen
Menschen?“, rief ich entsetzt. Bei einem ra-senden Winde hatte ein kleiner, indianischer
Markt die Möglichkeit
145 gefunden, sich vor unserem Zug aufzustellen. Tiefvermummte In-dianerweiber boten mit frostblauen, zitternden Händen Kau-Kau,Chicha und einige elende Früchte zum Kauf an. Windzerzauste,magere Hunde schnappten gierig nach Abfällen, die ebenso zerzauste,durch den Hunger tapfer gemachte Gockel und Hühner ihnen ab-wendig zu machen trachteten. Ob sie wohl auch an Soroche leiden,wie die armen Maultiere? Diesen werden häufig noch Löcher in die Nase gestochen, um ihnen das Atmen zu erleichtern.
Alter Brunnen.
Schon hatte die untergehende Sonne ihre goldenen Strahlen über die wüste Landschaft gebreitet, als wir an zwei stillen, tiefblauen Berg-seen, Saracocha und Cachipascana, vorbeifuhren. Ihre lieblichen Buch-ten sind ebenso unbewohnt, wie die kleinen Felseninseln. Nur einige Chocas, schwarze, entenartige Vögel beschreiben ihre geräuschlosen Kreise auf der glatten Wasserfläche und hoch in der Luft fliegen einzelne türkisblaue Vögel. Sind es verzauberte Prinzessinnen und diese Seen zauberische Luftspiegelungen ?
Mein Kopf war schwer geworden und heiss. Zwölf Stunden sassen wir schon in dem Zug und noch war das heutige Ziel nicht rn
Aus Central- und Südamerica.erreicht. Auf dieser ganzen Hochlandsreise kamen Verspätungen regel-mässig vor. Um 8 Uhr waren wir endlich in Juliaca. Bis dahin hatte ich mich kaum unwohl gefühlt, als ich aber aufstand, drehte sich alles vor mir. „Fräulein v. Rodt“, hörte ich plötzlich durch das spanische Stimmengewirr rufen. Wer kennt mich in diesem weltab-geschiedenen Nest? Bin ich ein Opfer von Halluzinationen? „Sind Sie Fräulein v. Rodt?“, frägt mich ein junger Mann. „Mr. C. hat uns telegraphisch aufgetragen Sie abzuholen, und Ihnen unser bestes Zimmer zu reservieren.“ Richtig, jetzt erinnerte ich mich. Man hatte mir erzählt, es gäbe einen, von Deutschen ausgezeichnet gehaltenen Gasthof in Juliaca.
Wie betrunken wankte ich die kurze Strecke zum Gasthof. „Ach,wie haben wir uns heute den ganzen Tag auf den deutschen Gast gefreut“, begrüsste mich die junge Wirtin. „Schnell, schnell, etwas Warmes, ich habe Ihnen extra einige deutsche Speisen gekocht.“Ach, ich war über deutsche, spanische, peruanische Speisen hinaus.Dem Frauchen zu liebe würgte ich ein paar Löffel Suppe hinunter,die Folgen waren schmerzlich. Wie ich in mein schönes, reines Bett kam, ist mir heute noch unklar. Mit eisernen Klammern hielt mich der Soroche die ganze, lange Nacht fest. Es sollte übrigens zum ersten und zum letzten Mal sein.
Ein feines Geläute weckte mich in aller Frühe. Ich eilte an das Fenster. Vor mir auf dem Marktplatz wurden wohl an die 100 Lamas mit buntgestreiften Säcken beladen. Während die einen schon marsch-bereit dastanden, kauerten andere auf dem Bauch, mit geheimnisvoll unter dem Vliess verborgenen Beinen. In stiller Betrachtung verloren blickten sie wiederkäuend in die Ferne. Ich habe diesen ;träumenden Ausdruck höchstens noch an einem leidenschaftlichen Raucher bemerkt.Ebenso still und in ihre Gedanken versunken verrichteten die Indianer ihr Ladungsgeschäft. Nur das feine Glöcklein klingelte weiter. Es rief immer mehr Indianer und Lamas herbei und als es endlich ver-stummte setzten sich die feinfüssigen Tiere, ohne angetrieben zu werden, in Bewegung.
Eine Stunde später hatte sich an derselben Stelle ein ganzer Markt gebildet. Alte,
unbeschreiblich runzlige Weiber und junge,frische, rotbäckige Dirnen hockten auf der Erde
in langer Reihe und hielten fein gestrickte Handschuhe, Eier, Cocablätter und
schönejFrüchte feil. Viele strickten oder spannen dazu und auch die dabei stehenden Männer
beteiligten sich an diesen Arbeiten. Über alle Begriffe zer-ijumpte Bettler und
Bettlerinnen trieben sich auf dem Markte herum.
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Manche hielten kleine Kinder in einem Tuch auf den Rücken ge-bunden, andere suchten ihren ältern Sprösslingen die Läuse mit grossem Erfolg ab. Die Kleinen haben alle einen merkwürdig stillen, dulden-den Ausdruck, niemals hört man sie weinen, aber nie sieht man ein Lächeln in diesen alten, sorgenvollen Gesichtchen. Ich schenkte da und dort ein paar Centavos und nun drängte sich alles an mich, jeder und jede wollte eine Gabe.
Unterdessen war Nachricht gekommen, unser Zug würde statt um 8 erst um 12 Uhr abfahren. Ich konnte mir daher noch das Dorf, ein ächtes Quichuadorf, und die prächtige Kirche ansehen. In Quichua (auch Kitchua geschrieben) und Aymarä teilt man die Indianer dieses Hochlandes; in Dialekt und Sitten sind sie von einander ver-schieden. Mein Aufenthalt hier oben war aber zu kurz, um sie aus-einander halten zu können. Juliaca besteht aus einer Anzahl zer-streuter Lehmhäuschen, auf deren Strohdächer oft zwei bis drei Kreuze zur Abwehr gegen den Teufel angebracht sind. Mitten im Dorf erhebt sich eine prachtvolle, alt-spanische Kirche, vermutlich aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts. Viermal so viel Einwohner,als Juliaca besitzt, fänden darin Platz. Eine grosse Kuppel, zwei Türme und eine Menge zierlicher Türmchen krönen das Ganze.Inwendig ist seit der Erbauung nichts geändert worden: altersschwach,morsch, geschwärzt, zerbröckelt zwar, aber dabei stilvoll!
Ein grosses, aitertümliches Kreuz steht auf dem Platz vor der Kirche. Bald hatte sich halb Juliaca um meinen photographischen Apparat und meine Person versammelt und zutraulich schnupperten ein paar langhaarige Schäferhunde an mir herum. Es war mir nicht unangenehm, als ein festlicher Indianerzug die Aufmerksamkeit etwas ablenkte. Die Leutchen feierten ein freudiges Ereignis mit einem Baile (Ball) und hatten offenbar Gott Bacchus in Gestalt von Chicha reichlich gehuldigt. Die Männer tragen hier rot, blau und grau ge-streifte Ponchos, und gestrickte Ohrlappen, sogenannte Orejeras, unter den grossen, schwarzen Hüten, dagegen sind die Beine nackt, und nur Sandalen bekleiden die Füsse. Diese heisst man Polcos. Man schneidet ein Stück: ungegerbtes Leder nach der Form .der Fussohle und lässt etwa drei Centimeter hervorstehen. In diesen Lederrand werden Löcher gebohrt, ein feiner Riemen durchgezogen und damit die Sandale am Fuss gehalten. Bei festlichen Anlässen ziehen die Indianerinnen ihre sämtlichen Röcke an, so dass sie wie ein Reifrock vom Körper abstehen. Blau und rot sind Lieblingsfarben. Auf dem in unzählige Zöpfchen geflochtenen Haare sitzt ein grauer Männer-
Aus Central- und Südamerica.filzhut. Flötenspieler und Trommler eröffneten den Zug, und wo es gerade den festlich Angeheiterten einfiel, blieben sie stehen und tanzten unter einförmigem Gesang, tanzten, dass die zehn Röcke hoch aufwirbelten und die schwarzen Zöpfe sich gleich Schlänglein ringelten.
Um 12 Uhr erst fuhren wir ab. Juliaca ist Knotenpunkt für Puno-La Paz und Secuani-Cuzco. Mein Reiseziel war Cuzco, die alte Haupt-stadt Perus.
Die Bettler waren mir auf den Bahnhof gefolgt und klopften an das Waggonfenster, das ich ihretwegen geschlossen hielt. Noch schlimmer sollte es damit in Tirapata werden. Elende Greise und Blinde stürmten förmlich den Wagen und liessen sich weder mit Güte noch mit Gewalt wegtreiben. Ein Alter war noch da, vermutlich taub und blind. Der Schaffner schob ihn zur Türe hinaus, als der Zug sich schon in Gang gesetzt hatte, der Unglückliche fiel dabei rück-lings in einen Graben und blieb liegen. Nichtsdestoweniger fuhr der grausame Zug weiter, oder vielmehr die grausamen Menschen setzten unbekümmert ihren Weg fort. Vergeblich erkundigte ich mich auf der Rückreise nach dem armen Alten. Ach, hier oben merkt man nichts von dem „goldenen Peru“. Hier ist Mutter Erde hart für ihre Kinder, schenkt ihnen spärlich Frucht und Gras, und bittere Kälte lassen Mangel an Kleidern und Essen noch viel bitterer empfinden.
Erst in Ayaviri gelang es mir etwas, über den trüben Eindruck hinweg zu kommen. Schön hell und warm beschien die Sonne eine bunte Indianergesellschaft. Die länglich-flachen Filzhüte der Weiber waren auf beiden Seiten mit silbernen, goldenen oder purpurnen,langen Fransen versehen, ob zum Schattenspenden oder blos zum Schmuck, konnte ich natürlich nicht ergründen. Die Hüte würden entschieden als neue Parisermode Furore machen. Nach Männerart nahmen sie die Weiber zum Grüssen ab. Ich muss hier erwähnen,dass am Stillen Ozean der Gruss unter intimeren Bekannten auf fol-gende Weise geschieht: Man küsst sich nicht, aber man umfasst sich und klopft sich dabei gegenseitig sachte auf den Rücken. Zu ihrem feinen Hut tragen die Ayavirifrauen hübsch gestickte Mieder und Gürtel. Wohl zur Bestreitung dieser Eleganz müssen die Männer hier so eifrig stricken und spinnen. Keiner liess sich Zeit, von der Arbeit auch nur aufzusehen. Ayaviri soll eine ebenso schöne Kirche wie Juliaca und ungefähr 1200 Einwohner besitzen.
Noch grösser scheint das in einem Tal am Fuss des hohen Schneeberges Apucumurami gelegene
Santa Rosa zu sein. Die
Unsere Bahn war wieder ordentlich in die Höhe geklettert und erreichte in La Raya (4320 m) die Wasserscheide. Hier oben ist ein dunkler, kleiner See, aus dem zwei Bächlein fliessen. Das eine läuft nach Süden, bildet später den Fluss Pucura und fällt in den Titicacasee, das andere läuft nach Norden als Quellbach des Rio Vilcanota. Dieser, unter den späteren Namen Vilcamayo, Yucay,Urubamba und Ucayali, stellt den Ursprungswasserlauf des Amazonen-stromes vor. Ich warf einen Korkpfropfen mitten in das Seelein. Sollte ich ihn im Titicacasee wieder finden, oder war ihm gar die lange Reise durch den Amazonenstrom in den atlantischen Ozean beschieden?
Auf den Felsvorsprüngen und am Wege liegen überall grosse Steinhaufen. Sie sind von den Indianern zusammengebracht worden.Wollen sie sich die gewaltigen Berggeister, die über Wind, Schnee und grimme Kälte herrschen, gnädig stimmen, so legen sie einige Steine auf den Haufen.
Hinter La Raya wird die Gegend malerisch und fruchtbar, aber die Nacht verbot bald jeden Ausblick. Ich konnte jetzt die Zeit dem Studium meiner zahlreichen Mitreisenden widmen. Vorläufig aber war ich es, die den Stoff zu einer freilich höchst unfreiwilligen Unterhaltung lieferte. Mein Sitz brach plötzlich unter mir zusammen.Spanische Höflichkeit liess zunächst nur ein unterdrücktes Kichern zu, als ich mich aber durchaus unverletzt erklärte, wurde das Ge-lächter allgemein. Am vergnügtesten schien der Schaffner: „Jetzt kann die Sefiora Herrn C. selber sagen, wie baufällig dieser Wagen
Aus Central-. und Südamerica ist! Wie lange schreibe ich schon nach Arequipa, dass mehrere Sitze, ja der ganze Wagen einer Erneuerung bedürfe,“
Ich setzte mich auf die andere Seite. Eine halbe Stunde später flog ein Stein durch das geschlossene Fenster, gerade auf den ver-lassenen Sitz. Wir waren noch unter dem Eindruck, als klirrend das Lampenglas von der Decke auf unsere Köpfe fiel. Der durch die zerschmetterte Scheibe gedrungene Luftzug war wohl daran schuld.Er löschte natürlich das Licht aus, und wir sassen bis Secuani im Dunkeln. Nur das rauchende Lämpchen des hin- und herwandernden Schaffners brachte auf Augenblicke etwas Helle in unsere Nacht.
Um 8*/2 Uhr waren wir in Secuani. Der Gasthof liegt glücklicher-weise dicht bei dem Bahnhof, allein ich musste vor allem meinen Postplatz nach Cuzco bestellen. Diese Strecke ist unabhängig von der Peruvian Corporation.
Alles, nur kein Göttermahl, erwartete die müden Reisenden,wären es übrigens Ambrosia und Nektar gewesen, der schmutzige Anblick der Mozos hätte keinen Appetit aufkommen lassen. Herr C.hatte wiederum den Telegraphen für mich in Bewegung gesetzt.Ein Staatszimmer mit drei Betten wartete meiner, Als ich deren Inhalt prüfte, fand ich in jedem Spuren früherer Gäste. „Mozo, in jedem dieser Bettücher sind wenigstens schon drei Personen gelegen.“Der Mozo grinste, er schien meine Berechnung noch recht bescheiden zu finden. „Schnell, schnell, reine Bettücher.“
Eine halbe Stunde verging. Dann erschien der Padrone selber und zog, mit vielen scheelen
Seitenblicken auf die anspruchsvolle Gringa, eigenhändig das Bett frisch an.
Im Postwagen nach Cuzco.Den folgenden Morgen früh krochen wir unter Beleuchtung einer Stallaterne eines nach dem anderen in den klapprigen Bauch eines hochbeinigen, etwas alters-schwachen Postwagens. Eine cho-coladenbraune, mit Blumengewin-den bemalte Arche Noah! Anschei-nend für zehn Personen erbaut,sollte sie heute 13 aufnehmen. In Lima schon hatte man mir gesagt:
„Wenn alle Plätze in der Post nach Cuzco besetzt sind, So be-kommt jeder Reisende noch einen
Passagier auf den Schoss“. So weit kam es zum Glück. nicht. Mir war ein Vordersitz und zugleich Eckplatz des Wagens zu teil gewor-den. Da konnte ich wenigstens meinen linken Ellenbogen zum Fenster hinaushalten, denn diese, sowie die Kniee schien der Wagenbauer ganz vergessen zu haben.
Neben mir sass ein junger Hamburger. Wir hatten schon in der Eisenbahn Bekanntschaft gemacht. Sein kühner Wagemut, mit der er ohne jegliche Grammatik die klassische Sprache Don Quijotes misshandete, seine Begeisterung für die Buchhalterstelle, die ihm eine deutsche Firma auf drei Jahre in Cuzco angeboten, und die er jetzt antrat, erregten bei mir Sympathie und Interesse. Zu seiner Rechten sass eine schöne, junge, dunkeläugige Sefiora. „Ich muss ihr ein Bischen zureden“, meinte der Hamburger, „sie duckt sich, so weit möglich von mir ab in die Ecke, ich tue ihr doch nichts zu leide“;aber die Sefiora blieb still und scheu. Vor uns, auf einer lehnenlosen,
Aus Central- und Südamerica.schmalen Bank sassen vier Mönche. Um etwas Halt zu haben, lehnten sie sich fest an unsere Kniee. Ach, die Ausdünstung ihrer Kutten und ihrer Haut war qualvoll' und wurde mir den folgenden Tag noch unerträglicher, nachdem mir der Hamburger anvertraut: „Ich musste mit den Mönchen das Zimmer teilen, und keiner von ihnen hat sich gewaschen, oder auch nur ausgekleidet.“ Vor den geistlichen Herren sassen drei Deputierte aus Cuzco, und im Rücksitz des Wagens ein Ehepaar aus Secuani und ein Kind. Die sechs Maultiere liefen im Galopp, ein Tempo, das sich jedesmal verdoppelte, wenn wir durch eine Ortschaft rasten. Hilft die Peitsche nicht, so werden den armen Tieren grosse Steine an den Kopf geworfen. Der Stalljunge sammelt je und je einen Vorrat dieser Aufmunterungsgeschosse und schleudert sie mit gewaltigem Gepolter auf den Wagen. Die Strasse ist erstaunlich gut gehalten. Eine americanische Gesellschaft hat sie erbaut und im Jahr 1902 wurde sie auf kurze Zeit mit Automobil befahren. Warum man wieder zu der alten Postkutsche griff, weiss ich nicht. Augen-blicklich beschäftigt sich die Peruvian Corporation mit einer Eisen-bahnlinie nach Cuzco. Die Entfernung von Secuani bis Cuzco beträgt 145 Kilometer.
Unser Weg führte zunächst bergabwärts durch das fruchtbare Tal des Vilcanota. Schwer
wogten die Ähren im Winde, eine Menge Vieh weidete auf kurzgrasigen Plätzen, und
Kartoffel-, Rüben-, Lu-pinen- und Saubohnenfelder bildeten einen erfrischend grünen
Gegen-satz zu den baumlosen, kahlbraunen, das Tal einrahmenden Bergen.Holz ist in diesen
Gegenden ein seltener Artikel, deshalb werden alle Häuser, alle Gehege, ja sogar die
Telegraphenstangen, aus Lehm gebaut. Als Brennmaterial dient der getrocknete Lama-Mist.
Der durcheinandergerührte Flusschlamm wird gleich dem Zement zwischen zwei Holzbretter
gegossen und die so geformten Mauersteine, Adobe genannt, an der Sonne getrocknet. In der
Ortschaft Tinta führt ein stattliches, hohes Lehmtor zum Friedhof, und gezinnte Mauern aus
demselben Material hegen ihn festungsartig ein. Kein Haus besitzt Holztüren; gehen die
Bewohner aus oder fort, so verbarrikadieren sie den Eingang einfach mit Adobesteinen,
-oder hängen ein Fell davor.Als Fenster dienen in der Mauer angebrachte Öffnungen. Erfreut
sich der Hausbesitzer besonderen Reichtums, so schwingt er sich zu einem hölzernen Balkon
auf. Die Strohdächer werden mit Ziegel-steinen und hauptsächlich mit zerbrochenen
Tongefässen beschwert.Auf der Dachfirste stehen hier statt des Kreuzes meist die
Marter-werkzeuge Christi.
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Wir waren, den Vilcanotafluss stets zur Rechten haltend, durch die Ortschaften San Pablo, San Pedro und Tinta gerast und hatten nach zweieinhalb Stunden die Frühstückstation Combapata erreicht.Weniger die zu erwartenden kulinarischen Genüsse, als die Aussicht auf ein Weilchen dem schon zum Marterkasten gewordenen Post-wagen zu entfliehen, waren es, die mich so eilig aussteigen liessen.Hier wurden die Maultiere gewechselt, und mit neuem Mut fuhren Mensch und Vieh durch eine immer malerischer werdende Land-schaft dem Nachtquartier Cusipata zu.
An schöner Landstrasse, von Bergen eingeschlossen, den to-senden Fluss zu Füssen und mit weitem Blick auf das malerische Tal, steht einsam romantisch das „Hotel Cusipata“. Wie freute ich mich auf genussreiche Stunden des Ausruhens und Umherwandelns in erquickender Bergluft und auf eine ruhige Schlaf-Nacht! „Es gibt nur sechs Dormitorios (Schlafzimmer), die Herrschaften müssen sich zusammen einrichten“, sprach der Mozo. Mit der schönäugigen Sefiora wurde ich in ein winzig Gemach geführt, wo die beiden Betten sich berührten und Stuhl, Glas und Miniatur-Waschbecken für zwei dienen mussten. Übellaunig schüttelte ich den Reisestaub ab, holte mir unten etwas Wasser und begann mich zu waschen,„Välgame Dios, was tun Sie da, Sefiora“, rief die Peruanerin und entriss mir das Waschbecken. „Sie holen sich ja eine Lungen-entzündung, hier zu Lande darf man sich nicht waschen.“ Noch übellauniger berief ich den Mozo, „ich will und muss allein schlafen“,„Ja, wollen Sie das andere Bett auch bezahlen?, das kostet einen Sol!“ Dieses Opfer brachte ich gerne. Wo die Sefiora einen Unter-schlupf fand, weiss ich nicht, kümmerte mich selbstsüchtigerweise auch nicht darum. Ich holte noch mehr Wasser und wusch mich unbe-schadet nach Herzenslust. Später traf ich mit dem jungen Hamburger F. L. zum Spaziergang zusammen. Unterwegs erzählte er mir das Seitenstück zu meinem Erlebnis. „Als ich mich waschen wollte,stürzte sich die ganze Pfaffenschaft abwehrend auf mich, so ging ich zum Fluss hinab und nahm ein eiskaltes, aber erfrischendes Bad.“
Auf der schönen, gewundenen Landstrasse, uns zur Seite der reissend durch eine Schlucht tosende Fluss, wanderten wir in das entfernte Dorf. Langhingestreckt besteht die einzige Gasse halb aus einem Bach, halb aus einem ungepflegten Pfade. Die elenden Hütten und Lamahürden schienen verlassen, die Leute arbeiteten auf dem Feld, oder verkrochen sich scheu beim Anblick meines photographischen Apparates. Halt, da kauert ein malerischer Alter mit einem Schaf
Aus Central- und Südamerica.auf seines Hauses Schwelle. Einen Augenblick! Wie mit Furien gepeitscht enteilt der Quichua im kritischen Moment und auf dem Bild stehen nur Herr L. und das Schaf.
Auf dem Rückwege trafen wir viele Weiber, sie zogen höflich ihre grossen Filzhüte vor uns ab und auch die Männer grüssten,Niemand aber verstand ein Wort Spanisch. Fast unheimlich modern sprach mich in diesem weltabgeschiedenen Tal eine kleine, nach neuestem System errichtete Maccaronifabrik an. Die Maschinen kommen aus den Vereinigten Staaten, die Wasserkraft des Flusses bewegt den Motor und nur drei Mann sind zur Arbeit erforderlich. Die kleine Fabrik kann bis zehn Zentner Maccaroni im Tag liefern.
Am Abend legte ich mich früh zu Bett. Zu aller Sicherheit streute ich eine dicke Lage Zacherlin und hätte sicherlich ausgezeichnet ge-Schlafen, wenn nicht meine Reisegefährten die ganze Nacht in un-begreiflicher Unruhe im Hause herum rumort hätten. Was mochte nur los sein? Um 4 Uhr früh begab ich mich in das Speisezimmer herunter. Auf dem einen Tisch hatten sich das Secuanische Ehepaar mit dem Kind, auf dem anderen die drei Deputierten gebettet. Unter den Tischen machten sich Töpfe breit, die am wenigsten in das Esszimmer gehören. Während ich sprachlos an der Türe stehen blieb,klang mir von allen Seiten der Ruf „chinches“ entgegen, Ich kannte das Wort von Mexico her, ich kannte noch besser die hässlichen Zeichen auf Gesicht und Händen. Dank dem Zacherlin hatten mich gottlob diesmal die Wanzen in Ruhe gelassen.
Um 6 Uhr früh wurde abgefahren. Bis zu dem 3168 Meter hohen Urcos führt die Strasse meist bergabwärts. Unmittelbar vor Urcos sah ich einen Indianer, einem Affen gleich, an einem Seile hängend über den Fluss setzen. Dies ist die primitivste aller Eingebornen-Brücken. Man spannt ein Seil aus Agavenfasern über den Fluss, indem man es auf beiden Seiten an einer Art Galgen befestigt. Der Indianer bindet sich den Leibgurt an eine Holzgabel, die über das Seil gleitet,während er mit Hand und Fuss vorwärts steuert. Die Reit- und Last-tiere müssen bei diesen Gelegenheiten den Fluss durchschwimmen.Früher pflegte man Reisende und Waren in einem Korb über das Seil zu befördern. Dieser aus ungegerbter Ochsenhaut gemachte Korb heisst Oroya, daher der Name Oroya für solche Seilbrücken.
Urcos liegt zwischen hohen Bergen. Sein kleiner See ist weit-berühmt, weil der Sage nach
die Incas eine goldene Kette in sein tiefes Wasser versenkt haben, um sie vor den
goldgierigen Spaniern zu ‚retten, Garcilasso de la Vega erzählt uns, dass die Kette in
einem
Gleich hinter Urcos überschreitet die Post auf schöner Brücke den hier sehr breiten Vilcanotafluss und nimmt ihre Richtung gegen Cuzco durch das Huatanaytal. Die grossartigste Strecke des Weges beginnt hier, freilich auch die mühseligste für die armen Maultiere.In scharfen Bogen geht es steil bergan, und immer tiefer unten braust der Huatanayfluss. Wir fuhren durch wilde Schluchten, fuhren an hohen, roten Felsen hart vorbei, an denen die Sonne ihre glühendsten Strahlen verschwendet. Wie sonderbar ist die Bildung dieses Ge-steins, es erinnert an fein punktierte Korkrinde! Ebenso bizarr nehmen sich daneben die verkrümmten, grauen Gebilde des Kandelaberkaktus mit seinen märchenhaften, weissen Glockenblüten aus. Immer mehr verengert sich das Tal, und Fluss und Strasse scheinen sich um die Herrschaft zu streiten. Nach einigen Metern, da wo die Höhen rings umher alte Incasruinen tragen, erreichten wir die Stelle, wo das Tal von Cuzco sich zuerst unseren Blicken zeigt, aber immer noch weiter müssen die müden Maultiere unseren schweren Wagen schleppen. Auch wir sind erschöpft! Zusammengepackt wie die Sardinen, die Augen voll Sand und Staub, durstig infolge der brennenden, auf unseren Wagen fallenden Sonnenstrahlen, ersehnten wir alle das Ziel der endlosen Fahrt. O, diese letzte qualvolle Stunde! Je näher wir der alten Incashauptstadt kamen, um so ver-nachlässigter wurde die Strasse. Sie hat sich hier in eine Sand-wüste verwandelt. Bleichende Tiergerippe, halbverweste, von Geiern und hungrigen Hunden angefressene Maultiere und Esel verpesteten jeden Augenblick die Luft und boten ein schreckliches Bild.
Die Chronikschreiber der spanischen Eroberer: Cieza de Leon und Garcilasso de la Vega
geben uns ungefähr folgende Beschrei-bung von den Strassen der Incas: „Von dem grossen
Huakapataplatz in Cuzco nahmen die das Reich nach allen vier Weltgegenden
durch-schneidenden Strassen ihren Anfang. Mehr als alle Tempel und Pa-läste haben sie die
Bewunderung und das Erstaunen der spanischen Eroberer hervorgerufen. Die mit harten
Luftziegeln gepflasterten, mit grossen, behauenen Steinen eingefassten, meilenweit in
schnurgerader Richtung laufenden Verkehrsadern, konnten den Vergleich mit den schönsten
Heerstrassen der Römer vertragen. Sie entbehrten ebenso-
Aus Central- und Südamerica.wenig schattenspendender, blütenduftender Bäume, als erquickender Brunnen und guter Herbergen. Man frägt sich erstaunt, welche Menschenkräfte und welches Werkzeug dazu gehört haben, um Berge zu ebnen und Felsen zu sprengen und diese breiten Strassen über Hochgebirge und Flüsse zu führen. Gab es doch bis 1100 Leguas (1 Legua = 6 km) lange Verkehrsstrassen. Dabei waren sie ganz rein gehalten, und man achtete streng darauf, dass weder ein Stein-chen, noch ein Grashalm darauf gefunden wurde.“
Endlich blieb unser Postwagen vor einem elenden Schuppen ausserhalb der Stadt stehen. Überraschend schnell entwirrte sich der Menschenknäuel aus dem Marterkasten und bald war jedermann im Besitz seines Gepäckes. Ich schaute mich nach einem Träger um, denn Cuzco kennt weder Droschken, noch Trambahnen. Da stand ein dunkler Quichua in einem schön gemusterten Poncho malerisch drapiert, auf dem bezopften Haupt eine gestrickte, wollene Mütze. „Nimm,“ ich deutete auf mein Handgepäck, „und führe mich nach dem Hotel Central.“ Mit dem Indianer wanderte ich. durch enge, übelriechende, grässlich gepflasterte Strassen den endlos langen Weg nach dem Gasthof. „Das also ist. Cuzco, die goldene, hoch-berühmte Incastadt, dieses schmutzige, verarmte, heruntergekommene Provinzialnest!“ musste ich mir immer wiederholen.
Die Incas haben uns keine geschriebene Geschichte ihres Reiches hinterlassen, aber aus den Werken zweier Chronisten können wir uns ganz anschaulich Land und Leute vergegenwärtigen: Cieza de Leon (um 1553) durchzog das Land unmittelbar nach der spanischen Eroberung; Garcilasso de la Vega, ein Sohn des Eroberers gleichen Namens und einer kaiserlichen Prinzessin, Schwester des Inca Huaskar,wurde im Jahr 1539 zu Cuzco geboren. Er namentlich vermochte es am besten, dank seiner Verwandtschaft mit der Herrscherfamilie, deren Leben, Land und Sitten zu beschreiben.
Auf der Bibliothek in Santiago habe ich manche Stunde mit der Lektüre seiner „Comentarios Reales de los Incas“ verbracht, und was ich hier erzählen will, stammt zumeist aus dieser Quelle. Er berichtet über die Gründung des Incareiches folgendermassen:
Unser gütiger Vater, der Sonnengott, wurde einst von tiefem Mitleid ergriffen für das
rohe, ungebildete Menschengeschlecht. Er entsandte deshalb seinen Sohn und seine Tochter
aus dem Himmel auf die Erde, um unser Volk zu erziehen, zu bilden und zu belehren,wie es
ihn anbeten und verehren solle. Er führte die Beiden auf die Insel Titicaca und gab ihnen
ein goldenes Rütchen mit dem
Befehl: „Wandert damit durch das Land gen Norden, senkt es hie und da prüfend zur Erde und da, wo es hineinschlüpft, lasst Euch nieder. Suchet ein ganzes Volk zusammen, baut eine Stadt und erzieht und belehret die Menschen. Dann mögt Ihr mit Sanftmut,Milde, Nachsicht und Gerechtigkeit über sie herrschen. Behandelt sie stets, wie gute Eltern ihre lieben Kinder. Nehmt Euch an mir ein Beispiel: Ich wärme die Menschen, wenn es kalt ist, ich breite meinen Glanz über sie aus, um ihnen Licht zu ihrer Arbeit zu geben,ich lasse Saaten und Weiden gedeihen und sende Regen und Sonnen-schein, jedes zu Seiner Zeit.“
So sprach der Sonnengott. Gehorsam wandten sich die beiden Sonnenkinder von der Insel gen Norden und versuchten mehrmals vergeblich die Kraft des goldenen Stabes. Endlich kamen sie in ein wildes, steiniges Tal am Fusse des Berges Huanacuati, und siehe da, als sie die Rute prüfend zur Erde senkten, verschwand sie mit Blitzesschnelle. Da trennten sich die Geschwister. Eines zog gegen Norden, das andere gegen Süden, und jedes sammelte sich ein grosses Volk. Dies gelang ihnen leicht, denn als die armen, nackten Menschen die prächtig gekleideten Sonnenkinder sahen und ihre sanften Ver-sprechungen und gütigen Zusprüche hörten, schenkten sie ihnen gerne Glauben, beteten sie an und gelobten ihnen Gehorsam als ihren Königen.
Auf der Stelle, wo die goldene Rute verschwand, wurde die Königsstadt Cuzco erbaut. Der Sohn des Sonnengottes, Manco Capac,wurde der erste König des Incareiches, seine Schwester, die später seine Frau wurde, die erste Königin. Er lehrte die Männer Ackerbau und Gewerbe und legte mit ihnen Kanäle zur Bewässerung der trockenen Landesteile an. Sie, Coya Mama Okllo lautete ihr Name,lehrte die Weiber Wolle und Baumwolle spinnen und weben, Kleider für sich, ihre Männer und Kinder anfertigen und gab ihnen Unter-richt in allen häuslichen Arbeiten. Immer grösser und mächtiger wurde das Reich, und immer mehr Menschen baten um Aufnahme in diesen Musterstaat.
Cuzco, die Incaresidenz, war ohne Frage die bestangelegte, schönste und bevölkertste Stadt des Reiches, und die Zahl ihrer Bewohner soll über 200,000 Seelen betragen haben. Die meisten Häuser be-standen aus poliertem Stein, und wenn sie gleich nur mit Itschu-Stroh gedeckt waren, so hatte man letzteres doch so sorgfältig zusammen-gebunden und zugeschnitten, dass diese Strohdächer die Wirkung der prächtigen Mauerwände nicht beeinträchtigten. "Da jeder regierende
Aus Central- und Südamerica.
Inca für seinen persönlichen Gebrauch sich unmittelbar nach seinem Regierungsantritt einen eigenen Palast erbauen liess, so nahmen diese Paläste ein ganzes Stadtviertel ein. Ihre Mauern waren mit Skulpturen geschmückt und bemalt, die in das Innere führenden Türen in der Regel aus verschiedenen, buntfarbigen Steinen zusammengesetzt. Die langen Strassen der Residenz waren gepflastert. Einige wurden von Bächen durchflossen, deren Bett und Ufer man sorgfältig mit Stein-platten belegt hatte, Verschiedene steinerne Brücken führten über diese Bäche.
Bei aller Weisheit und Milde, womit die Incaherrscher ihr grosses Volk regierten,
verlangten sie von ihren Untertanen Arbeit und ein ununterbrochen tätiges Leben. Von
Geburt an wurden die Kinder abgehärtet, im Entbehren und Entsagen geübt. Wenn das Kind
ge-boren war, ging die Mutter an den nächsten Bach oder Fluss und wusch sich und das
Kleine. Dann wurde dieses ganz fest in ein grobes Tuch gewickelt und in einem Sack von der
Mutter auf dem Rücken getragen. Nur dreimal täglich stillte die Mutter den Säugling,da
„die Kinder infolge häufigen Trinkens sich zu oft verunreinigen und ausserdem zu späteren
Leckermäulern oder Vielfrassen erzogen würden“, Den Säugling auf den Schoss zu nehmen,
fiel keiner Mutter ein. Er musste bis er stehen konnte, beständig in der Wiege
liegen.Diese war ein dreifüssiges Holzgestell, in das ein grobes Netz gelegt war, das
zugleich Boden und Seitenwände bildete. Es konnte nach oben zugezogen werden, wodurch das
Herausfallen des Kindes ver-hindert wurde, Wenn es zu kriechen begann, grub man ein Loch
in den Fussboden, fütterte dieses mit alten Lappen aus und gab ihm sein Spielzeug zum
Zeitvertreib, Dieses bestand aus steinernen Kugeln und mit Steinchen gefüllten,
verschlossenen Muscheln. Bei den mumi-Hizierten Klein-Kinderleichen pflegt man meist solch
eine Klapper zu Änden.Dass bei einem so spartanisch aufwachsenden Geschlecht die Heilkunde
nicht besonders gedieh, ist begreiflich. Sie bestand im wesentlichen aus einigen Schwitz-
und Abführungsmitteln, sowie aus,mit Hülfe einer spitzen Feuerstein-Lanzette, geschickt
ausgeführten Aderlässen. Als Ärzte dienten bei dem niederen Volke erfahrene,alte Weiber,
bei den höheren Ständen sogenannte, in der Kenntnis der Pflanzen bewanderte
Kräuterhändler. Bei Vornehm und Gering spielten sodann Hexenmeister eine hervorragende
Rolle. Hexenmeister,Kräuterhändler und Ärztinnen durften übrigens nur dann ihrer Kunst
obliegen, wenn sie wegen Alter oder körperlicher Gebrechen nicht
159 zu schwerer Arbeit verwendet werden konnten. Arme Heilkünstler!in die Klasse der Krüppel und Faulenzer wurden sie von den weisen Incas . versetzt!
Während vierhundert Jahren hatten die Incas klug und milde ihr weites Reich beherrscht und besonders Cuzco den „Nabel“ des Landes zum Sitz einer hohen Kultur gemacht. Da plötzlich erschien im Lande der Sonnenkinder ein Haufe spanischer Abenteurer. Sie sahen das blühende Reich, sahen die unermesslichen Schätze und wurden von blinder Goldgier ergriffen, Freundlich hatte das einfache Volk die Fremdlinge aufgenommen, es staunte die bärtigen, weissen Männer wie überirdische Erschei-nungen an und nannte sie Vira-cocha, „See-Schaum“, nach einem mächtigen Geist, der einst dem jungen Sohn des Incas Yahuar-Huacac erschienen war. Er hatte ihn von heller Gesichtsfarbe, einen Bart tragend und mit langem Ge-wand angetan geschildert. So war es kein Wunder, dass die kind-lichen Indianer, die von der See her-kommenden Männer, deren Waffen „Donner und Blitz“ entsandten,für Abkömmlinge jenes Viracocha hielten. Natürlich glaubten die Sonnenkinder deshalb nicht an die Möglichkeit, Lüge und Falschheit bei den Fremden zu finden.
„Aber sonderbar“ so erzählt Garcilasso „während die Incas friedlich und freundlich mit
den guten, weissen Männern ver-handelten, und während der christliche Bischof Valverde mit
dem Kreuz in der Hand ihrem Könige Atahualpa die Lehre Christi ver-kündigte, drangen die
Spanier ohne irgend welchen Grund mit Lanzen und Schwertern plötzlich auf die harmlosen
Indianer ein und töteten 5000 angesichts ihres Königs. Später wurde ebenderselbe König
gegen alles Recht gefangen genommen und ihm seine Freiheit gegen ein riesiges Lösegeld in
Gold und Silber versprochen. Das wurde aus dem ganzen Lande zusammengetragen und richtig
abbezahlt, Atahualpa aber wurde erdrosselt und keine andere Freiheit ihm gegeben, als
diejenige, die der Tod allen Menschen gibt.“ Soweit Garcilasso.
„4
Aus Central- und Südamerica.Jenes Lösegeld bestand aus 1,326,539 Gold-Pesos, was ungefähr 100,000,000 Franken gleichkommen würde, wenn man den zu jener Zeit viermal höheren Goldwert in Betracht zieht. An Silber mochten ungefähr 25,805 Pfund hinzugekommen sein. Ein Teil des Goldes hatte aus kunstvoll gearbeiteten Statuen, Pokalen, Tellern und Schmuckstücken bestanden. Dies alles war zum bequemeren Trans-port in Gold- und Silberbarren verschmolzen worden.
Atahualpa hatte sein Wort gelöst und das selbst den goldgie-rigen Siegern fabelhaft erscheinende Lösegeld bezahlt. Was sollte nun mit Atahualpa geschehen? Frei, war es ihm leicht, ein mächtiges Heer zu sammeln, gefangen bedurfte er einer Anzahl Soldaten zur Überwachung, arm war er jetzt auch, so erschien sein Tod eine Notwendigkeit. Es war leicht, den Erlass seines Todesurteils vom Zaun zu reissen, und den 3. August 1553 wurde es Öffentlich ver-kündet. In schweren Ketten führte man den Sonnenkönig bei heran-brechender Nacht zur Richtstätte. Gefasst, würdevoll nahte er sich dem Scheiterhaufen, verächtlich alle Bekehrungsversuche Valverdes zurückweisend. Erst als der Bischof versprach, ihn vom Scheiter-haufen zum Tod durch Erdrosseln zu begnadigen, liess er die Tauf-handlung schweigend über sich ergehen. Nicht Furcht vor dem Feuertod war Ursache dieser Nachgiebigkeit. Der Indianer glaubt,ein zu Asche verbrannter Körper könne in einer andern Welt kein neues Dasein beginnen, und auch Atahualpa hatte den Seinen die tröstliche Zusage eines dereinstigen Wiederfindens gegeben.
Auf Atahualpa folgten zwar noch einige Incas; allein ihre Macht war gebrochen. Ein in gerader Linie von dem letzten Inca ab-stammender ‚Sprosse, Tupac Amaru, versuchte noch im Jahre 1572 Cuzco, die Hauptstadt seiner Väter, den Händen der Spanier zu ent-reissen. Er hatte. ein grosses Heer gesammelt, und eine Zeit lang schien das Glück ihm hold. Es war, als ob die toten Götter wieder auflebten, und das schöne, strahlende Regenbogenbanner bestimmt sei, noch einmal über den starken Festungsmauern Cuzcos zu flattern.Aber Verrat brachte die gerechte Sache des indianischen Königs-sprosses zum Fall. Tupac Amaru wurde gefangen und das peinliche Gerichtsverfahren gegen ihn eingeleitet. Vor seinen Augen richtete man seine Frau und seinen Sohn zuerst hin, dann wurde der letzte Sonnensohn auf dem grossen Platze von Cuzco neben der dem gerechten und barmherzigen Gott geweihten Kathedrale von Pferden zerrissen.
Auf diesem grossen, historisch berühmten Platz, stand ich jetzt endlich. Mein dunkler
Führer hatte vor der massigen, spanischen
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Kirche die gestrickte Mütze still abgenommen. Der Glaube seines Peinigers ist längst auch der seinige geworden. Drei hohe Hügel ragen hoch über den Platz herein. Am Rande des einen zeichnen sich drei schwarze Kreuze scharf vom Himmel ab. Hinter diesem Calvarium erhebt sich die grosse Festung Sacsahuaman, ein Werk dreier Regierungszeiten und zugleich das dauerhafteste Denkmal einheimischer Kunst auf dem americanischen Festland.
Aus der Ferne erklang ein süsses, weiches Glockengeläute. Ist der Ton dieser Glocken wohl so schön, weil die Eroberer die goldenen und silbernen Götzenbilder des alten Glaubens hinein-geschmolzen haben ?
Leise berührte ich die Schulter meines Indianers: „Führe mich und mein Gepäck jetzt nach dem Gasthof.“ Wir schritten durch die den Platz umsäumenden Portales, kamen durch eine düstere, keines-wegs nach den Düften des glücklichen Arabiens riechende Strasse und standen vor dem Hotel Central.
Bez
1
Cuzco, die Sonnenstadt.
Ich war vorbereitet. Selbst in Peru ist Cuzco wegen seines Schmutzes berühmt und berüchtigt. Das übelriechende Treppenhaus,die ausgeschliffenen Stufen waren daher keine allzu schmerzliche Über-raschung, und als ich in ein kahles Zimmer geführt wurde, dessen Bodenteppich wohl monatelang nicht gekehrt, dessen Bettwäsche ebensolang keinen Wechsel erfahren, konnte ich ohne jegliche Auf-regung um einige Besenstriche und ein reines Lager bitten. Kopf-schüttelnd über solche Prätensionen verliessen mich Wirt und Mözo.Als ich gegen Abend zurückkehrte, war der Augiasstall etwas ge-säubert und Wirt und Untergebene beflissen sich, während meines kurzen Aufenthaltes der äussersten Höflichkeit. Ausser mir wohnten keine anderen Gäste da, Offenbar bewunderte der Wirt meinen Mut,den weiten Weg nach Cuzco allein unternommen zu haben. Am letzten Abend erschien er plötzlich mit einem Gläschen Syrakusaner und schenkte mir zur Wegzehrung ein Rahmkäschen. Das war eine köstliche Gabe und bildete nebst einigen Früchten die einzige Küh-lung für all das Gepfefferte, das mir unterwegs blühte.
Es galt die Zeit ausnützen. Nachdem ich mich etwas gereinigt und gegessen hatte, lenkte ich meine Schritte wieder dem grossen Platz zu. Da steht die Kathedrale, ein untadeliger Bau mit zwei schweren, viereckigen Glockentürmen. Wie bei den übrigen Kirchen Cuzcos gaben die, den Inca-Königshäusern entnommenen, fein bear-beiteten Quadern ein prächtiges Material ab. Inwendig befindet sich eine grosse Anzahl Altäre und Kapellen, der Hauptaltar ist ganz aus Silber, der Chor enthält schöne Schnitzereien und alte, riesige Kirchen-bücher, Vergoldung und Bilder sind überall in Menge angebracht.
Auf demselben Platz steht die Jesuitenkirche, einfach la Compafiia genannt, ein eleganter, schöner Renaissancebau aus dem Jahre 1591.Obschon nur einschiffig, ist der Innenraum doch ansprechend und
Aus Central- und Südamerica geräumig. Rechts daran schliesst sich das ehemalige Kloster mit überladener Fassade, schönem Kreuzgang und grossem Hof. Nach Vertreibung der Jesuiten wurde die Universität in die Klosterräume versetzt.
In die Kathedrale schon war mir eine Schar Strassenjungen gefolgt. Als ich aber gar mein Stativ auf dem Platz herauszog, bildete sich ein wahrer Auflauf. Eine einzelne Dame und noch dazu eine photographierende, das war in Cuzco noch nie dagewesen! Von allen Seiten liefen Anfragen, sogar im Gasthof ein, wann und zu welchem Preis ich diese oder jene abkonterfeien wolle. Ich hätte entschieden in Cuzco als Photographin Karriere gemacht. Vorläufig hatte ich die grösste Mühe, den zahlungsunfähigen Plebs auf einige Schritt Distanz von meinem Apparat zu halten. Unter den Zudringlichsten bemerkte ich Juan de Dios, meinen nachmaligen, kleinen Führer.
Der schmierige Bengel war von diesem Augenblick an nicht ab-zuschütteln. Wohl zwanzig Mal erklärte ich ihm, keinen „guia“ zu wollen, ich schalt ihn aus, ich drohte mit der Polizei, ich nahm keine Notiz von ihm, einerlei, Juan de Dios heftete sich wortlos an meine Sohlen und schliesslich gewann seine Beharrlichkeit den Sieg. Über-glücklich trug er von nun an meinen Apparat und machte mich, wie ein echter Führer, auf alle Merkwürdigkeiten seiner interessanten,schmutzigen Vaterstadt aufmerksam. Der kleine, zerlumpte, unge-waschene Juan de Dios wusste übrigens, was sich schickt. Kam je auf unseren Wanderungen so etwas wie ein Bürgersteig vor, So hiess er mich stets auf der Innenseite gehen, „das erfordert die Höflichkeit eines Caballeros einer Dame gegenüber“, meinte er einst. Über seinen Namen Juan de Dios pflegte er sich höchst wohlgefällig zu äussern:„Das ist ein schöner Name, mein Namenspatron war ein sehr guter,frommer und wohltätiger Mann, wenn ich gross bin, will ich auch so werden, wie er.“
Vor der Universität standen zwei Herren, der eine entpuppte sich später als Journalist.
Das erklärte mir seine grosse Neugierde. Ich wurde eingeladen, die Universität zu
besichtigen und zunächst in einen mir gar nicht bemerkenswert erscheinenden Saal geführt,
wo die Statue der Freiheit den Ehrenplatz einnahm. Die sogenannte Bibliothek bildete
zugleich eine naturhistorische und antiquarische Sammlung.Haufenweise lagen die Folianten
auf der Erde, und dazwischen sassen ausgestopfte, abgeschabte Pumas und einige Incamumien.
Sie machten mir hier einen besonders schauerlichen Eindruck. In den leeren Augen-höhlen,
den verzerrten, fleischlosen Lippen lag der Ausdruck einer
165 grässlichen Todesangst. Es war, als ob sie unter den Streichen der fremden, weissen Eroberer gestorben wären. Auch grosse Amphoren sind da, wie die Indianer sie noch heutigen Tages formen und ge-brauchen.
Die Tageshelle gestattete mir noch den Besuch der kleinen Kirche San Blas. Sie besitzt zwei kostbare Schätze: eine herrliche, geschnitzte Kanzel und einen schrecklichen, weit berühmten Christus: Die Kanzel war bis auf den Baldachin mit einem kostbaren, roten Seidentuch drapiert. Auf meine Bitte wurde es freundlich abgenommen und die Kirchentür weit geöffnet. Jetzt konnte ich ungehindert die zierliche wun-derbare Arbeit bewundern. Da ste-hen zunächst in durch korinthische Säulen von einander getrennten Nischen zwölf Heilige. Über ihnen bilden niedliche Engelsköpfchen einen anmutigen Kranz und zugleich die Stütze eines breiten Frieses,auf dem die Kirchenväter verewigt sind. Es ist wohl nicht übertrieben,wenn ich sage, dass auf diesem Meisterwerk der Holzschnitzerei nahezu 500 Figuren angebracht sind. Die Wand hinter der Kanzel besteht aus sechs Basreliefs mit den Leidensstationen Christi. Der sterbende Christus zwischen den beiden Schächern am Kreuz ist ge-radezu wundervoll in Haltung und Ausdruck. Auf dem schön ge-schnitzten Baldachin steht der Auferstandene.
Wie soll ich den Christus de los Temblores beschreiben? Mit einer wahren Andacht sah der Sakristan mir über die Schultern, als ich ihn photographierte; er hielt ordentlich den Atem an, um mich ja nicht zu stören. Nun liegt das Bildchen vor mir: Christus zwischen Maria und Johannes, alle drei überlebensgrosse, hölzerne Puppen.Christus hängt am Kreuze. Sein Haupt umflicht die Dornenkrone mit den typischen Rosen und dem Goldflitter. Lang hängt das Haar über das schmutzig schwarze Gesicht herunter, und seine Lenden bedeckt bis auf die Waden der kirchlich vorgeschriebene Weiber-
Aus Central- und Südamerica.rock. Um die Mitte des 16. Jahrhunderts, nachdem Cuzco von einem heftigen Erdbeben heimgesucht worden war, Schickte Kaiser Karl V dieses von einem Papst geweihte Bild den Bewohnern Cuzcos zum Troste. Und siehe da! Kein Erdbeben hat seither die Stadt heim-gesucht. Deshalb wird der „Erdbeben-Herr“ so hoch verehrt, und die Ehrfurcht geht bei den Indianern so weit, dass keiner es wagen würde, das alters- nnd staubgeschwärzte Bild reinigend zu berühren.Einmal, im Jahre 1875, fasste die Kirchenbehörde den Beschluss,den „Erdbeben-Herrn“ aufzufrischen. Schon hatte der Maler die feinsten Farben angerieben und stand im Begriff, das Gerüst zu er-klimmen, als eine aufgeregte Menge, die Quichuaweiber allen voran,in die Kirche eindrang: „Wir wollen keinen weissen Christus, ge-schwärzt nur ist er wundertätig, fort mit den Farben, her mit dem verruchten Maler, dass wir ihn töten!“ Mit knapper Not entging der Unglückliche seinen Verfolgern; der Erzbischof gab ihm eine Zuflucht in seinem Palast, allein auch dort war er kaum sicher.Wenig fehlte und die fanatische Menge hätte sich sogar an der ge-heiligten Person des Erzbischofes vergriffen. Natürlich denkt seither kein Mensch mehr an die Reinigung des wundertätigen Bildes, und nach wie vor wird der vom Staub und Schmutz vieler Jahrhunderte geschwärzte „Erdbeben-Christus“ triumphierend jeden Karfreitag durch die engen Gassen des alten Cuzco getragen.
Am folgenden Morgen machte ich mich schon um 6 Uhr früh auf den Weg. Ich wollte den 230
Meter über dem Hauptplatz ge-legenen Kalvarienberg, oder besser gesagt Sacsahuaman, die
Festung Cuzcos, besuchen. Ich habe schon von den drei Höhen, an deren Fuss die Stadt
liegt, erzählt; nun möchte ich noch die drei Flüsschen erwähnen, die Cuzco gewissermassen
umgrenzen und in Dreieck-form zwängen. Sie heissen: Rodadero, Huatenay und
Almodena.Zwischen Huatenay und Rodadero stand auf dem vom Hügel Sacsa-huaman steil
abfallenden Hang das Quartier, wo die königliche Fa-milie wohnte. Dorthin wandte ich jetzt
meine Schritte. Zunächst klomm ich eine enge, steile Gasse empor. Jeden Augenblick flog
aus den Fenstern etwas Unerfreuliches, ich musste mich dabei eng an die Häuser ducken,
oder in kühnem Sprung auf die andere Seite des Baches übersetzen. Nur gut, dass ein Bach
diese Strasse und ihre Düfte durchrieselt! Das schon hier schlechte Pflaster artete weiter
oben vollends aus. „Komme ich nach dem Haus des Manco Capac und zu der Festung ?“, fragte
ich atemlos einen mir begegnenden Herrn. „Gewiss,die Palastruine liegt auf meinem Grund
und Boden, ich führe Sie hin.“
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Unverdrossen machte er kehrt. Keuchend stieg ich mit meinem Ritter immer höher. Zuletzt gelangten wir zu von Cyklopenmauern gestützten Terrassen, In regelmässigen Abständen sind merkwürdige,sich nach oben verengernde Nischen angebracht. „Wozu dienten diese?“ Er schüttelte den Kopf. Auf der obersten schmalen Terrasse ganz von Blumen umwuchert stehen die unbedeutenden Überreste des Palastes des ersten Inca Manco Capac: ein schön gefügtes Mauer-stück, ein schmaler Toreingang, ein kleines Fenster sind alles, was von dem Haus des Sonnensohnes auf die Nachwelt übergegangefl ist. Aber einen stolzen Königssitz hatte er sich erwählt, denn von hier oben beherrschte er nicht nur Cuzco, sondern auch das ganze Tal. Diese Terrassen heissen Colcompata.
Es regte sich in den hohen Rosenbüschen. „Willst du Inca-blumen?“ fragte ein feines Stimmchen; ein ganz kleines Mädchen stand vor mir und hielt mir ein Schürzchen voll stiellos gepflückter Rosen entgegen.
„Da ist ja meine Jüngste“, meinte der Herr. „Aurora!“ Eine hübsche, junge Frau trat aus dem nahen Haus, vier grössere Kinder,wie die Orgelpfeifen, eilten der Mama. nach. Ungeachtet der frühen Morgenstunde und der vielen Kinder waren alle sorgsam gekleidet.„Aurora, lass die Kuh melken, die Fremde trinkt gewiss gern ein Glas Milch, lass sie gehörig ausruhen und gib ihr den Juan zum Schutz mit auf die Festung. Leider rufen mich Geschäfte in die Stadt,sonst hätte ich mir ein Vergnügen daraus gemacht, Sie auf den Ruinen umher zu führen“. Das nennt man Gastfreundschaft!
Ich bekam meine Milch, bekam einen Strauss herrlicher Rosen,wurde durch das Haus und auf eine wundervolle Aussichtsterrasse geführt und verabschiedete mich, um nicht allzusehr in die Hitze zu kommen. Juan und zwei der Kinder begleiteten mich. Von den Ter-rassen des Colcompata kletterten wir recht mühsam auf kaum ge-zeichnetem Pfad im Zickzack bergaufwärts. Auch hier bilden Ter-rassen den Gipfelpunkt. Eine kurze, beinahe ebene Strecke und die drei Mauerreihen der Festung Sacsahuaman starren vor mir empor,
Sacsahuaman wird mit „Fülle dich, Falke“ wörtlich übersetzt.Umschrieben würde es deutlicher lauten: „Wirfst du dich gegen diese uneinnehmbaren Felswände, so werden sich die Falken an deinem Leichnam satt fressen können.“ ;
Die drei Mauerreihen laufen unregelmässig im Zickzack und besitzen jetzt noch eine Länge von 550 Meter. Die äusserste Reihe ist durchschnittlich 6 Meter, die mittlere 45 Meter und die dritte
Aus Central- und Südamerica.
23 Meter hoch. Schwere Kalksteinblöcke von ungleicher Form und Grösse bilden das Material dieser Mauern, Kleine Steine zur Ausfüllung der Lücken wurden nicht verwendet; man wählte die Blöcke so, dass sie ungefähr zusammenpassten und bearbeitete sie hierauf, bis ihre Kanten genau aneinander stiessen. Jede vorspringende Ecke wird durch einen besonders wuchtigen Stein gebildet. Der höchste Eckstein misst 5,80 Meter Höhe, 3 Meter Breite an der Basis
Hälite der Feste Sacsahuaman und ist 2,30 Meter dick. Die äussersten Teile der Mauern sind von den Spaniern arg zerstört worden. Man behauptet bestimmt, dass einst stattliche Tore hier gestanden, deren vierkantige Steine alle nach der Stadt als Baumaterial gebracht wurden
Garcilasso de la Vega nennt Yupanki, den zehnten und grössten Inca, als den Erbauer
dieser grossartigen Festung. Er lebte um das Jahr 1400 und regierte volle 39 Jahre. Das
Werk soll jedoch erst während der Regierung Huayna Capac, des Vaters Atahualpas, kurze
Zeit vor Ankunft der Spanier vollendet worden sein.
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Wie ist jenes Riesenwerk entstanden? Wir wissen, dass die Incas weder Zugtiere, Karren, Krahnen und Flaschenzüge, noch Werk-zeuge aus Eisen und Stahl besassen. Eines aber stand ihnen in unbegrenzter Zahl zur Verfügung: Arbeiter. Die Chronisten erzählen uns, wie zunächst 20,000 Menschen auf dreimonatlichen Frohndienst aufgeboten wurden, um später durch eine ebenso grosse Zahl wieder abgelöst zu werden. Sie teilten sich folgendermassen in die Arbeit:4000 beschäftigten sich in den Steinbrüchen, 6000 schleppten die losgebrochenen, riesigen Quadern an starken, aus Ochsenhaut und Agave-fasern gefertigten Seilen und auf Walzen nach dem Bauplatz. Die ‚übrigen 10,000 bearbeiteten hier die Quadern. Genügte die Kraft all dieser Menschen nicht, so lag es ganz in der Macht des Inca, eine zehnfache Zahl zur Arbeit zu verwenden.
Alles Land, jeder Be-sitz, jedes Erzeugnis, jede erzeugende Kraft gehörte dem Inca, dafür spendete er aber alles. Alle Unter-tanen mussten ihrem Herr-scherhaus frohnen, und so-gar die Söhne der Häupt-linge und Vornehmen einige Jahre beim Hofe Dienstleistung tun,Der gemeine Mann hatte dem Sonnengott, dem König und der Ge-meinde zu frohnen, bevor er für sich selber arbeiten durfte, Dafür sorgten wiederum Gott, der König und die Gemeinde für den Ein-zelnen, wenn Alter oder Krankheit ihn heimsuchte. Bettler gab es keine im Incareiche. Kein Stamm, keine Ortschaft im ganzen Lande war von Abgaben und Frohnden befreit. Die Eintreibung der erstern aber, und die Leistungen der letztern geschahen ohne jeglichen Wider-spruch.
Eckstein der Feste Sacsahuaman.
Der fromme Pater Acosta schreibt: „Der grösste Reichtum, dessen sich diese Barbarenkaiser
erfreuten, bestand darin, dass alle Unter-
Aus Central- und Südamerica.tanen ihre Sklaven waren, deren Dienste sie benutzten. Sie ver-standen es aber, diese Sklavenverpflichtungen in solcher Ordnung und Gerechtigkeit aufzuerlegen, dass sie keineswegs als Frohndienste erschienen, sondern im Gegenteil den Frohnenden zur Freude ge-reichten!“
Lange irrte ich in den Trümmern umher, auf dem flachgerundeten,spärlich mit Rasen und niedrigem Strauchwerk bewachsenen Berge.Ausser den drei mächtigen Festungsmauern liegen allerlei seltsame Kalksteinformationen umher. Menschenhand hat dabei nachgeholfen,aus einigen von ihnen Sitze, Nischen und Stufen zu bilden. Ein ganz merkwürdig Ding ist die gewölbte, mit Rinnen versehene Trachyt-masse des Rodadero. Er erinnerte mich an mehrere neben einander liegende Paare ungekochter Bratwürste. In der Nähe liegt das Chingana oder Labyrinth, in dessen vielverzweigten Gängen dereinst einige Menschen sich verirrt hatten und jämmerlich zu Grunde ge-gangen sind.
Der Diener und die beiden äusserst lebhaften Kleinen begleiteten mich einen weniger steilen, aber um so steinigeren Weg gegen die Stadt zu. Bald ist er in den Fels gehauen, bald streift er hart den Abgrund. Wo er sich aber auch durchwindet, überall ist das Rodadero-flüsschen sein und mein treuer Begleiter, Juan hatte die beiden müden Kinder sorgsam über eine Mauer gehoben und war mit ihnen ihrem Heim zu verschwunden. Ich hielt mich an den Rodadero. „Verfolge meinen Lauf“, schien er mir zuzurufen. Bald schäumt er hochauf, wie der Schnee des Berges, bald‘ glitzert er aus düster beschattetem Becken hervor, als wollte er sagen: „Lass mich etwas ausruhen, ich springe nachher um so schöner.“ Fort ist er, versenkt in ein Geröll von Steinen, aber geheimnisvoll quillt und murmelt er weiter aus der Tiefe. Sein Plätschern gibt meinen müden Knieen und brennenden Füssen Mut, den entsetzlichen Weg bergab zu wandern.
Einmal unten gelangte ich in die Calle Triunfo, wo alles an die Incas erinnert.
Hier stand der Palast des Inca Rocca, inmitten der Schulen, wo die weisen Männer jener
Zeit ihren Zöglingen die Anwendung der Quippus und die Volkssagen lehrten. Der ganzen
Strasse entlang stehen noch die schweren, dunkeln, massigen Steinmauern, das Werk des
schmählich gemordeten Volkes, Die grausamen Sieger benutzten sie als Erdgeschoss, um ihre
leichteren Neubauten darauf zu setzen.Die Eingangstore der edlen Incaspaläste tragen die
freilich auch jetzt schon verwitterten Wappen der Abenteurer Pizarro, Almagro,
Val-
In dem Inca-Roccapalast ist ein Stein, über den schon die ersten spanischen Chronikschreiber berichten. Sie nannnten ihn „La piedra famosa de doce angulas“ (Stein der zwölf Ecken).
Auf dem Markt fand ich reges Leben. Was für wunderschöne Früchte kommen in diese Bergwildnis! Ist es nicht erstaunlich, dass es etwa 40 Kilometer von Cuzco entfernt, heisse Täler gibt, wo sub-tropische Früchte in Hülle und Fülle gedeihen? Cuzco selber mit seiner 3467 Meter hohen Lage erfreut sich eines gleichmässigen Klimas, die Nächte sind zwar kühl, aber es friert selten. Die Bevöl-kerung bildet sich hauptsächlich aus Quichua-Indianern und Chunchos,einem den Chinesen etwas ähnlichen Stamme. Die Indianer Cuzcos gelten für besonders mürrisch und schweigsam. Ich hatte keine Ge-legenheit, dies wahrzunehmen, mein Früchtehandel entwickelte sich ganz glatt, auch ohne Kenntnis der Kechuasprache. Ich erstand Kaktus-feigen, Paltas, Grenadillas und köstliche Ananas, das Stück zu 20 Centimes. Ohne sie wären meine Mahlzeiten im Hotel Central bedenklich spärlich ausgefallen. War mir doch alles zu gepfeffert und zu unappetitlich aufgetragen!
Nach Tisch besuchte ich die nahe Kirche La Merced. Sie besitzt einen schönen Turm, eine schöne Facade und ein überladenes Inneres.Berühmt ist der Kreuzgang des Klosters. Als ich ihn betreten wollte,stellte sich mir ein junger Dominikaner entgegen: „Frauen dürfen den Kreuzgang nur betreten, wenn sie eine besondere Empfehlung haben!“ Ja, die besass ich nicht und wandte mich daher zum Gehen,Ich ruhte mich im Gasthof etwas aus und war eben am Einnicken,als es klopfte. Juan de Dios trat ein: „Der muy respetable padre jässt der illustrisima Sefiorita melden, gegen eine Entrichtung von „plata“ (der Kleine legte besonderen Nachdruck auf das Wort Silber)
Aus Central- und Südamerica.stünde ihr der Kreuzgang offen.“ Ärgerlich über die Käuflichkeit des Priesters und über die Störung verzichtete ich.
Den Nachtwächtern von Cuzco sollte ich eigentlich ein besonderes Kränzchen für treue Pflichterfüllung winden. Sie haben mich an den Rand der Verzweiflung gebracht. Wenn sie die Runde machen, oder etwas Verdächtiges hören, pflegen sie ihren Kameraden durch lang anhaltende Pfiffe, die ebenso schrill beantwortet werden, Signale zu geben. Wohl keine Viertelstunde vergeht ohne Pfeifkonzert.
Den folgenden Morgen widmete ich der Kirche Santo Domingo,der ältesten der Stadt. Sie wurde schon 1536 begonnen. Der eigen-tümlich klotzige, festungsartige Bau war mir schon bei der Ankunft aufgefallen; er liegt unweit der Poststation. Der westliche, dem Flusse Huatanay zugewandte Teil, zeigt, unten leicht abgerundet, das schöne,charakteristische Mauerwerk der Incas, während der darüber an kahler Fassade wie ein Schwalbennest klebende, zierliche Söller ein Werk der Conquistadores ‚ist. Im übrigen ist die Kirche nach innen und aussen kahl und schmucklos.
Einst war diese alte Kirche Santo Domingo das schönste Gebäude in Cuzco und als Sonnentempel im weiten Incasreich hoch berühmt,
Der schon erwähnte spanische Chronikschreiber Cieza de Leon macht folgende Schilderung von dem wunderbaren Bau:
„Der Tempel war ungefähr vierhundert Schritte lang und aus hartem, sorgfältig poliertem Gestein aufgeführt. Das Innere teilte sich in den grossen, dem Sonnengottesdienst geweihten Raum und in fünf Kapellen. Durch eine silberne Türe gelangte man zunächst in das der Mondgöttin und Gemahlin des Sonnengottes bestimmte Heiligtum. Alle Geräte waren dort aus Silber. In den übrigen Ka-pellen betete man zu Blitz und Donner, dem Morgenstern und der Morgenröte, dem Regenbogen und dem Heer der Sterne.
Aller Augen richteten sich auf das Bildnis der Sonne oder viel-mehr des Sonnengottes. Es
war aus feinstem Gold getrieben und hatte den Umfang eines grossen Wagenrades. Die von ihm
aus-gehenden, goldenen Strahlen waren mit Smaragden und Türkisen reich besetzt. Zur
Rechten und zur Linken sassen auf goldenen Stühlen die Malljaki, d.h. die Mumien der
Incaskönige, in könig-lichen Gewändern, mit gesenktem Haupt und über die Brust ge-kreuzten
Armen, Ihre Füsse ruhten auf der grossen Goldplatte, die sie im Leben zu demselben Zwecke
benutzt hatten und auf der ebenfalls der goldene Sessel Platz fand. Als die ersten Spanier
in das Land kamen, entblödeten sie sich nicht, die Mumien ihres Gold-
173 schmuckes zu berauben. Als daher die fremden, weissen Männer ein zweites Mal erschienen, versteckten die Indianer ihre verehrten Malliaki vor ihnen.“
Was aus dem wunderbaren, goldenen Sonnenbildnis geworden,weiss niemand. Die Spanier rissen es mit allen übrigen Schätzen an sich und verlosten es unter einander. Es fiel dem Conquistadoren Leguizano zu, der es übrigens schon vor dem ersten Morgengrauen verspielt hatte. Das Sonnenbild blieb hierauf noch einige Zeit in Peru, bis es der Vizekönig Francisco von Toledo im Jahr 1572 dem Papst als kostbares Geschenk nach Rom sandte, Es ist nie an sein Ziel gekommen, sondern auf der Reise spurlos verschwunden.
Cieza de Leon erzählt weiter: „Ausser dem strahlenden, goldenen Bilde des Sonnengottes enthielt der Tempel die Bildsäulen der be-rühmtesten Incas aus massivem Gold und in der Grösse eines sieben-jährigen Knaben und eine sehr grosse Zahl goldener Pokale und Krüge.Die reich mit Gold verzierte Decke bestund aus kunstvoll geschnitztem Cedernholz, der Fussboden war mit kostbaren, golddurchwirkten Teppichen aus feinster Vicufiawolle belegt. Das Tageslicht drang durch einige schmale Fenster hinein, deren Rahmen mit Smaragden und glänzenden Edelsteinen eingelegt waren. Mit Ausnahme der schon erwähnten silbernen Türe in den Mondtempel besassen die übrigen goldene Pfosten und waren von oben bis unten mit Gold-platten beschlagen. Um die Aussenseite des wunderbaren Bauwerkes zog sich ein breiter, goldener Fries.“
Noch märchenhafter klingt die Beschreibung des an den Sonnen-tempel sich anschliessenden goldenen Gartens: „Dort sah man goldene Menschen- und Tierbildsäulen, aus Silber gearbeitete Bäume mit goldenen Blättern und Blüten und Maisstauden mit silbernen Stengeln und goldenen Kolben. Auf den Ästen, Zweigen, Blättern und Stengeln sassen, wiegten sich, kletterten und krochen goldene Vögel, Schmetter-linge, Käfer, Eidechsen, Schlangen u. s. w. In goldenen Röhren floss auch das Wasser und mit goldenen und silbernen Werkzeugen wurden die Gartenarbeiten verrichtet.“ .
Der Pracht des Sonnentempels entsprach die Anzahl seiner Priester und Tempeldiener, die 4000 überstiegen haben soll. Mit den umliegenden Priesterwohnungen, seinem goldenen Garten und dem, den Sonnenjungfrauen zur Wohnung dienenden Aklljahuaszi bildete der Sonnentempel einen besonderen Stadtteil, der wegen seines Goldreichtums den Namen Goricantscha (goldenes Gehege}erhalten hatte.
Aus Central- und Südamerica.
Das Erstaunen der armen spanischen Abenteurer bei dem Anblick dieser an ein Märchen von Tausend und Eine Nacht erinnernden Herrlichkeit, lässt sich leicht vorstellen. Menschlich leider war auch die sie bei dem Anblick dieser unermesslichen Schätze ergreifende Goldgier. Mit ihrem Gewissen fanden sie sich schnell zurecht. Was brauchten die Heiden zu ihrem widrigen Götzendienst solche Kost-barkeiten? Da war es im Gegenteil ein Gott wohlgefällig Werk,den Tempel zu plündern und an seiner Stelle dem heiligen Dominicus Kloster und Kirche zu errichten. Das Aklljahuaszi der Sonnenjung-frauen eignete sich auch vortrefflich zu einem Kloster der heiligen Catalina. Fromme, christliche Nonnen traten an Stelle der keuschen Dienerinnen des Sonnengottes.
Diese sogenannten Aklljas wurden im ganzen Reiche zusammen-gesucht. Man wählte nur schöne
Mädchen aus, sie durften nicht über acht Jahre zählen, also noch nicht mannbar sein und
mussten guten Familien als eheliche Kinder entstammen. Fand der Oberpriester sie tadellos,
so schor man ihnen das Haar, bedeckte ihr Haupt mit einem dichten, braunen Schleier und
zog ihnen die dunkeln Novizen-kleider an. Über je zehn Novizen setzte man eine „Mamakuna“,
um sie zu bewachen und drei Jahre lang im Spinnen, Weben, Sticken,der Bereitung der
Chicha, des heiligen Brotes und anderer besonderer Speisen zu unterrichten. Auch das
Ausschmücken des Sonnentempels,die Erhaltung des heiligen Feuers und die genaue Kenntnis
der zum Opferdienst erforderlichen Gegenstände gehörten zu den Obliegen-heiten einer
Aklljanovize. Am Ende des dritten Jahres wurden die Mädchen vor dem Inca und dem
Oberpriester geprüft, mussten das Gelübde ewiger Keuschheit ablegen und waren nun
wirkliche Aus-erwählte. Man zog ihnen weisse Kleider an, krönte ihr Haupt mit goldenem
Kranze, bekleidete ihre Füsse mit kostbaren Schuhen und umhüllte sie mit einem weissen
Schleier. Sie bezogen das Innere des Aklljahuaszi, erhielten eigene Dienerinnen und
standen unter der Obhut der Mama-Akllja. Ihre Lebensaufgabe bestund in obgenannten
Beschäftigungen, namentlich auch in Anfertigung der Kleider für den Inca, die Königin,
Prinzen und Prinzessinnen und den Oberpriester.Ihrer besonderen Pflege waren die übrigen
Tempel anvertraut. Wenn sie sich in den einen oder anderen begaben, begleiteten sie eine
Mamakuna, ihre Dienerinnen und mehrere mit Lanze, Pfeil und Bogen bewaffnete Eunuchen.
Nahte sich ihnen ein Verfolgter, so fand er bei ihnen Schutz und Sicherheit, gerade wie am
Altar eines Tempels.
175 Die Zahl der Sonnenjungfrauen belief sich auf fünfzehnhundert.Den Bruch ihres abgelegten Gelübdes hätte die Akllja mit der Strafe des lebendig Eingemauert- oder Begrabenseins büssen müssen. Dieser Fall ist bei keiner der Sonnenjungfrauen in Cuzco jemals eingetreten.Verschwunden ist die’alte Pracht und Herrlichkeit! Ich fand eine banale, katholische Kirche. Wie sah sie inwendig aus? Ich weiss es nicht! Meine ganze Aufmerksamkeit rich-tete sich auf eine über lebensgrosse Puppe,die soeben wie eine Balldame angekleidet wurde, „Nuestra Se-Ääora del Rosario“,Füsterte mir Juan de Dios gleichsam vor-stellend zu, „morgen ist ihr Fest, sie wird durch die Stadt ge-tragen.“ Die Toilette stand in ihren ersten Anfängen. Mit an-dächtiger Ehrfurcht probierten drei Da-men der Figur ein ganz modernes Pa-riserkorsett an. Da-rauf kamen ein paar spitzenbesetzte Mull-röcke an die Reihe.Offenbar sass das Korsett nicht nach Wunsch, die Röcke wurden wieder ausgezogen, ein anderer Schnürleib erschien. Zwei Dominikanermönche und ich bildeten die aufmerksamen Zuschauer, auch Juan de Dios war ganz Auge. Plötzlich erblickte eine der Damen meinen Apparat. „Wollen Sie unsere süsse Mutter Gottes photographieren, wenn sie angezogen ist?“ „Ja, wie lange mag das wohl dauern?“ „Vielleicht eine, vielleicht zwei Stunden.“ Dieser Be-scheid lautete höchst unsicher; den weiten Weg von Santo Domingo bis zum Gasthof ‚mochte ich auch nicht zweimal zurücklegen, ich
Aus Central- und Südamerica.sagte daher: „Zum Photographieren ist es viel zu dunkel in der Kirche“, „Oh“, lautete die unerwartete Antwort, „wir werden die Mutter Gottes vor die Kirche tragen“.
Wie ich mich aus der Verlegenheit zog, weiss ich nicht mehr.Ich kaufte einige Stunden später bei einem englischen Photographen ein ausgezeichnetes Bild der besagten Madonna. „Hier darf ich es nicht verkaufen, die Indianer würden den reinen Götzendienst damit treiben“, sagte mir der Mann.
Cuzco wollte ich nicht verlassen, ohne meinen Reisegefährten,den jungen L., auf dem Felde seiner Tätigkeit besucht zu haben.Ich fand ihn schon in voller Arbeit an der Kasse sitzend und Silber-linge in Menge einstreichend. Sie rollten ihm nur so zu, und be-haglich wühlte er darin, als ob er zeitlebens peruanische Soles ein-kassiert hätte. Sein Prinzipal erlaubte ihm, noch etwas mit mir die Stadt zu besehen. Vorher aber zeigte er mir sein sehr bescheidenes Zimmer. „Dafür habe ich nichts zu bezahlen, das Leben kostet hier sehr wenig, ich bekomme hundert Soles (250 Fr.) monatlich; ich kann wunderschöne Ersparnisse machen, zudem gefällt mir Cuzco sehr!“
Auch mir gefiel Cuzco, und ich bedauerte, meinen Aufenthalt so kurz bemessen zu müssen. Merkwürdig, auch der freieste Mensch ist anscheinend immer an etwas gebunden! Diesmal band mich das Schiff, das nur einmal monatlich die Rundfahrt mit Stationen auf dem Titicacasee zurücklegt; das wollte ich nehmen.
Cuzco, das schmutzige, armselige, verwahrloste Städtchen hat es mir angetan, wohl seines alten Glanzes und seiner ruhmvollen Ver-gangenheit wegen. Meine Gedanken können sich nicht losreissen von dem hochkultivierten edlen Volk, das glücklich und friedlich hier gehaust, bis es der rohen Gewalt einer sogenannt zivilisierten Nation zum Opfer fallen musste, Peru ist unter den Spaniern und durch sie in seiner Zivilisation gewaltig gesunken, und es hat kaum den Anschein, als ob die indianische Bevölkerung je wieder denselben Bildungsgrad, wie unter den Incas einnehmen werde. Mit der Er-oberung Perus reihte Spanien ein blutiges Blatt, vollgeschrieben von menschlicher Goldgier, Grausamkeit und Ungerechtigkeit, in die Annalen seiner sonst glorreichen Geschichte. Dem stolzen Sieger haben aber die Schätze der unglücklichen Incasfürsten keinen Segen gebracht. Verarmt, gering geschätzt unter den Nationen ist gegen-wärtig das einst so mächtige Reich Karls V!
Abends führte mir der Wirt zwei junge hier in einem franzö-sischen Geschäft angestellte
Schweizer zu. Die Freude, so unerwartet
Landsleute zu finden, war allerseits gross. Die beiden Schweizer sind auf ihren Aufenthalt in Cuzco nicht sonderlich gut zu sprechen. „Noch ein Jahr, dann sind unsere drei Jahre hier gottlob zu Ende, wie sehnen wir diese Zeit herbei!“
Auf 6 Uhr früh. war die Abfahrt der Post angesetzt. Um 5'/»schlief noch alles im Hotel Central. Ich weckte den Wirt und den Mozo und lief, so schnell es die spitzen Pflastersteine erlaubten, dem weiten Posthofe zu. Dort fand ich noch alles geschlossen. Die Ab-fahrt ging um 7 Uhr erst vor sich. Man hatte eine Menge Säcke mit Silber unter die Wagensitze versenkt und uns abermals wie Sardinen zusammengepresst. Die armen Maultiere konnten die grausame Last beinahe nicht schleppen und in San Sebastian, eine Legua von Cuzco,brach der Wagen zusammen. Ein anderer wurde in Cuzco geholt,dieselbe Silberlast wieder eingepackt und für denselben Weg, den wir herwärts in 15 Stunden bewältigt hatten, brauchten wir zurück volle 26 Stunden. Mit Freuden begrüsste ich Secuani, das Ziel dieser für Mensch und Tier qualvollen Postfahrt!
ED
Auf dem Titicacasee.
Die Eisenbahnfahrt von Secuani nach Juliaca ging bei überfülltem Waggon ziemlich programmgemäss von statten. Leider konnte ich nicht in Juliaca übernachten, da der Zug nach stündigem Aufenthalt gleich nach Puno weiter ging. Ich benutzte die kurze Zeit zu einem Besuch bei den netten, deutschen Wirtsleuten.
Schon war die Nacht angebro-chen, als ich die kurze Fahrt von Juliaca nach Puno antrat. Ein heftiges Gewitter stand am Himmel. Zuweilen zuckte ein Blitz durch die Dunkelheit und beleuchtete grell Inseln und Was-serfläche des geheimnisvollen, sagen-umwobenen Titicacasees. Die letzten zehn Minuten fuhren wir unmittelbar am Strande, und mit dem Donner wetteifernd brausten die ewig beweg-ten. eisigen Fluten gegen das Ufer.
Im Gasthof Ferrocaril fand ich einen freundlichen, aufmerksamen Wirt, ein mässiges Zimmer und in meinem Bett einen Strohsack.Fröstelnd hüllte ich mich in alle auftreibbaren Decken und schlief wie ein Bär. Früh wachte ich schon auf. Das Gewitter hatte die Luft wunderbar klar gemacht, und hell strahlte die Sonne über Puno.Mein Weg führte mich zuerst in die Markthalle, wo Lamawolle,Fische, Fleisch und Obst feilgeboten wurden. Da kauerten Quichua-weiber mit runden, flachen Filzhüten, während die Aimaräs den
Quichua-Indianer.
Aus Central- und Südamerica.Kopf mit.der sonderbaren, Toca genannten Haube, bedeckt hielten.Stumm, traurig, stumpf, sassen sie da, auch die vielen kleinen Kinder,die entweder in Säcken gebunden auf Mutters Rücken sassen, oder fest eingewickelt am Boden lagen, waren schweigsam, geduldig,stumpf; ich habe nie eines lachen oder weinen hören.
Durch enge, mit Lamazügen oft völlig blockierte Strassen wanderte ich bergan, bis ich zu einer Art Triumphbogen mit der Jahreszahl 1847 gelangte. Dort schien die Stadt ihr Ende zu erreichen. Von einer verfallenen, schrecklich gepflasterten Terrasse aus blickte ich auf Puno und das ziemlich ferne Seeufer. Puno wurde 1660 ge-gründet, zählt etwa 5400 Einwohner und liegt 3824 Meter über dem Meer. Zu meiner Rechten, durch ein Tal getrennt, erhebt sich ein merkwürdiger, grauer, nackter Felsen, und in seinem Schatten die zweitürmige, alte Kathedrale. Sie bildete mein nächstes Ziel. Dieses immer vor Augen behaltend, gelangte ich über die Plaza Michael Grau (Admiral im Kriege gegen Chile) und einige enge Gassen auf den weiten, wüsten Kirchplatz, wo sich die schöne, alte, spanische Kathedrale mit zwei dicken, niedrigen Türmen und sehr stark skulp-tiertem Eingangstor erhebt. Sie gefällt mir, die Kirche von Puno,in ihrer stolzen Massigkeit, den Heiligenstatuen in ihren zierlichen Nischen und dem grossen Reliefkreuz mit den Marterwerkzeugen Christi. Stilvoller, einfacher als die Darstellung in Arequipa, photo-graphierte ich auch diese und war um lebende Staffage nicht verlegen,denn alles drängte sich heran, um auf das Bild zu kommen.
Jetzt aber musste ich mich nach einer Gelegenheit umschauen,auf und über den See zu gelangen. Zweimal wöchentlich führt ein grösserer Dampfer in zirka 18 Stunden hinüber nach Guaqui in Bo-livien. Er legt den grössten Teil der Reise nachts zurück. Jeden ersten Sonntag im Monat dagegen fährt ein kleineres Boot, unter-wegs da und dort anlegend, nach Copacabana und Guaqui. Auf dieses hatte ich gerechnet und deshalb meinen Aufenthalt in Cuzco so kurz bemessen. Jetzt wird wohl noch ein dritter, grösserer Dampfer den Titicacasee befahren; er war damals gerade unter-wegs von England.
Ich wanderte den ungefähr eine Viertelstunde langen Weg zur Dampfschiffstation. Er führt
über einen Damm und bald hatte ich seichtes, mit Binsen bewachsenes Wasser zu beiden
Seiten. Als ich bei der Station ankam, hörte ich das Rauschen eines Ruders in den Binsen
und erblickte die erste peruanische Balsa, ein ebenso sonder-bares als malerisches Ding;
sie ist nicht aus Holz, Eisen und Stoff,
SUlS:x
„Ja, der Yuwari ist schon mit Passagieren überfüllt, aber freilich,mit der Karte, die Sie haben“ es war ein von dem Superinten-danten unterzeichneter Freipass - „müssen wir Ihnen eine von den vier Kabinen ganz überlassen“, lautete die Antwort auf der Office.„Bitte, heute schon an Bord zu kommen, denn morgen fahren wir in aller Frühe ab.“
Langsam schlenderte ich zurück. Puno mit seiner schönen Kathedrale und dem massigen Felsklotz mitten in der Stadt sah von hier und in dieser Beleuchtung sehr malerisch aus. Malerisch und an Holland erinnernd sind auch die zahlreichen, leicht gewölbten Steinbrückchen,die da und dort über ein Wässerchen führen. Gewitterheiss stach die Sonne es war ja hier gerade‘ Hochsommer , als ich den Gasthof Ferrocaril wieder betrat. Während ich beim kärglichen, ge-pfefferten Mahle sass, prasselte denn auch bald ein gewaltiger Regen herunter. „In Puno schneit es im Juni und Juli, doch pflegt der Schnee selten lange liegen zu bleiben“, erzählte der Wirt.
Den „Yuwari“ fand ich abends wirklich gesteckt voll. Auf Deck kampierte eine grosse Indianergesellschaft; in Ponchos und Tücher gehüllt lagen Gross und Klein Tag und Nacht da, man musste oft geradezu über ihre Leiber weg setzen, um in das Speisezimmer zu gelangen. Die Kabine neben mir hatte eine Peruanerin bessern Standes mit drei Kindern und einer Dienerin inne. Letztere trug einen grossen Männerfilzhut, auffallende Ohrringe, einen gestreiften Shawl und kurzen, roten Rock, unter dem nackte, ungewaschene Füsse und Beine sich bemerkbar machten. Die beiden anderen Kabinen waren ähnlich besetzt. Das Esszimmer diente nachts als Schlafsaal. Geschlafen wurde auf dem Tisch, dem Sofa und auf. den Stühlen. Bei Tag fütterte man die vielen Passagiere truppweise nacheinander ab, da kaum für einen Vierteil der Menschen auf einmal Platz gewesen wäre.Man wird mir gerne glauben, wie wenig Reinlichkeit und wie viel schlechte Luft in dem Raum herrschte. Nichtsdestoweniger brachten es die Sefioras zu stande in rauschender Seide und mit Schmuck überladen bei Tische zu erscheinen,
Eine eiskalte, erste Nacht war es, die ich auf dem „Yuwari“und in meiner steinharten Koje verbrachte. Nichts destoweniger schlief ich ruhig einem herrlichen Sonntagsmorgen entgegen. Im
Aus Central- und Südamerica.,
Kalender stand der 5. Februar: Mein Geburtstag, und zwar ein ausser-ordentlicher Geburtstag, denn ich wurde‘ 50 Jahre alt. Ausser-ordentlich waren auch Ort, Umgebung und Höhe, in der ich ihn feierte, befand ich mich doch hier 146 Meter höher, als das Wetter-horn, also wirklich in höheren Regionen. Sie mussten mir über das Einsamkeitsgefühl jenes Tages hinweg helfen, mich darüber einiger-massen trösten, keinen Brief, keinen Glückwunsch aus liebem Munde erhalten zu können.
Punkt 6 Uhr setzte sich der „Yuwari“ in Bewegung. Ich hatte,wohl eingehüllt, vorn im Schiff Posten gefasst, neben mir der kleine Bruder des jugendlichen Kapitäns. Zunächst gab dieser sich alle Mühe, mir die Namen der Wasservögel aufzuzählen, die völlig ohne Furcht um den „Yuwari“ herum schwammen. Welcher Anblick für einen Jäger! Zum Glück war keiner da, und kein Schuss störte die Idylle. Ich zähle hier einige Namen auf, wie der Kleine sie mir spanisch vorsagte, übernehme aber keine Garantie betreffs Ortographie und Richtigkeit der Namen überhaupt. Da waren zunächst kleine,schwarze Chocas und graue Sambuidores, beides Entenarten. Dann Chorlillas, kleine, wohlgenährte Wasservögel, Caviotes, ein grosser,mövenartiger Vogel, und rosa angehauchte Flamingos. Der See ist auch reich an ihm eigentümlichen Fischarten, Am geschätztesten sind die Umandos, Mauri und Suches, die ganz kleinen, grätereichen Carachis werden dagegen nur von den Indianern und den Vögeln gegessen. Dass fleissig gefischt wird, zeigen einige ganz fein mit Binsen abgesteckte Stellen im See und eine Menge Fischerhäuschen.Sie heben sich kaum von den grauen in den See ragenden Fels-bergen ab.
Der Titicacasee bildet ein langgestrecktes Oval, sein Niveau liegt 3854 Meter hoch, er ist 170 Kilometer lang und durchschnittlich 50 Kilometer breit. Er bedeckt eine ganze Gebirgszone, und grosse Bergketten ragen als Halbsinseln und Inseln aus ihm empor. Dass er über 200 Meter tief sein soll, wird durch die neuesten Messungen in Abrede gestellt. Das südliche und östliche Ufer gehört zu Bolivia.
Von 9 Uhr an fühlte ich die wohltätige Wärme der strahlenden Sonne, unter deren Glanz die
Inseln und Halbinseln und die kahlen,violettroten Felsen, an denen wir vorbeischwebten,
wundervolle Fär-bungen annahmen. Auch das ewig bewegte Wasser wurde herrlich blau, ‚aber
so traurig öde und still! Einmal über die Umgebung von Puno hinaus, kreuzte keine Balsa,
kein Wasservogel mehr un-seren Weg.
183
Unsere erste Station war Juli. Wir kamen gegen 4 Uhr hin,und freundlich stellte mir der Kapitän eines der beiden Boote zur Verfügung, um an das Land zu fahren. Juli liegt oder lag vielmehr amphitheatralisch, um eine Bucht gruppiert. Man sieht hier deutlich,wie viel höher der Wasserspiegel in früherer Zeit gestanden hat.All der Sand, Schlamm und das Geröll, das die zahlreichen Berg-flüsse, die der See aufnimmt, mit sich führen, verringern seinen Umfang von Jahr zu Jahr.
Juli mag ungefähr 1000 Seelen zählen und besitzt dabei nicht weniger als vier grosse, freilich recht verfallene Kirchen, die sich eines Alters von etwa 250 Jahren erfreuen, Das muss man sagen, die Jesuiten haben alles angewendet, um wenigstens äusserlich gute Christen aus den Indianern zu machen.
Wir landeten auf einem langen, steinigen Damm, der Bruder des Kapitäns, ein junger Peruaner und ich. Zwischen wogenden Kornfeldern und blühenden Kartoffeläckern führt ein Weg’ nach der jetzt hochgelegenen Ortschaft. Das Korn ist wohl bald reif, die Kar-toffeln können im Mai-Juni geerntet werden. Menschen hatten wir noch keine gesehen, und auch während wir durch die engen, steinigen Gässchen an zerfallenden Häusern vorbeiwanderten, mussten wir. uns immer wieder fragen: „Wohnt hier niemand?“ Die erste Kirche am Wege hatten wir wider allen Brauch und Sitte geschlossen gefunden.Ihre altertümliche Fassade war mit menschlichen Figuren, Tieren und Schlinggewächsen skulptiert. Zu beiden Seiten des Eingangs zog sich eine stilvolle Loggia mit zierlichen Säulen und Bogen, und vor der Kirche lag ein weiter, gepflasterter Platz, vermutlich ein alter Kirchhof mit zwei recht schönen Toren.
Endlich auf der mit Springbrunnen geschmückten Plaza sollten wir ein Dutzend Marktweiber
und einen weisshaarigen Alten finden,der sich ungefragt als Führer anschloss. Er brachte
uns zu der auf einem Hügel gelegenen Kathedrale. Herrliche, wilde Olivenbäume stehen zu
beiden Seiten des Aufganges. Sie sollen keine Früchte iragen, aber sie blühen und duften
köstlich und ihre breiten Kronen spenden tiefen Schatten. Das Alter hat sie verschönt und
gekräftigt,während es ihre Zeitgenossin, die Kathedrale, zur Ruine gemacht hat.Verfallen
nach Innen und Aussen, die Fresken, die Bilder, die ge-schnitzten Beichtstühle, nur die
Vergoldung ist geblieben! Ähnlich ergeht es der Asuncions- und der San .Juankirche. Unser
„Julier“geleitete uns noch an das Boot. Ich gab ihm eine reichliche „copita,.“ die er mit
spanischer Grandezza und herzlichem Glück-
Aus Central- und Südamerica.wunsch hinnahm, es war der erste und einzige an diesem Geburtstag.
Unterdessen hatten einige schmierige, blatternnarbige Indianer die Zahl der Passagiere des „Yuwari“ noch vermehrt. In der Frühe landeten wir vor Pomata. Auch diese Ortschaft liegt etwas erhöht und entfernt vom See, Die riesige Kathedrale erscheint wie eine Henne inmitten ihrer Küchlein, einer Menge elender Häuschen. Sie ist so gross, dass die ganze Bevölkerung samt ihren Hütten Raum darin fände.
Die Fahrt Pomata-Yungayo ist wunderschön. Trotzige Klippen und eine Inselkette nach der anderen steigen aus den Wellen empor.Wo die Terrainverhältnisse es irgendwie erlauben, stehen Häuser,Schafweiden, Kartoffel- und Getreidefelder !
Fern im Osten erscheint, einer köstlichen Fata Morgana gleich,eine lange Schneebergkette, so lang etwa, wie vom Matterhorn bis zum Engadin. Je nach der Bewegung des Schiffes scheint sie höher und tiefer aus dem See zu tauchen, manchmal so niedrig, wie eine Hügelreihe und doch misst kein Gipfel in dieser Kette unter 7000 Meter, Der mächtigste dieser Riesen ist der Sorata oder Mlampu.Herrlich leuchten seine Eisfelsen und Gletscher und seine bis jetzt unbezwungene Spitze in der Sonne. Sir Martin Conway hat als erster den 10. Oktober 1898 den Fuss dieses Gipfels erreicht. Eine unüber-windbare Felsspalte rief dem kühnen Bergsteiger da ein Halt zu.Seinen Vermessungen nach war der höchste Punkt, den er erreichte,7320 Meter hoch. Die Temperatur während dieser Besteigung betrug 30 Grad Kälte, Auch hier hatte Sir Conway Schweizerführer mit sich.Der zweite Monarch dieser Kette ist der Illimani, neueren Messungen nach ebenfalls 7320 Meter hoch. An seinem Fuss liegt.die Haupt-stadt Boliviens, La Paz.
In der Mitte Sorata und Illimani sind die beiden Flügelmänner der schönen Kette steht der Huaina Potosi, der berühmte Legenden-berg der alten Incas.
Um 10 Uhr landeten wir in Yunguyo, das heisst, wir ankerten recht weit von dem Ufer, so
dass erst eine lange Nachenfahrt uns zur Ortschaft brachte. Mehrere Balsas ruderten uns
entgegen. Sie be-sassen kleine Strohverdecke gegen die Kälte. Das vergängliche Ma-terial
der Balsas sie sollen in wenigen Monäten faulen macht eine stete Erneuerung notwendig. Zum
Glück wachsen an den See-ufern die Binsen massenhaft gratis. Als wir ausstiegen, bildeten
eine Menge badender Kühe einen ganz idyllischen Vordergrund, und ebenso idyllisch
schlängelte sich der Weg durch grüne Wiesen und
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Getreidefelder. Hatte ich hier schon Mühe, mich in Peru zu glauben,so wuchs noch meine Überraschung, als ich den sauberen Ort und seine verhältnismässig reinlichen Bewohner sah. Natürlich stehen auch hier drei grosse Kirchen. In der einen fielen mir verschiedene schöne,siebenarmige Leuchter auf.
Der Kessel unseres „Yuwari“ war mangelhaft, wir kamen kaum mehr vorwärts, und der Kapitänsbruder ärgerte den stolzen „Yuwari“-Lenker nicht weniger, indem er ihm immer wieder sagte: „Vamos ä la pesca de tortugas.“ (Wir gehen auf den Schildkrötenfang.)Schliesslich mussten wir die Segel zu Hülfe nehmen und kamen mit Ach und Krach bedeutend verspätet in Copacabana an.
Die Halbinseln Tiguina und Copacabana liegen einander bei-nahe gegenüber und trennen dadurch den südlichen Teil des Titicaca-sees sozusagen von der übrigen Wasserfläche ab. . In einer stillen Bucht birgt sich Copacabana, ein hochberühmter Wallfahrtsort.Hunderte von Pilger, die hier das Fest der Candelaria (Lichtmess)gefeiert, warteten auf unseren „Yuwari“ zur Heimreise, Zum Glück konnten auch wir eine gute Anzahl Passagiere hier abstellen. Copa-cabana zählt bis 30,000 Pilger jährlich.
Lange vor Einführung des Christentums in Peru war aber Copa-cabana schon ein vielbesuchter Wallfahrtsort. Ein blauer Stein mit einem menschlichen Antlitz ohne Körper wurde allda verehrt. Dieses Gesicht war dem See zugewandt und hiess Copa Kahuana, was in der Keshuasprache etwas Blaues, das würdig ist, betrachtet zu werden, bedeutet. Von diesem Stein erhielt der Ort seinen Namen.
Die Jesuiten pflegten den Marienkultus am eifrigsten, und so wurde denn vor allem ein würdiges Marienbild für Copacabana be-schafft. Folgende Legende wird hier von der Entstehung des Bildes erzählt: Ein vornehmer, getaufter Indianer, namens Tito Yupanki,ein Nachkomme des berühmten Incakönigs Huiracocha, hatte eine Vision. Infolge dieser beschloss er obschon durchaus unerfahren in der bildenden Kunst , ein Bildnis der Jungfrau Maria anzu-fertigen. Er ging nach Potosi, um die Bilder der dortigen Kirchen zu studieren und zum Muster zu nehmen. Seine ersten Versuche fielen natürlich kläglich aus, doch liess er sich nicht abschrecken, son-dern begann immer wieder auf’s neue. Endlich war seine Arbeit fertig.Nun ging er nach La Paz und wurde bei einem spanischen Ver-golder Lehrling, um ein Bild vergolden zu lernen, das ihm nach unendlicher Mühe überraschend gut gelungen war. Auch dies glückte und der Ruf des indianischen Meisterwerkes drang schliesslich nach
Aus Central- und Südamerica.Copacabana, seiner Heimat. Dem dortigen Geistlichen liess diese Nachricht keine Ruhe, er machte sich auf nach La Paz, um das Bild zu sehen. Seine Erwartungen wurden weit übertroffen, er liess das Bild Unserer lieben Frau nach Copacabana. tragen, wo es am Feste der Candelaria eintraf. Sehr bald erwies es sich als wundertätig,und nun strömten und strömen Pilger von weit und breit hier zu-sammen. So kommt es, dass, obschon die Ortschaft ärmlich und schmutzig, die Kirche Unserer lieben Frau mit dem Camarino der heiligen Jungfrau doch reich und schön und gross ist.
Wir erkletterten einen steinigen Damm und eilten, noch bevor die Nacht hereinbrach, schnell zur Kirche, Mauern mit Zinnen und Toren umgeben festungsartig den mächtigen Backsteinbau, in dem die vielen bunten, eingelassenen Fayenceplättchen, Azulejos genannt, wie Edelsteine in der Nachmittagssonne glänzen. Der grosse Hof ist von schönen, wilden Olivenbäumen beschattet und ein zahmes Reh kam zutraulich heran und rieb sein feines Köpfchen an mir zum Empfang und Willkomm. Rechts von dem Haupteingang steht eine offene, eben-falls mit bunten Azulejos gezierte, hohe Halle. Sie wölbt sich über drei grossen Kreuzen.
Hinter dem Hochaltar steht der Camarino mit der zierlichen, ganz kleinen Statuette der heiligen Jungfrau. Sie trägt eine schwere, juwelen-geschmückte, goldene Krone und ein reich und geschmackvoll ge-sticktes Gewand. Um den Hals schlingt sich eine Kette von feinen Perlen, und die Händchen blitzen von kostbaren Ringen. In der Rechten hält sie eine feine, weisse Kerze. Das Christuskind auf ihrem Arm ist viel weniger hübsch. Eine riesige Krone lastet schwer auf der schwarzen Perücke. Um das wundertätige Bild ist ein weisser, duftiger Schleier gelegt, und eine Übermenge künstlicher und echter Blumen umgeben den Schrein. In der Kirche selber fiel mir der Hochaltar auf, um dessen gewundene Säulen geschnitzte Laubgewinde klettern.
Den ungewöhnlich milden Abend verbrachte ich auf Deck. Der Sonnenuntergang hatte wunderbare purpurne und gelbe Farben auf die braunen Binsen der stillen Bucht gemalt, und leise rauschten sie unter dem Plätschern zahlreicher wilder Enten. Ein kurzes Zwischen-reich der Dämmerung folgte, dann erschien das Gefunkel der Sterne und auch auf dem See erglänzte es wie Meeresleuchten. Als ich einige Stunden in meiner Koje gelegen hatte, hörte ich plötzlich gewaltigen Donner und ein‘ Präasseln auf Deck, wie bei einem Wolkenbruch.
In der Frühe lagen die Hagelkörner zolldick, die Landschaft war weiss wie im Winter und
die Erntehoffnung vernichtet. Die ganze
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Nacht hatte man am Kessel geflickt, aber erst gegen Mittag sollten wir Copacabana verlassen. Noch einmal kletterten wir zur Kirche,dann auf den Markt, wo die Weiber einmütig-gegen das Photogra-graphieren Einwand erhoben. So wanderte ich nach dem Friedhof durch Eis und Schmutz und gewaltige Steine, die, wie die Felsklötze in unseren Alpenlandschaften, auch hier wohl von Bergstürzen her-rühren. Etwas weiter entfernt findet man sie reihenweise und von den Incas zu Sitzen behauen.Gerade an dieser Stelle ist die Aussicht auf Berge und See köstlich.
Die Einschiffung der Pilger wollte kein Ende neh-men. Über jedes Gepäck-stück wurde verhandelt und gestritten, wie um ein König-reich und bis vollends alle Indianer und Indianerinnen eingebootet waren, währte es stundenlang. Eine Menge kleiner, indianischer Paulas,Marias, Rosas und Adelitas erschienen auf Deck mit Mundvorrat in der einen und einem Töpfchen in der an-deren Hand, das anderswo das Licht des Tages scheut.
Diesmal schlug der Yu-wari ein ordentliches Tempo an, und in einer halben Stunde hatten wir die langhingestreckte, tiefeingebuchtete Isla del Sol erreicht. Hohe Felswände bilden gewissermassen die Front eines ganzen, grossen Gebirges. Hier war der heiligste Ort Perus. Es ging der Glaube, auf dieser Felsenmasse dürfe sich kein Vogel niederlassen,kein Mensch und kein Tier sie betreten. Von hier soll die Sonne auf-gestiegen sein, um die Urdünste zu zerstreuen und die Welt zu er-leuchten. Einst war dieser Fels über und über mit Gold und Silber bedeckt. Hier wohnten die Lieblingskinder der Sonne, der Oberpriester und der König, die Gründer des Incasreiches. Von all der Herrlichkeit ist nichts geblieben als zerbröckelnder, roter Sandstein,
Aus Central- und Südamerica,
Die Trümmer des tiefer gelegenen Palastes sahen wir vom Schiff aus, ebenso die sogenannte Pila del Inca, ein Garten mit Wasser-leitung, und die einzige grüne Stelle auf der ganzen Insel.
Unweit der Sonneninsel liegt Coati, die dem Mond, der Schwester und Gattin der Sonne, geweihte,‘nur etwa 5 Kilometer lange und 1!/, Kilometer breite Insel. Auf meine inständige Bitte erlaubte mir der Kapitän, hier mit dem Boote zu landen. Da wir aber sehr ver-spätet waren, und die bolivianische Regierung das Betreten der Insel nur solchen gestattet, die Erlaubnisscheine haben, so bedeutete diese Landung für mich nur ein Klettern über rötliches Gestein und kümmer-liches Buschwerk, einen halben Blick auf die stattliche Tempelruine und einen ganzen auf die wunderbare Aussicht, deren Glanzpunkt der Sorata bildet.
Weiter ging es! Zur Rechten zog sich noch lange die Halb-insel Copacabana. Stellenweise gut kultiviert, stehen da und dort vereinzelte Finkas (Landhäuser). Ein einsam Wohnen! Und wie kalt muss es da sein; kein Wunder, dass die alten Bewohner Perus die Sonne anbeteten. Etwas später zog unser Yuwari durch den Engpass Desquina. Wohlkultivierte Berge, einige begüterte Ortschaften und merkwürdige, schroffe Felsen bieten hier dem Auge einen unge-wohnten Anblick. Kommt man wieder in den weiten See, so taucht die herrliche Schneekette so nah und deutlich, wie ich sie vorher nicht gesehen, auf, Die Namen der folgenden Inseln bezeichnete man mir als Tacco und Taquiri, kahl und baumlos, besitzen sie dafür herrliche Färbungen.
Als wir uns unserem Ziele Guaqui näherten, brauste das Wasser wild auf, und abermals grollte der Donner. Die Abendbeleuchtung war traumhaft schön. Wie ein Regenbogen lag es rot, gelb, grün über den Bergen, und ein blutiger Schein hatte sich auf dem Wasser des Sees ausgebreitet, Langsam fuhr unser Schiff durch einen kurzen Kanal, um direkt am Kai anzulegen. Guaqui ist ein neuentstandener Ort, die Eisenbahn nach La Paz hat ihn geschaffen.
Noch einmal musste ich in meiner. harten Koje schlafen, noch einmal zuschauen, wie meine Mitreisenden ihre Löffel in die all-gemeine Speiseschüssel tauchten, sorgfältig ableckten und dann wieder füllten. Als ich aus dem Esszimmer trat, lagen die Pilger von Co-pacabana, zu dichten Klumpen geballt, fröstelnd auf dem eisigen Deck des Yuwari.
APR
Bolivia.
Nicht ungern trennte ich mich von dem schmutzigen, kleinen Yuwari und betrat schon um 6 Uhr früh zum erstenmal das bolivia-nische Festland. War es mir auch nicht vergönnt, das herrliche Tief-land mit der unendlichen Fülle seiner Pflanzen und der Mannigfaltig-keit seiner Tierwelt zu sehen, fehlte mir auch die Gelegenheit, seine Minen mit ihren grösstenteils noch ungehobenen Schätzen kennen zu lernen, *‘) so sollte dafür mein Wunsch, in Tihuanaco die gewaltigen Reste eines einst hochentwickelten Kulturreiches zu schauen, erfüllt werden.
Die Eisenbahn von Quaqui nach La Paz hat dem Reisenden der Neuzeit den Besuch dieser gewaltigen Trümmerfelder leider sind es nur solche leicht gemacht. Dabei ist freilich bedauerlicherweise die Peruvian Corporation dem vandalischen Beispiel der spanischen Eroberer gefolgt und hat zwar keine Kirchen und Häuser aus den schönen, behauenen Trachyt- und Sandsteinen erbaut, aber doch das köstliche, alte Material zur Errichtung von Brücken verwendet. Vor wenigen Jahren erst hat sich die bolivianische Regierung mit einer französischen, wissenschaftlichen Kommission zu Ausgrabungen ver-einbart, wobei die gefundenen Gegenstände im Lande bleiben, und nur Doubletten weggenommen werden durften. Wie man mir erzählte,sind jedoch alle wertvollen Gegenstände nach Paris geschleppt worden.
Der Bahnzug sollte um 7 Uhr Quaqui verlassen. Sehnsüchtig erwartete ich Herrn Bergelund, einen ehemaligen Seekapitän finn-ländischer Nationalität, unter dessen Aufsicht die Peruvian Corporation die Schiffahrt auf dem Titicacasee und die Bahn nach La Paz gestellt hat. An ihn war ich besonders empfohlen. Er sollte für meine Unter-kunft in Tihuanaco oder Quaqui sorgen.') Bolivia produziert gegenwärtig nur 8 bis 9 Millionen Unzen Silber jährlich,da bis jetzt Eisenbahnen und Transportmittel fehlen. Die Berge enthalten ausser Silber: Kupfer, Gold, Bismuth, Zinn und Antimon.
Aus Central- und Südamerica.
Endlich erschien er. „Ich fahre nach La Paz und werde Sie unter-wegs dem Bahnvorstand in Tihuanaco empfehlen. Da es dort keinen anständigen Gasthof gibt, müssen Sie bei ihm essen. Gegen Abend fahren wir zusammen nach Quaqui und dann übernachten Sie in meinem Hause. Meine Frau erwartet Sie.“
Der anscheinend etwas finstere Mann er sollte sich später als der liebenswürdigste Wirt entpuppen setzte sich abseits, während mein Gegenüber sich in vortrefflichem Französisch mit mir unterhielt,Auf seiner Karte, die er mir später gab, stand: Sefior D- Moises Ascarrunz. Bis vor kurzem soll er in dem politischen Leben Boliviens eine bedeutende Rolle gespielt haben.
Die Fahrt, sie dauerte eine Stunde, bot wenig Sehenswertes.Das Land ist öde, und nur mit dünnen Schafweiden besetzt, die kahlen Berge sollen zwar viel Kupfer enthalten, bieten aber dem Reisenden keinen malerischen Anblick, und von den schmutzigen, jämmerlichen,seltenen Indinanerhütten mit ihren trägen, bettelhaften Bewohnern fühlt man sich vollends melancholisch berührt.
Im 16. Jahrhundert hatte Pizarro auf diesem Hochland ein hoch-entwickeltes Kulturreich unter dem Scepter der göttlich verehrten Incas gefunden, An seiner Stelle entstand ein spanisches Kolonialreich und grimmiger Hass erfüllte bald die bis dahin harmlosen Herzen der unterdrückten Peruaner gegen die stolzen, goldgierigen Spanier.Im Freiheitstaumel des beginnenden 19. Jahrhunderts erhob sich endlich das souveräne Volk von Hochperu gegen die Bedrücker, und 1825 wurde die Republik Bolivia gegründet. Nach Bolivar, dem Befreier,ist sie getauft worden. Aus der Mischung von Indianern, Negern und Spaniern ist ein wildes, unruhiges, leidenschaftliches Volk ent-standen, das sich von Revolution zu Revolution drängt, im übrigen aber jeder Arbeit abhold ist. Seine einzige Industrie, die Töpferei,wird hauptsächlich von Weibern betrieben. Chicha ist das Lieblings-getränk dieses Volkes, Trunksucht sein Hauptlaster und jede Prozes-sion, jedes Kirchenfest soll mit einem grossen Saufgelage enden.
Der Bahnvorstand und sein junger Bruder, ganz nette Cholas,empfingen mich mit spanisch ceremonieller Höflichkeit und duldeten es erst nach langen Unterhandlungen, dass ich, ohne gegessen zu haben, dem Trümmerfeld zueilte. Der Bahnvorstand begleitete mich als Cicerone.
Zunächst gingen wir zu der ersten, näher gelegenen Trümmer-stätte, Akkapana geheissen.
Mein Führer brachte mich sofort zu der „Puerta del Sol“, wie er das geborstene Monolithtor
nannte, der
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Glanzpunkt dieser Ruinen. Ein Blitzstrahl soll es einst getroffen und gesprengt haben, und seither ist es Regen, Sturm und Erdbeben preisgegeben. Die schräg übereinander verschobenen Bruchstücke könnten wohl wieder zusammengefügt werden.
Der das Tor schmückende, schön und sorgfältig ausgeführte Fries besitzt eine grosse Mittelfigur mit starr stilisierten Formen.Das viereckige Antlitz wird durch zwei viereckige Augen und einen ebensolchen Mund belebt. Kurze Strahlen gehen von dem Kopfe aus,daher die Vermutung, dass das Bildnis die Sonne darstellen soll.Diese Strahlen endigen in runden Scheiben, oder Tier-, vermutlich Pumaköpfen. Die Gestalt tritt in Hochrelief, um eine Kopfeslänge die übrigen Figuren überragend, hervor. Den unverhältnismässig grossen Kopf trägt ein unnatürlich kurzer Oberkörper, während die Beine fehlen. Zu beiden Seiten, in flachem Relief gearbeitet, erscheinen in drei Reihen kleine, etwa acht Centimeter hohe Figuren. Jede einzelne steht in einem qua-dratischen Felde und wendet sich der Mittel-figur zu. In der obersten und untersten Reihe erscheinen kurze, gedrungene, geflügelte,menschliche Gestalten. Jede beugt ein Knie und hält ein Szepter. In der zweiten Reihe stehen ebensolche, geflügelte und kniende Figuren, nur tragen sie Kondorköpfe. Die breite, unter dem ganzen Fries laufende Borte zeigt abwechselnd menschliche Gesichter und mäanderartige Verzierungen, die in geschnäbelten Köpfen aus-laufen. Die Rückseite des Tores ist mit Nischen verziert. Seine Höhe beträgt zirka 3,02 Meter, seine Breite 3,82 Meter, die Stärke 0,42 Meter. Sein Gewicht wird zwischen 1012,000 Kilo geschätzt.
Etwas davon entfernt sind zwei im Jahre 1877 freigelegte Stein-bilder. Steif, archäistisch, stehen sie etwa drei Meter hoch da. Die Figuren tragen eine Art Krone auf dem Haupte und lange Kleider,ganz verschieden von denen, die seit denkbaren Zeiten .in diesem Lande getragen worden sind. Ein breiter, fein gemeisselter Gürtel trennt den auch hier unverhältnismässig starken Oberkörper von den Beinen. Arme und Hände sind eng am Körper anliegend. ‚Die rechte Hand hält einen Gegenstand, der einem Becher ähnlich sieht, aus dem zwei menschliche Beine heraus zu zappeln scheinen.
Steinbild in Tihuanaco.
Aus Central- und Südamerica.
Menschliche Nachbildungen zeigen auf diesem mächtigen Trüm-merfeld nur noch die, wohl erst kürzlich blosgelegten, vier Mauern eines Tempels oder Palastes. Ein Fries zieht sich darum mit weit vorspringenden, menschlichen Köpfen. Sie reihen sich dicht an-einander und sehen ägyptischen täuschend ähnlich, tragen auch ein gleiches Kopftuch. Man wäre versucht, das Unmögliche zu glauben,nämlich, dass zwischen Tihuanaco und Ägypten eine Art Verbin-dung bestanden und die Bauten in Tihuanaco so alt, wie die pharao-nischen wären.
Die Ruinen von Tihuanaco sind und bleiben ein Rätsel! Wer war das Volk, das hier baute und warum sind die Bauten, besonders des zweiten Trümmerfeldes, unvollendet geblieben? Aus welcher Zeit mögen sie stammen? Cieza de Leon war es, der uns die ersten Nachrichten über die Ruinen von Tihuanaco gebracht hat.
Die vielen anderen Trümmer dieser Stätte will ich hier nicht beschreiben, sondern nur noch eines hohen Hügels erwähnen, der künstlich aufgeworfen worden ist. Die neuesten Ausgrabungen haben ihn auf einer Seite blosgelegt und fünf übereinander geführte Wasser-leitungen entdeckt. Mein Begleiter konnte mir natürlich nicht die geringste Erklärung geben,
Die Sonne brannte heiss, und längst schon hatte mein Bahnhof-vorstand sichtbare Zeichen der Ungeduld merken lassen. „Der Puchero wird schlecht“, stammelte er endlich. So riss ich mich los,und wir gingen zurück. In einem chaotischen Wirrwarr von sehr verschiedenen Gegenständen stand der Tisch gedeckt. Eine dampfende,mächtige Schüssel wurde von einem kleinen Indianermädchen gebracht,dessen Wangen gerade so braunrot glühten, wie die spanische Pfeffer-sauce, in der die Speisen schwammen.
Der jüngere Bruder brachte mich nun auf das in südwestlicher Richtung jenseits des
Bahngeleises einen Kilometer entfernte zweite Trümmerfeld. Die Indianer nennen es
Puma-Puncu: Löwentor. Diese Ruinen bestehen zumeist aus riesigen, roten Sandsteinplatten,
die,wie man annimmt, den Boden einer grossen Halle gebildet haben.Nach aussen zu finden
sich an den Steinen rechteckige, 1,so Meter lange und O,ss Meter breite, sitzartige
Vertiefungen. Der grösste dieser Monolithen ist 7,73 Meter lang, 4,60 Meter breit und 1,0
Meter dick. Woher und wie mögen diese schönen, gewaltigen Blöcke her-geschleppt worden
sein? Lange erschien auch dies ein Rätsel. In der Neuzeit hat man in der nahen Cordillere
von Quinsachaca das-selbe schöne Material entdeckt.
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Ein weiterer Spaziergang brachte meinen jungen Begleiter und mich in das Dorf, Dort rissen wir den gebildetsten Dorfmäcen aus süssem Mittagsschlummer. Als er endlich begriffen hatte, warum es sich handelte, begleitete er uns in ein von ihm angelegtes, kleines Museum, wo er alle möglichen Fundstücke bewahrte.
Zu meiner grossen Freude hatte auch ich auf dem Trümmerfelde mehrere Pfeilspitzen aus Feuerstein und eine kleine, tönerne Lama-schnauze gefunden. Eine Menge solcher Dinge,
Trümmer von Köpfen,
Säulen und Platten be-fanden sich in dem
Raum. Ach, das ganze
Dorf und insbesondere die Kirche verdiente den
Namen „Museum“, denn sämtliche Türpfosten und -Schwellen der elen-den Hütten sind schön behauene Säulen und
Steine der alten Stadt.
Die Kirche ist vollstän-dig aus den Ruinen ent-nommenen, roten Sand-steinen erbaut. Am Ein-gang thronen zu beiden
Seiten zwei uralte, aus
Kopf und Rumpf bestehende Götzenbilder. Ihre Ausführung steht auf der untersten Stufe der Kunst. Die verwitterten Gesichter sind wie durch Kinderhand bemalt, Augen und Mund durch rote Striche angedeutet, während die Nase eingeschlagen ist.Sie tragen eine turbanartige Kopfbedeckung. Die Kirche ist im übrigen recht schön. Sie besitzt Kuppel und Glockenturm. Eine Mauer trennt den Vorhof von dem grossen Platz ab. Sie ist von einer Reihe zierlicher, auf kleinen Säulen ruhenden Bogen durchbrochen.
Neueste Ausgrabungen.
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Aus Central- und Südamerica.
Hoch befriedigt, aber todmüde kehrte ich nach der Station zu-rück. Ein kurzes Ausruhen und der Zug sauste heran. Freundlich begrüsste mich Herr Bergelund und führte mich in Quaqui in sein wohltuend zivilisiertes Heim. Seine. hübsche, junge Frau, eine Schott-länderin, empfing mich am zierlich geordneten Teetisch. Nach der mehrwöchentlichen Existenz in den schmierigen Gasthäusern Hoch-perus und auf dem nicht besseren, kleinen Yuwari kam mir dieser Tee-tisch wie ein schöner Traum vor. Der Traum nahm seinen Fortgang bei dem ausgezeichneten Abendessen und endigte erst in einem tiefen Schlaf im weichen Bett.
Den folgenden Tag um 7 Uhr früh reiste ich noch einmal bis Tihuanaco, und von da eine Stunde weiter nach La Paz. Am Bahn-hof erwartete mich ein Vierspänner. Auf windungsreicher Landstrasse fuhr er mit mir nicht weniger als 300 Meter hinab zu der Hauptstadt,Augenblicklich stellt die Peruvian Corporation eine Verbindung zwischen Eisenbahnstation und La Paz vermittelst einer Bergbahn her.
Wie Alonzo de Mendoza im. Jahr. 1549 auf den Gedanken verfiel,gerade hier in dieser Schlucht eine Stadt unter dem Namen Nuestra Sefiora de la Paz zu gründen, entgeht meinem Verständnis. Fehlt es doch überall an Raum zur Ausdehnung. Läuft ausnahmsweise einmal eine Strasse einige Schritte weit horizontal, so kommt regel-mässig ein steiler Auf- oder Abstieg, an dessen Fuss öfters nach Atem ringende Menschen stehen. Die Stadt liegt 3700 Meter hoch und ist förmlich in den Falten des Illimani verbaut. Im Schutze des gewaltigen Berges gedeihen deshalb hier noch herrliche Rosen und Geranien, Äpfel und Birnen. Wenige Kilometer tiefer werden Zucker,Coca und Mais gepflanzt.
Das Gebirgspanorama ist ein entzückendes. Leider sind die Stellen selten, wo nicht irgend ein Hügel, eine Unebenheit des Terrains sich neidisch dazwischen stellt, auch lag während meines kurzen Auf-enthaltes in La Paz häufiger Nebel über dem Illimani.
Der durch. das Städtchen laufende Chuquiyapufluss hat sich eine tiefe Schlucht
eingefressen und hohe Brücken führen darüber. Bei Schneeschmelze und starken Regengüssen
reisst er grosse Felsblöcke mit. In einem alten, 1772 erschienenen Reisebuch wird erzählt,
dass derselbe Fluss zuweilen grosse Stücke Gold mit sich führte. Im Jahre 1730 soll ein
Indianer, der die Füsse im Flusse wusch, einen so grossen Klumpen Gold darin gefunden
haben, dass der Marquis von Castel Fuerte ihn mit 12,000 Piaster bezahlte, und dem König
von Spanien sandte. Derselbe Reisende erzählt von einem 28 Kilo-
195 meter östlich von der Stadt gelegenen hohen Berg, der grosse Reich-tümer enthielte. Als im Jahr 1723 ein Blitzstrahl ein Stück Felsen davon lossprengte, hätte man dort soviel Gold gefunden, dass die Unze in der Stadt nur noch acht Piaster gegolten habe. Jetzt scheint mir La Paz nicht gerade im Gold zu schwimmen, obschon es einige recht schöne Häuser, ordentliche Kaufläden und das elektrische Licht besitzt.Im Hotel Central wurde ich meinem Vierspänner entsprechend empfangen und in ein wahres Staatszimmer geführt. Vor-sichtigerweise erkundigte ich mich nach dem Preis dieses für hochländische Begriffe ungewöhnlich eleganten Ge-maches, und da er phan-tastisch hoch lautete, bat ich um bescheidenere Unter-kunft. Natürlich ging da-durch viel von meinem Nim-bus verloren.Aji würzt auch hier die Mahlzeit. Viele Deputierte sassen bei Tisch. Die Kam-mern. waren wenige Tage vorher auseinander gegan-gen, und es fehlte an Post-und Extrawagen zur Beför-derung der zahlreichen Lan-desväter in ihre oft ferne Heimat. Schon Sefior Ascar-runz hatte mich hierauf auf-merksam gemacht, als ich ihm meinen Plan mitteilte, mit eben dieser Post über Oruro nach Antofagasta zu fahren. Die fünftägige Reise teilt sich in drei Tage Post und zwei Tage Eisenbahn und soll sehr staubig und strapaziös sein. Mir war es aber sehr darum zu tun,diese Fahrt durch Bolivien zu unternehmen, und Herr Bergelund hatte deshalb schon den Tag vorher telegraphisch einen Postplatz bestellt.Jetzt kam die Antwort: „Jeder Platz ist bis auf drei Wochen hinaus bestellt.“ Das war schlimmer Bescheid. In La Paz wollte ich nicht so lange sitzen; es hiess also, wohl oder übel, auf demselben Weg nach Mollendo zurückkehren.
Paz.
Aus Central- und Südamerica.
So musste ich möglichst schnell die Stadt und ihre Bewohner kennen lernen. Dies tut man am besten auf dem Markt. Hier ist das Marktgebäude eine ehemalige Kaserne mit Arcaden und Galerien und verschiedenen Eingängen. Der Weisse tritt in La Paz. noch sehr zurück. Einige englische Ingenieure, deutsche Kaufleute, wenige rein-blütige Spanier und die Mitglieder verschiedener Gesandtschaften und Konsulate, das ist wohl alles. Der Rest sind Mischlinge (Cholas}und Indianer (Aimaräs).
Cholas und Indianerinnen lieben recht-grelle Farben; in hellgrün,rot, goldgelb prangen gewöhnlich Rock. und Umschlagtuch. Eine Menge weite Röcke falten sich übereinander, möglichst kurz, damit der sehr elegante Knopfstiefel ordentlich zur Geltung komme. Mag er auch strumpflose, schmutzige Beine und Füsse bedecken, wenn er nur hohe Absätze, eine lange Reihe: Knöpfe und feines Leder zeigt, dann ist alles gut. Auch der flache Panamahut wird in der feinsten Qualität getragen. Dass übrigens die Röcke der Indianerinnen nicht nur oben fein sind, sondern auch -in den tieferen Lagen sich sehen lassen dürfen, bewies mir folgende amüsante Episode: Zwei Indianerinnen standen auf dem Markte beisammen. Die eine trug einen purpurnen, die andere einen grünen Rock. Frei von jeder Prüderie zog die Purpurne plötzlich ihren Rock aus, ein feurigroter erschien darunter, dem ein leuchtendgelber folgte; ‚hierauf kam ein blauer. Natürlich wollte die Freundin nicht zurückbleiben; der grüne Rock fiel, ein blauer erschien, hierauf wechselte ein roter mit einem schwefelgelben ab. Das starke Geschlecht zeigt sich weit weniger eitel. Aus der dicken, wollenen Zipfelmütze quellen lange, wirre Haarbüschel, und nachlässig hängt der. Poncho über Brust und Rücken. Am meisten Sorgfalt verwendet der bolivianische Indianer auf seine Hosen, deren er stets zwei Paare trägt. Die hellere Unter-hose kommt dabei zur Geltung, weil die Oberhose bis über die Knie aufgeschlitzt ist. Sandalen aus Ochsenhaut vollenden diese Tracht.
Bei meinem ersten Ausgang in La Paz traf ich gleich zwei Be-kannte, Herrn G., den
amerikanischen Konsul in Lima, mit dem ich von Lima nach Arequipa gereist war, und Herrn
Ascarrunz. Letzterer erzählte mir: „Ein Schweizer, namens H., lebt hier als angesehener
Kaufmann. Wenn Sie erlauben, werde ich Ihnen den Landsmann gegen Abend in den Gasthof
bringen.“ Dies geschah denn auch.Herr H. lebt schon viele Jahre im Lande und hat sich
daselbst ein Geschäft und eine Familie gegründet, Als Schwindsuchtskandidat ist er in La
Paz angekommen; das Höhenklima hat einen breit-
197 schulterigen, kernfesten Mann aus ihm gemacht. Was für den einen gut, passt nicht für den andern! Auf der Rückfahrt klagte mir ein Franzose: „Ich habe mein Geschäft aufgegeben, um von Lima nach La Paz zu ziehen. Nach zweiwöchentlichem Aufenthalt aber musste ich schon wieder aufpacken und eine Stadt verlassen, die mir un-fehlbar baldigst den Tod gebracht hätte. Kein Mensch kann sich die qualvollen Nächte der Atemnot und Herzbeklemmung vorstellen,die ich hier durchgelitten.“ ; ;
Herr H. brachte mir auch seine Frau und seine Schwägerin,und zusammen verlebten wir ein paar vergnügte Stunden in dem neuen, ganz europäischen Hause des Sefior Ascarrunz.
Den westlichen Teil des grossen Platzes in La Paz nimmt die in Umbau befindliche Kathedrale ein. Als La Paz im Jahre 1601 Bischofsitz wurde, beschloss natürlich der erste Bischof Valderrama den Bau einer entsprechend glänzenden und grossen Kathedrale,Wie hier alles, steht auch sie auf denkbar abschüssigem Grund und Boden. Zwischen der Plaza de Arma, wo die Front der Kirche steht,bis zu der Calle de Chirinos, wo das Schiff endigt, beträgt der Niveau-Unterschied nicht weniger als 14 Meter, man kann sich daher leicht die enormen Baukosten der Basis allein vorstellen. Nach den Plänen aus dem Jahr 1900 wird die umgebaute Kirche fünf Schiffe haben, 12,000 Menschen fassen können und eine Fläche von 4042 Quadratmeter, inclusive Atrium, bedecken.
Die Erstellungskosten dieses Riesenbaues werden teilweise durch eine erhöhte Steuer auf Coca bestritten. Dies führt mich auf das unscheinbare Blatt des Cocastrauches, das eine ebenso grosse Rolle bei den Indianern Südamericas spielt, wie der Tee bei uns. Die getrockneten Blätter werden gekaut und sollen, in mässiger Menge angewandt, bei anstrengenden Märschen und Arbeiten ein ausge-zeichnetes Mittel gegen Hunger und Durst und Erschlaffung bilden.Der wilde Cocastrauch kommt in Ecuador, Bolivia, Peru und Nord-Chile häufig vor. Seit 1884 werden die getrockneten Blätter massen-haft zur Bereitung des Cocain nach Europa gesandt. Auf den alt-peruanischen Tongefässen habe ich oft einen menschlichen Kopf ab-gebildet gesehen, dessen rechte Wange einen kugelartigen Auswuchs zeigt. Damit deutet der Bildner an, dass der Mann Coca kaut.
Recht interessant ist der Besuch des Museo Municipal. Auf der griechischen Fassade stehen die Worte „Ayam Aru“, was aus der Aimaräsprache übersetzt ungefähr „die alte Überlieferung“ bedeuten soll. Neben einer zoologischen und botanischen Sammlung fand ich
Aus Central- und Südamerica.viele schöne Mineralien‘ und was mich am meisten : interessierte,Fundstücke aus den Chullpas, den alten Begräbnistürmen der Incas:feine Töpfereien nnd Gewebe, Die Chullpas sind rund und haben eine Höhe von 13 Meter. Ihr Material ist wundervoll behauen und passt auf das Genaueste zusammen. Der Eingang meist nach Osten gerichtet ist so niedrig, dass ein Mensch gerade nur durch-schlüpfen kann. Der kreisrunde Innenraum besitzt drei Meter Durch-messer und vier Meter Höhe. Der oder die Toten wurden, sorgsam in Lamafelle gehüllt, hineingesetzt.
Aus der spanischen Zeit fand ich ein Panzerhemd des Gonzalo Pizarro, des jüngsten Gliedes jener merkwürdigen Familie, der Spaniens Thron sein kostbarstes Kleinod „Peru“ verdankte. Derselbe hat tätigen Anteil an der Eroberung genommen, und seine Geschichte bildet eine Reihenfolge kühner und romantischer Abenteuer. Interessant sind auch die Bilder der Incas und ein Gemälde, das eine Belagerung der Stadt La Paz im Jahre 1781 zum Vorwurf hat. Diese Belagerung blieb erfolglos merkwürdigerweise wurde sie durch eine kühne Indianerin, namens Bartolina, der Frau eines Häuptlinges, unter-nommen.
Hiemit hatte ich so ziemlich die Sehenswürdigkeiten von La Paz erschöpft und nach zweitägigem Aufenthalt trat ich die lange Rück-reise nach Mollendo an, Die Fahrt über den Titicacasee nach Quaqui ging diesmal auf dem grösseren Dampfer in 18 Stunden von statten.Der See war so bewegt, dass abends um 7 Uhr ein Passagier nach dem andern in sein stilles Kämmerlein verschwand. Auch ich musste mich angezogen auf die Koje werfen, um nicht seekrank zu werden.Eine andere Unannehmlichkeit dagegen, der ich bis jetzt entgangen war, begegnete mir auf dieser Fahrt. Die scharfe See- und Höhenluft hatte meine Gesichtshaut ganz bedenklich geschält, und mein Mund war so angeschwollen, dass ich tagelang wähnte, er reiche mir bis zu den Ohren, Warme Speisen und Getränke wurden mir während mehreren Tagen zur Qual.
Als wir nach Mollendo kamen, stand ein englischer Dampfer im Begriff, die Anker zu
lichten. Es war die California, das Schwester-schiff des schönen, neuen „Mexico“, der mich
von Callao hierher gebracht hatte, Da hiess es die Gelegenheit wahrnehmen, Aber wie an
Bord kommen? Haushoch spritzte der weisse Gischt über die schwarzen Klippen, und die
berüchtigte Aus- und Einschiffung ver-diente diesmal vollauf ihren bösen Ruf. Wohl oder
übel musste ich,auf einem Stuhle festgebunden, in den Kahn hinab verstaut
werden.
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Ich wirbelte ein paar Male in der Luft, bis ich in das wild auf und ab schaukelnde Boot gelangte, dann war auch dieses überstanden,
Ich erhielt eine schöne, grosse Kabine für mich allein und fühlte mich auf der neuen, prächtigen California in jeder Beziehung behaglich.Die auf anderen Schiffen in die unteren Räume verbannten Katzen führten auf Deck ein vergnügtes Dasein. Bei Tisch auf dem Ehren-
Chullpa.platz neben dem Kapitän thronte sein Lieblingskater, wenn auch kaum zur Freude aller Passagiere, wenigstens doch zu der meinigen, Der Kater bildete schnell ein Freundschaftsband zwischen dem freund-lichen, weisshaarigen Mann und mir und wir buhlten mit guten Leckerbissen ordentlich um die‘ Gunst Hidigeigei’s. Einen anderen Liebling besass ich oben auf dem Sonnendeck, Er gehörte zu dem Geschlecht der Affen und sass in einem grossen Käfig neben dem Geflügel. Jedesmal, wenn ich erschien, reckte er geschickt zwischen
Aus Central- und Südamerica.den eisernen Stäben mit langem Arm in meine Tasche. Ein Bleistift war dabei stets sein Lieblingsfund und nur die Verabreichung eines rohen Eies konnte ihn veranlassen, den Bleistift fallen zu lassen.
Die Fahrt zwischen Mollendo und Valparaiso nimmt zehn Tage in Anspruch, doch werden nahezu ebensoviele Landungen gemacht.Diesmal freilich erliess man uns einige, weil dort die Pest gerade wütete, Bei dem Anblick der trostlosen Sand- und Salpeterwüste,der hässlichen, kahlen Berge, fühlt man sich wenig landungslustig,umso mehr, als ein zwar anscheinend stilles, aber doch dünungs-reiches Meer und senkrecht zerklüftete Ufer die Ausschiffung gar nicht angenehm machen.
So wartete ich bis Iquique, weil ich für dort eine Empfehlung hatte und Iquique zudem die Hauptstadt dieser Salpeterwüste ist. Zunächst wanderte ich nach dem grossen Geschäft der Bremer Kaufleute G.Ich fand die Herren sehr beschäftigt, da zugleich mit der California ein Kosmosdampfer von Valparaiso her gekommen war und auf Ladung und Briefe nach Deutschland wartete. So verabschiedete ich mich, nach einer flüchtigen Wanderung durch die endlosen Lager-räume, wo unzählige, graubraune Salpeterblöcke auf Verladung war-teten. Der Salpeter liegt zuweilen ganz an der Oberfläche und wird mühelos herausgeschaufelt. Ein guter Boden enthält bis 50 °% Salpeter und 30 °% Salz.
Das einst peruanische Iquique ist durch einen englischen Ar-beiter, ich glaube einen Mechaniker, namens North, gewissermassen gegründet worden. Er beutete zuerst den unerschöpflichen Salpeter aus und sandte ihn zur Düngung nach Europa, an Stelle des teureren und schwerer zu handhabenden, peruanischen Guano. North ge-wann hierbei nicht nur zehn Millionen Pfund Sterling, sondern auch Ansehen bei der Königin von England, die ihm sogar die Würde eines Obersten verlieh. North gab Bälle, an denen der jetzige König von England tanzte. Zwei vornehme Engländerinnen dienten der Tochter North’s als Ehrendamen, und London, sowie ganz England priesen ihn als einen zweiten Columbus. Hatte er doch die süd-americanische Wüste urbar gemacht! Dem von Hause aus rohen und völlig ungebildeten North stiegen alle diese Ehren und sein unermess-licher Reichtum zu Kopfe. Er endigte als Trunkenbold und Betrüger.
Ich setzte mich in die Trambahn und fuhr durch Iquique. Ganz komisch berührte es mich,
dass die Tramführer Frauen und Mädchen sind. Behend kletterten sie auf und ab und heimsten
gewandt das Fahrgeld in schwarze Täschchen ein. Sie trugen alle weisse
Matrosen-
201 hütchen mit schwarzem Band und nette, einfache Kleider. Als ich mich erkundigte, weshalb hier Frauen die Männer ersetzten, hiess es: „Die chilenischen Männer sind durchwegs diebisch, die Frauen dagegen alle ehrlich, und arbeiten zudem um geringeren Lohn.“Iquique sieht wie eine eilig erbaute Stadt aus. Da kein Gras, kein Blatt, keine Blume wächst, sind wohl die Häuser alle hübsch bunt angestrichen worden.
In Antofagasta begnügte ich mich, das zwischen hässlichen,nackten Bergen liegende Städtchen von Ferne zu betrachten. Auch Caldera mit seiner tiefen, öden Bucht sah ich mir nur vom Deck an,In Huasco kam ich vor lauter Trauben nicht zum Aussteigen. Unter den Passagieren, deren Zahl bei jeder Station gewachsen war, ent-stand ein ordentlicher Tumult, als die ersten Traubenhändler auf Deck erschienen. Hundert Hände streckten sich nach den goldgelben Trauben aus, kein Mensch dachte ans Markten, jeder wollte davon um jeden Preis, gab dafür jeden Preis. Im Nu hatten sich die Körbe geleert, aber immer wieder tauchten neue auf. Köstlich schmeckten diese Trauben, köstlicher als alle, die ich je gegessen, und auch die Qualität der getrockneten übertraf an Wohlgeschmack weit die Malaga-produkte. Wie kommen die Trauben in diese Wüste, wird man fragen, fragte auch ich? „Die sind weiter landeinwärts gewachsen.Hinter jenen kahlen, hässlichen Bergen leben viele fleissige Menschen und der fruchtbare Boden lohnt hundertfach einen sorgfältigen Wein-und Gemüsebau.“
Noch eine Landung, das kupferminenreiche Coquimbo, dann war ich an das ersehnte Ziel
Valparaiso gelangt.
Valparaiso-Santiago.')Den 22, Februar in aller Frühe lag die „California“ vor Val-paraiso. Die Nacht war unruhig gewesen. In meine Kabine war in Coquimbo eine kranke Gefährtin eingezogen. Sie jammerte und stöhnte und sprach immerzu von Sterben, so dass ich ängstlich ihren Atem-zügen zu lauschen begann. So weit sollte es zum Glück nicht kommen.Der Tag graute noch nicht, als meine Sterbende schon sich frisierend und pudernd vor dem Spiegel stand und ganz munter ihr „Bestes“zur Landung anzog. Um 6 Uhr klopfte ihr Mann an die Tür, Die Beiden wollten, wenn möglich, mit dem Frühzug nach der Haupt-stadt Santiago reisen. .
Ich hatte es nicht so eilig. Mich erwartete niemand in Valparaiso und Herrn F., den Freund meines Vetters, konnte ich nicht wohl vor 9 Uhr aufsuchen. Endlich war es so weit. Ich verabschiedete mich von dem freundlichen Kapitän, von einigen Reisegefährten und von Maxi, meinem lieben Affen. Der war aber gar nicht gnädig, er drehte mir eigensinnig die Kehrseite zu. Den armen Schelm fror augen-scheinlich auf dem kalten, winddurchsausten Oberdeck.
Ein ehemaliger Schiffsagent brachte mich an das Land. Was ist das für eine merkwürdige Stadt, eingezwängt zwischen dem Meer und einer kahlen, hohen, grauen Wand, auf der gleich Schwalben-nestern eine Menge Häuser kleben! „Da oben wohnen die Europäer“,erklärte mein Begleiter. „Ja, fliegen sie denn hinauf?“ fragte ich ungläubig. „O da gibt es Fahr- und Fusswege und besonders ver-schiedene Drahtseilbahnen.“
Wir landeten an einem breiten Kai, stiegen über die Schienen der nach Santiago führenden Eisenbahn, die hier ohne jedwelchen 1) Seit ich die folgenden Zeilen geschrieben habe, hat ein furchtbares Erd-beben den 16. August 1906 Valparaiso heimgesucht. In Trümmern liegt ein grosser Teil der Stadt, ganze Strassen sind mit ihren Einwohnern von dem Erdboden verschwunden, und die Zahl der Opfer wird auf 5000 berechnet.
Aus Central- und Südamerica.
Barrierenzwang häufig am Tage zu manöverieren pflegt. Wir kamen auf einen grossen Platz. In der Mitte erhebt sich, von schönen Pflanzen umgeben, ein hohes, 1886 erstelltes, grossartiges Denkmal. Die Statue eines einfachen Lieutenant zur See, Artur Prat, krönt das Ganze,während unten vier Statuen, seine Ruhmes- und Todesgenossen auf der „Esmeralda“ darstellen. Auf dem Platz stehen verschiedene,stattliche Gebäude, die Börse, die Post, hinter dieser ein beschei-denes, gelb angestrichenes Haus: Hotel Bolsa. Ach, das sollte ich zur Genüge kennen lernen! Den Platz schliesst ein kleiner Square und die graue Bergwand ab.
Wir der freundliche Agent begleitete mich lenkten in eine Strasse rechts vom Platz ab, und bald stand ich im Geschäft F. vor einem freundlichen, weisshaarigen Mann.
„Und Sie wollen wirklich nach Juan Fernandez?“ „Ja, gewiss,sofort, wenn heute ein Schiff geht.“ Zweifelnd schüttelte er den Kopf.„Wissen Sie, mein Fräulein, wie es auf einem kleinen Segelschiff aussieht und was für Unbequemlichkeiten Sie dort durchmachen werden?“ „Nein, aber ich will auf die Insel!“ „Gut, ich komme sofort mit Ihnen zu Herrn Fonk. Er besitzt die Langusten-Konserven-fabrik in Juan Fernandez, und seine drei Segelschiffe vermitteln so-zusagen den ausschliesslichen Verkehr mit der Insel.
„Sie wollen auf die Insel?“, fragte Herr Fonk und musterte mich von Kopf zu Fuss. „Ja, warum denn nicht?“, rief ich etwas gereizt.„Stellen Sie sich die Reise nicht zu leicht vor. Zumal für eine Dame.“ .... „Ich weiss schon“, unterbrach ich, „aber es ist mein fester Entschluss, meinen Vetter zu besuchen, am liebsten segelte ich gleich heute.“ „Gemach, so schnell wird es nicht gehen“, meinte Herr Fonk. „Vor zwei Wochen kommt der „Juan Fernandez“ nicht von der Insel zurück, und der „Robinson Cruso@“, das grössere,bessere, für Sie allein in Frage kommende Schiff, ist erst vor wenigen Tagen fort und kehrt kaum vor drei bis vier Wochen wieder, Mit Segelschiffen lässt sich keine Zeit bestimmen, besonders jetzt nicht,wo der Winter mit seinen Windstillen und Stürmen herannaht.“ Wie ich seither gehört, ist der „Robinson Cruso&“ diesen zehn Wochen später zum Opfer gefallen, und auch der kleine „Juan Fernandez“ist letztes Frühjahr untergegangen.
Etwas entmutigt verliess ich das Fonk’sche Geschäft. „Halt, da geht unser Mann“, rief
Herr Fonk, und leise fügte er bei: „Herr Fon-taine hat vor kurzem ebenfalls eine
Konservenfabrik auf der Insel errichtet und steht im Begriff, ein Segelschiff zu kaufen.
„Nun,
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Monsieur Fontaine, haben Sie die „Sirene“ gekauft?“ „Nein,sie ist viel zu teuer und zudem schlecht im Stand, und doch sollte ich durchaus Waren von der Insel kommen lassen.
Da sich die folgenden vier Wochen meine Gedanken und Pläne ausschliesslich darum drehten, „ob Robinson’s Eiland, oder nicht“,habe ich so ausführlich, vielleicht zu ausführlich, von den Schwierig-keiten, die sich dieser Reise entgegenstellten, gesprochen.
Nun hiess es hier in Valparaiso Quartier suchen und das hielt schwer. Die Stadt war gerade überfüllt, da zur Sommerszeit die Be-wohner Santiagos der Hitze wegen nach dem am Meere gelegenen Valparaiso ziehen. Herr F. brachte mich in das von einem Landsmann gehaltene Hotel Aleman. „Alles überfüllt, nur ein schlechtes, kleines Zimmer wird heute Nachmittag frei!“ Das war kein guter Trost.
Vorläufig lud mich Herr F. zum Frühstück auf den Cerro Allegre.Unversehens waren wir mit der Drahtseilbahn oben angelangt. Staunend sah ich, dass sich hinter dieser grauen Bergwand ein ganzes Stadt-viertel erhob, mit Strassen nach verschiedenen Richtungen, mit zier-lichen Villen und blumigen Gärten. Solcher Hügel, Cerros genannt,besitzt Valparaiso nicht weniger als 16 Haupt- und etliche Nebenhügel.Auf dem einen steht das Spital de la Caridad; der Cerro del Panteon gehört den Toten Valparaisos, auf dem Cerro Allegre und dem Cerro Concepcion, jetzt Cerro Reina Vittoria, wohnen die wohlhabenden Europäer, auf anderen Cerros ausschliesslich armes Volk. Tiefe Schluchten trennen diese Hügel zumeist voneinander.
Da stand ich in Herrn F.’s blühendem, hängendem Garten. Dieser Ausdruck ist hier wirklich der richtige. Als ich an dem Geländer Jjehnte, kam es mir vor, als senke sich langsam Mauer, Garten und ich, und wir landeten sachte in der Tiefe, unweit des Platzes. Dem starren Fels ist durch gute Pflege und fleissiges Giessen eine üppige Anlage abgeschmeichelt worden. Kommt erst die Regenzeit, dann sollen in Valparaiso die Steine ordentlich grünen.
Wie klar und durchsichtig ist die Luft, wie leuchtet und flimmert die Sonne! Sie bescheint die weiten Schneefelder der Andenkette,sie flirrt und schimmert über der blauen Meeresbucht mit ihrem Ge-wimmel von Schiffen und Schiffchen. Mein stolzer Dampfer, der mich gebracht, scheint von hier oben ein kleines unansehnliches Ding.
In dem F.’schen Hause fand ich eine freundliche, treffliche Haus-frau und drei liebenswürdige, junge Mädchen und ich fühlte mich bald heimisch. Während meines langen Aufenthaltes in Valparaiso verging selten ein Tag, der mich nicht hier oben fand.
Aus Central-. und Südamerica.
Frau F. war an diesem ersten Nachmittag bei einer Bekannten auf einem weit vom Cerro Allegre gelegenen andern Hügel eingeladen.„Wollen Sie mitkommen, Sie sehen bei dieser Gelegenheit etwas von Valparaiso?“ „Gewiss, gerne.“ Ein Dreigespann wurde in der Stadt unten geholt; ein Vierspänner wäre nicht zu viel gewesen bei diesen schrecklich gepflasterten, steilen Anhöhen. Auch in der lang-gestreckten Stadt fuhr es sich schlecht, das Pflaster war neuer Lei-tungen wegen überall aufgerissen.
Was fiel den Menschen ein, gerade hier eine Ansiedlung zu gründen? Freilich von 1543 ein offizielles Dokument spricht in diesem Jahre zum erstenmal von Valparaiso bis 1810, wo sich Chile vom spanischen Joche freimachte, war Valparaiso ein elendes Fischerdörfchen. Da genügte die schmale Landzunge zwischen Fels-wand und Meer und auch der Hafen, obschon er bei nördlichen Winden den Schiffen nur wenig Schutz gab. Im 19. Jahrhundert aber ergoss sich die Flut der Europäer aus allen möglichen Ländern über Chile. Sie liessen sich in Valparaiso nieder und machten aus dem spanischen Dörfchen eine grosse europäische Stadt und zwar ohne jedwelche Anklänge an spanische Bauart. Das war keine leichte Arbeit. Zunächst musste das Meer zugeschüttet werden, um neue Strassen und einen Kai zu bauen, und da die Europäer die Unter-stadt ungesund, heiss und staubig fanden, so errichteten sie sich und ihren Familien Heimstätten oben auf dem Bergesrücken. Auch das kostete Arbeit auf dem abschüssigen, zerbröckelnden Felsboden. Bis jetzt hatte das Proletariat da gewohnt. Zum Teil musste es den Europäern weichen, doch es gab ja noch mehr Bergrücken und Täler und Schluchten unmittelbar bei der Stadt und die hölzernen Stützen,an denen die elenden, verfallenen, vom Alter geschwärzten Hüttichen sozusagen kleben, konnten leicht abgebrochen und anderswo auf-gestellt werden. An jener ersten Ausfahrt in Valparaiso machten die hochstelzigen, windschiefen, oft über dem Abgrund hängenden Häuschen und der unseren Pferden zugemutete steile, staubige und holprige Weg einen tiefen Eindruck auf mich.
Nach langem Anstieg kamen wir endlich zum Jardin Suizo. So heisst die sehr grosse, von
einem Landsmann mit Erfolg betriebene Gärtnerei. Bis hoch empor an steilem Bergrücken
zieht sich der Garten und ganz oben, auf bis jetzt jungfräulichem, gelbem Boden,wachsen
und blühen die allerherrlichsten Rosen. Weiter unten stehen die Kinder tropischer Zonen,
herrliche Palmen, Baumfarn und Mimosen.Unsere bescheidene Topfeitronelle ist hier zum
weitkronigen, hoch-
Von Valparaiso nach Santiago fährt ein sogenannter Schnellzug in fünf Stunden. Längere Stationen, z. B. in Llai-Llai, wo die Anden-bahn nach Los Andes abgeht, werden verschiedene gemacht, Die Entfernung zwischen Valparaiso-Santiago beträgt 184 Kilometer. Ich kam gar nicht aus dem Staunen über den eleganten Eisenbahnwagen,die noch eleganteren Reisenden, das stramme Militär, ja sogar über das arme Volk. Das sind ja gar keine Indios, wie in Peru. Jene waren mir freilich mit ihren freundlichen Gesichtern lieber, als die oft mürrischen, kaum ein Wort des Dankes für eine Gabe findenden Chilenen. Auch ihre Sprache zu verstehen kostete mich anfangs viel Mühe, da werden so viele Silben verschluckt, die in Peru schön deutlich und volltönend klingen. Aber nicht nur Silben stehlen die Chilenen, sondern noch viel anderes substantielleres, und ich konnte mich nie eines gewissen Misstrauens gegen sie erwehren.
Die Fahrt nach Santiago bietet viel Abwechslung. Zunächst fuhren wir dem Meer entlang.
Ein leichter Nebel, der Vorbote des kommenden Herbstes, lag darüber und gleich
phantastischen Inseln ragen die schwarzen Felsklippen daraus empor: Vifia del Mar,
Salto,beide Orte sollte ich später gut kennen lernen, dann kamen liebliche Blumen- und
Obstgärten. Die Bäume hängen voll Äpfel, Nüsse, Birnen,Pfirsiche, später erfreut sich das
Auge an traubenbeladenen Wein-stöcken, die zu Millionen, schön gepflegt, dastehen. An
bestimmten Stationen werden all diese Produkte durch Frauen und Kinder in niedlich
geflochtenen Körben zu unglaublich billigen Preisen feil-geboten. Das läuft und schwirrt
alles um den Zug herum und sucht eines dem andern die Käufer abzujagen. Nur die
Wassermelonen-Verkäuferinnen müssen ruhig hinter den Barrikaden ihrer Riesenfrüchte sitzen
bleiben. Sandia, wie die Wassermelonen hier heissen, bilden die Hauptnahrung der armen
Bevölkerung. Sie werden haufenweise
Von nicht fruchtbringenden Bäumen sah ich unterwegs ganz herrliche Riesen-Trauerweiden und bis unten schön belaubte, italie-nische Pappeln. Auch hier werden sie zu Alleebäumen verwendet.Alamos heisst ihr spanischer Name. Davon wurde wohl die Be-nennung „Alameda“, die in keinem Neste spanischer Zunge fehlende,öffentliche Promenade, abgeleitet. Ein charakteristischer Baum ist die Espino-Akazie. Als wir hinter der Station Quilotas ins Gebirge kamen,begann das Reich der Disteln und der Kakteen.
Allmählich steigt die Bahn durch ödes Bergland bis auf eine Höhe von zirka 750 Meter. Sie nimmt ihren Weg, senkrechten Tra-chytfelsen entlang, durchläuft Tunnels und Viaducte, von denen der letzte 200 Meter lang ist und über einem 100 Meter tiefen Abgrund schwebt und senkt sich dann in die Ebene des Maipocho-Tales hinab, wo Santiago liegt. Diese Bahn wurde von 186370 erbaut und war der erste Versuch, über die Cordillere zu gelangen. Der Kilometer soll 400,000 Franken gekostet haben.
In Santiago angelangt, nahm ich eine Droschke, um nach dem Hotel Oddo zu fahren, Auf dem holprigen Pflaster wurde ich so hin und her geschüttelt, dass ich bei mehr Anlage dazu sicher See-krank geworden wäre, So wurde ich bei der langen Fahrt nur hungrig, und war unliebsam überrascht, im ersten Hotel der Haupt-stadt Santiago um 2 Uhr nachmittags nichts mehr zu essen zu kriegen.„Ja, Sie hätten in Llai-Llai frühstücken sollen!“ Dagegen bekam ich ein schönes, luftiges Zimmer, und nachdem ich den Reisestaub ab-geschüttelt, begab ich mich, diesmal wohlweislich ‚per elektrischem Tram, nach der Fundicion Libertad. Dort hatte ich Landsleute.„Ziehen Sie doch zu uns, das ist viel einfacher“, hiess es gar bald,und am folgenden Morgen packte ich mein Köfferchen und zog in das gastfreundliche Haus, Noch am selben Nachmittag machte Fräulein K., die Tochter meiner Landsleute, einen längeren Spaziergang mit mir, und ich hatte Gelegenheit, über die kolossalen Entfernungen meine Glossen zu machen. Santiago zählt zwar kaum mehr als 300,000 Einwohner, aber die Stadt besitzt denselben Umfang, wie Paris.
Ganz wunderschön und einer Grosstadt würdig, ist die Avenida de las Delicias, die
Boulevards von Santiago. Vier Kilometer lang
209 und 100 Meter breit wird sie von vier verschiedenen Baumreihen beschattet. Ab und zu unterbricht ein Denkmal grossen Stils, wie alle südamericanischen, ihre Einförmigkeit. Mir fiel besonders eine grosse Neptungruppe auf. Der Meeresgott versucht, seine wild aus-greifenden Pferde zu zügeln, aber nimmer hält seine Hand den Drei-zack fest, der ihm ach ja! vor kurzem gestohlen wurde.
Mitten in der Stadt und in einer weiten Ebene erhebt sich ein hoher Granitfels, Er war es wohl, der seiner Zeit Pedro Valdivia bewogen hat, hier eine Stadt zu gründen. Auf seiner Spitze errichtete er sein befestigtes Lager und wehrte die Einfälle der Indianer ab.In späteren Jahrhunderten, als die Verteidigung der Stadt nutzlos ge-worden und ein Erdbeben auch das letzte Gebäude auf dem Fels,das Kirchlein Santa Lucia zerstört hatte, dachte kein Mensch mehr daran, den öden Cerro Santa Lucia zu erklimmen. Da fasste ein reicher,eben aus Europa zurückgekehrter Chilene, Herr Martinez, den Plan,den verlassenen Fels in einen Vergnügungsort für seine Mitbürger zu verwandeln. Er fing im Jahr 1860 damit an und baute während zehn Jahren eine staunenswerte Anzahl verschiedenartigster Gebäude auf diesen immerhin beschränkten Raum. Da stehen mittelalterliche Türme,eine gothische Kirche, ein Observatorium, ein Gasthof und Restaurant,ein Theater, Aussichtspavillons, verschiedene Statuen, worunter eine des Pedro Valdivia, des Manuel Vicufia, des ersten Erzbischofs von Santiago, geboren 1777, gestorben 1843, und der Madofia Immaculata mir erinnerlich sind. Das alles ist mit kleinen Treppen, Brücken,Tunnels und Gallerien verbunden. Martinez hat Erde auf den Fels schleppen lassen, Bäume gepflanzt und Ephei und andere Schling-oflanzen um die Gebäude gewunden. Eine breite Fahrstrasse mit herrlichen Bäumen und bequemen Bänken hat Herr Martinez in sanfter Steigung um den Fels und bis an das Theater führen lassen. Der breite Aufgang dagegen mit der doppelten Marmortreppe, den Wasser-künsten und dem Triumphbogen, das Ganze ä la Villa Medici in Rom, ist im Jahre 1896 begonnen und 1902 vollendet worden. Zu viel! musste ich immer wieder rufen, viel zu viel! Der Fels ist äberladen und vor lauter Anstaunen des Menschenwerkes kommt man nicht zur ruhigen Bewunderung der Gotteswelt. Wie wunderbar ist diese Aussicht, wunderbar auf die schneebedeckten Bergriesen,die eine unbeschreiblich klare Luft uns ganz nahe rückt, wunderbar auch sind jene wellenartigen, niedrigen Gebirgszüge, die dem Ocean zuzustreben scheinen, am wunderbarsten finde ich aber die Lichteffekte.
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Aus Central- und Südamerica.Santiago ist eine elegante Stadt, sie hat schöne, neue Gebäude wie Rathaus, Post, Deputiertenkammer, Nationalbibliothek, sie besitzt grosse Passagen, wie Paris, eine weite Plaza de Armas und herrliche Parks, aber Altes ist nichts vorhanden. Santiago könnte ebensogut vor 50, ja vor 30 Jahren erbaut worden sein, als den 12. Februar 1541,Woher mag das kommen? Man erklärte es mir dadurch, dass, während Auswanderer aus den vornehmsten Klassen Spaniens sich in Peru ansiedelten, nur Landsknechte, Bauern und kleine Leute sich in dem goldarmen Chile niederliessen und mehr auf gute Äcker, als auf stolze Paläste hielten.
Zu den goldgierigen Spaniern in Peru war die Mähr gelangt,in Chile befänden sich noch viel mehr Reichtümer als in den Incas-staaten. Dies bewog den abenteuerlustigen Almagro, den Waffenbruder Pizarros, einen Kriegszug in jenes unbekannte Land zu unternehmen,Er meinte umsomehr berechtigt zu sein, dies zu tun, als ihm von Kaiser Karl V. die Südküste des Stillen Oceans vom 14. Breitegrad an, bis so weit sich der Kontinent erstreckte, zugeteilt worden war.Mit 130 Spaniern und einem Tross lasttragender Indianer zog der bald 70jährige Greis am 3. Juli 1535 ins Unbekannte, Unter unsäg-lichen Mühsalen gelangte er über die Hochebene der Cordilleren bis nach Coquimbo, dann musste er ohne Chile erreicht zu haben, ohne Truppen, ohne Pferde, ohne Nahrungsmittel den Rückzug nach Peru antreten, um bald darauf durch die rohe Hand Ernando Pizarros er-würgt zu werden.
Zwei Jahre darauf machte sich Pedro Valdivia, einer der ersten Gefährten Pizarros, mit
einer freiwilligen Kriegsschar von 190 Mann nach Chile auf. Geld besass er zwar nicht,
aber er bekam solches auf Kredit und gewandter, jünger als Almagro, gelang sein
Unter-nehmen. Teils dem Meer entlang, teils durch die Wüste, kam er in das Coquimbotal.
Von da ging er über die Ausläufer des Aconcagua,erreichte den Maipochofluss und gründete
Santiago. Seinen Gefährten gab er indianische Frauen und Indianer als Gehülfen aus den
be-nachbarten Tälern. In der Stadt setzte er eine ordentliche Regierung und ein Gericht
ein und baute ein Arsenal und ein Rathaus. Dann kam er an den Fluss Bio-Bio, gründete
Concepcion und andere Städte.Im ersten Jahre ging alles gut. Dann empörten sich die erst
so füg-samen Indianer, hier Caribes genannt, Sie bezeigten sich störrisch,widerspenstig,
das Gegenteil der so friedfertigen Quichua- und Aimarästämme in Peru. Letztere freilich
waren von den Incas in unbedingtem Gehorsam erhalten worden. Im Süden namentlich stiessen
X KA
211 die Spanier auf ein Volk, das sich durchaus nicht unterwerfen lassen wollte, die Araukanier. Sie verbrannten ihre Feldfrüchte, verwüsteten ihr Land, vereinigten sich mit den Patagoniern und überfielen die Spanier von allen Seiten. In einem dieser Kämpfe fiel Valdivia.
Statt des erträumten Goldes, fanden die Spanier in Chile Mühe,Arbeit und Elend, Sonderbar, dies gerade scheint sie an die Scholle gebunden und tüchtigere Menschen aus ihnen gemacht zu haben, als in dem Goldlande Peru. Die spanischen Abenteurer, die bei ihren leicht erworbenen Reichtümern in Peru sich der Trägheit und allen möglichen Lastern ergaben, mussten in Chile das Land bearbeiten,um nicht Hungers zu sterben. Die Reise nach Chile war zudem mit solchen Mühsalen verbunden, dass, wer einmal drinnen, sich nicht leicht aus dem ungastlichen Land entfernen konnte. Was die ein-zelnen Ansiedler, das tat Spanien. Während die Regierung erbar-mungslos ihre reichen Kolonien aussog, brachte sie Opfer für Chile,das gar nichts eintrug. Sie sandte einen reichen, vornehmen Herrn,Don Garcia Hurtado de Mendoza, als Gouverneur nach Chile, um die Orte wieder zu erobern, die von Spanien abgefallen, und be-sonders, um die Araukanier zu unterwerfen. Mendoza, der Sohn des Vizekönigs von Peru, kam mit Gold und einem grossen Gefolge,worunter sogar Gelehrte und Dichter, und einer Menge Ansiedler mit ihren Familien. Allein, bald nach dem Abgang Mendozas em-pörten sich die anscheinend besiegten Araukanier wieder, und anfangs des 17. Jahrhunderts war kein Europäer mehr jenseits des Bio-Bio-flusses, Vor 30 Jahren erst hat sich Araukanien den europäischen Ansiedlern wieder geöffnet.
Doch es ist Zeit, meinen kleinen geschichtlichen Auszug abzu-brechen und zu dem modernen Santiago zurückzukehren. Natürlich besitzt die Stadt ihre grosse Plaza de Armas und unter den statt-lichen, sie umgebenden Gebäuden ist das älteste die Kathedrale mit zwei mageren Türmen und einer ungebührlich langen Fassade. In dem sehr restaurierten Innern blieben meine Augen an einer Schar kniender Mönche haften. Wie gross war aber beim Nähertreten meine Überraschung, unter den Kapuzen reizende Mädchengesichter schelmisch hervorgucken zu sehen. Der Manto der Chileninnen unterscheidet sich von demjenigen der peruanischen Bäuerinnen und noch mehr von der koketten Mantilla der Limener Schönen, Streng puritanisch, herbe, legt sich hier dasselbe grosse, schwarze Tuch um Reiche und Arme, Alte und Junge. Die Tracht stammt wohl aus jener Zeit, wo die Ansiedler der ärmsten Kolonie Spaniens im Schweisse
Aus Central- und Südamerica.ihres Angesichts den Boden bearbeiten mussten. Der chilenische Manto besteht aus einem einzigen Stück mehr oder weniger feinen Tuches,das möglichst straff Kopf, Hals und Schultern umhüllt und hinten mit Nadeln befestigt wird. Wie unvorteilhaft! höre ich ausrufen,Gewiss. Das Haar, der feine Ansatz des Halses, die Büste werden verdeckt, dafür guckt aus dem keuschen, engen Rahmen des schwarzen Manto manches Gesichtchen besonders madonnenhaft liebreizend hervor,
Eine Hauptsehenswürdigkeit Santiagos, die Quinta Normal mit ihrem wohlgeordneten, reichen Museum und schlecht gehaltenem Tier-garten, will ich hier nicht näher beschreiben, ebenso wenig die herr-lichen, wenig besuchten Parks der Hauptstadt. Die Chilenen scheinen weder Naturschwärmer noch leidenschaftliche Spaziergänger zu Sein.
Bei zwei Gärten dagegen möchte ich etwas verweilen, bei dem allgemeinen und dem
katholischen Gottesacker. In Central- und Südamerica habe ich eine schöne, nachahmenswerte
Sitte gefunden.Nicht nur erhält am Allerseelentag jedes, auch das ärmste Grab seinen
Blumenschmuck, sondern es wird dafür auch gründlich in Stand gesetzt. Wochenlang vorher
arbeiten ‚schon Steinmetzen, Maurer und Maler an den Denkmälern. Da gibt es keine
windschiefen, abge-bröckelten Kreuze, keine rostzerfressenen Gitter, wie bei uns. Der
grosse, allgemeine Friedhof in Santiago öffnet seine Pforten, wie es schon sein Name
andeutet, allen Konfessionen. Er hält eine schöne Mitte zwischen dem Pere La Chaise mit
seinen schwerfälligen Gräberstrassen,dem berühmten Genueser mit. seinen Modejournalstatuen
und dem poetischen, protestantischen Gottesgarten „happy valley“ in Hongkong.Herrliche
Grabkapellen erheben sich in grünen Hainen, hohe Säulen streben da und dort empor. Die
schönste ist den Opfern eines Kirchen-brandes geweiht. Es war am 8. Dezember des Jahres
1863. Die Domini-kaner wollten in ihrer von den vertriebenen Jesuiten geerbten Kirche,La
Compafiia, das Fest Mariä Empfängnis besonders glänzend feiern.Ein Feuerwerk wurde ausser
der üblichen Illumination in der Kirche selber abgebrannt. Dabei ergriffen die Flammen den
hölzernen Chor und die Deckenbalken. Eine ungeheure Panik entstand unter den Andächtigen.
Über 500 Menschen, hauptsächlich Frauen, wurden er-drückt oder sind elend verbrannt. Den
Priestern wurde vorgeworfen,sie hätten, um ihre Person und die Kirchenschätze ruhiger
retten zu können, die Türen der Sakristei vor den dorthin sich flüchten Wollenden einfach
abgesperrt. Die Volkswut und die Liberalen schritten gegen die Dominikaner ein, ihre
Klöster wurden genommen, die Compafiia-kirche verschwand bis zum letzten Stein vom
Erdboden.
Das unabsehbare Totenfeld des allgemeinen Friedhofes ist muster-
Plaza mit der Cordillerenkette (Santiago de Chile).haft gehalten, kein dürres Blatt, kein ungehöriges Steinchen im Weg,kein Unkraut auf den Gräbern; unwillkürlich dachte ich an Bern und seine verwahrlosten Gottesäcker.
Viel poetischer ist der katholische Kirchhof in Santiago. In langen, kreuzförmigen Hallen ruhen hier die Toten. Engel aus Stein und Erz halten über ihnen Wacht, eine ganze Heerschar. Über jedem Grab, unter jedem Säulenbogen stehen sie: Engel des Friedens, des Trostes, der Liebe, Engel mit der Palme der Märtyrer und Engel mit der Posaune des jüngsten Gerichtes. Zwischen den Köpfen und Flügeln all dieser Engel schimmert es dunkelblau. Wie in den Hallen
Aus Central- und Südamerica.die Himmelsboten, so führen draussen in den Gärten die dunkelblauen,grossblumigen Winden die Herrschaft, Sie hüllen die schwarze Mutter-erde in ein blaues Gewand, sie klettern an den Kreuzgängen empor,bilden selbständige, schattige Lauben, wuchern über Rosenbüsche und schlanke Palmen. Sie haben sich mit ihren Millionen blauer Blütenkelche so eng an das hohe Kreuzbild im Garten geschmiegt,dass der Gekreuzigte von einer blauen Wolke emporgetragen zu sein scheint.
Dank meinen lieben Landsleuten habe ich Santiago in sechs Tagen gründlich kennen gelernt.
Dabei pflegte ich gewöhnlich herzlich müde Beine mit nach Hause zu schleppen, denn
ungeachtet vortreff-licher elektrischer Tram, gibt es gar manche Strecke zu Fuss zu
bewältigen, und das Pflaster ist einfach mörderisch. Nun, das soll demnächst einem
besseren weichen. Dank den reichen Salpeterein-künften sie sollen 80 °% von allen anderen
einbringen ist die Regierung reich, Sie leistet übrigens auch viel; Chile besitzt das
beste, preussisch gedrillte Militär Americas, Santiago die beste be-rittene Polizei, und
an wohltätigen Anstalten ist das Land gross.Ich hatte Gelegenheit, zwei Spitäler zu
besuchen: San Vicente, ein älteres und das ganz neue, weit draussen gelegene San
Salvador-spital. Letzteres namentlich besitzt die allermodernsten Einrichtungen und
Instrumente in seinen Iluftig hellen Operationssälen. Von der Riesenküche, wo alles in
blitzblanker Reinlichkeit leuchtet, werden die Speisen auf Schienen nach den einzelnen
Krankensälen gefahren.Grosse, herrlich gehaltene Gärten und Hallen umgeben die einzelnen
Gebäude. Sie sind nur einstöckig, so dass der Kranke, sobald er das Bett verlässt, zu
ebener Erde ins Freie gelangt. Das schöne Klima Südamericas mit seinem ewigen Sommer
erlaubt einen bestän-digen Aufenthalt in freier Luft. Deshalb fehlen hier die typischen
Desinfektionsgerüche, wie wir sie von jedem Spitalbesuch in unseren Kleidern nach Hause
tragen. So viel ich mich erinnere, kann jedes der beiden Spitäler 600 Kranke aufnehmen. Da
die Pfleglinge meistens nichts bezahlen, und die Privatwohltätigkeit sich mit den
Spitälern wenig befasst, so fallen die ganzen Kosten der Regierung anheim.Nach sechs Tagen
trieb mich die Unruhe, wie es mit meiner Fahrt nach Juan Fernandez würde, nach Valparaiso
zurück. Unterwegs hielt ich mich jedoch noch 24 Stunden in Vifia del Mar, dem
Lieb-lingsseebad der eleganten chilenischen Welt auf: Dass die Damen in Südamerica
eleganter und verschwenderischer als in Europa sind,
215 hatte ich in diesen Tagen genügend erfahren. Auch diesmal kamen drei Damen in duftigen, weissen Waschkleidern in mein Waggon.Fleissige Schneiderinnen hatten wohl tagelang an den unzähligen Volants und Plisses und Schleifen gestichelt und in verschwenderischer Fülle rieselten feine Spitzen herunter. Nach zwei Stunden hatte ein hässlicher, auch durch die geschlossenen Fenster dringender Kohlen-staub die weissen Kleider mit einer grauschwarzen Farbe überzogen.„Schade“, meinte ich. Mitleidig, geringschätzig schaute mir eine der Damen zu, während ich den dunkeln Staub von meinem gleichfar-bigen, dunkeln Reisegewand sorgfältig abschüttelte. „Ihnen hat es ja nichts getan, und wir können uns jederzeit aus Paris neue Kleider verschreiben.“ Ach so, dann waren das wohl „Salpeter-prinzessinnen“.
In Vifia del Mar gibt es ein grosses und ein kleines Hotel, das übrigens demnächst mit dem grossen verschmolzen werden soll. Das kleine, deutsche liegt mitten in einem schönen Garten und ist vor-trefflich gehalten. Man lässt sich das gut zubereitete Essen im Freien servieren und bezahlt 7!/2z Pesos, also ungefähr 13 Franken per Tag.Der Badestrand ist sehr beschränkt und durch zerklüftete, schwarze Felsen eingeengt, an denen der weisse Gischt wild emporbrandet.Wo man geht und steht, trifft man auf geputzte Menschen. Mich berührte die lächerliche Eleganz der Kinder peinlich. Die Hände der armen Würmer waren in Handschuhe gepresst und damit spielten sie bei einer Hitze von 26° im Sande. Auf den materiellen Menschen ist am Strand wohl Bedacht genommen. Kühe und Eselinnen warten,um ihre Milch abzugeben, und überall werden Kuchen und Früchte feil gehalten. Die späte Nachmittagsstunde bringt einen Corso nach Vifia del Mar, wie ihn Rom oder Neapel kennt: Equipage auf Equipage,schöne Pferde, schöne Wagen, feine Kutscher, wunderschöne, dunkel-äugige Sefioras und geschniegelte Dandies! Das plaudert und lacht und kokettiert und darüber geht die Sonne zur Ruhe. Vorher aber aüllt sie ihren Freund, den Stillen Ozean, in ein safrangelbes Gewand und küsst die starren, schwarzen Felsen, so dass die alten Bursche ordentlich rot werden. Noch einmal, gleich dem Alpenglühen,entsendet sie ihre zarteren Farben auf Meer und Strand, dann kommt die Nacht und öde und still wird alles unter ihren schwarzen Schwingen.
Nach der Landseite zu bildet Vifia del Mar eine reizende Villen-stadt. Die zierlich gebauten, grün umsponnenen Häuser liegen in äppigen Gärten begraben. Reiche Menschen wohnen darin. Wem
Aus Central- und Südamerica.es in Valparaiso und Santiago seine Mittel erlauben, der baut sich eine Villa in Vifia del Mar, und wenn das ewig brandende Meer keine Reize mehr für ihn hat, so erfreut er sich an den häufig hier stattfindenden Pferderennen.
Am 1. März traf ich wieder in Valparaiso ein. Die Wohnungs-verhältnisse im Hotel Alemann waren nicht besser geworden. Herr F. suchte und fand daher für mich ein Zimmer im Hotel Bolsa. Grösser zwar und heller als das erste, ging das Fenster auf einen mit Glas-dach bedeckten Hof, und statt reiner Luft atmete ich nur Küchen-und später Karboldüfte ein. Wer mir damals gesagt hätte: „Du wirst bis zum 17. März dieses Zimmer bewohnen“, den hätte ich Lügen gestraft.
Den 7. März kaufte ich bei Villalonga, dem südamericanischen Cook, eine Fahrkarte nach Buenos Aires für den folgenden Tag und packte meine Koffer, der eine sollte mit über die Anden und wurde denselben Nachmittag geholt, den anderen wollte ich per Fracht nach Bern schicken, Auch dies war erledigt. Ich machte Abschiedsbesuche und am Abend gab mir die Familie F. ein kleines Abschiedsessen.Wir sassen bei Tisch. Plötzlich hiess es „die kleine Golette Juan Fernandez fährt soeben ein.“ „Sie sollten doch abwarten, was für Nachrichten sie von der Insel bringt,“ meinte Herr F. „Gehen Sie morgen früh vor 6 Uhr nach der Office Villalonga, lassen Sie sich ihren Koffer zurückgeben und reisen Sie mit der nächsten Expedition.“ Gesagt, getan. „Ihr Koffer ist schon gestern Abend fort, wir wollen sofort telegraphieren, dass er in Los Andes zurück-behalten wird.“
Eine abermalige. Zeit des. Hoffens und Harrens begann. Es war,als ob eine geheime Macht mich nach der Robinsoninsel zöge. „Geben Sie es auf“, hiess es von allen Seiten. Endlich sah ich meine Be-mühungen mit Erfolg gekrönt, ich mietete mit Herrn Fontaine das Segelschiff Sirene, und gemeinsam trieben wir den saumseligen Kapitän an, die Anker zu lichten.
Ruhelos irrte ich in Valparaiso umher. Mein Zimmer wurde mir immer unangenehmer. Ich war
das einzige weibliche Wesen im Hause und mein Wirt, ein gar nicht galanter Franzose, liess
keine Gelegenheit vorüberstreichen, wo er mir nicht sagte: „Je ne prends jamais des femmes
dans mon hötel, cela fait toujours des embarras,mais jai voulu rendre service a Mr. F.
etc.“. Also nur geduldet,und doch nahm ich die Dienste des Mozo kaum in Anspruch und liess
wenig von meiner Gegenwart merken.
Meinen Lieblingsspaziergang nach Playa Ancha hatte ich schliess-lich für mich allein, denn dort draussen ist der vom Publikum ängst-lich gemiedene Pestspital. Ist man erst an den Stellen vorbei, wo die Fuhrleute die Abfälle der Stadt hinfahren und dabei ihre armen Pferde aufs Grausamste misshandeln, so wird es schön, viel schöner,als in Vifia del Mar. Die breite Strasse führt, bald sachte ansteigend,bald sich neigend, stundenweit dem Meer entlang. Ich konnte nach meinem luftlosen Zimmer nie genug die herrliche Salzbrise ein-atmen. Wie oft legte ich mich an den Strand und lauschte auf das Tosen der Brandung und die wehklagenden Laute der soge-nannten Heulboje.
Einmal fuhr Frau F. mit mir nach Bella Vista hinauf. Armes Volk wohnt zumeist dort auf den kahlen, staubig-steinigen Hügeln und: in den engen Schluchten. Einmal oben windet sich die breite Strasse über den langen Bergrücken, und herrlich sind die Ausblicke auf Ocean und Berge. Manchmal kamen wir an einem mit losen Steinen aufgeworfenen Türmchen vorbei. Eine Nische ist darin gebildet, in der ein kümmerliches „ewiges Licht“ ein windbewegtes Dasein fristet. Ein paar frische Blumen, öfter noch ein dürrer Kranz, liegen davor. „Was bedeutet dies“, fragte ich? „So werden hier zu Lande die Stellen bezeichnet, wo ein Mord begangen worden ist. Die An-gehörigen stiften das ewige Lämpchen für die Seele des in seinen Sünden jäh Verblichenen.“ Auf kurzer Strecke zählte ich mehrere solcher memento mori und dachte an meine einsamen Spaziergänge auf der Playa Ancha.
Ein kleiner Unfall sollte mir übrigens noch am letzten Tag zu-stossen. Ich war mit der Bahn nach Salto, einer etwas vernach-lässigten Sommerfrische, gefahren. Der Gasthof wimmelte zwar von Kindern, lag aber schön ländlich im Grünen, und ich ärgerte mich,nicht hierher gezogen zu sein. Im verwilderten Garten stand ein Käfig mit einem Affen. Ich dachte an meinen Liebling Max auf der „California“, und wollte seinen hiesigen Bruder mit einem Stück Zucker erfreuen. Offenbar wird das Tier hier schlecht behandelt.
Aus Central- und Südamerica.Statt des Zuckers ergriff es den Mittelfinger meiner rechten
Hand und biss ihn durch und durch. Die ganze Nacht liessen mich die Schmerzen nicht zur
Ruhe kommen, und während vier Monaten hatte ich einen kohlschwarzen Fingernagel, als
Andenken an den Salto-Affen. „Auf der Golette werden Sie Zeit haben, Ihren Finger zu
pflegen“, meinte Herr F. etwas sarkastisch. Ach, der Finger sollte dort das geringste
meiner Leiden bilden!am
Fahrt nach der Robinsoninsel (Juan Fernandez).Meine Fahrt nach der Robinsoninsel ist letztes Jahr schon im „Bernerheim“ veröffentlicht worden und zwar nahezu wörtlich nach dem unterwegs geschriebenen Tagebuch. Als ich heute den Aufsatz zur Umarbeitung für dieses Buch wieder vornahm, habe ich gesehen,dass ich ihn damit eher verschlimmbessern würde. Das unmittelbar Erlebte ginge dabei verloren. Ein Umstand aber hat mich besonders dazu bewogen, die alte Form beizubehalten: Mein Vetter ist drei Monate nach meinem Besuch auf der Insel gestorben. Ich müsste also von ihm als von einem Toten reden. Seine Gestalt aber ist für mich mit der Insel so eng verwachsen, dass es mir heute noch schwer fällt, an das neue Grab auf dem traurigen, kleinen, wind-durchwehten Friedhof auf Juan Fernandez zu glauben. N
Das .„Bernerheim“ brachte eine kurze biographische Notiz über meinen Vetter, die ich hier zum. Teil folgen lasse:
„Karl Alfred von Rodt, der die Mär vom schweizerischen Robinson zur wahren Tatsache machte, wurde 1843 in Bern geboren. Nachdem er einige Zeit forstwirtschaftlichen Studien obgelegen hatte, trat er in österreichischen Militärdienst und machte als Kavallerieoffizier den Feldzug von 1866 mit. Im Gefecht bei Nachod traf ihn eine Kugel in ein Bein und machte den tatenlustigen, jungen Mann zum Invaliden. Während des deutsch-französischen Krieges finden wir unsern, zu Abenteuern geneigten Mitbürger, nichtsdestoweniger als Kämpfer in den Reihen der Franctireurs, Später begab er sich nach England und dann nach Südamerica. Im Jahre 1877 siedelte v, Rodt als Farmer nach der zirka 700 Kilometer westlich von Valparaiso gelegenen Insel Juan Fernandez über, die er von der chilenischen Regierung in Pacht nahm. Harte Schicksalsschläge blieben dem
Aus Central- und Südamerica.unerschrockenen Pionier auch hier nicht erspart. Seit 1896 bekleidete er die Würde eines Gouverneurs von Juan Fernandez. Den 4. Juli 1905 ereilte den in weiter, einsamer Fremde endlich heimisch ge-wordenen Mann der Tod.“
Valparaiso, den 16. März 1905.
Soeben habe ich die. an der „Sirene“ herunterhängende Strick-leiter erklommen und dabei lächelnd an Freund F’s. Worte gedacht:
„Eine Golette ist nichts für ein Frauenzimmer und ...“ „Aber Papa!“ tönte es im Chore, „Frauenzimmer! das ist ja ein ganz aus der Mode gekommenes, hässliches Wort!“ Über der sich daran knüpfenden Erörterung waren die anderen Gründe Herrn F’s. ver-gessen, und ich muss nun selber herausfinden, warum die hoffnungs-grün gestrichene „Sirene“ nicht für mich passen soll.
Da stände ich also auf. meinem recht unangenehm im Hafen auf-und abwippenden neuen Heim. Eine Golette ist also ein Segelschiff und zwar ein Schoner. Die „Sirene“ ist recht klein, eine Nussschale von ungefähr 50 Tonnen Register. Sie besitzt zwei mächtige Maste,fünf Segel und zwei kleine Räume: eine winzige Küche und eine Kabine für den Kapitän, sonst nichts, gar nichts. Diese Kabine hat man meinetwegen, halb durch Bretterwand, halb durch Vorhang ab-geteilt. Mein Verschlag enthält ein Waschbecken, ein Brett, um etwas aufzustellen und eine sargartige Koje mit alter, zu grosser Matraze.
Ziel meiner voraussichtlich langen und unbequemen Reise ist Juan Fernandez, die geheimnisvolle, ersehnte, unsere Kinderträume erfüllende Insel, das Land Robinson Crusoes mit all seinen Sagen und phantastischen Erinnerungen. Wer hat nicht als Kind die Ge-schichte des armen Robinson gelesen, hat nicht im Geiste sein Gewand und seinen wunderbaren Regenschirm aus Ziegenfell, seinen Papagei,ja gar die Fussstapfe des getreuen Freitag im Sande gesehen. Wer hat ihn nicht den steilen Felsenpfad hinaufbegleitet, den sein Fuss täglich wandelte, um ein erlösendes Boot zu erspähen? Wer kennt nicht die Höhle, in der er Jahre lang geweilt war, hat sie sich nicht mit geschäftiger Kinderphantasie dereinst ausgemalt?
Aber nicht allein Defoes unsterblicher Held und mein unruhiges Reiseblut ziehen mich
unwiderstehlich nach der Insel. Vor mehr als 20 Jahren schon hat der’ chilenische
Schriftsteller Vicufia Mackenna einem Bewohner von Juan Fernandez einen ausführlichen
Artikel ge-widmet und ihn „den letzten Robinson“ genannt. Dieser letzte Robinson
221 aber ist ein Berner und mein Vetter: Alfred von Rodt. Den jungen Mann hat wohl auch jene beständige, unersättliche, unverbesserlich menschliche Unruhe, die so viele von uns zu Schiffbrüchigen macht,auf dem Meere des Lebens in der Welt umher getrieben. Unruhig hat sich sein Fuss auf einen Strand gesetzt, um ihn bald wieder mit
Punta San Carlos (Robinsoninsel).einem anderen zu vertauschen, bis endlich das weltabgeschiedene Eiland ihm zur bleibenden Stätte wurde. Ob er sein Glück dort gefunden ?
Wenn irdische Güter das Glück ausmachen, dann freilich nicht.Er ist auf der Insel zum armen Manne geworden. „Zu gewissenhaft für Chile, zu ehrlich“, heisst es, wenn man sich über diese Misserfolge
Aus Central- und Südamerica.wundert. Dafür aber erfreut sich der Gouverneur Don Alfredo de Rodt, der Inselkönig, wie er scherzweise genannt wird, allgemeiner Achtung. „Er ist ein Ehrenmann, ein Kavalier“, höre ich immer wieder.Die Regierung von Chile hat ihn schon vor neun Jahren zum Gou-verneur von Juan Fernandez gemacht, im Übrigen kümmert sie sich aber wenig um ihn und die Insel. Obschon nur 365 englische Meilen *)von Valparaiso entfernt, könnte sie ebenso gut in China liegen, was die Verbindung anbetrifft. Während kurzer Zeit lief ein Dampfer ein-mal monatlich hin; er rentierte nicht und wurde wieder eingestellt,
Alle paar Jahre wohl kommt der Frau des Präsidenten die Lust nach ein paar Farnkräutern der Insel an, dann wird ein Kriegsschiff hingeschickt, um das Gewünschte zu holen, oder eine Anzahl Touristen mieten einen kleinen Dampfer zur Vergnügungsfahrt nach Robinsons Reich, was alle zehn Jahre geschehen mag, sonst aber liegt Juan Fernandez in tiefster Ruhe, Einsamkeit und Verlassenheit.
Das gleich dem alten Postwagen von dem hastenden, modernen Reisenden in die Rumpelkammer geschobene Segelboot nur verbindet die Insel mit dem Festlande. Ein Deutscher und ein Franzose haben sich als feindliche Brüder auf dem Langusten-reichen Eilande Fischereien und Konservenfabriken errichtet und besorgen den Transport dieser leckeren Tiere in Büchsen oder auch lebendig vermittelst eigener Segelschiffe. Auf Touristen sind diese durchaus nicht eingerichtet,und es brauchte daher für mich einen grossen Aufwand an Zeit,Geld, Geduld und Energie, bis ich soweit wär, die „Sirene“, ein etwas besser eingerichtetes Segelboot, heute besteigen zu können.Valparaiso, den 17. März.
Wir sind gestern Abend nicht gesegelt. Das Trinkwasser fehlte im letzten Augenblick und die Schiffspapiere waren nicht in Ord-nung. „So geht es immer in Chile.“ Also nochmals Geduld! Ich habe an Bord geschlafen. Geschlafen? Der Ausdruck ist falsch: Ich habe den Wanzen zur Weide gedient. Sie sitzen in allen Fugen und Ritzen, in allen Winkeln der Koje und lauern auf wehrlose Beute,
Mittags werden die Anker gelichtet, die Segel flattern lustig im Winde, Über den
malerischen Hügel Valparaisos flutet helles Sonnen-licht, blau leuchtet das Meer. Wir
fahren, wir fahren Auf See, den 18. März.Mit schwerem Kopf, schwach, elend, sitze ich auf
Deck, eben auferstanden von 24-stündiger Seekrankheit. „Nun, geht es besser?“!) 365
‚englische Seemeilen & 1952 Meter machen 676 Kilometer.
223 ruft der Kapitän. Der Gute hat mir nach Kräften in meinem Elende beigestanden. Er ist ein alter, stiller Mann, ein Däne, offenbar kein Kind des Glückes, Dabei ist er ein Pessimist geworden, der alles von der schwärzesten Seite ansieht. Für unsere Fahrt prophezeit er Sturm, Windstillen, Verzögerungen und Missgeschick aller Art. „Wir sind am Freitag gesegelt und das sollte man nie tun.“
Vorläufig naht als erster Hiobsbote der Schiffskoch: „Kein Fleisch mehr an Bord.“ Nach 1’ Tagen schon, und ich hatte noch nichts gegessen! „Unmöglich,“ ruft der Kapitän. Die Gaunerphysiognomie unseres Küchengenies verwandelt sich zur bösen Grimasse. „Suspiro hat es gestohlen !“
Suspiro ist der Wächter der „Sirene“, ein Hund zweifelhafter Rasse. Auch an ihm findet der Kapitän zu mäkeln. „Suspiro ist kein ordentlicher Schiffshund.“ Suspiro- hatte soeben das Deck für einen grünen Rasen gehalten; „ein ordentlicher Schiffshund geht zu solchen Geschäften ganz vorn auf das Schiff.“ Der unordentliche Schiffshund schmiegt sich entschuldigend an mich. „Armer Schelm,wir wollen gute Freundschaft zusammen halten!“ Sein Los auf der „Sirene“ scheint übrigens kein hartes, er sieht gutgepflegt aus und besitzt eine kleine Hundehütte auf Deck, Seinem poetischen Namen Suspiro (suspiro = Seufzer, in Chile auch der Name einer sehr zer-brechlichen Süssigkeit) entspricht die dralle, wohlgenährte, kurzbeinige Erscheinung keineswegs.
Ausser dem Kapitän, dem Koch, der auch Matrosendienste leistet,und Suspiro sind noch drei Schiffsleute, die sich am Steuer ablösen,an Bord.Den 19. März.Das Meer hatte sich gestern Abend beruhigt, und hell spiegelte sich der Mond auf der glatten Fläche. Auch heute früh schwankt die „Sirene“ nicht allzusehr. Das Barometer ist auffällig gestiegen,worüber der Kapitän jammert. Durch meine Frage, ob ich denn nichts zu essen kriege, habe ich diesmal den Koch tötlich beleidigt.Er ist ein Schotte, wird daher vom Kapitän näch englischem Brauche Doktor genannt. Privatim freilich benennen wir ihn weniger respekt-voll den „Schmierlappen“. Also Schmierlappen ist eine Sensitive.Den 20. März.Tückisch sind die Launen Neptuns! Dem ruhigen Morgen gestern bereiteten einige sausende Windstösse ein jähes Ende. Über unsere kleine Nussschale brauste eine Bö, schlug alles nieder, was nicht
Aus Central- und Südamerica.angekettet, und zerriss das Hauptsegel. Grosses Geschrei, energisches Eingreifen des Kapitäns! Das Segel kann noch geflickt und in ver-kleinerter Gestalt wieder hoch gehoben werden. Ich aber lag in der stillen Koje, nicht seekrank, aber unbeschreiblich elend. Von Gehen,ja nur von Stehen, konnte während 30 Stunden keine Rede sein,und so wild wurde ich umhergeschleudert, dass ich heute Beulen zu Dutzenden zähle. Auch dem armen Suspiro hat das Unwetter übel mitgespielt. Ich hörte ihn nachts oft jämmerlich heulen. War das eine Nacht! Die Masten seufzten und stöhnten wie arme Seelen, die Segel klapperten im Sturme, und Welle um Welle rauschte und schlug an die Wand meiner Koje, als ob Gevatter Tod anklopfen wollte. Ich lauschte und hörte Stimmen, stöhnende, weinende, klagende,jubelnde; sie tönten aus den Wellen empor und klangen aus der Luft, und dazu pfiff der Wind eine schauerliche Begleitung. Der Kapitän nennt ihn „Südostpassat“. Seine Grenze ist Juan Fernandez.
Der Wind hat übrigens zum Besseren für uns gewechselt, er treibt uns gegen die Insel hin. Die „Sirene“ freilich rollt jämmerlich in der schweren See, segelt schlecht und kommt, ungeachtet des starken Windes, nur 3’!/a Meile stündlich vorwärts.Den 21. März.
Heute früh weckte mich der Ruf: „Land in Sicht“, und der Kapitän schrie hinunter: „Kommen Sie schnell, Fräulein, hier liegt das Königreich Ihres Vetters.“ In dunkler, weiter Ferne sehe ich ein zerklüftet Eiland, von dem uns noch 36 Meilen trennen. So nahe und doch so fern! Denn, nun treibt uns der Wind auf eine andere Seite hin, bis er plötzlich aufhört. Bleierne Hitze breitet sich nach-mittags über die „Sirene“, und ein schweres Gewitter liegt über der fernen Insel.
Auch auf der edlen Stirne unseres „Doktor Schmierlappen“wetterleuchtet es bei einem
Verweis des Kapitäns. Ich schreite schlichtend ein. Ein Streik des Küchenengels hätte
unfehlbar schmerz-liche Folgen für mich. Vater Neptun würde kaum einen Ersatz senden, und
schliesslich müsste ich selber kochen. Seit meiner See-krankheit lebe ich von Bohnensuppe,
die der Schmierlappen- ganz schmackhaft frage nur nicht wie bereitet und „Hasch“, einem
Gemengsel von trockenem Fisch und Kartoffeln.Den 22. März.Wir sind der Insel in den
letzten 24 Stunden kaum um fünf Meilen näher gekommen. Der Kapitän schüttelt den Kopf,
rechnet,
225 misst, dreht das Schiff, läuft jede Minute zum Kompass, und ich starre traurig auf die schön gefärbte, unerreichbare Insel. Wir steuern ja gerade auf sie los, aber ein Aufhören des Windes, ein Wehen aus anderer Richtung, und weit ab sind wir vom Ziele.
Ein Segelboot ist ein ebenso unbeständig Ding, wie ein Menschen-herz. Bis auf einen gewissen Grad lässt es sich ja lenken, besitzt sein Steuerruder und seinen Steuermann, der bei Tag und Nacht nicht von seinem Posten weichen darf; sendet aber Poseidon seine
Der Yungue und das alte Gouverneurshaus.Winde und Wellen, oder lässt er Stille eintreten, dann ist das arme Segelboot ein willenlos, ohnmächtig Ding. So der Mensch. Religion,Gewissen, Erziehung werden ihm auf die Fahrt des Lebens mit-gegeben. Lässt er sich aber stets lenken? Kommen da nicht tückische Wellen, bösen Winden gleich, Versuchungen, schlimme Einflüsse,und kreuzen seine glatt vorgezeichnete Bahn?Den 23. März.
Heute früh liegen wir 24 Meilen von der Insel entfernt. Die haushohen Wellen haben sich etwas geglättet, Das Meer ruht. Wie öde es hier ist, kein einzig Boot ist uns begegnet, keine lustigen Delphine tummeln sich, keine fliegenden Fische, kein Meeresleuchten!E5
Aus Central- und Südamerica.
Admiral der englischen war Lord Anson. Nach langen Fahrten lan-dete er auf Juan Fernandez. Durch Skorbut und Hunger waren die Leute so schwach geworden, dass sie nur mit Mühe den Anker niederlassen konnten. Zwölf davon starben, die übrigen erholten sich alle dank dem herrlichen Klima und den auf der Insel gegen den Skorbut wachsenden Pflanzen.
Durch Lord Ansons begeisterte Schilderung aufmerksam gemacht auf die strategische Lage der Insel, beschlossen ihre Eigentümer,die Spanier, sie in einen festen Platz zu verwandeln. Eine Festung
Gemäuer der Festung (bei der Flaggenstange).wurde in dem Haupttal der Insel, gegenüber
der Bai Juan Bautista,jetzt Cumberland Bai genannt, erbaut und zu ihren Füssen die neue
Stadt. Am 25. Mai 1751 jedoch riss die See bei einem gewaltigen Sturm den grössten Teil
der Häuser weg und: begrub 38 Menschen in ihren Wellen, Eine neue Stadt wurde erbaut, die
idyllische Insel aber zum Staatsgefängnis für gemeine und politische Verbrecher des ganzen
westlichen spanischen America verwandelt. In der Einsam-keit und Abgeschlossenheit
verwilderten auch die Wächter der Ge-fangenen, und Mord und Revolutionen waren in Juan
Fernandez etwas tagtägliches, bis endlich im Jahre 1837 eine peruanische Flotte
Von 183769 wurde die Insel nur noch von einigen Fischern bewohnt, von Walfischfängern vorübergehend besucht und hie und da von einigen Reisenden durchwandert. Stille lag über den lieblichen Fluren, keiner wollte mehr auf der Stätte wohnen, die so lange Verbrechern zum Gefängnis gedient und der Schauplatz blutiger Greueltaten gewesen war.
Das neue Haus des Gouverneurs.
Im Jahre 1877 beschloss daher die chilenische Regierung, Juan Fer-nandez in öffentlicher Versteigerung an den Meistbietenden zu ver-pachten. An der auf den 6. April 1877 festgesetzten Versteigerung be-teiligten sich nur einige Ausländer. Die Insel wurde meinem Vetter,Alfred von Rodt, zugesprochen.
Die weitere Geschichte der Insel werde ich durch meinen Vetter besser erfahren. Eines nur weiss ich: das Glück hat seinen Unter-nehmungen nicht gelächelt, er ist arm geworden und lebensmüde,aber von der Insel mag er nimmer lassen,
Aus Central- und Südamerica.
Den 24. März.
Wir sind nur noch 17 Meilen von Juan Fernandez entfernt und immer deutlicher hebt sich das phantastisch zerklüftete Bergeiland ab. Zur Linken erscheint die kleine Insel Santa Clara und einige grosse, steile Felsen, „los morros“ genannt. Schon ist es Mittag,aber nur matt bewegt der Wind unsere schlaffen Segel, und die grosse Schweizerflagge, die meine Ankunft kündigen soll, will gar nicht lustig flattern.
„Noch eine Nacht“, stöhnte ich. Doch nein, nun bläst es leise von der richtigen Seite und sachte gleitet die „Sirene“ über die jetzt ruhige, tiefblaue Flut. „Der schöne, grüne Punkt da heisst Puerto Frances, dort müssen wir hinein, dort ist Cumberland Bai, dort sehen Sie schon das Haus Ihres Vetters“, ruft erregt der Kapitän. „Sieben Meilen! Jetzt müssen sie uns gesehen haben! Vier Meilen! Warum fährt uns niemand entgegen ?“
„Un bote, un bote!“ („ein Kahn, ein Kahn!“), ruft ein Matrose.Und von kräftigen, jungen Armen gerudert, kommt er leichtbeschwingt näher. Schon höre ich Stimmen, und einen Augenblick später steigt mein Vetter freudestrahlend in die Golette! Ein Wiedersehen nach über 30 Jahren!
Bald bin ich glücklich von der „Sirene“ hinabgestiegen in das Boot, während mein Vetter erstaunt und gerührt die längst nicht mehr geschaute Schweizerflagge betrachtet. Den folgenden Tag erregt die „bandera suiza“ grosse Aufmerksamkeit in der kleinen Kolonie von Juan Fernandez, und das weisse Kreuz im roten Felde wird auf dem stillen Eilande nicht so bald vergessen werden.
Dass. die Ankunft der Verwandten des Gouverneurs die lebhafte Neugier der Kolonisten
erweckte, konnte ich mir nicht verhehlen,als ich am Hafen Jeden und Jede meines Ausstieges
aus dem Boote harren sah. Die eingetretene Ebbe machte ihn nicht ganz leicht.Endlich
fühlte ich festen Boden unter den Füssen. Wir schritten der nahen Kolonie zu, Im
Halbkreise liegen die Häuschen zumeist ver-einzelt da, ein jedes hat sein Gärtchen, ein
jedes seine Schattenbäume.Hohe, schöne Berge, darunter der Yungue, der höchste der
Insel,bilden ihren Hintergrund. Als Vordergrund leuchtet die blaue, herr-liche See. Das
stattlichste, neueste Faus, von dem die chilenische Flagge grüsst, ist die Wohnung des
Gouverneurs. Mit offenen Armen wurde ich empfangen als lieber, willkommener, lang
erwarteter Gast.x
Auf der Robinsoninsel.Den 25. März.
Ein schöner erster Tag nach erquickender Nacht! Ein gutes Bett,kein Hin- und Herschaukeln, kein Schiffslärm! Allein das Bellen der Hunde. Hie und da brüllte eine Kuh, und das Hühner- und Enten-volk machte sich früh bemerkbar, sonst köstliche Ruhe!
Hinter dem Hause speist ein munterer Bergbach den ländlichen Brunnen. Er könnte mir erzählen, wie es oben auf dem Yungue aus-sieht, dessen charakteristisches Haupt von einer dichten Wolke be-schattet ist. Viele Sagen weben sich um den Yungue. Seine steilen Hänge sind einzig durch zwei flüchtige Sträflinge überwunden worden,deren Freiheitsdurst den Aberglauben aus dem Felde schlug, der die Inselbewohner abhält, ihn zu besteigen. Den etwa 960 Meter hohen,wilden Berg möchte ein ordentlich ausgerüsteter Schweizeralpenklubist wohl mit Leichtigkeit bezwingen. Bis zur Viertelshöhe sind der Yungue und seine Nachbarn kahl; ein gewaltiger Brand soll im Jahre 1816 allen Wald zerstört haben. Seit 1835 hat Juan Fernandez dagegen von keinem schlimmen Erdbeben zu leiden gehabt.
Von diesem eigentümlich schönen Bilde wandte ich mich wieder der See zu. Der „Sirene“ hatte sich noch kein günstiger Wind erbarmt.Sie schaukelte, wie ein Riesenfalter, immer noch draussen vor der Bai. Heute wollen wir nach Puerto Ingles und der berühmten Ro-binsongrotte rudern. Wir wollen dort frühstücken. Ein paar Hühner haben ihr Leben lassen müssen, und ein Korb wird mit Vorrat so voll gepackt, als ob wir mindestens drei Tage lang Robinson spielen sollten.
Die drei Viertelstunden dauernde Fahrt ist für mich ein Hoch-genuss. Leicht gleitet unser Kahn durch das wundervolle, blaue Wasser,er gleitet an dem an steiler Felswand gebetteten, traurigen, kleinen Fried-hof der Insel vorbei; Er gleitet über ein altes, spanisches Kriegsschiff,
Aus Central- und Südamerica.das vor hundert Jahren hier gestrandet und niemals gehoben
worden ist. Er gleitet an einer schroffen Felswand vorüber, die der Volks-mund „Sal si
puedes“ getauft: „Springe, wenn du kannst“. Ja, aber lebend wirst du nicht herunterkommen.
Der in unserer Nähe auf dem Wasser treibende, braune Punkt ist eine Kuh, die vom Felsen
ge-stürzt ist. Sie hat den Sprung gewagt und dabei das Leben gelassen.Wunderbar farbig und
zerklüftet ist die breite Wand des Sal si puedes. Die graubraune Lavamasse nimmt eisen-
und ockerfarbige Töne an, und in den schmalen Ritzen leuchtet als einzige Vegetation eine
Art Hafer in fahlgelber Farbe. Das Ende des Sal si puedes läuft in einen nach der See
vorspringenden Felsen aus. Die gewal-tige Brandung hat eine Grotte aus ihm gebildet und
ihm die Gestalt eines Tores gegeben, über das hinweg wir uns mühsam den Zugang zum
Robinsontale erobern müssen. Der Puerto Ingles mit seinen riesigen, runden Steinen und der
wilden Brandung würde sich jeder Lan-dung im Kahne widersetzen. So sprangen wir auf den
ewig bespülten,rötlichen Felsenvorsprung. Einige Wellen haschten freilich nach uns,aber
unbekümmert setzten wir den Fuss auf das rauhe, zerbröckelnde Gestein, steil emporklimmend
auf schmalem Pfade, um auf der anderen Seite über lockeren Sand und glattes Hafergras
hinabzugleiten in das ersehnte Tal. Vereinzelte Steine‘ und Grasbüschel und vor allem
kräftige, junge Arme stützten auf dem schwindelnden Wege, und jetzt lag es vor mir, das
berühmte Heim des berühmten Einsiedlers.Natürlich, wie immer, ganz anders, als ich es mir
geträumt. Palmen,Papageien, Affen und alles mögliche Tropische hatte mir meine
Kinder-phantasie dereinst vorgemalt. Die naive Frage meiner treuen, alten Magd kam mir
zudem in den Sinn: „Ob es wohl Spezereiläden auf der Insel gäbe.“ Mit glühendem Interesse
hatte sie wenige Monate vorher, als ich meine Reise vorbereitete, den Robinson
gelesen.Nein, nichts von alledem! Ein stilles, unbewohntes, enges Tal,von drei Seiten von
hohen Bergen und Felsen eingerahmt, vorne von dem Meere begrenzt. Ein unendlich ruhiges,
einfaches, friedliches Bild, unentweiht durch menschliches Hasten und Treiben! Von dem
Berge rieselt ein breiter Bach hinab in das Meer. Ein grünes Gras-band schlängelt sich
neben ihm her, während den Talgrund be-deckende Disteln und Berghafer Zeichen grosser
Trockenheit bilden.Robinsons Höhle liegt unweit des Meeres. Natürlich hatte ich mir sie
als Kind grösser vorgestellt. Nicht aus dem Fels heraus,sondern ganz frei aus dem
Talgrunde erhebt sich die phantastische Schöpfung der Natur mit gewölbtem Dache und aus
rötlicher Lava
233 geformt. Sie bildet gewissermassen zwei Gemächer, ein grösseres,tieferes und ein offeneres, kleineres. Die Hand Robinson Selkirks hat sicher die Höhle einigermassen wohnlich gemacht und die Löcher gegraben für den Herd und zur bequemeren Aufstellung seiner einfachen Geräte. Reliquienbegierige, spätere Hände haben grosse Stücke Lava zum Andenken weggeschlagen und natürlich nicht unter-lassen, ihre Namen in den geduldigen Stein einzugraben. Wie
Die Robinsonhöhle.interessant ist es ja für die Nachwelt, zu wissen, dass ein Juan oder ein Luiz soundso die Höhle mit ihrem Besuche beehrt haben!
{n dem Edinburger Museum zeigt man Alexander Selkirks Matro-senkoffer, eine Muschel, die ihm auf Juan Fernandez als Teller diente,und seinen Trinkbecher. Auf diesen hat er mit seinem Taschenmesser folgenden Spruch eingekritzelt:Alexander Selkirk, this is my can:When you take me on board the ship Pray, fill me with punch or flip.
Aus Central- und Südamerica.Wir sammelten etwas Reisig und zündeten ein Feuer an auf der alten Feuerstelle Robinsons, dann wurde Wasser geholt aus dem Robinsonsbache. Es schmeckte köstlich und ich leerte ein grosses Glas auf das Andenken des ersten und das Wohl des letzten Robinson.Bald prasselte ein helles Feuer, der Kaffee kochte und das im Hause gebackene Brot und die Hühner schmeckten vortrefflich nach der Fastenzeit auf der „Sirene.“
Wild donnert die. Brandung an den ungastlichen Strand, wo zwischen den runden Steinen einige rostige Kanonen aus alter Zeit friedlich liegen. Sonst kein Geräusch, kein Mensch, kein Tier in dem stillen Tal. Giftiges Gewürm, Eidechsen, Käfer, Ameisen, Moskitos,kennt die Insel ebenso wenig, wie wilde, vierfüssige Tiere. Nur einige Vögel und Schmetterlinge beleben die Lüfte. Am Bergeshang zeigt man mir eine Menge Pfirsichbäume, die gleich den Quitten und Feigen sozusagen wild auf Juan Fernandez wachsen und aroma-tische Früchte bringen.
Ich hatte mir ein stilles Plätzchen ausgesucht und schaute entzückt auf die harmonischen Färbungen der Felsen, den schönen, dunklen Bergwald und die tiefblaue See. „Und hier lebt kein Mensch?“Freilich wäre es dann mit der Poesie vorbei, Unwillkürlich sprach ich Selkirks Worte laut aus: „O, mein geliebtes Eiland, hätte ich dich nie verlassen! Niemals war ich ein besserer Mensch, als da ich Deinen Boden bewohnte; seitdem ich Dich verlassen, bin ich nie wieder gut gewesen.“
„Erginge es auch Dir so?“ fragte ich meinen Vetter, den letzten Robinson. Wir hatten eben von der alten Schweizerheimat gesprochen.„Ja“, meinte er, „ich würde mich niemals dort wieder einleben können,ich bin ein Fremder geworden in der Heimat. Das Meer ersetzt mir die Alpen, die Insel die Schweiz. Eines nur möchte ich noch einmal hören, unsere schönen, alten Münsterglocken. Weinen freilich würde ich wie ein kleines Kind bei ihrem Klange.“
Glocken läuten keine auf Juan Fernandez, denn noch hat die kleine Kolonie keine Kirche, und nur alle zwei Jahre einmal kommt ein Geistlicher vom Festlande herüber, um Messe zu lesen, zu trauen und zu taufen. Dabei erweist ein Kolonist dem anderen den Liebes-dienst, gegenseitig bei den Kindern Gevatter zu stehen, so dass sich die Inselbewohner mehr oder weniger alle nach spanischer Sitte per compadre und commadre anreden,
Ungern schied ich von dem idyllischen Robinsonstale. Es galt denselben beschwerlichen
Felsenpfad wieder einzuschlagen, und als
235 wir unten am Vorsprunge standen, kostete es schwere Mühe, das Boot heran zu treiben und zum Sprung in dasselbe dingfest zu machen.Endlich gelang es, Einige wilde Tauben, die in den Ritzen des Sal si puedes hausen, hatte unser Lärm aufgescheucht, sonst war alles totenstill weit und breit.
Landung zum Robinsonstal.
Ein finsterer, düsterer Abend folgt dem schönen Tag, dunkle Wolken entsenden schwere Regengüsse und eine wilde Windsbraut pocht vom Yungue her an mein Fenster,
Den 26. März.
Heute früh regnerisches Wetter. Ich wanderte hinauf auf das Kastell, das einen herrlichen Ausblick auf die blaue Bai, den sonder-bar pyramidenförmig spitz zulaufenden Cerro diamanto und Cap
Aus Central- und Südamerica.
Bacalläo bietet. Von der Festung selber sind nur noch starke Mauern und eine alte, eingegrabene Kanone sichtbar. Ganz nahe davon sehe ich sieben tiefe Löcher. Sie gehen weit in den Berg. Hier in diesen feuchten, dunklen Höhlen haben in den Jahren 17501837 unzählige Gefangene ihre Nächte zugebracht. Hier wurden sie zur sicheren Bewahrung jeden Abend in Eisen gelegt und eingeschlossen. Eine Höhle war für weibliche Gefangene bestimmt.
Um Mittag hellte sich das Wetter auf, und da uns der Vertreter der deutschen Langusten-Kompagnie, Herr Scheid, zu einer Spazier-fahrt auf dem Dampferchen „Fortuna“ freundlichst eingeladen hatte,wurde eine Fahrt nach der zwei Stunden entfernten Bahia del Padre unternommen, Es war eine grosse Gesellschaft, die sich zusammenfand.Natürlich hatten nicht alle Platz auf dem Miniaturdampfer, und so zogen wir zwei Boote im Schlepptau mit. Die Frauen hatten Kaffee in grossen Kesseln gekocht und zwei Riesenkörbe voll Lebensmittel eingepackt.
Vorbei ging es an Sal si puedes, an dem wundervollen, unter-höhlten Felsen, an Robinsons Grotte und Robinsons Tal. Wiederum erstrahlten die Felsen in ockergelber und rötlichbrauner Farbe, und wie mattes Gold leuchteten die spärlichen, gelben Grasflecken, die Weide der wenigen wilden Ziegen, den letzten, ungezählter Herden. Beute-gierige Menschenhand hat ein grausam Morden angestellt unter den flinkfüssigen Bewohnern jener jähen Klippen, hat die harmlosen, schön-äugigen Seehunde ausgerottet, die im Jahre 1726 noch in solcher Menge sich auf der Insel sonnten, dass man sich mit Gewalt einen Weg an ihnen vorbei bahnen musste. Unvernünftige Geldgier wird wohl auch bald die vielen Hummer verschwinden lassen, die jetzt noch in den blauen Fluten sich tummeln.
Zu Selkirks Zeiten sollen eine Menge Ziegen die Insel bevölkert haben, Sie dienten ihm vor allem zur Nahrung. Zudem hatte er sich zu seiner Unterhaltung, und um stets Milch zu haben, eine Anzahl der flinken, zierlichen Tiere gezähmt. Diese pflegte er am Ohr zu zeichnen, Lord Anson, der 30 Jahre nach Selkirk auf die Insel kam,liess durch seine Matrosen täglich eine Ziege schiessen. Die erste Erbeutete hatte ein zerrissenes Ohr und war ein majestätischer Bock mit ehrwürdigem, langem Bart und gewaltigen Hörnern. Er trug ausserdem noch andere Zeichen eines hohen Alters an sich. Später wurden noch mehrere Ziegen mit demselben Riss am Ohr erlegt.Offenbar waren sie durch Selkirks Hände gegangen.
Lord Anson fand schon damals die Zahl der Ziegen sehr ver-mindert. Zwischen seinem und
Selkirks Aufenthalt hausten Spanier
237 auf der Insel, die grosse Hunde vom Festland hatten kommen lassen,um die Ziegen zu töten und dadurch allfälligen Seeräubern, die sich auf Juan Fernandez einzunisten wünschten, die Hauptnahrung ‚abzu-schneiden. Auch die Katzen, die zu Selkirks Zeiten auf der Insel lebten, wurden durch die Hunde vernichtet, während die Ratten blieben und noch heute die Hauptplage der Insel bilden.
Wie blau ist das Wasser! Immer wieder war ich versucht, meine Hand hinein zu tauchen, um sie 0 blaues Wunder blau heraus zu ziehen. Mit Ausnahme unseres Blauseeleins und der blauen Grotte bei Capri habe ich niemals so schöngefärbtes Wasser gesehen.
Nun kamen unbekannte Gegenden oder vielmehr unbekannte Felsen. Da fuhren wir dem Cerro Alto entlang mit seiner eigentümlichen Lavaformation, die Baumwurzeln en relief auf den Fels zeichnet.Der Yungue und seine Nachbarn waren von dieser Seite kaum zu erkennen. .
Unser Dampferchen kam hier arg ins Schwanken, und die kleinen Boote hüpften wie Zicklein auf und ab. Wir näherten uns allmählich der .Bahia de la Vaqueria und dem einsamen, breiten, von weissem Gischte umrauschten Felsen, den der poetische Volksmund Cabo Viudo, Kap des Witwers, benannt hat. Die breite Felswand der Insel zeigt hier tiefe Höhlungen, und der weisse Schaum springt überall wild in die Höhe empor. Oft gleitet er, Seifenblasen oder Schneeballen gleich, vom Winde gefegt über das blaue Wasser.
Abermals galt es, eine Ecke zu umschiffen; der weibliche Teil der Gesellschaft, wobei ich mich ausschliessen muss, kreischte vor Angst und wurde blässer und blässer, und auch in den Kähnen machten sich die Anfänge der bösen Seekrankheit bemerkbar,
Wie eine Festung rundet sich der Cerro de los Negros ab,einen kegelförmigen, wilden Fels, Juanango genannt, halb um-schliessend. Er hat nach einem Sträfling seinen Namen erhalten,der immer und immer wieder zu entfliehen versuchte, bis man ihn an den unwirtlichen, meerumspülten Felsberg kettete. Ich glaube,mein Vetter nannte die Bucht bei dem Juanango die Bahia de tres Puntas. Lange, starre, einförmige Felswände, die hier aus Basalt sind, trennen sie von der Bahia del Padre, dem Ziele unserer Fahrt,Wieder war eine stürmische Ecke zu umschiffen, Wilde, schwarze Felsen, von weissem Gischt umbraust, kamen in Sicht, dann bog plötzlich die „Fortuna“ mit ihren beiden Schleppkähnen in eine tiefblaue, kreisrunde Bucht ein, die sonderbarste, fremdartigste der ganzen Insel.
Aus Central- und Südamerica.
Wie soll ich sie beschreiben? Ein Riesenteich, von einer hohen,gelben, runden Mauer, gleich einem römischen Amphitheater, um-gürtet. In der Mitte, frei im Wasser stehend, eine graue Grotte, unter der ein Kahn gerade durchschlüpfen mag. Das sonderbare Gebilde,vom Volke die „Kanzel“ getauft, ist von korallenartigen Felsstücken gekrönt, die gleich Stacheln emporstreben.
Diese Felswand läuft in einem gewaltigen Basaltkap aus, dessen Höhe eine steinerne Gestalt krönt. Sie ähnelt täuschend einem betenden Mönche und hat der Bucht den Namen gegeben: Bahia del Padre.Zur Linken des Amphitheaters führt ein gelblicher Sandberg zu einer orgelpfeifenartigen Felswand empor. Wie schwer ist es, das mit schwarzer Tinte zu beschreiben, wozu auch der Farbenpinsel des Malers nicht ausreichte!
An eine Landung war leider nicht zu denken; auch von Tee-oder Kaffeekochen konnte nicht die Rede sein. Die Frauen hatten sich in den einen, weniger schwankenden Kahn geflüchtet. Ich musste anstandshalber auf der wackligen „Fortuna“ ausharren. War sie doch zu meinen Ehren ausgefahren. Einige Aale wurden noch gefangen,einfach mit einer Schnur aus’dem Wasser gezogen, dann fuhren wir denselben Weg zurück. An Santa Clara vorbei und um die Insel,was viel interessanter gewesen, konnten. wir nicht, wegen allzu-schwerer See.
Den 27. März.Heute zog es mich in den Bergwald. Der elfjährige Luiz Alberto wurde mir als Begleiter mitgegeben. Der Kleine ist ein guter Führer;Bäume und Blumen seiner Insel sind ihm alle wohlbekannt. Zuerst kletterten wir eine steile Schlucht, ohne jedwelche Vegetation, empor,dann kamen dichte Maquibüsche (Aristotelia Maqui). Wann und wie sie vom Festlande ihren Weg hierher gefunden, weiss niemand. Genug,sie sind da, und wie freche Eindringlinge zu tun pflegen, vertreiben sie die einheimischen Büsche. Ihre schwarzen Beeren werden als Färbstoff nach Europa geschickt.
„Was ist das wohl für ein verästelter Busch mit schönem, hellem Holze?“ Ich rate den Blättern nach auf Myrte. Luiz Alberto nennt ihn aber Luma. Wir haben beide recht. Sein lateinischer Name „Myrceugenia-Fernandeziana“ bringt ihn in die Klasse der Myrten und dabei ist er ein echtes Inselkind.
Wie hübsch wandelt es sich im Schatten dieser 2025 Meter hohen Myrten! Ab und zu
durchkreuzt ein lustig Bächlein den nur
239 angedeuteten Fusspfad. Steine sind stets bei der Hand, um sich eine Brücke zu legen, und nun fängt es auch an, in den Baumkronen zu zwitschern. „Trrr!“ klingt es neckend. „Torito!“ sagt der Kleine;auf dem nächsten Busche abermals „Trrr!“ und so fort. Die kleinen Schelme fliegen uns nach. Endlich kann ich sie entdecken; kleine,
Auf dem Weg nach Selkirks „Lookout“.graue Vögelchen, kaum grösser als ein Zaunkönig. Anoeretes fernande-zianus heisst ihr Name im Buche meines Vetters.
Nun sind wir auf einer Lichtung angelangt. Vor mir ragt geheimnisvoll, dunkel der unerreichbare Yungue empor und hinter mir, schon in beträchtlicher Tiefe, lacht das blaue Meer. Wie schön und rein ist die Luft! Wie weich und liebkosend umgibt sie mich,und doch empfinde ich ungeachtet der Steigung keine Hitze! Geseg-
Aus Central- und Südamerica.netes Klima, das keinen Wechsel der Jahreszeiten kennt; nur eine grössere Regenfülle im Mai, Juni, Juli und August zeigt den Winter an,
Ich sitze auf einem frisch gefällten Baumstamm, dessen schöne,hellgrüne Blätter beweisen, dass er vielleicht gestern noch gelebt hat.Auch er ist ein Kind der Insel: Canelo (Drimys fernandeziana).Einen Zimmtgeschmack kann ich jedoch nicht entdecken, dagegen lässt er sich prächtig verarbeiten.
Auf dem Rückwege besuchten wir Haus und Familie eines französischen Kolonisten. Er hat sich hoch oben auf dem Berge und fern von den anderen ein Heim gegründet. Ein Einsiedler, der sich freilich der Gesellschaft einer fleissigen Frau und sechs Kinder erfreut.Was die Leutchen in zwei Jahren zusammengearbeitet haben! Wald ausgerottet und Obstbäume dafür gepflanzt und einen Riesengarten an-gelegt, wo Gemüse und Blumen gleich üppig zu gedeihen scheinen.
Morgen zieht die Jungmannschaft der Insel auf den Langusten-(Hummer-)Fang aus. Auch sie, die Langusten, fangen an. spärlicher zu werden, und das Dampferchen „Fortuna“ muss die Boote meist auf die unbewohnte Seite der Insel ziehen. Gewöhnlich bleiben die Fischer einen Tag. und eine Nacht aus, und zur Zeit der Winterstürme ist das Handwerk kein leichtes und ungefährliches. Je nach einer günstigen Windströmung kann ein einzelnes, von zwei Fischern be-manntes Boot bis 500 Langusten erbeuten. Die deutsche Fabrik be-zahlt das Stück mit 8 Centavos (etwa 15 Centimes), die neue franzö-sische zahlt 11 Centavos. In Valparaiso werden sie lebend zu 2 Pesos (Fr. 3. 40) und tot zu 1 Peso (Fr. 1.70) das Stück verkauft.
Laut einem Bericht meines Vetters wurden im Jahre 1903: 8780 lebendige Hummern von Juan
Fernandez nach Valparaiso gebracht,1742 Konservenkisten, je 18 Blechkisten enthaltend, was
zusammen ungefähr 100,000 Langusten vorstellt, und 1884 Galonen Öl aus einem kleinen
Haifisch bereitet, das besserer Qualität sein soll, als das Walfischöl. Diese Seetiere,
ebenso wie eine Menge Bacalläo (Stock-fische) sind durch 20 Fischer, alles Söhne von
Kolonisten, mit acht Schaluppen erbeutet worden..- . Den 28. März.Heute früh Ausflug nach
Portezuelo de Villagra, wo die Tafel der Offiziere des americanischen Kriegsschiffes
„Topaze“ zum Andenken an Selkirk im Jahre 1868 angebracht wurde. Ihre Inschrift lautet
ab-gekürzt ungefähr folgendermassen:„Zum Andenken an den Seemann Alexander Selkirk,
gebürtig aus Largo in Schottland. Er lebte auf dieser Insel in vollständiger
Selkirks Gedenktafel.stein ist am Lookout (Aussichtspunkt) Selkirks durch den Kom-mandanten Powell und die Offiziere der Fregatte „Topaze“ im Jahre 1868 gesetzt worden.“
Der SagenachsollSelkirk täglich von seiner Grotte aus den beschwer-lichen, wohl dreistündigen Weg über den Sal si puedes nach dem Lookout gemacht haben, um nach einem erlösenden Schiff Umschau zu halten.
Aus Central- und Südamerica.Da hinauf ging also mein Streben und zwar auf dem direkten Wege, der vom Kolonietal hinauf führt. Luiz Alberto und Carmelita,eine Nachbarin, wollten mich begleiten. „Du wirst sehen, es ist ein böser Weg da hinauf“, hatte mein Vetter mich gewarnt. Sein lahmes Bein verhinderte ihn daran, mich zu begleiten.
Wir wanderten dieselbe Schlucht hinauf, wie den vorigen Tag,uns diesmal aber immer zur Rechten haltend. Nach einer halben Stunde waren wir in den schönsten Murtillas, einer Art Heidelbeere, an-gelangt, die teils hohe Büsche, teils einen so dichten Teppich bildet,dass der Fuss kaum eine Spur hinterlässt. Die kleinen, braunen Früchte schmeckten wundervoll würzig und erfrischend, und ich musste meine jungen Begleiter fast mit Gewalt davon wegtreiben.Ein kleines Wäldchen, ein mit den herrlichsten Farnkräutern dicht bewachsener Fels, ein klarer Bach, brachten wohltätige Erquickung und Abwechslung in die mühsame Steigerei, denn von jetzt an geht der Weg nahezu senkrecht einen steilen Bergkamm empor. Unter einem der alten Gouverneure ist dieser Pfad von den Sträflingen in seinem oberen Teil als Treppe im Felsen angelegt worden.
Mit Freuden begrüsste ich die ersten Pangue. Luiz Alberto pflückte einige junge Stengel, wobei er aber nur die weissen sammelte und mir zum essen brachte, die roten warf er weg. Die Pangue Gunnera peltata gehört neben der Chonta-Palme zu den berühmtesten Pflanzen der Insel. Sie scheinen mir zu der Familie des Rhabarbers zu ge-hören. Eine Gruppe Pangue sieht ganz wundervoll aus, und eines dieser Riesenblätter bildet den prächtigsten Regenschirm, den man sich wünschen kann.
Viele Irispflanzen bedecken den Boden und hübsch blühende,verschiedene, unbekannte
Büsche. Sie und die herrliche Aussicht halfen mir etwas über die Mühsal des immer
schwierigeren Weges.Zwei und eine Viertelstunde waren wir schon gestiegen; an den
schattigen Stellen sind der braune Boden und die oft Meter hohen Felsstufen so schlüpferig
geworden, dass ich schon mehr auf allen Vieren kriechen musste, als aufrecht gehen konnte,
Meine Schuhe eigneten sich durchaus nicht für eine Bergpartie, feste Arme waren keine da,
um mich zu stützen, und die Angst vor Abstieg und Ab-sturzz wurde immer lebhafter. Nun
noch eine schattige Schlucht mit wunderbaren Farnkräutern der mannigfachsten Arten und
Grössen,die mir einen Begriff von der Herrlichkeit des Inselwaldes gab und einige Chontas,
und ich erklärte, auf das Übrige, die Tafel und die Aussicht und auf die Ansicht der
andern Seite der Insel Verzicht
243 leisten zu wollen. Meine jungen Begleiter protestierten dagegen,aber ich blieb fest bei meinem Entschlusse.
Leider, das Schwerste war überstanden, eine Viertelstunde mehr hätte mich ans Ziel gebracht. Ich mache mir Vorwürfe, nicht aus-geharrt zu haben, aber dann wäre mir das köstliche Stündchen allein in der Waldeseinsamkeit nicht geworden. Ich hatte darauf bestanden,
Pangue-Blätter.dass meine jungen Begleiter bis hinauf zum Aussichtspunkt gingen.Ich wollte sie hier erwarten.
Ich hatte mich hingesetzt. „Trrr“ erklang es plötzlich über mir,„trrr,“ „trrr,“ kam es von allen Seiten. Da waren ja meine neu-gierigen Freunde, die „Toritos“. Einer spreitzte vor lauter Aufregung die Federchen so empor, dass sie ein Krönchen auf dem niedlichen Kopfe bildeten. Zu den Toritos gesellten sich einige Kolibri, spanisch
Aus Central- und Südamerica.
Picaflores genannt, die reizendsten Geschöpfe der Tropen. Sie schim-merten braun mit goldenem Kopfe und grau mit funkelnden, grünen Federn, und guckten alle so zutraulich spöttisch herab auf das schwer-fällige, träge Menschenkind, das nicht einmal sein vorgesetztes Ziel erreichte, dass ich laut auflachen musste. „Trrr,“ „trrr,“ flogen sie entsetzt davon, waren aber sofort wieder da und leisteten mir treulich Gesellschaft, bis meine Begleiter zurückkehrten.
Von den Chontas will ich aber noch erzählen.
Sie heissen mit ihrem botanischen Namen Juania Australis. Sie sind die klassische Palme der Insel und ihr Mark, das wie Nuss und Mandeln schmecken soll, diente Robinson Crusce zur Nahrung.Wie eine Säule streben sie 1215 Meter hoch empor, und der schöne, hellgelbe Stamm mit den schwarzen Adern eignet sich zur Verfertigung prächtiger Spazierstöcke. Meist in kleinen Gruppen vereint, wuchs die Chonta seinerzeit sehr üppig auf Juan Fernandez,bis die alles zerstörende Menschenhand auch damit aufräumte. Jetzt hat die Regierung ein Verbot erlassen, sie zu schneiden.
Den 29. März.
Mein letzter Tag auf der schönen Insel. Immer wieder stehe ich vom Schreiben auf und schaue mich um, als ob ich mir ihre Schön-heit auf ewig einprägen wollte. Ja, sie hat es auch mir angetan!
Ich machte noch einige Besuche in der Kolonie. Als solche existiert Juan Fernandez seit dem 31. März 1898. Sie ist Fischer-Kolonie und jeder Kolonist, der eine Familie hat und das Gewerbe der Fischerei kennt, bekommt freie Fahrt nach der Insel, ein gegen zwei Hektaren grosses Stück Land und 16 eiserne, galvanisierte Platten für die Kon-struktion seines Daches. Für jeden über 14 Jahre zählenden Sohn bekommt er eine halbe Hektare Landes mehr.
So lange jedoch die Verbindungen mit dem Festlande so selten und ausschliesslich im Besitze der Langustenkonservenfabriken sind,kann man ungeachtet dieser Vorteile Europamüde kaum sehr ermutigen,ihr Glück auf Juan Fernandez zu suchen.
Die Kolonie zählt gegenwärtig 22 Familien mit 122° Köpfen. Der Nationalität nach sind es 13 Chilenen, 2 Italiener, 2 Deutsche, 1 Portu-giese, 1 Engländer, 1 Franzose, 1 Russe, 1 Schweizer.
Als mein Vetter im Jahre 1877 seinen Pachtvertrag antrat,fand er neben dem Hause der
alten Gouverneure nur zwei andere Häuser vor. Jetzt sind deren, die beiden Fabriken
eingerechnet,etwa 41.
245 Seit neun Jahren ist mein Vetter Gouverneur der Insel, zugleich Postmeister, Hafenkapitän und Vorsteher einer meteorologischen Station. Alle diese Ämter tragen ihm herzlich wenig ein. Neu ist ein Zivilstandesamt. Die ersten zwanzig Jahre seines Aufenthaltes auf der Insel fiel meinem Vetter neben der Gerichtsbarkeit auch das Amt des Taufens, Trauens und Einsegnens der Toten zu. Also war er damals wirklich „Inselkönig“, Neu auch ist die Schule, sie soll aber seither wieder eingegangen sein.
Zu letzterer lenkte ich meine Schritte und freute mich des nied-lichen Häuschens, des wohlgehaltenen Gartens und der allerliebsten Schulmeistersfrau. Zwanzig Kinder, im Alter von 6 bis 15 Jahren,werden durch Sefior Latuz in die Anfangsgründe alles Wissens ein-geweiht und da dies täglich nur während vier Stunden geschieht,wird den Inselkindern die Weisheit nicht allzusehr mit dem grossen Löffel eingeschüttet. Schulzwang herrscht keiner, der Unterricht ist frei; daneben erteilt der Lehrer den grösseren Knaben noch zwei Stunden täglich Unterricht im Schnitzen. Da steht eine prächtige Hobelbank und ein ganzer Schrank voll guter Instrumente, und mit den schönen Hölzern der Insel lässt sich manch hübscher Gegen-stand verarbeiten. Da werden Tische verfertigt, Kästchen, Bilder-rahmen, Lineale, Löffel u. s. w. und die Knaben zeigen mit Freuden das Werk ihrer Hände,
Arzt gibt es auf der Insel keinen und auch keine Krankheiten.Für kleine Leiden und allfällige Schrammen weiss zudem Sefior Latuz mit Rat und Tat zu helfen.
Drei Polizisten führen auf der Insel ein ziemlich beschauliches Dasein. Hie und da freilich richtet der Branntweinteufel Unheil an,und da ist es denn fatal, dass gerade die edle Hermandad ihm öfter selber zur Beute fällt.Den 30. März.
Um 12 Uhr mittags haben wir die Anker gelichtet, die Segel gespannt. Das ist schneller geschrieben als geschehen.
Ein kleiner Anker hatte sich dermassen in den Grund verhackt,dass er abgeschnitten und zurückgelassen werden musste. Dieser Entschluss wurde um so leichter gefasst, als bei dem ersten Besuch der „Sirene“ eine ähnliche Lösung des Ankers einem jungen Italiener das Leben gekostet hatte. Er sollte auf dem traurigen, kleinen Friedhof von Juan Fernandez seine letzte Ruhestatt finden.
Alle hatten mir das Geleit an Bord der „Sirene“ gegeben, Jeder und Jede mir noch eine Liebesgabe gebracht, Lebensmittel, Blumen,
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Schnitzereien. Der Abschied, wohl für das Leben, war schmerzlich.Lange noch wir fanden stundenlang keine günstige Brise, die uns aus der Bai führte sah ich durch das Glas meinen Vetter,unbeweglich an eine Säule des Hauses gelehnt, der „Sirene“ nach-blicken. Die Schweizerflagge war bei meiner Ankunft an Bord gehisst worden, Am Lande wehten einige Flaggen und Abschiedsschüsse wurden mir nachgesandt.
Endlich erhebt sich der Wind. Die charakteristischen Bergformen der Insel zeigen sich
immer ferner, immer phantastischer. Jetzt ist die Nacht angebrochen, die Sterne funkeln.
Die schwarzen Wolken,die mit uns gesegelt, haben wir hinter uns gelassen. Noch einmal,zum
letztenmal, schaue ich zurück nach der Insel. Ihre dunkle, ge-spenstige Silhouette scheint
auf dem Wasser zu schwanken. Die schwarzen Wolken haben sich über ihr angesammelt und
hängen schwer herab auf Inselkönigs Reich. Weg mit euch, ihr schwarzen,düsteren Gestalten;
licht und hell und versöhnend möge er sein,der Lebensabend des letzten Robinson !Den 31.
März.Wir segeln bei schwacher Brise, aber in guter Richtung 2 bis 3 Meilen stündlich.
Zwischen Doktor Schmierlappen und dem Kapitän ist offene Fehde ausgebrochen, und
schlichtend schwanke ich da-zwischen. „God gives the crop and the devil the cook“, (Gott
gibt das Korn und der Teufel den Koch) sagt ein englisches Sprichwort.Den 1. April
1905.Windstille. Wir kommen nicht vorwärts. Nur die Stürme zwischen Kapitän und Koch sind
heftiger geworden. Ich kann den Abend sitzend auf Deck zubringen und den schönen
Sternenhimmel bewundern. Die strahlende Venus hat soeben Abschied genommen. Wie ein
leuchtend Feuer scheint sie, von der „Sirene“ aus gesehen, auf den Meereswellen zu
schweben.Den 3. April.Auf Stille folgt Sturm. Ärger und länger hat er getobt als auf der
Herreise und mich müde und elend gemacht zum Sterben.Jetzt grüssen uns die beiden
Leuchttürme Valparaisos von ferne.Den 6. April.Ob wir verdammt sind, die Rolle des
fliegenden Holländers zu spielen? Seit drei Tagen kommen wir jeden Abend dicht vor den
Hafen. Wir sehen die Leuchttürme, wir erkennen die Häuser. Der
247
Kapitän fürchtet sich aber vor der Einfahrt, vor den Felsen, bei Nacht und Nebel. Wir versuchen in der Nähe zu bleiben, aber gegen Morgen macht sich jedesmal ein feindlicher Wind auf und stösst die „Sirene“wieder weit in das Meer hinaus. Den ganzen Vormittag pflegt unsere Nussschale wie ein flügellahmer Vogel auf dem jetzt glatten Wasser zu ruhen, und nicht der leiseste Wind bläht bis gegen Abend die Segel.
So nahe am Ziel und doch so fern! Grausam!
Den 7. April.
Ich weiss zum erstenmal, wie es tut, hungrig zu sein. Oft habe ich wohl schon gesagt: „Ich bin hungrig!“ aber da durfte ich nur wünschen:„Tischlein deck’ dich!“ so war Essen da, oder schlimmsten Falles traten ein paar Stunden Wartezeit ein. Hier auf weitem Ocean, von allem abgeschnitten, empfinde ich zum erstenmal die ganze Trost-losigkeit des Hungers. Brot haben wir seit vier Tagen, Fleisch seit sechs Tagen nicht mehr gesehen, die Konservenbüchsen sind alle leer geworden. Es bleibt Mehl, das Doktor Schmierlappen aber weder verwenden will, noch damit umzugehen versteht; es ist ihm entschieden zu weiss. Nur Kaffee, Tee und Cacao füllen scheinbar meinen misshandelten Magen. Die Matrosen fischen eine Art See-tang und lassen ihn durch Schmierlappen kochen. Er schmeckt zwar herzlich schlecht, aber ich esse doch davon.
Zwischen Schmierlappen und Kapitän wird das Verhältnis immer gespannter. Auch zwischen Suspiro und mir ist die Freundschaft seinerseits etwas weniger feurig; es fehlt mir an Süssigkeiten, und kleine Geschenke erhalten ja die Freundschaft.
Wir haben noch einen Passagier an Bord, einen alten Portugiesen,Er ist schon vor meinem Vetter auf die Insel gelangt und scheint zu finden, ihm komme eigentlich die Gouverneurstelle zu. Heute grollt er mir. Vor einer Stunde hat er seinen Hut abgezogen, um darunter einen sehr wirren Lockenkopf sehen zu lassen. „Ich habe meinen Kamm auf der Insel vergessen.“ Auf diese Mitteilung bleibe ich stumm.„Besitzen Sie einen Kamm?“ Ein etwas unwilliges: „Wie sollt ich denn nicht?“ ist meine Antwort. Ach, er hat sich wohl gedacht, ich würde auf diesen zarten Wink hin sagen: „Es ä 1a disposicion de U.“,aber das habe ich wohlweislich unterlassen.Valparaiso, den 8. April 1905.Gestern Abend sind wir wider alles Hoffen und Erwarten doch noch in den Hafen eingelaufen. Wie ein brüllender Löwe ist der Kapitän auf Deck herumgeirrt, während ich still unten in der Koje
Aus Central- und Südamerica.gelegen und klopfenden Herzens auf sein aufgeregtes Kommando gelauscht habe. Gelangen wir an das ersehnte Ziel oder soll es wieder entschwinden, ehe wir es erreicht? ;
Wie Musik klingt der Klagelaut der sogenannten Heulboje vor dem Hafen von Valparaiso in mein Ohr, kündet sie mir ja die Nähe der Stadt an.
Um 10 Uhr rasselt die Ankerkette. Angekommen am Ziele,Gottlob !
Unter dem Pangueblatt.
Paso de Tolorsa.
Über die Anden.
Einmal gelandet, beherrschte mich ein Gedanke, ein Wunsch:Ruhe und physisches Wohlleben. Vierzig Stunden Rast nur, dann musste ich die lange, beschwerliche Reise über die Anden antreten,sie liess sich des nahenden Winters wegen nicht länger aufschieben.Nach dem langen Aufenthalt in frischer Seeluft graute mir noch mehr vor der trostlosen Hofstube in der Bolsa mit ihren Küchen- und Karbolgerüchen. Also in Gottes Namen einen dritten Gasthof in Valparaiso! Es waren nicht mehr so viele Fremde da; ich ging auf die Suche und fand endlich ein helles, hohes, sonniges Zimmer.Ein Prunkgemach erschien es mir, und erst das Essen! Wie pracht-voll schmeckte das französische Brot, das Fleisch, die Trauben, wie vornehm-luxuriös sahen das reine Tischtuch, die reinen Teller und der reine Kellner aus! Ja, Doktor Schmierlappen, wir sind hoffentlich auf ewig geschiedene Leute!
Ich hatte noch vielerlei Geschäftliches zu besorgen und zu schreiben. Ungelesen lagen auch die zahlreichen, inzwischen ein-gelaufenen Briefe da. Schnell durchflog ich die wichtigsten, dann zu Bett! Nach acht Nächten sich wieder einmal seiner Kleider zu entledigen, statt auf einer alten, blossen Matratze in reiner, weisser Bettwäsche zu liegen, diese Wonne kann nur nachfühlen, wer
Aus Central- und Südamerica.Ähnliches erlebt. Ich nutzte aber auch mein Bett gehörig aus, 16 Stunden blieb ich darin liegen und schlief davon 15 ohne Unter-brechung!
Mein letzter Tag in Valparaiso, ein Sonntag, war schön nach aussen und innen. Wie den spanischen Eroberern, die ihm den Namen „Val-Paraiso“ gegeben, schien es mir jetzt wirklich ein „Paradieses-Tal“ zu sein. Ich stand auf dem Cerro Allegre auf der Altane des F.’schen Hauses. Hier im sicheren Port auf festem Lande schaute ich wieder gern und ohne Abscheu auf die blaue, weite Meeresfläche herab, die mir so übel mitgespielt, so viel Leid und Angst und Entbehrungen bereitet hatte. In der Ferne leuchtete und winkte die Andenkette, und gleich einer Wolke hob sich das Schnee-haupt des Aconcagua, eines der höchsten Berge auf dieser Welt, von dem blauen Horizont ab, Morgen schon sollte ich seinem Bann anheim fallen.
Gestern Abend hatte Ball bei F’s. stattgefunden. Haus und Be-wohner sahen noch festmüde aus. Den Erzählungen nach zu urteilen,scheint es in Valparaiso gerade so zuzugehen, wie in Europa bei ähnlichen Festen. Die Tänzer werden verhandelt, die Toiletten der Freundinnen kritisiert und dabei in Erinnerungen geschwelgt. Die jungen Mädchen waren alle als Blumen verkleidet erschienen, und ich bewunderte die geschickten Hände der drei Schwestern F. Aus dem hübschen Papier, mit dem man Lampenschirme verfertigt,hatten sie sich ihre Kleider selbst zugeschnitten, genäht und mit den Blumen bemalt und besteckt, die sie darstellten. Mancher Riss war freilich in diese zerbrechlichen- Hüllen getanzt worden, immerhin hatten sie ihren Dienst wohl erfüllt.
Für meinen, augenblicklich ganz auf das Materielle gerichteten Sinn, spielten die Reste des Festes keine geringe Rolle. Caviar-brötchen, Pasteten und vor allem Nuss- und Cremetorten fanden meinen wärmsten Beifall. Ich konnte nicht begreifen, dass Frl. A. F.die Nusstorte trocken fand. Wäre sie nur einen einzigen Tag auf der Sirene zu Seetang und schwarzem Kaffee verdammt gewesen, so hätte ihr Urteil freilich anders gelautet.
Der Abend fand mich noch auf Cerro Allegre bei der Familie R.,meinen anderen
Valparaisanerfreunden, Diesmal galt es wirklich und endgültig Abschied nehmen. Am frühen
Morgen des folgenden Tages stand ich reisefertig auf dem Bahnhof. Die Temperatur war
ent-schieden herbstlich und dichter Nebel lag über der Landschaft. Von meiner Reise nach
Santiago her war mir die Strecke bis Llai-Llai
251 wohlbekannt. Derselbe schwunghafte Hausierhandel mit Früchten,Kuchen, Käse, wurde auch heute auf einzelnen Stationen betrieben,und niedlich geflochtene Körbe mit den herrlichsten Trauben der Welt, um ein Spottgeld erstanden. Ich vertiefte mich so nachdrücklich in den Inhalt eines Feigen- und eines Traubenkorbes, dass ich von vornherein auf jedes Essen in Llai-Llai verzichten musste.
Hier hatten wir Zugwechsel. Eine Menge Reisender war von.Santiago her zu uns gestossen. Ein jeder wollte noch schnell über die Anden, ehe der Winter für nahezu fünf Monate den Pass unüber-steigbar machte. Unser Bahnzug schlenderte, überall Stationen machend,recht gemütlich vorwärts. Einen lieblichen Anblick gewähren die, mit grossblumigen, tiefblauen Winden umsponnenen Häuschen, die mit Früchten schwer beladenen Obstbäume und die sich unabsehbar ausdehnenden Weingärten. Hier sind die besten Lagen des chilenischen Weines, eines ganz vorzüglichen, den südfranzösischen Weinen fast ebenbürtigen Produktes, Es war, als ob die reichgesegneten Fluren Chiles sich noch einmal zum Abschied in ihrer ganzen Fruchtbarkeit zeigen wollten.
Die Nebel waren längst gewichen. Blau wölbte sich der Himmel,die ganze Welt leuchtete, so weit sie das Auge umfasste. Im Osten gewannen die hohen Berge der Anden, Cerro Juncal und Los Leones,in strahlendem Glanze greifbarere Formen, Wir waren ihnen näher gerückt und unsere nächste grosse Station, Los Andes, lag schon 830 Meter hoch. Hier ist den Reisenden abermals Gelegenheit zur Leibesnahrung geboten, für den Augenblick aber war mir die Auf-findung meines Koffers unendlich wichtiger. Seit einem Monat wusste ich ihn in Los Andes; und in den schlaflosen Nächten auf der „Sirene“hatte mich oftmals der Gedanke gequält: Was tun, wenn dieser Ge-treue, Unentbehrliche verschwunden sein sollte? Doch, er war da, an-scheinend unerbrochen und unversehrt, und dank der Bemühung des Villalonga-Mannes ging die Umladung aufs leichteste von statten.
Hier bekamen wir eine Schmalspurbahn (Weite: 1 m) und wurden,etwas höher gelangt, von der Lokomotive nicht mehr gezogen, sondern geschoben. Vorläufig streiften wir, wie zuvor, Getreidefelder und Weingärten. Zu ihrer Fruchtbarkeit tragen jedenfalls die zahlreichen,vom Rio Aconcagua bewässerten Kanäle bei. Dieser Fluss wird durch den Rio Colorado und den Rio Juncal gebildet, und die Ver-einigung der beiden Gewässer bietet auf einer Höhe von 1050 Meter ein interessantes Bild. Sie stossen in sehr stumpfem Winkel gegen einander und umschliessen einen grauen Berg, dessen Hänge nur
Aus Central- und Südamerica.kümmerliches Strauchwerk und eine hohe Art Kandelaberkaktus be-leben. Die geheimnisvollen, grossen, rosa oder schneeweissen Blüten an den stachligen Säulen, erscheinen wie verwunschene Märchen-prinzessinnen mitten in dieser rauhen, nördlichen Wirklichkeit.
Wilder und immer wilder wird von hier an die Natur, Bei dem Salto del Soldado (1260 m hoch) hat der Fluss, wohl nach langem Ringen, sich allmählich einen Durchbruch durch die Felsen erzwungen.Die Neuzeit hat es ihm nachgeahmt; die Kunst des Ingenieurs hat durch das starre Gestein Tunnels gebohrt und über die tiefe Schlucht eine Brücke geschlagen. Den Namen „Soldatensprung“ erhielt dieser Flussdurchbruch, weil einst ein verfolgter Soldat darüber gesprungen sein soll.
In dem Waggon sass mir gegenüber eine peruanische Familie.Dass sie Peruaner waren, bemerkte ich an dem schönen Spanisch und der grossen Höflichkeit, womit sie mir immer wieder von ihren Reisevorräten anboten. Der Herr sah merkwürdig englisch aus, während seine Frau und deren Schwester den spanischen Typus, mit einem,vielleicht gar zwei Tropfen Indianerblut vermischt, zeigten. Bei diesen drei Menschen war ein etwa zwölfjähriger Junge der Mittelpunkt,um den sich alles drehte. „Wir können uns von unserem Einzigen nicht trennen“, meinte die Mutter, „deshalb haben wir unser heimat-liches Arequipa aufgegeben und ziehen nach Buenos Aires, später nach Europa. Der Junge muss tüchtig erzogen und geschult werden und vor allem fremde Sprachen lernen.“ Das klang erstaunlich von peruanischen Lippen. Der Mann muss entschieden ein Fremder sein!
Guardia Vieja (1487 m) ist heute noch der Endpunkt der grossen Andenbahn auf chilenischer
Seite. In drei bis vier Jahren soll der grosse Tunnel unter der Cumbre gebohrt sein, und
dann erleidet der Reisende- und Postverkehr keine fünf bis sechs monatliche Unter-brechung
mehr. Gespannt erwartete ich die Entscheidung, ob wir über die Cumbre fahren könnten oder
reiten müssten. Ersteres ist natürlich nur bei völlig schneefreier Strasse, also etwa
während zwei Monaten, möglich. Die Jahreszeit wir schrieben den 10. April war schon sehr
vorgerückt, Schneestürme hatten die Woche vorher in den Anden das Kommen des Winters
verkündigt. Doch nein mein Reiseglück, das mich auf der unglücklichen Juan Fernandez-Fahrt
so völlig im Stiche gelassen stand für den Anden-Übergang auf seinem Zenith. Helios, der
allmächtige, hatte den Schnee von der trefflich im Stande gehaltenen Strasse weggezaubert
und keinem ein-zigen Wölkchen erlaubt, auch nur ein Zipfelchen zu zeigen.
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Ja, da standen eine Menge Wagen. Breakartig erbaut, mit hohem Dache, von dem Ledervorhänge herabhängen zum Schutz gegen Sturm und Kälte, gewähren sie je vier Personen Platz. Es gibt zwei Gesell-schaften: den „Expreso Villalonga“ und die „Trasportes unidos“, die es sich angelegen sein lassen, den Reisenden wie ein Poststück von Valparaiso nach Buenos-Aires oder umgekehrt zu befördern, Jede sendet einen Führer mit, und zwischen diesen zweien herrscht eine gewisse Rivalität. So dauert es ziemlich lange, bis jeder Führer seine Schutzbefohlenen um sich gesammelt und in die Wagen seiner Gesellschaft untergebracht hat. Meine Peruaner füllten gerade einen Break aus, so fand ich Unterkunft bei einem alten Franzosen und einem jungen Engländer.
Endlich war alles bereit. Der lange Zug setzte sich in Bewegung.Vor jedem Wagen ritt in wilder Eleganz ein chilenischer Arriero (Maultiertreiber). Der gewaltige Schlapphut, das braune, kühne Gesicht,der buntfarbige Poncho, die hohen, befransten Stiefel und die hand-grossen Räder an den Sporen, stimmen trefflich zum Ganzen. Wie die Kerls zu Pferde sitzen! Auch die kürzeste Wendung, der steilste Hang bringt sie nicht aus dem Gleichgewicht, Mann und Tier sehen wie aus einem Guss aus. Mit Stimme und Peitsche treiben sie die bespannten Maultiere an, ihrem Späherblick entgeht kein Steinchen auf dem Weg, keine allfällige Begegnung, die von der anderen Seite kommen könnte.
Die in Guardia Vieja noch breite Talsohle wird enger und enger und die umgebenden Berge erscheinen um so schroffer, Hier fühlt sich jeder im Vorhofe des Hochgebirges, und als nach zweistündiger Fahrt die Sonne sich zum Untergehen rüstete und zum Abschied die Steinwände mit tiefroten, samtartigen, satten Farben überdeckte,wurde wohl jedem Einzelnen von uns ganz feierlich zu Mute, Bei anbrechender Nacht gelangten wir nach dem 2222 Meter hoch gele-genen Juncal, unserem Nachtquartier. Ohne zu fragen, fuhr unser Kutscher dem grossen Haufen nach, vor die zweite Übernachtungs-hütte. Der Name „Gasthof“ wäre hier nicht am Platz. Lange währte es, bis die ungewöhnlich zahlreichen Reisenden alle untergebracht waren. Die einzelnen Zimmer, oder besser gesagt Verschläge, ent-hielten meist 45 Betten, und da viele ihren Ausgang nur durch das Zimmer des Nachbarn hatten, war der Charakter des Hotels not-wendigerweise ein sehr intimer.
Ich war als einzelnreisende Dame natürlich wieder einzig in meiner Art. Der Mozo führte mich deshalb in ein Gemach hinter dem
Aus Central- und Südamerica.
Schenktisch, das von diesem und dem Speisesaal nur durch einen alten verblichenen Vorhang getrennt war. Ein Geruch von Alkohol und schmutziger Wäsche, von ranziger Butter und ungewaschener Menschheit strömte mir entgegen. Kein Wunder, jedwelches Fenster fehlte. Auf den drei Betten lagen Männer- und Frauenkleider, ein paar Stiefel und eine angebissene Wurst. Die Wirtin war uns ge-folgt. „Sie können hier mit mir schlafen, ich bin diese Nacht allein.“„Ja, aber Sie sind mir schon zu viel“, rief ich empört, „ich verlange ein Zimmer für mich allein, sonst gehe ich sofort in die andere Posada“ (Gasthof). Das wirkte. Der Mozo führte mich in einen ganz grossen, unabhängigen Raum, In der Mitte stand ein invalides Billard und drum herum fünf Betten. „Wenn Sie sich fürchten, kann ich ja auch in diesem Zimmer schlafen“, meinte der freche Bengel. Ich schob ihn zur Tür hinaus und wählte unter den Betten das, welches am wenigsten die Spuren der Verkehrsbewegung ‘trug. Vorsorglich streute ich eine dicke Lage Zacherlin darüber und legte mich, in meinen Kimono und meinen mexicanischen Sarape fest eingehüllt,schlafen. Vorher hatte ich aber im Hause herum ‚eine Stange gesucht und gefunden, eine sogenannte „pica porte“, um sie in Ermangelung eines Schlosses gegen die Türe zu stemmen. Die Massregel erwies sich nicht als nutzlos, denn verschiedene Male wurde von aussen an der Türe gerüttelt, Dies und wohl auch die Kälte scheuchten den Schlaf. An Müdigkeit hätte es ja nicht gefehlt, auch litt ich keineswegs an Magenüberladung. Das Abendessen war so leicht ausgefallen, wie die Rechnung am folgenden Morgen schwer wiegen sollte. Sechs Pesos, ungefähr zehn Franken! Dafür wird ein mageres Abendessen, das schon beschriebene Nachtlager und früh eine Tasse dünnen Kaffee mit Brot geboten. Wen es nach einer zweiten Tasse gelüstet, der muss einen halben Peso nachbezahlen. Es ist erstaun-lich, dass die Regierung von Chile an einer so begangenen Strasse nicht darauf bedacht ist, ein besseres und besonders besser gehaltenes Hotel zu errichten.
Um 3'/a Uhr wurde geweckt. Um 5 Uhr brach die ganze grosse Karawane auf. Noch lagerte die
Nacht über Tal und Bergen und bei funkelndem Sternenhimmel krochen wir kältezitternd in
unsern jetzt ganz verschlossenen Break. Es war derselbe wie am Tage vorher, dieselben vier
weissen Maultiere waren vorgespannt, und auch meine beiden Gefährten von gestern, der
Franzose und der Eng-länder, hatten sich wieder eingefunden. Zum Glück verstanden wir uns
vortrefflich, Während alle andern Reisenden der Kälte und
255 der Abgründe wegen die Ledervorhänge ihrer Wagen krampfhaft hinunter gelassen hielten und somit von der ganzen herrlichen Fahrt nichts sahen, rollten wir, so wie der Tag graute, einen Vorhang nach dem andern auf. Kalt war es gewiss, schauerlich kalt. Da halfen keine wollenen Strümpfe, keine Decken, die Kälte schmerzte bis in die Knochen.
Die Sterne waren verblichen, die „rosenfingrige Eos“ begann golden-rosige Farben auf die steilen Höhen zu malen. Sie gab den in ihrer Öde fast beängstigenden starren Felswällen einen warmen Lebens-
Casucha.ton. „Cajon de Calavera,“ Totenkopf-Kasten nennt der Volks-mund dieses Hochtal. Keine menschliche Seele haust hier; ab und zu nur erblickt man eine einsame Casucha am Wege. Die Casucha,wir würden sie auf unseren Alpenstrassen „Schutzhütte“ nennen,besitzt sehr dicke, steinerne Wände und ist mit einem Tonnengewölbe überdacht. In erster Linie ist sie zum Schutze der Postboten gebaut worden, die auch dann noch öfters die Post befördern, wenn der Pass durch Schnee gesperrt ist, und die Tiere nicht mehr fortkommen.Gar mancher Postbote ist schon den gewaltigen Schneestürmen der Anden zum Opfer gefallen, und glücklich preist er sich, wenn er bei aufziehendem Unwetter noch solch eine Casucha erreichen kann.
Aus Central- und Südamerica.
Während den sechs Sommermonaten pflegt drei mal wöchentlich Leben in den Cajon de Calavera einzukehren. Da hallen die steilen Wände von Peitschengeknall und Menschenstimmen wieder, da läutet das Glöcklein des Leitmaultieres. Auf ihm wohlbekannten Abkürz-ungen führt es seine, mit Koffern und Paketen schwer beladenen Gefährten bergauf, bergab, hart am Abgrund läuft oft sein Weg, wo Schwindel und Tod auf Mensch und Tier lauern. Auch unser Wagen schwebte zuweilen nahe am Abgrund, aber Kutscher und Tiere sind sicher, die Strasse ist tadellos gehalten und meist breit. Mich liess die wunderbare Scenerie jedes Gefühl des Unbehagens überwinden.Jetzt, wo die Sonne höher stand, belebte ein herrliches Licht- und Schattenbild diese starre, vegetationslose Bergwelt. Bald zauberte es tiefdunkle, lilabronzene Töne in die finsteren Schluchten, bald malte es lichte Regenbogenfarben auf die Felsgrate.
Je höher wir kamen, um so steilere Zickzack beschrieb unser Weg. Die malerischen Arrieros waren abgestiegen, hatten lange Stricke hervorgezogen und ihre Tiere als Vorspann vor die Wagen gebunden. Als ich einmal in die Tiefe schaute, .konnte ich unseren zurückgelegten Weg nicht weniger als fünf Mal in seinen verschie-denen Höhenlagen verfolgen.
Selten nur wird eine kurze Station gemacht, um die armen Tiere verschnaufen zu lassen. Auf der letzten wir sind jetzt 3140 Meter hoch, und bis dahin soll künftig die Eisenbahn steigen sind die Arbeiten für den grossen Tunnel in Angriff genommen. Dieser grosse Tunnel soll durch die hier 3990 Meter hohe Cumbre in einer Länge von 5,65 Kilometer gebohrt werden. Sein Ausgangspunkt auf argen-tinischer Seite ist Las Cuevas. Der grosse Gotthardtunnel liegt 1154 Meter über Meer, somit wäre der Andentunnel nahezu zwei-einhalbmal höher gelegen. In vier Jahren hofft man, das grosse Werk der Andenbahn zu Ende zu führen.
Nach vierstündiger Fahrt hatten wir die Passhöhe erreicht. Die von Kälte starren Glieder
versagten mir beinahe den Dienst beim Abstieg von dem Wagen. Die Sonne leuchtete zwar in
voller Pracht und Herrlichkeit, aber ein eisiger Wind liess die Wohltat ihrer wärmenden
Strahlen nicht empfinden. Mein erstes war ein Ausruf der Überraschung. Vor mir stand ein
Riesenbild auf dreifachem Sockel:Christus, der Erlöser. Die Rechte ist gen Himmel erhoben,
die Linke umfasst ein hohes Kreuz.‘ Den Sockel schmückt ein Reliefbild, auf dem die beiden
Schwesterrepubliken, Chile und Argentinien, sich zärtlich umschlungen hälten. Heftige
Grenzstreitigkeiten waren zwischen
257 den zwei Ländern ausgebrochen, und zu Ehren der friedlichen Bei-legung derselben wurde von beiden Staaten im Jahre 1903 hier oben diese Versöhnungsstatue errichtet.
Das grosse Denkmal hat wohl den grossartigsten Hintergrund der Welt. Der Schneeriese in der Mitte ist der Cerro Juncal. Die schwarzen, nur stellenweise mit Schnee bedeckten Berge auf der chilenischen Seite Los Leones, mit ihren mächtigen, breiten, erst am Kamm endigenden Schichtbänken geben ein düsteres, finsteres Bild,während über dem Farbenspiel der argentinischen Berge und den vereisten Gipfeln des Torlosa und des Cerro de los Almacenes heller Sonnenschein lag. Ich bückte mich zur rötlichen Erde, um ein winzig,rötlich Blümchen zu pflücken, das einzige, das dem hier oben wohl immer wehenden Winde Widerstand geleistet.
Nun ging es hinab über rotes Gehänge auf argentinischer,windungsreicher Landstrasse und je schneller uns der Galopp der Maultiere zu Tale führte, desto flüchtiger waren die auf diesem Wege davongetragenen Eindrücke. Als Kind schon bemerkte ich, dass ich beim Beeren- oder Blumenpflücken stets eine viel reichere Beute beim Aufstieg, als beim. Abstieg machte. Schritt für Schritt strebt man aufmerksam um sich schauend empor auf die Höhe, und blind-lings, achtlos lässt man sich abwärts in die Tiefe zurückgleiten. Ist es nicht auch so im Kampfe des Lebens?
In Las Cuevas wartete die Eisenbahn. Der gefährliche Teil der Kordillerenreise war somit hier beendet. Gefährlich? Wie individuell ist dieser Begriff! Ich hatte mir durch Bücher und mündliche Über-lieferungen bange machen lassen vor Bergkrankheit, hier Puna ge-nannt, und schrecklichen Abgründen. In Buenos Aires behaupteten mir später zwei Herren sie hatten die Reise unter denselben Bedingungen wie ich gemacht „einmal und nie wieder!“ Keinen Augenblick physischen oder moralischen Unbehagens hatte ich em-pfunden, mit Ausnahme der Nacht auf Juncal.
Das Merkwürdigste des ziemlich ebenen, langen Tales von Las Cuevas war der begonnene Eisenbahntunnel und der grosse Berg-sturz des Tolorsa, dessen riesige Trümmer den Rio de las Cuevas auf natürliche Weise überbrücken. Wir hatten 3!/» Stunde Aufenthalt in Las Cuevas. Mich reute der Aufbruch von Juncal bei Nacht und Nebel und die kurze Frist auf der Cumbre. Was hatten wir hier von dem langen Sitzen in dem traurigen Tal? War es, um der Posada besseren Verdienst, oder den Zollbeamten längere Gelegenheit zum Durchwühlen unserer Sachen zu geben? Die Maultiere mit dem 17
Aus Central- und Südamerica.
Gepäck kamen freilich sehr langsam an. Sie hatten es nicht eilig. Die Armen wussten, dass ein Zug mit Reisenden und Koffern von Buenos-Aires schon auf sie wartete, und sie gleich wieder schwer beladen den mühsamen Weg nach Juncal zurücklegen mussten. Auf der Cumbre und da und dort in den Schluchten hatte ich verschiedene ihrer Kollegen tot liegen sehen, gefallen auf dem Felde der Arbeit, wenn nicht der Ehre. Von den Lebenden sträubten sich viele, nachdem sie kaum ihrer Last befreit, eine neue auf sich zu nehmen. Man band ihnen beim Aufladen ein Tuch über die Augen. Soll man sich über den heimtückischen Charakter der Maultiere wundern? Wie heimtückisch würde erst ein Mensch werden, wenn er entsprechend. viel leisten sollte, wie ein Maultier und entsprechend schlecht behandelt würde?
Für die Reisenden sorgt das kleine Gasthaus in Las Cuevas recht gut. Man bezahlt gern zweieinhalb argentinische Pesos (etwa Fr.4.50) für ein reichliches Gabelfrühstück. Zudem standen zwei gut geheizte Räume für Herren und Damen bereit, wo man sich waschen und bürsten und die zur Talfahrt allzuschweren Kleider mit leichteren umtauschen konnte.
Nun sass ich wieder in der Eisenbahn. Hohe Luft und Müdig-keit hatten mir auf einen Augenblick die Augen zugedrückt. „Der Aconcagua“, rief plötzlich mein Nachbar. Ich lehnte mich zum Fenster hinaus. Ja, da war er vor mir in wolkenloser Klarheit, der schöne,breite, herrliche Berg. Oft schon hatte ich ihn gesehen aus weiter Ferne, auch in‘jenen schmerzlichen vier letzten Tagen auf der „Sirene“war er mir ein paar Mal wie eine zauberische Fata Morgana er-schienen. Bis zum 14. Januar des Jahres 1897 hat kein menschlicher Fuss diesen höchsten Punkt der Anden erstiegen. Einem englischen Alpinisten, Mr. Fitzgerald, ‚und seinem Führer, dem Walliser Zur-briggen, ist es gelungen, den Riesen zu bezwingen, und. zwar ge-langte Mr. Fitzgerald bis zum Gipfelkamm und sein Führer auf den mit 7315 Meter Höhe angegebenen Gipfel. Der Aconcagua überragt somit den Montblanc um 2505 Meter, wähend er um 1525 Meter niedriger ist, als der höchste Berg des Himalaya, der Gaurisankar.
Die nächste Station ist Puente del Inca. Schnell heraus, um sich dieses merkwürdige
Naturspiel zu betrachten! Die Brücke ist nicht durch Menschenhand, sondern durch einen
Prozess der Natur entstanden, den sich die Geologen folgendermassen erklären: Die über 1
Meter dicken Kalktuffbänke, die das Geröll des Talbodens überdeckten, wurden an dieser
Stelle vom Wasser des Flusses Mendoza unterwaschen. Das Geröll wurde fortgeschwemmt, die
Bank darüber
259 blieb stehen und bildet jetzt den Bogen‘ der Brücke. Diese liegt 20 Meter über dem Wasserspiegel. Ihre Länge beträgt 40, ihre Breite 30 Meter. Interessanter noch sind die dicht bei der Brücke entspringenden 33° heissen Quellen. Ihnen verdanken die „Bäder des Inca“ ihre Entstehung. Ein stattliches Gebäude ist vor kurzem an Stelle des elenden, alten Bade-Etablissements getreten. Die Quellen sind Kalksäuerlinge und entleeren sich in.von ihnen selbst gebildete Sinterbecken, die früher den Besuchern des Bades als Badewannen dienten. Ob jetzt noch? Kaum! Oberhalb und unter-halb der Brücke haben die Quellen von Eisenocker gefärbte, meter-hohe und kaskadenförmige Ablagerungen und prächtige Stalaktiten gebildet, so dass sie von ferne einer Märchengrotte ähnlich sehen.Ihr Anblick erinnerte mich lebhaft an die Terrassen im Yellowstonepark.
Damit sind aber die Sehenswürdigkeiten der Talfahrt keineswegs erschöpft. Zunächst kommt man an der merkwürdigen Felsenkette der „Büsser“, los Penitentes, vorbei, etwas später freut sich das Auge an den farbenprächtigen, nackten Schutthalden „Paramillo de las Vacas“, dann ändert die Szene. Die starre, trockene Bergeswüste wird durch die trüben, wilden Wasser des breiten Mendoza-Flusses abgelöst. In Cacheuta (1245 m), wo infolge von Thermal- und Schwefelquellen sich ein Bade-Etablissement eröffnet hat, erblickten unsere „wüstengewohnten“ Augen erstaunt eine Menge eleganter Herren und Damen auf der Station.
Hinter Cacheuta begann es dunkel zu werden und tiefe Nacht lag über Mendoza, als wir dort ankamen. „Das war eine selten schöne Reise,“ meinte der Führer, „394 Kilometer auf solchen Berges-höhen fahren, ohne ein Wölklein am Himmel zu sehen, das nenne ich Glück haben.“
Wagenfahrt über die Cumbre.
Palermo-Park in Buenos-Aires.
Buenos-Aires.
Der 12. April 1905 brach für mich in dem Schlafwagen zwischen Mendoza und Buenos-Aires an. Die elegante, nur auf zwei Personen berechnete Abteilung hatte ich für mich allein inne. Ich musste mich nicht, wie in den mit Unrecht so hochgepriesenen, nordamericanischen „sleepers“, durch einen engen Pass zwischen einer Menge Schläfer durchwinden, um mit zwanzig anderen Damen das einzige Wasch-kämmerlein zu belagern.
O nein, hier konnte ich mich, ohne zu warten, in meiner Ab-teilung waschen, konnte mir den Morgenkaffee bringen lassen und die müden Glieder ungestört den ganzen Tag ausstrecken, Auch nach-dem ich das Bett hatte wegnehmen lassen, blieb ich bis zu der An-kunft in Buenos-Aires alleinige Herrscherin meines fahrenden Reiches,
Ach, das war schön nach der mühsamen Cordillerenreise und der noch mühsameren Segelschiffahrt von Robinsons Eiland! Träge blinzelte ich hinaus eine unendliche Ebene dehnte sich vor mir.„Langweilig, uninteressant“, murmelte ich und schlief wieder ein.Innerlich fühlte ich mich ganz glücklich, einmal der moralischen Pflicht enthoben zu sein, nach Sehenswürdigkeiten auszuspähen.
Einige Stunden später derselbe Anblick! Eine schwüle, bleierne Hitze zitterte förmlich über dem unabsehbaren Flachlande. Die Ernte
Aus Central- und Südamerica.war vorbei, kein wogendes Ährenfeld, keine zartgrünen Wiesen, nur Stoppeln, abgeerntete Maisfelder und braunes, frischgepflügtes Erd-reich! Hie und da eine Ansiedelung, ein grösserer Ort, wo unser Schnellzug einige Minuten verweilte, weidende Pferde und Kühe, das war Alles!
Wie unmalerisch ist dieses Land! Ich dachte nicht an die Mil-lionen, die gerade diese einförmigen Flächen Argentinien einbringen,ja, undankbar wie der Mensch ist, hatte ich in diesem Augenblick die wunderbare Eisenbahnfahrt auf argentinischem Gebiet zwischen Las Cuevas und Mendoza vergessen.
Leicht und schnell gleitet der Zug dahin. Mit Ausnahme einer einzigen Kurve durchrennt er seinen 1039 Kilometer langen Lauf in geradester Linie. Ohne irgend welches Schaukeln zu empfinden,kann man sich in dem eleganten „dining car“ einem sehr guten Essen widmen.
Um 7 Uhr abends stieg ich auf der Vorstadt-Station Palermo aus. Liebe Landsleute empfingen mich dort und brachten die müde Reisende nach Belgrano in ihr reizendes Künstlerheim.
Den folgenden Morgen fuhren wir zur Stadt. Eine volle Stunde braucht der schnell dahin rasende Tram bis zur Maipü, einer der Verkehrsadern der Millionenstadt Buenos-Aires. Ich wusste nicht, was mehr anstaunen, den enormen Flächenraum er beträgt .186 Quadrat-Kilometer den die Hauptstadt einnimmt, oder die schönen Villen mit ihren südlichen Gärten, die schmucken, öffentlichen und Privat-gebäude, oder gar die Eleganz der Menschen und Geschäftsauslagen.
Verschiedene Linien und Wege führen von Belgrano aus zur Stadt, und die Fahrten in dem luftigen, grossfenstrigen, elektrischen Tram boten mir täglich neues Vergnügen. Sicher geborgen überschaut man das rege Treiben auf der menschenangefüllten Strasse und lässt ungefährdet elegante Equipagen und feine zweispännige Droschken vorbei jagen. Dass die Pferde meist kräftig und gut genährt sind,berührte mich höchst angenehm nach der Reise durch Südamerica,wo die Tierquälerei leider blüht. Gerade Chile, das sich seiner hohen Zivilisation wohlgefällig rühmt, dessen Militär auf wahrhaft preussischer Stufe steht, sorgt nicht im geringsten für seine Tiere. Die Chilenen rühmen zwar alle die Leistungsfähigkeit, den guten Charakter ihrer Pferde, aber sie werden ihnen nie das nötige Futter geben, und da-bei ihre Kräfte aufs unbarmherzigste, brutalste ausnutzen.
Zwei Dinge fielen mir übrigens an jenem ersten Tag in Buenos-Aires als zu der Grosstadt
in Widerspruch stehend auf: Das Treiben
263 einzelner Kühe durch die Strassen der äusseren Quartiere, denen ein müdes Kälbchen mit unbarmherzig zugebundenem Maul auf dem Fusse folgt. Jeweilen steht seine Mutter vor dem einen oder anderen Kundenhause still und muss sich geduldig immer wieder anmelken lassen, während das arme Neugeborene sich früh in der Entsagung zu üben hat. In Rio de Janeiro, einer Stadt, auf deren Kultur jeder Portefio (so nennen sich die Bewohner von Buenos-Aires) stolz herabblickt, ist dies als Tierquälerei vollständig verboten worden:
Das zweite ist harmloser, origineller Natur. Was klingt da so barbarisch, lustig, so ländlich, vorweltlich, jeden Strassenlärm über-täubend? Wie weiland sein europäischer Kollege der „Schwager“,bläst hier der Pferdetram-Postillon ein lustiges Lied, wenn er seine Fahrt beginnt. Bei uns in Europa gehören Postillon, Posthorn und Postwagen demnächst in das Reich der Fabel. Eine kurze Weile noch und die muntere Weise des Pferdetramlenkers in Buenos-Aires wird auch dem automatischen Horn des elektrischen Tram weichen müssen. Jedes Jahr entstehen neue elektrische Linien, man zählte 1905 schon zehn Tramwaygesellschaften mit elektrischem Betrieb,
In der Altstadt sind die Strassen eng, allzu eng für den grossen Verkehr. Ein altes, spanisches Gesetz gestattete nur 13,76 Meter breite Strassen. Wie in Nordamerica sind sie schachbrettartig ange-legt, und die Nummerierung der Strassen und Häuser ist äusserst praktisch und erleichtert die Orientierung ungemein.
Ist Alt-Buenos-Aires etwas eng geraten, so breitet sich Neu-Buenos-Aires umso stattlicher aus, und die modernen Strassen und Quartiere können sich mit den schönsten europäischen Grosstädten.messen. Der New-Yorker Fifth Avenue entsprechen die Avenida de Alvear und Boulevard de Callao. In der Callaostrasse kostet der Quadratmeter zirka 550 Francs. Die sehr lange, breite Avenida de Mayo gehört zum Geschäftsviertel.
Der grösste Platz der Stadt ist wohl die Plaza 25 de Mayo (Tag der Befreiung von dem spanischen Joch 1810). Was alles darauf und daran steht, weiss ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur der hier zusammenkommenden, vielen Tramwagen, der etwas staubigen,im Freien wachsenden Palmen; einer hohen, entweder General San Martin oder Belgrano darstellenden Reiterstatue. An der Ostseite steht ein Regierungsgebäude, die „Casa rosada“, das rosa Haus.Es hat 120 Meter in Front und eine Tiefe von 60 Meter, Ausser seiner Farbe zeichnet es sich noch durch etwas unruhigen, uneinheit-lichen Stil aus. Getrennt durch den mächtigen Platz harrt gegenüber
Aus Central- und Südamerica.das Cabildo, das mächtigste und schönste Parlamentshaus Süd-americas, seiner Vollendung. Die Summen, die der Bau schon ver-schlungen und noch verschlingen wird, kann ich nicht nennen, sie grenzen ans Fabelhafte.
Auch die auf demselben Platze stehende Kathedrale ist ein mächtiges Gebäude, das 9000 Menschen fassen soll. Im Stile eines griechischen Tempels erbaut, zeigt ihre Front zwölf korintische Säulen und eine Reliefgruppe: Die Begegnung Josefs und Jakobs.
Buenos-Aires besitzt eine Anzahl herrlicher, öffentlicher Gärten,Wohl der schönste ist der Palermo-Park. Er umfasst eine Fläche von ungefähr 300 Hektaren und war wenigstens ein Teil davon ursprünglich eine Estancia des argentinischen Diktator Rosas, dessen bescheidenes Landhaus noch im Parke steht. Für mich war es noch von speziellem Interesse, zu hören, dass ein Berner, Herr Methfessel,den Grundplan zum Palermo-Park entworfen hat. Breite Strassen,Reit-, Fahr- und Fusswege 'durchkreuzen den Park nach allen Rich-tungen, Palmenalleen wechseln mit langen Doppelreihen von Platanen und Kasuarinen ab, einem mir bis dahin fremden Baume, dessen blatt-lose Zweige lange, im Winde sich wiegende Nadelbündel tragen.Während ein Teil des Parkes herrliche Blumenbeete, Baumgruppen und besonders schöne Phönixpalmen und einige künstliche Seen auf-weist, hat man auf der andern Seite Mutter Natur schalten und walten lassen. Für mich ist diese die reizvollste, denn am besten wandelt es sich doch immer in solch einer Waldwildnis.
Interessant auch ist der Blick auf den, ungeachtet seines schönen Namens, keineswegs silbernen Plata-Strom. Seine Länge beträgt 3700 Kilometer, seine Breite bei dem Eintritt ins Meer 80 Kilometer,sein mächtiges Stromgebiet umfasst 370,000 Quadratkilometer. Trübe,fast verdriesslich, wälzt er seine braunen Fluten dahin. Riesige Trauerweiden, so schön, wie ich sie bisher nur in Chile gesehen,wachsen hier im Park, längs des Flusses.
Auf der anderen Seite des Palermo-Parkes liegt der zoologische Garten, Ich habe manchen
grösseren, reichhaltigeren, aber keinen schöneren gesehen. Nirgends besitzen die armen,
ihrer Heimat und besonders ihrer Freiheit beraubten Tiere weiteren Spielraum,
zweck-mässigere Wohnungen. Den mächtigen Kondoren der Cordilleren gestattet eine
Riesendrahtglocke einen hohen Flug. Gleich dem Eifel-turm überragt sie die ganze Umgebung.
Die herrlichen Löwen und Tiger können ihre starken Glieder frei ausdehnen und die warmen
Sonnenstrahlen auf ihrem glänzenden Felle spielen lassen. Sie sind
Der Garten dehnt sich ungefähr 2430 Hektaren aus, und der lieben Jugend fehlt es nicht an Fahr- und Reitgelegenheit. Ponys,Ponytram und Strausse stehen bereit. Ein schneeweisses, prächtig gezäumtes und gesatteltes Lama wartete mit hocherhobenem Kopfe auf einen Reiter, Ich habe niemals einen so hochmütigen, verächtlichen Zug auf einem Tiergesicht bemerkt. Bewirkte dies der schöne, rote Sattel? Ich glaube nein, es war mehr Lebensüberdruss, Eckel vor der schalen Welt! Armes, aus deinen heimatlichen Bergen ver-banntes Tier! Gerne hättest du diese purpurne Pracht und das Wohlleben der Gefangenschaft hingegeben, um einmal noch Höhen-luft zu atmen, einmal noch in langem Zuge über die öden Berge Hoch-Perus zu setzen!
In seiner Art ebenso vorzüglich ist der botanische Garten, von dem ein guter Teil der 60 Hektaren der mannigfachen Flora Argen-tiniens eingeräumt ist.
Ich will hier eines besonders schönen, einheimischen Baumes Erwähnung tun, des Ombu (Phytolacca diceca). Gleich dem indischen Ficus wachsen seine gewaltigen Wurzeln zum Teil oberhalb des Erdbodens. Seine Blüten bilden -feine, weisse Dolden, aus denen in Zapfen wachsende, grüne Früchte entstehen. Schönheit; Schatten und schnelles Wachstum machen den Ombü zu einem beliebten Zierbaum.Sein Holz dagegen ist schwammig und unbrauchbar. Ein heftiger Wind-stoss, ein schwacher Sturm, und widerstandslos fällt der gewaltige Riese. Ich erinnere mich des langen Aufenthaltes, den mir einst solch eine gestürzte Grösse auf einer Tramfahrt verursachte. Meine Gast-geberin, Frau v. St., zeigte mir im Garten eine Pflanzung des in Südamerica sehr beliebten und viel getrunkenen Paraquaytee, der ınter dem Namen Mate-Tee übrigens auch in Europa seinen Einzug gehalten hat. Die erste Bekanntschaft mit ihm machte ich auf Juan Fernandez, wo er „muy rico“, das heisst besonders stark und süss,für mich gebraut wurde. Kraut und Zucker bildeten einen dicken,unbeschreiblich heissen Brei. den ich etwas mühsam hinunterschluckte.
Aus Central- und Südamerica.
Die grossen Entfernungen, die kurze Zeit meines Aufenthaltes haben mir einen zweiten Besuch in diesen drei schönen Gärten leider nicht erlaubt. Buenos-Aires gilt zwar für eine an Sehenswürdigkeiten arme Stadt und doch, wie viel Interessantes ist mir, dank meiner freundlichen Gastgeber und anderer Glieder der Schweizerkolonie,gezeigt worden. .
Mit einem der Gründer besichtigte ich die deutsche Schule in Calle Cangallo. Im Jahr 1898 als Privatschule gegründet, wird sie jetzt schon von nahezu 400 Kindern besucht. Der Unterricht zieht sich durch 8 Schuljahre hin. In den drei untersten Klassen werden Knaben und Mädchen gemeinschaftlich unterrichtet. Man rechnet bis 30 Kinder auf eine Klasse. Schulgeld bezahlen die Kleinen sechs,die Grossen fünfzehn Pesos monatlich. Die Lehrer erhalten einen Monatsgehalt von 200250 Pesos, die Lehrerinnen etwas weniger.Ausser der deutschen Sprache wird Spanisch, Französisch, Englisch gelehrt.
Das wäre in trockenen Worten die Beschreibung der deutschen Schule in Buenos-Aires, wie sie ungefähr auf dem Prospekte steht.In Wirklichkeit sind ihre nicht allzuweiten Räume mit frisch pul-sierendem Leben angefüllt, ja überfüllt. Gross und weit nur sind die Spielplätze. Ich wanderte von Klasse zu Klasse, hörte da und dort etwas zu, schnappte ein paar Brocken Schulweisheit auf, und freute mich an den nett gekleideten, strammen, gesunden Schulkindern.Kaum eines trägt eine Brille. Bei diesen, meist von Germanen abstam-menden Kindern, scheint sich das speziell germanische Übel der schwachen, kurzsichtigen Augen in dem Adoptiv-Vaterland zu ver-lieren. Der Unterricht dauert fünf Stunden täglich, mit einer je-weiligen Pause von zehn Minuten.
Ein schönes, naturhistorisch etnographisches Museum muss man nicht in Buenos Aires, wohl aber in dem etwa 35 Kilometer süd-östlich gelegenen La Plata suchen.
Im Jahr 1882 erst gegründet, ist La Plata, wie manche ameri-canische Stadt, gleich einem Pilz aufgeschossen. Aussergewöhnlich nur war der dabei waltende, verschwenderische Luxus des Raumes.Jedes öffentliche Gebäude "nimmt eine ganze Quadra, d. h. etwa 100 Meter ein. Die auch hier in Schachbrettstil angelegten Strassen sind so breit, dass neben den, die beiden Trottoirs einrahmenden Baumalleen, eine dritte noch die Fahrstrasse in zwei breite Teile trennt.
La Plata gilt für eine langweilige, tote Stadt. Ich kann darüber nicht urteilen. Ich
liess sie links liegen, um die fünf Stunden meines
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Aufenthaltes ganz dem Museum zu widmen. Ein Mustermuseum nach innen und aussen! Die ehemalige Estancia, in der es liegt, ist in einen Park verwandelt worden und davon nur ein Eichenhain stehen ge-ölieben, eine Seltenheit in Argentinien. Eine lange, prachtvolle Euka-lyptenallee führt zu dem Museum. Die Sonne liess die rötlichen Stämme noch schöner, feuriger als sonst aufleuchten und die feinen, reizenden Eucalyptus-Blüten hauchten ein starkes Aroma aus. Im Museum fragte ich nach Dr. Roth. Ich hatte ein Empfehlungsschreiben an ihn, da er mein Landsmann ist. „Dr. Roth reist in einer Stunde ab“. Schäde!Ich hätte so gerne den Mann kennen gelernt, der als Sattler nach Argentinien gekommen, und nun als Paläozoologe sich einen grossen Namen gemacht, und den wohlverdienten Doktortitel erlangt hatte.(ch wollte nicht stören und durchwanderte die weiten Räume des oberen Stockes: Da ist eine besonders schöne Sammlung perua-nischer Gefässe aus der Incazeit, da sind bolivianische Federgewänder,merkwürdige Holzschnitzereien aus dem 18. Jahrhundert von Para-guay; ferner eine unheimliche Gesellschaft von Gerippen, darunter dasjenige „del Jorobado“ des grössten Diebes in Argentinien, die erste in das Land gekommene Lokomotive aus dem Jahre 1857, und eine schöne Sammlung argentinischer Vögel, wo ich endlich Gelegen-heit fand, mich etwas zu belehren. Das Wichtigste aber, die vor-weltlichen Tiere, wurden hinter Schloss und Riegel verwahrt.„Wenn der Direktor nicht da ist, so wenden Sie sich an seine Frau und Töchter, sie kennen das Museum vortrefflich“, hatten mir die Freunde in Buenos-Aires geraten. Zum zweitenmal wanderte ich durch die Eukalyptenallee dem Roth’schen Hause zu. Die Vorberei-tungen zu einer wissenschaftlichen Reise in unwirtliche Gegenden,wobei Zelte, Küche, Vorräte mitgenommen werden müssen, waren eben vollendet, ein Teil der Sachen lag noch da. Nachmittags sollten zwei Töchter in die Ferien geschickt werden, also fehlte es der Haus-frau nicht an Arbeit. Nichtsdestoweniger wurde der gewiss in diesem Augenblick unbequeme Gast aufs freundlichste aufgenommen, und dem Nachzügler in aller Eile ein Frühstück bereitet. Dann begleitete mich die eine Tochter, ein allerliebstes Bräutchen, in das Museum,Wie gut wusste sie Bescheid unter den wunderbaren, fossilen Un-geheuern. Da stand ein elephantenähnliches Tier, das Mastodon, mit grossen Zähnen, auf denen höckrige Auswüchse sassen, ferner das in Pergamino gefundene Megatherium americanum mit kleinem Kopf und riesigen, mit Sichelkrallen bewaffneten Füssen und dickem Schwanz,Das Merkwürdigste aber waren die verschiedenen Glyptodone, riesige,
Aus Central- und Südamerica.fossile Panzertiere, Vorfahren vielleicht des jetzigen Gürteltieres. Auch sie besassen einen dicken Schwanz und kurze Beine mit scharfen Krallen und einen runden, abgestutzten Kopf. Ihre Grösse war un-gefähr diejenige eines Tapir. Über ihrem Leibe wölbte sich ein hoher,aus sechseckigen Knochenstückchen zusammengesetzter Deckel, so gross und fest, dass die vorweltlichen Menschen unter diesen Deckeln Schutz gegen die Unbill der Witterung finden konnten. Die Reste dieser merkwürdigen Tiere es waren einige ganze Skelette aus-gestellt finden sich in der Pampa und müssen sorgfältig zusammen-gesucht und -gefügt werden. Ich sah in einem Nebensaal solch einen Panzer in Arbeit. Direktor Roth klassifiziert diese Panzertiere in:Doedicurus clavicaudatus und Glyptodon clavipes.
Als ich aus dem Museum kam, wurde mir ein guter Stärkungstee gebraut. Dann begleitete mich Frau Roth auf den Bahnhof und eine sympathische Bekanntschaft nahm wiederum ein allzuschnelles Ende.
Buenos-Aires erfreut sich durchaus keiner schönen Lage, das müssen selbst die feurigsten Portefios zugestehen, aber nordöstlich von der Stadt gibt es einige sehr malerische Punkte. Das Terrain ist dort ziemlich hügelig und der Ausblick auf den breiten La Plata sehr eigenartig. Eine Bootfahrt sollte mich mit Tigre bekannt machen.Auch dieser Ausflug wurde mir durch freundliche Landsleute zu teil.Frau Dr. G. und ihr Bruder, Herr B., Mitglied des Ruderklubs Teu-tonia, hatten mich eingeladen. Es war ein Festtag, und wir hegten die Absicht, von früh bis spät auf dem Wasser zu verweilen. Aber Jupiter Pluvius hatte es anders bestimmt. Er machte sein grämlichstes Gesicht zu dem schönen Plan. Gegen Mittag erst besann er sich zum Glück eines bessern, und um 1 Uhr sassen wir in der Eisen-bahn nach Tigre.
Zunächst fuhren wir mit einem Boot über den Lujan-Fluss nach dem Klubhause „Teutonia“.
Buenos-Aires besitzt drei Ruderklubs,einen argentinischen, einen englischen und einen
deutschen. Bei schönem Wetter hätten wir hier eine Menge Menschen getroffen, so aber
steuerten nur einige junge Engländer ihrem Klubhause zu.Während Herr B. sich in sein
weisses Rudergewand kleidete, sahen wir uns in der „Teutonia“ um. Das schmucke Gebäude
enthält ein Ankleidezimmer für Herren und Damen, einen Leseraum und einen Damensalon. In
einem grossen Schuppen lagen eine gute Anzahl schöner Boote. Von der grossen Schaluppe bis
zum schmalen, ein-plätzigen Grönländer waren alle Grössen vertreten. Auf Schienen wurde
unser Auserwähltes ins Wasser gezogen.
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Das Wetter hatte sich aufgehellt, leicht und rasch flog unser bequemes Boot über das Wasser. Was für ein winzig Ding schien es in dem breiten Fluss! Ich freute mich der schön bewachsenen Ufer, der schmucken Villen! Später erregten die eigentümlichen Inseln mein Interesse, Jede Insel ist durch einen schmalen Kanal von ihrer Nachbarin getrennt, jede besitzt ihren oft malerischen, eigenen Lan-dungsplatz und ihren Obstgarten. Auch schwimmende Inseln, soge-nannte „camalotes“, kreuzten in Menge unsere Bahn. Aus Tang und Wasserpflanzen gebildet, sind sie oft so dicht und fest, dass grössere Tiere sich darauf treiben lassen. Hie und da bückte ich mich nach einer Blume es waren dieselben hell-lila Dolden, wie in Java oder nach einer schönen, eigentümlich geformten Blattpflanze. Freilich,einmal ihrem feuchten Element entrissen, war ihre Schönheit dahin und traurig liessen sie -die Köpfe - hängen. ;
Endlich bogen wir in einen kleinen Nebenfluss, den Caraguata,ein. Dort wurde es noch romantischer, interessanter, dort hat man die Ufer zu beiden Seiten in greifbarer Nähe. Über dem Schilfe und den gelben Seelilien neigten sich Rosen, leuchteten gelbe Quitten und dem Winter entgegenreifende, erdbraune Mispeln. Die Häuschen der Inselbewohner stehen oft unmittelbar‘ am Ufer, und neugierig guckten die Kinder unser Boot an, heute das einzige. Ein einsam Leben mag es hier draussen sein, aber doch nicht so weltfremd,wie auf jener fernen Insel im Stillen Ocean, die ich soeben ver-lassen! Hier gibt es hie und da eine Inselschule, eine Kirche. An einer Stelle bildet das Flüsschen eine weite Ausbuchtung; eine ganze,kleine Kolonie hat sich da angesiedelt. Leider war es zum Photo-graphieren zu spät.
Wir fuhren noch etwas weiter bis zu der Insel eines Deutsch-Schweizers. Dort stiegen wir aus. Frau Dr. G. machte ihre Obst-bestellung. Die Inseln versorgen die Hauptstadt mit Obst, und da für gute Ware hier zu Lande ein hoher Preis bezahlt wird, ist solch ein Inselgarten ein einträglicher Besitz. Leider hatten die gewaltigen Regengüsse des letzten Gewitters die Erde in einen Brei verwandelt.So konnten wir die schön gehaltene, übrigens zumeist abgeerntete Pflanzung nur aus der Ferne bewundern. Hie und da nur leuchtete noch ein verspäteter Apfel, eine saftige Birne aus dem Grün. Als „Muster“ erhielten wir zahlreiche Äpfel mit auf den Weg. Auch ge-mostet wird auf der Insel, und eine behäbige „damajuana“ wurde als stille Passagierin in das Boot gehoben. So viel ich weiss, kennt die deutsche Sprache den Ausdruck „damajuana“ nicht, die fran-
Aus Central- und Südamerica.zösische dagegen nennt eine dickbäuchige, strohumflochtene Flasche „une. dame Jeanne“.
Als wir aus dem Nebenflüsschen in den Lujan einbogen, dämmerte es schon. Wir hatten auf den Mond gerechnet, aber nur hie und da brach er auf Augenblicke zwischen den dunkeln Wolken hervor.Schwarz lag die breite Wasserstrasse vor uns, und so still! Nur der Schlag unserer Ruder, der leise Anprall der Wellen an das Boot!Wir hielten uns etwas näher an das rechte Ufer. Gespensterhaft ragte hohes Buschwerk empor, in den Zweigen flüsterte es geheimnisvoll.Hie und da lag ein angebundener Kahn auf unserem Wege, zuweilen glitt eine Camalote gespenstig an uns vorbei, sonst nichts! Wir waren allein, wohl die letzten auf dem Flusse.
Ich schloss die Augen und liess mich auf der leicht schwankenden Fläche dahintreiben. Es war, als hätte ich alle Schmerzen und Trübsale des irdischen Lebens hinter mir gelassen und schwämme einem seligen Jenseits zu, wohin kein Laut der unruhigen, lärmenden Welt mir zu folgen vermochte.
Ein kurzer Traum! Von allen Seiten auftauchende Lichter, das dumpfe Brausen von Menschenstimmen und Wagengerassel, kündeten die Nähe der Grosstadt und das Ende unseres unvergesslich schönen Ausfluges an.
Nach zehntägigem, genussreichem Aufenthalt in Buenos-Aires wurde es mir schwer, das behagliche, harmonische Heim meiner lieben Landsleute zu .verlassen.. Doch mein Reiseprogramm sagte vorwärts, und die Herren A. vom „Argentinischen Wochen- und Tageblatt“ hatten mir sehr zugeredet, nicht nur Buenos-Aires, son-dern auch etwas von der Provinz zu sehen und mir gar ein Frei-billet nach Cördoba und eine Menge Empfehlungen an Landsleute verschafft! So hiess es abermals, den Wanderstab ergreifen.
Rs
Im Herzen Argentiniens.Also hinaus ins Unbekannte! Die wenigsten Menschen werden den unerschöpflichen Zauber, den diese Worte in sich schliessen,verstehen. Sich dem Zufall preisgeben, einen dunkeln Wald durchirren,ohne zu wissen, wo man sich befindet, noch wo man hinkommen wird, bildete sonderbarerweise ein Ideal meiner kindlichen Wünsche.Frei sein, ganz frei in der schönen Gotteswelt. In solchen Augen-blicken schwingt sich die Seele auf, strebt zu der Sonne empor und wiegt sich auf den weichen Wogen des friedlichen Ozeans der Träume. Nicht für lange! Die Freiheit ist ja stets nur eine scheinbare. Da kommen die Bande und Bändchen und halten die leichtbeschwingte Seele in dem schwerfälligen Körper fest. Diesmal hiessen diese Bande: Müdig-keit, Reiseüberdruss, wer weiss, vielleicht auch etwas Heimweh.
Ein gewaltiges Gewitter hatte der glühenden Hitze der letzten Tage ein jähes Ende bereitet, und der Karfreitag war gerade so trübe und kalt wie in unseren Zonen angebrochen. Fröstelnd lehnte ich mich in meine Wagenecke und ungeachtet des bequemen Schlafwagens fror mich auf dieser Fahrt nach Cördoba gehörig. Diesmal teilte ich mein Schlaf-Coupe mit einer hocheleganten, juwelenbeladenen Dame.Das hinderte sie jedoch nicht, mit urwüchsigster Grobheit und ‚einem unerhörten Redeschwall den armen Schaffner anzufahren, als er uns gegen 10 Uhr wir lagen beide schon längst zu Bett nach unseren Fahrkarten fragte. „Was, mitten in der Nacht wagen Sie es, Damen aus ihrem Schlafe zu schrecken, Sie Barbar!“ Ich lachte in meine Kissen hinein. Sachte schob der Gescholtene die Türe zu und ward nicht mehr gesehen. U
Gegen 11 Uhr vormittags gelangte ich nach Cördoba, der geistigen Metropole Argentiniens. Die Stadt besitzt eine Universität und ein 30 Meter über der Stadt gelegenes Observatorium. Sein Erbauer und erster Direktor war von 187085 der berühmte Bostoner Astronom
Aus Central- und Südamerica.
Gould. Auf der Universität wird namentlich Medizin gelehrt, doch macht ‚sie die Ausübung des ärztlichen Berufes den europäischen Medizinern keineswegs leicht. Die Gilde der einheimischen Heilkünstler wünscht sich die leidende Menschheit Argentiniens zur ausschliess-lichen Beute. Ein fremder Arzt, auch wenn er in seinem Lande pa-tentiert worden ist, muss ärger als das Liebespaar in Mozarts „Zauber-flöte“ durch das Wasser und Feuer endloser Examina laufen.
In Cördoba fuhr ich sofort zu meinem bernischen Landsmann,Herrn Juan K. Der Vielbeschäftigte, von allen Seiten in Anspruch Genommene hat mich aufs freundlichste empfangen, ebenso Seine deutsche Frau und seine zahlreichen Töchter. Ein Zimmer wurde sofort für mich bereit gemacht, und nachdem ich mich an Speise und Trank reichlich erlabt, durchwanderte ich die ziemlich stillen Strassen Cördobas. Ich bekam kaum den Eindruck einer Stadt von 60,000 Einwohnern.
Mein erstes Ziel war die schöne, alte Kathedrale, ein durch und durch spanischer Bau mit prächtigem Gitterwerk. Von allen Seiten knatterten Böllerschüsse und dröhnten Kanonen. Richtig, es war ja Ostersamstag und in Südamerica wird kein Kirchenfest ohne Schüsse und Illumination gefeiert. Aus der Kathedrale strömte das Volk in Menge. Die eleganten Damen musterten spöttisch überlegen die etwas schäbige Reisende mit dem fussfreien Rock. Hierzulande scheint diese praktische Mode noch gar keine Anhängerinnen gefunden zu haben, und doch, wie hätte ich mich mit langer Schleppe durch den Schmutz Mexicos und Perus gewunden?
Cördoba liegt 430 Meter hoch. Trübe, grau und kalt war das Wetter, griesgrämig, nordisch blickte der Himmel, mürrisch pfiff der Wind. Wie sollte es morgen mit der Fahrt ins Gebirge werden?
Frisch gewagt ist halb gewonnen! Der Ostermorgen dämmerte mit April-Sonnenschein und
-Regenschauer, immerhin besser, als ich erwartet, Herr K. fuhr mit mir nach der 30 Meter
höher gelegenen Station Alto Cördoba. Die 78 Kilometer nach La Falda werden von der
Central Argentino-Bahn befahren. Auch hier in das Gebirge geht ein Restaurationswagen mit,
und man kann sich kalte und warme Getränke in seine Abteilung bringen lassen. Die Fahrt
wir steigen bis zu einer Höhe von 936 Meter ist wunderhübsch. Sie führt grösstenteils dem
rechten Ufer des Rio Primero entlang. Es gibt hier auch einen Rio Segundo, Tercero,
Quarto, Quinto. Ich staunte und lachte über diese Numerierung in Ermangelung von
Eigennamen. In Buenos-Aires muss jeder General, jeder berühmte oder unberühmte
273 Staatsmann bei Plätzen oder Strassen Gevatter stehen. Taucht aber ein neuer Stern am militärischen oder politischen Himmel auf, so verschwinden flugs ‚die alten Namen. Platz und Strassen werden umgetauft, und eine heillose Verwirrung zwischen älteren und neuesten Benennungen pflegt zu entstehen. Fiele denn da kein abgetragener Name für die armen, numerierten Flüsse ab?
Der Rio Primero also windet und dreht sich aufs anmutigste,bald ruhig dahinfliessend, bald übermütig in kühnen Sprüngen über grosse Steine dahinstürzend. Herrliche Weiden neigen sich über die klare Flut und stille Buchten laden zum Bade ein. Allmählich er-heben sich zur Rechten bald grüne, bald kahle Berge, beide gleich nutzbringend, die einen durch ihre Weiden, die anderen durch die kostbaren Erze und Marmorarten, die sie in ihrem Schosse bergen.
Aber auch der Fluss muss den Menschen dienstbar sein. Bei La Galera hat ihn die Industrie in zwei mächtige Röhren gezwungen,bei einer zweiten Fabrik etwas höher oben verbreitert er sich zu einem ordentlichen See und feiert schliesslich seinen Triumph in San Roque, dem gewaltigsten Stauwerke der Neuen Welt. Übertroffen an Grösse soll es nur durch das neue englische, auf der Insel Phile in Ägypten, werden. Hinter den gewaltigen Mauern, über die das Wasser brausend hinabstürzt, liegt ein stiller See. Unzählige Flüss-chen und Bäche laufen von den umliegenden Bergen hier zusammen,vergrössern noch die aufgestauten Wassermassen und helfen mit an dem nützlichen Werke, weit und breit die fernsten Estancias und die grosse Stadt Cördoba mit Wasser zu versorgen.
Endlich war die Sonne siegreich durch die Wolken gedrungen,die Berge spiegelten sich in dem dunkeln See, der mich in seiner stillen Unbewohntheit an den schönen Hakone-See in Japan erinnert.Kein Schiff, kein Kahn, hie und da nur ein paar muntere Enten,einige grosse, dahinschwebende Möven! Eines nur störte: eine riesige Hotelreklame. Bei uns in der Schweiz sucht man in neuester Zeit eifrig diesem Unfug zu steuern. Ein Produkt des dollarnachjagenden Nordamerica hat sich die böse Einrichtung über den ganzen Erdball verbreitet und manchen schönen, idyllischen Ort um die Stimmung gebracht. Möge man die Häuser der Städte, Tramwagen und ‚Wart-säle meinetwegen mit Reklamen verzieren, aber weg damit in der schönen Natur! .
Ein grosser Ort ist Santa Maria, ebenso Cosquin mit vielen,hübschen Landsitzen. Von Schwindsüchtigen wird dieser Ort viel besucht.
Aus Central- und Südamerica.
Höher, immer höher windet sich die Bahn, bis ich endlich nach La Falda, dem Ziel meiner Fahrt, gelange. Herr K. hat mich tele-graphisch angemeldet, ein Vierspänner wartet an der Station und bringt mich in schnellem Trabe noch etwas höher hinauf nach „Eden“,einem vor neun Jahren erbauten, grossen Hotel. „Eden“, ein Sstatt-liches, von zwei Türmen flankiertes, lang hingestrecktes Gebäude,das 150 Zimmer enthält, liegt 1000 Meter über dem Meeresspiegel in schönster, gesundester Bergeinsamkeit. Den Namen „Sanatorium“verdient es vollauf. Mitten in einem Gebiet von 1000 Hektaren er-baut, ist keine lärmende Fabriknachbarschaft, keine Schenke, keine Epidemie zu befürchten. Reines Bergwasser wird in besonderen Röhren „Eden“ zugeführt, während durch andere Röhren dem Enten-teich, Hühnerhof, Schweinestall u. s. w. das erforderliche Wasser in Hülle und Fülle zufliesst. Um bei der Landwirtschaft des Sanatoriums zu bleiben, will ich erwähnen, dass 10 Kühe die Milch für die Gäste liefern, 65 Pferde zum Reiten und Fahren zur Verfügung stehen und 60 Schweine, 100 Puten, 500 Hühner, . Enten und «Gänse zur Ernährung der Kurgäste gehalten werden.
La Falda gehört einer Aktiengesellschaft. Eine deutsche Dame ist von ihr zur Verwalterin eingesetzt. Sie hat sich nicht nur um den Betrieb des Hotels, sondern auch um die ganze Ökonomie zu kümmern,und muss daher sehr oft hoch zu Ross ihr weites Gebiet beauf-sichtigen und umreiten. &
„Keine Schwindsüchtigen finden hier Aufnahme“, steht auf dem Prospekt der Falda zu lesen. Ich habe diesen Satz noch auf anderen Prospekten südamericanischer Kurorte gefunden. Mit zäher, fast bru-taler Beharrlichkeit berufen. sich die untuberkulösen Gäste auf diese Versprechung. Neulich kam ein junger Mensch nach La Falda. Sein Aussehen brachte einen anderen Gast auf die Vermutung, einen Schwindsuchtskandidaten in ihm zu argwöhnen. Er besprach sich mit .der übrigen Kurgesellschaft und sofort wurde die Verwalterin von allen Seiten bestürmt: „Schicken Sie ihn sofort weg, oder wir gehen Alle!“ Sie schrieb dem Arzt des jungen Mannes nach Cordoba,und erst auf dessen ausdrückliche Erklärung, von Schwindsucht sei in diesem Falle keine Rede, beruhigten sich die Gemüter. .
Das Sanatorium besteht aus Parterre und erstem Stock. Um alle Zimmer laufen breite
Balkone, so dass die schönen Sefioras und Sefioritas, im allgemeinen keine Bewegungs- und
Sportschwärmerinnen,im süssen Nichtstun die reine Bergluft auf bequemem Liegestuhl vom
Balkon aus geniessen können. Einige, erzählte man mir, verlassen
275 das Haus überhaupt gar nicht. Wie schade! Mir erschienen die paar Stunden Aufenthalt viel zu kurz, um in der schönen, auch für ver-wöhnte Schweizer entzückenden Umgebung herumzustreifen.
Die meisten Gäste findet man auf La Falda zwischen dem 1. De-zember und 31. März, dem argentinischen Hochsommer. . Jetzt, den 23. April, ist das Haus ziemlich leer. Unter den Wenigen finde ich einen Landsmann, Herrn G. F., der den ganzen Winter mit seiner Familie in Eden zu bleiben gedenkt, fühlt er sich doch hier ganz frei von dem ihn quälenden Asthma.
Sofort nach dem trefflichen Gabelfrühstück machte ich mich zum Spaziergang auf. Eine junge Hamburgerin, die rechte Hand der Ver-walterin, begleitete mich. Auch sie ist eine Naturfreundin, so ver-standen wir uns vortrefflich.
Wir wanderten bergaufwärts, um einen schönen Überblick zu gewinnen, zunächst nach den grossen Tanks, von denen der eine als Schwimmbassin eingerichtet ist. Dann ging’s in eine Schlucht.Auf dem steinigen, schlüpferigen Fusspfade blitzte es zuweilen hell auf, wie Diamanten. Glimmer (Mica) war es, der hier massenhaft herumliegt. Schlingpflanzen sind in Menge um Felsen und das stach-lichte Mimosengestrüpp. geheftet, und ‘prachtvolle Passifloren sollen zeitweise hier blühen. Bäume gibt es im ganzen wenige, mit Aus-nahme riesiger Feigenbäume, an deren weissen und roten Früchten ich mich nicht wenig erlabte. Die Taschen voll Glimmer, die Hände voll Blumen, so wurde ich von Herrn G. F. nach der Station gefahren.
Diesmal war der Zug sehr angefüllt und sollte es immer mehr werden. Verspätet langten wir in Cördoba an, wo ich noch einmal in dem gastlichen Hause K. übernachtete. Den folgenden Morgen reiste ich in der Frühe mit dem Schnellzug der Schweizer-Kolonie Carcarafid zu.
Es war keine vergnügliche Fahrt, der Zug schien überfüllt, froh,wer einen Sitzplatz erobern konnte. Hat er ihn erobert und geht er in den Restaurationswagen zum Essen, so findet er bei seiner Rückkehr das Gepäck in eine Ecke geworfen und auf seinem Platz Einen oder Eine. Plätze belegen gibt es nicht in Argentinien, wenigstens aicht in den Osterfeiertagen. Mein Gegenüber ist ein Astronom. Er hat mit seinen kostbaren Instrumenten die Reise von Buenos-Aires nach Cördoba angetreten, um von der schon erwähnten Sternwarte aus einen neuen Stern zu beobachten. Aber die beiden letzten Nächte waren regnerisch, kein Stern zeigte sich und unverrichteter Dinge musste er wieder abziehen. Ich bat den geläufig deutsch sprechenden
Aus Central- und Südamerica.
Herrn, mir den Namen dieses und jenes vom Fenster aus beobachteten Vogels oder Baumes zu sagen: „Ja, das weiss ich nicht“. „Ausser den Sternen interessiert mich nichts in der Natur. Wenn ich nicht meinen Fachstudien nachgehe, sitze ich am liebsten im behaglichen Zimmer und trinke Tee“. Dieser Ausspruch erinnerte mich an einen Freund aus meinen Kindheitsjahren. Der sagte: „Mein Ideal ist, in einem geschlossenen Wagen zu fahren und dabei Süssigkeiten zu essen“.
Also mit den Belehrungen in Zoologie und Botanik war es abermals nichts. Wie oft hatte ich in den letzten Monaten gefragt: „Wie heisst dieser kleine Vogel?“ „Es un pajarito“ (es ist ein Vögelchen), lächelte höflich der Gefragte, „Wie heisst dieser Vogel da?“ „Es un pajaro“(es ist ein Vogel), lautete die Antwort. „Wie heisst dieser grosse Vogel?“ „Es un ave“ (es ist ein grosser Vogel). Damit erweiterten sich meine Kenntnisse freilich nicht.
Ich blickte zum Fenster hinaus. Algarrobo-Bäume und endlose Ebenen, die Kornkammern der Welt, flogen an mir vorbei. Im Jahre 1905 hat Argentinien bis 1. Juli: 1,887,273 Tonnen Weizen exportiert.An Lein, bei einer Anbau-Fläche von 1,600,000 Hektaren, 1,120,000 Tonnen produziert, wovon bis zum selben Datum 469,882 Tonnen exportiert worden sind.. Das dritte Hauptprodukt: Mais, wurde eben-falls bis zum 1. Juli mit 809,283 Tonnen exportiert. Die Alfalfa (Luzerne)-Kultur umfasst rund zwei Millionen Hektaren und wird fortwährend vermehrt. Da wo Weizen, Lein und Mais gepflanzt werden,ist der Boden eben, ohne ein Steinchen, ohne Sträucher und Bäume.Es sind ungeheure Flächen angeschwemmten Landes von grosser Fruchtbarkeit und mit einer Humusschicht von 1080 Centimeter bedeckt. Sobald es ausgiebig geregnet hat, kann man den „Kamp brechen“ d. h. mit einem starken, einfachen Pfluge die ersten Furchen ziehen. Die Felder messen gewöhnlich 50200 Hektaren, so dass man mit dem Pfluge zwischen 5001000 Meter gerade zufahren kann.Auf diese Weise pflügt ein einziger Mann ein grosses Areal. Ist dieses früher schon gepflügt worden, so wird mit einem ein- oder zwei-schaarigen Sitzpflug gearbeitet, der von einem 1215 jährigen Knaben oader Mädchen gehandhabt werden kann.
In Argentinien hat der Bauer fünf volle Monate Zeit zum Pflügen und Säen, im Norden sogar
sechs. In der argentinischen Ackerbau-zone ist von Schneefällen keine Rede, die Vegetation
hört auch im Winter nicht auf, und das Vieh ist jahraus jahrein im Freien. So braucht es
weder Aufsicht noch Wartung, weder Fütterung noch Stallung.Der ebene Boden, lässt die
Anwendung von Maschinen bei jeder
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Arbeit zu. Es wird mit vier Meter breiten Säemaschinen gesäet, mit gleich breiten Maschinen geschnitten und mit zwei bis vier Meter breiten Eggen geeggt. Das geschnittene Getreide wird in sogenannten „Mieten“ aufgehäuft und wartet nun auf die Dampf-Dreschmaschine.Meist wird die Frucht gleich an der Dreschmaschine, oder schon vor dem Dreschen verkauft. Auf diese Weise ist es möglich, dass eine Familie von vier bis fünf arbeitsfähigen Mitgliedern (dazu rechnet man hierzulande schon 1012 jährige Kinder) ein Bauerngut von 100 Hektaren ganz allein besorgen kann.
In: den 14 Provinzen der Republik werden je nach der Zone Luzerne, Mais, Korn, Gerste, Roggen und Hafer, Zuckerrohr, Tabak,Wein, Bananen, Orangen und Baumwolle, letztere nahezu in allen Provinzen kultiviert,
Die Eisenbahnlinie Cördoba-Rosario steht, wie die meisten Bahnen hier, in englischem Besitz. Sie wurde schon im Jahre 1869 erbaut. Die Regierung schenkte damals der Gesellschaft zu beiden Seiten des Geleises je 5 Kilometer Land, unter der Bedingung, es im Verlauf von 50 Jahren völlig kolonisiert zu haben, Die argentinische Regierung sollte fernerhin das Recht haben, nach 30 Jahren die Bahnlinie der englischen Gesellschaft abzukaufen. Diese hatte sich schlauerweise Zollfreiheit zur Herbeischaffung des zum Bau erforder-lichen Materials ausbedungen, und liess nun so viel davon kommen,dass damit zwei weitere Linien gebaut werden konnten. Das Zoll-amt wurde dadurch reichlich um 5 Millionen Pesos geprellt, und die argentinische Regierung‘ war bis jetzt nicht im Stande, die Linie zurück zu kaufen.
Wie einförmig ist diese Fahrt! Kein architektonisch bedeutendes Gebäude, selten nur ein Brücklein über einen wasserarmen Bach!Abwechslung bringen nur die truppweise weidenden, halbwilden Pferde. Mit dem Lasso müssen sie eingefangen werden, wenn man sie satteln will. Welch schöner Anblick übrigens, sie beim Nahen des Eisenbahnzuges in wildem Galoppe mit fliegenden Mähnen und Schweifen davonstürmen zu sehen! Ein paar vorlaute Fohlen nur bleiben zuweilen stehen, um sich das eigentümliche Gebild von Menschenhand neugierig zu betrachten. Die philosophischer veran-lagten Kühe dagegen bleiben öfters ruhig auf dem Geleise gelagert und der Zug muss stille stehen, bis es gelingt, sie fortzuscheuchen.
Nach 4 Uhr nachmittags traf ich endlich am Ziele meiner heu-tigen Reise, Carcarafiä, ein. Ich vertraute mein Gepäck einem jungen Burschen an, dessen schlechtes Spanisch und gutes, schweizerisches
Aus Central- und Südamerica.
Gesicht mich bestimmte, ihn auf Schweizerdeutsch nach Herrn W.zu fragen. „D’Frau W. isch g’rad am Zug“, lautete die Antwort.Sie klang so selbstverständlich, so natürlich, als ob Schweizerdeutsch Landessprache in Argentinien wäre, Bald war Frau W. gefunden.Wir wanderten selbander dem Schweizerstädtchen zu, denn ein solches ist es, ungeachtet seiner südamericanischen Umgebung. Zunächst ging es nach dem Gasthof, wo der Schweizerwirt seiner Landsmännin das beste Zimmer anwies, und die Töchter des Hauses freundlich für sie sorgten. In Argentinien geboren, sind sie Argentinierinnen und bedienen sich untereinander der spanischen Sprache. Mit den Eltern dagegen, so verlangen es diese, wird gut Schweizerdeutsch gesprochen. Aber nicht nur bei Sch.’s ist es so, sondern überhaupt in den schweizerischen Familien in Chile und Argentinien.
Carcarafia ist schon eine alte Kolonie, ungefähr 34 Schweizer Familien wohnen hier. Manche davon sind vor zwanzig und mehr Jahren eingewandert. Wen immer ich hier kennen lernte oder besuchte,der machte mir den Eindruck, sich eines soliden Wohlstandes zu er-freuen. Arbeiten freilich hat jeder müssen, bis er so weit gekommen ist,oft schwerer als in der Heimat. Ich habe in Carcarafiä mehrmals die Frage gestellt: „Soll man unsere Bauern zur Auswanderung nach Argentinien ermutigen?“ Die Antwort lautete ungefähr folgender-massen: „America ist nur für energische. und fleissige Leute ein dankbareres Feld, als Europa. Wer nicht ernstlich arbeiten will,bleibe in der alten Heimat, wo besser für ihn gesorgt wird, als hier. Einen zweiten Punkt mögen sich solche Auswanderungslustige merken, die mit etwas Kapital nach Argentinien kommen: Sie müssen erst eine ordentliche Schule durchmachen, indem sie längere Zeit bei Grundbesitzern arbeiten, ehe sie daran denken dürfen, ein eigenes Heim zu gründen, Hier heisst es: vor allem Erfahrungen sammeln und die Verhältnisse gründlich kennen lernen.
Erfüllt der Auswanderer diese Bedingungen, ja, dann kann es auch der Ärmste zu einer gesicherten Existenz, zu Wohlhabenheit bringen, und zwar hauptsächlich deshalb, weil hier noch eine Menge Raum vorhanden ist, der in Europa zumeist fehlt.“
Argentinien umfasst 2,950,000 Quadratkilometer, ist also 70 mal so gross wie die Schweiz.
Seine Bevölkerung beträgt etwas über fünf Millionen. Als Ellbogenraum kommen somit 56
Hektaren auf den Kopf der Bevölkerung. In Argentinien leben 1,7 Menschen, die
Stadtbevölkerung mitgerechnet, auf dem Quadratkilometer, in der Schweiz
78.
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Hier also ist ein Bevölkerungszuwachs nötig, ja dringend er-wünscht und grosse Familien werden nicht als ein Unglück, sondern als einen Segen, eine Quelle des Wohlstandes erachtet. Wie noch junge Kinder bei der Landwirtschaft helfen können, habe ich schon angedeutet, aber auch in der Grossstadt Buenos-Aires hören die finan-ziellen Sorgen der Eltern für ihre Söhne gar bald auf. Nach sechs-jährigem Schulunterricht wird der 1213 Jährige in ein Geschäft gesteckt. Da gibt es keine dreijährige Lehrzeit, wie bei uns, wo die Eltern noch vollständig für den Unterhalt des Jungen sorgen müssen.Vom ersten Tag an bezahlt das Geschäft seine Arbeit, vorläufig ge-nügend, dass er sich die Kleider anschaffen, später, dass er den Eltern ein Kostgeld bezahlen kann. Ist der Junge einmal richtig angestellt und arbeitet er zur Zufriedenheit seines Chefs, so bekommt er schon nach wenigen Jahren einen kleineren oder grösseren Anteil am Geschäft.
Carcarafiä besteht zur Hauptsache aus einer langen Strasse mit nett gebauten, niedrigen Häusern, längs denen ein schönes, breites Trottoir läuft. Die andere Seite nimmt die mit Paraisobäumen be-pflanzte Landstrasse ein. Herr W., an den ich eine Empfehlung hatte,brachte mich in seinen wohlangefüllten Kaufladen, in dem sich jeder gangbare Artikel findet. Dort wurde mir von seiner Frau ein Will-kommenstee verabfolgt und dann war ausser zwei kurzen Besuchen in der Kolonie für heute nichts mehr vorzunehmen. Die Nacht legte sich rasch über das stille Landstädtchen. Am Abend sass ich noch etwas mit der Wirtsfamilie zusammen, legte mich früh zu Bett und machte mich nach einer guten Nacht früh auf die Sohlen. Meine Zeit war ja beschränkt, mein Schiffsplatz nach Rio de Janeiro auf den folgenden Freitag bestellt, .
Bald stand ein kleiner Break bereit und mit den Herren W. und Sch., als Begleiter, fuhr ich durch das saubere Städtchen. Ziel der Fahrt, die über gute Landstrasse führte, waren Käserei und Mühle.Letztere freilich sehenswerter durch ihre pittoreske Lage am Flusse,als durch ihren Betrieb, denn die Räder ruhten augenblicklich. In der Käserei dagegen herrschte um so regeres Leben. Der nach Art des Chesterkäses bereitete Käse geniesst eines sehr guten Rufes weit und breit im Lande, und um mich von seiner Güte zu überzeugen,liess mir Herr W. ein Muster einpacken. So hatten in Buenos-Aires meine Freunde und ich Gelegenheit ihn vortrefflich zu finden.
Zum Schluss besuchte ich die Schweizerschule in Carcarafiä.Das helle, luftige Zimmer war mit gut gekleideten, reinlich gewaschenen,gesunden Buben und Mädchen angefüllt. Zu meinen Ehren wurde
Aus Central- und Südamerica.ein wohlgelungenes Examen abgehalten. Vor dem Schulhause standen verschiedene gesattelte Pferde, Ponies, Esel, und zwar zumeist unan-gebunden. Geduldig harrten sie auf den Schluss der Schule. Auf ihren Rücken treten die entfernter wohnenden Schulkinder den Heimweg an. Das würde unserer Jugend auch gefallen! Die kleinen Schweizer-Argentinier und Argentinierinnen sind, das muss man ihnen lassen,flotte, gewandte Reiterlein,
Der Lehrer, Herr M., beschäftigt sich in seinen Mussestunden mit Naturgeschichte. Nur einen flüchtigen Blick konnte ich leider auf seine Schmetterlings- und Käfersammlungen werfen, das Tages-programm war für mich noch sehr ausgefüllt.
Auf dem Wege nach San Jeronimo, einer zweiten Schweizer-kolonie, besuchten wir eine Witwe M. Wir. waren selb dritt und rückten unerwartet unmittelbar vor dem Essen an. Aber was tut das in diesem Lande der Gastfreundschaft! Mutter und Töchter rührten noch etwas emsiger die fleissigen Hände, und bald konnten wir dem trefflichen Mahl alle Ehre antun. Das hübsche, mit einem gewissen Luxus gebaute Haus, der schöne Blumengarten und die weitläufige Landwirtschaft sprachen von einem behäbigen Wohlstand,wobei mir doppelt gefiel, dass die drei Frauen den grossen Haus-halt ohne Magd führen.
Unter den Kühen und Pferden bewegten sich in guter Kamerad-schaft verschiedene Strausse. In Argentinien ein sehr gewöhnlicher 'Vogel, lebt er herdenweise in den Pampas und auf den Estancien.Es ist dies nicht der africanische Strauss mit seinem ‘prächtigen,kostbaren Gefieder, sondern der americanische Nandu (Rhea). Seine graubraunen, harten Federn schmücken nicht die Hüte der Damen,sondern werden viel prosaischer zu Federbesen benützt. Aus den Eiern der Nandu dagegen backen sich gewiss ebenso ergiebige Eier-kuchen, wie aus denen der africanischen Sorte. Wie man mir er-zählte, begnügt sich das Weibchen, die Eier zu legen. Das lang-weilige, 39 Tage dauernde Geschäft des Brütens fällt ausschliesslich dem Männchen zu. Unwillkürlich musste ich eine Parallele zwischen dem südamericanischen Straussengatten und dem nordamericanischen Ehemann ziehen. Fällt doch letzterem sehr oft die Pflege des Kindes ausschliesslich zu, während die Frau Mama ihren Vergnügungen lebt.
Nach Tisch wurde geplaudert, photographiert, Tee getrunken und Abschied genommen. - Ich
musste abermals um ein Haus weiter,d.h. ein ganzes Stück weit fahren. Eines der jungen
Mädchen kam mit mir; Ich freute mich über die vielen Vögel unterwegs. Da flogen
281 eine Art Turteltauben; auf dem Zaun sass ein schneeweisser Vogel,Viuda-Witwe genannt, Da waren die gesprächigen, überall in Ar-gentinien viel gesehenen Bicho-feo, eine Art langschwänzige Elstern.Da waren unsere heimeligen, alten Spatzen! Arme Spatzen, auch hier missachtet und verfemt! Als seltene Vögel seid ihr sorgfältig übers Meer gebracht worden, Unter der guten Pflege seid ihr ge-wachsen und in dem schönen Klima habt ihr euch vermehrt, ach,nur viel zu viel! Man nennt euch jetzt „Landplagen“. Dasselbe gilt für die aus Europa importierten Hasen.
Wir waren an dem Städtchen San Geronimo vorbeigefahren, um nach etlichem Suchen auf die Chacra des Herrn W. zu gelangen.Dort sollte ich übernachten. Bei uns pflegt man unbekannten Menschen nicht so unerwartet bei bald einbrechender Nacht ins Haus zu fallen.Hier ist es selbstverständlich. Während mir ein wahres Staatszimmer zurecht gemacht, einige Tauben vom Taubenschlag heruntergeschossen,gerupft und gebraten wurden, benützte ich das Tageslicht, um Herrn W.’s Besitzung zu betrachten. Da war zunächst das hübsche, ein-stöckige Haus, dessen Front das Schweizerkreuz schmückt. Was war denn da für ein merkwürdiger, brauner Hut auf dem Giebel? „Herr W., haben Sie den Hut des grimmen Landvogtes Gessler aufgepflanzt?“Er lachte, „es ist ja ein Hornero-Nest“.. Richtig, ich hatte den Vogel und sein aus Erde gebautes, einem Backofen ähnliches Nest als Hornero Furnarius Rufus im La Plata-Museum kennen gelernt. Vom Garten aus gesehen, sah das Nest wie ein mächtiger Hut aus.
An Stelle unseres Rasens ist im Garten Luzerne gepflanzt, der Zaun aus Quittenbüschen gebildet. Hinter dem Hause steht ein ganzes Wäldchen gelbbeeriger Paraisobäume. In der Nähe des Hauses sah ich eine Einzäunung, in der sich einige Pferde tummelten. „Die halte ich hier, um sie im Falle des Gebrauches bei der Hand zu haben,die anderen laufen frei herum.“ „Wie viele Pferde haben Sie?“ „Es mögen an die fünfzig sein!“ Ich staunte. Herr W. lachte und sagte:„Das ist ja gar nichts, es gibt reiche Estancieros, auf deren weiten Estancien bis 10,000 Pferde weiden, die oft an 40,000 Rinder und 60,000 Schafe besitzen.“
Die Sonne neigte sich zum Untergang. Ein goldig-roter Schein legte sich auf die friedliche Flur. Kein Mensch weit und breit! Hie und da nur ist der flüchtige Huf eines der Hürde zueilenden Pferdes,das unwirsche Gezwitscher der Vögel hörbar. Sie suchen einen Schlafort und stören dabei ein paar schläfrige Käuzlein, die auf hohem Ast erst jetzt zu ihrem nächtlichen Leben aufwachen.
Aus Central- und Südamerica.Früh am nächsten Morgen reiste ich nach der nahen Stadt Ro-sario. Leider erlaubte es meine Zeit nicht, eine dritte Schweizer-Kolonie, Roldan, zu besuchen,
Rosario, eine etwa vor 50 Jahren gegründete Stadt, liegt am Paranä und zählt jetzt schon über 130,000 Einwohner. Gegenwärtig arbeitet man an grossartigen Hafenbauten, und sind diese erst voll-endet man rechnet etwa in vier Jahren so wird Rosario eine ge-fährliche Nebenbuhlerin für Buenos-Aires abgeben. Können doch dann die Produkte der nordwestlichen Provinzen hier direkt nach Europa eingeschifft werden.
Zunächst ging ich in ein grosses tessinisches Geschäftshaus,wo. einer meiner Vettern angestellt ist. Die ersten Jahre in Argen-tinien waren entbehrungsreiche für ihn. „So schlecht wie hier wäre es mir in Europa nicht ergangen“, meinte er. Jetzt sind die mageren Jahre vorbei. Er steht in guter Stellung und ist glücklicher, junger Ehemann geworden. Ich wurde zum Frühstück eingeladen. Vorerst aber wanderte ich durch .die mit Holzpflaster und Macadam sehr schön gehaltenen, reinlichen Strassen. Die Stadt liegt auf einem Plateau, und nahezu jede Strasse führt an den Hafen hinunter. Auf dem grossen Hauptplatz steht die Kathedrale, ein geschmackvoller Bau mit schönem‘ Chor und grauem Hauptaltar. Hinter diesem ent-deckte ich eine sehr fein skulptierte Madofia del Rosario, eine Genueser Arbeit. Auf dem Platze steht ein grosses Denkmal von General San Martin, dem Befreier Argentiniens und Chiles vom spanischen Joche.
Auch in Rosario sind die Entfernungen sehr gross, und eine lange Wagenfahrt erst brachte mich in das Haus meiner Verwandten. Dort musste ich vor allem Bekanntschaft mit meiner allerliebsten, neuen Cousine schliessen, was mir nicht schwer fiel. Nach fröhlichem Mahle fuhren wir Rosarios Sehenswürdigkeiten nach. Ein wahrer Schmuck der künftigen Grosstadt wird die mit Palmen und schönen Blumen-gruppen bepflanzte,- fünf Kilometer lange Avenida sein. Auch der zoologische Garten gefiel mir sehr. Noch neu in der Anlage, lässt er sich mit demjenigen von Buenos-Aires natürlich nicht vergleichen,folgt aber seinem Prinzip, den Tieren möglichst viel und ihren Ge-wohnheiten angepassten Raum zu gewähren.
Gegen Abend wanderten wir durch die jetzt sehr belebten Strassen, ich bewunderte die
Grösse einiger Geschäfte und die prächtigen Auslägen. Mein Vetter sagte mir, mehrere der
schönsten seien Schweizerfirmen.
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Einen kurzen Augenblick im Schweizerklub, ein Stündchen in einem höchst eleganten Kaffeehause, wo ein Wiener Damenorchester gleich fix Habaneras und Czardas ausführte, und auch dieser Tag war zu Ende. Bei den Schwiegereltern meines Vetters wurde noch gegessen, dann geleitete mich ein ganzes Trüpplein Landsleute zum Nachtschnellzug Rosario-Buenos-Aires.
Um 7 Uhr früh folgenden Tages sass ich schon am Frühstücks-tisch meiner Freunde in Belgrano. Noch eine Fahrt zur Stadt und abermals Abschiedsbesuche! Die kaum gesehenen, kaum kennen gelernten Menschen musste ich wieder verlassen, vielleicht auf Nimmerwiedersehen.
„Schiffe, die sich nachts auf der See begegnen, grüssen einander im Vorbeigehen. Nur ein Signal, eine ferne Stimme im Dunkel. So auch treffen wir uns und sprechen zusammen auf dem Meere des Lebens.Nur ein Blick und ein Wort, dann Dunkel wieder und Schweigen!“
Diese Worte hatte eine Dame in Mexico in mein Stammbuch geschrieben. Ich empfand häufig ihre Wahrheit.
Den 28. April 1905 bestieg ich den französischen Dampfer „Cordillere“ nach Rio de Janeiro, einem neuen Lande, neuen Zielen und neuen Menschen entgegen!
Auf der Schweizer Estancia.
Paö de Azucar.
Rio de Janeiro.
Meine ersten Kindheitserinnerungen knüpfen sich an Brasilien.Ein ausgestopftes Faultier, zwei Uistiti (Saguin-Äffchen), und ein Gürteltier waren mir liebere Spielgefährten als die besten Puppen.Auf dem Schosse meines Vaters sitzend, konnte ich nie genug von den kleinen Negerkindern, den bissigen Krokodillen, den giftigen Schlangen und dem märchenhaften Urwald hören. In meinen Träumen gaukelten oft farbenprächtige, metallisch schimmernde Kolibri, und die noch wunderbareren blauen Riesenfalter. Brasilien wurde das Land meiner Sehnsucht, meiner Phantasie, mein irdisches Paradies!
Und jetzt sollte ich es sehen, mein Traumland. Bis zuletzt hatte ich es mir aufgespart. In der Erwartung liegt ja an und für sich ein Genuss.
Den 28. April von Buenos-Aires abgefahren, fand mich der frühe Morgen des 29. vor Montevideo. |
Ein sturmgepeitschtes Meer verhiess wenig Gutes für die hier zu allen Zeiten schwere Landung. Vor der grossen Lucke im untern Raume des Schiffes stand eine grosse Menschenmenge, ich darunter. Vor uns wippte eine plumpe, alte, schmutzige Steamlaunch auf und ab.
Aus Central- und Südamerica.
Ein tiefes, breites, schwarzes Wasser lag zwischen ihr und uns. Hie und da hob eine starke Welle das schwere Fahrzeug einen Meter höher und näher an uns heran. „Vite, vite, sautez!“ „Trop tard!“Die Gelegenheit war vorbei, eine neue Welle musste abgewartet werden. Zuweilen gelang es einem kühnen Springer, hinüber zu kommen. Die meisten Landungslustigen aber hatten sich entmutigt wieder auf Deck begeben:
„A midi la mer sera plus tranquille“ tröstete mich ein Matrose,Mittags war es wirklich etwas besser, aber immerhin bewegt genug.Ich hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, Montevideo zu sehen.
Wohl eine halbe Stunde schaukelten wir an Ort und Stelle auf und ab, bis alle den Sprung getan. Dann fuhren wir ab. Nicht dem Lande zu, wohl aber noch weiter hinaus, um auf einem englischen Dampfer Passagiere zu holen. Endlos schien die Fahrt!
„In 1!/z Stunden müssen Sie alle wieder hier bereit stehen“,hiess es am Kai in Montevideo. „Wer nicht da ist, kommt eben nicht mehr. fort“. Ja, das war freilich kurz. Ich nahm einen Wagen und fuhr durch die recht ausgedehnte Stadt. Etwas besonders Merkwürdiges bietet sie nicht. Gut gepflastert, sauber, mehr italienisch als spanisch,liegt der Ort auf einer Landzunge und bildet vereint mit dem 148 Meter hohen, isoliert aufsteigenden Cerro de Montevideo eine Bucht. Gari-baldi hat hier seine Karriere, als von den Brasilianern gefürchteter Kaperfahrer, begonnen. Im Jahre 1848 verliess er Uruguay, um an [taliens Befreiungskrieg teilzunehmen.
Am schönsten fand ich den Friedhof mit seinen an Italien er-innernden, reichen Denkmälern. Ein Gemisch von Idealismus und Materialismus, von menschlicher Eitelkeit und rührender Hingebung fiel mir darin hauptsächlich auf. Dabei ist die ganze Anlage wunder-schön gehalten.
Zur angesagten Stunde war ich am Hafen. Natürlich verging eine lange Zeit, bis wir vom Lande abstiessen. Die Steamlaunch schaukelte so heftig, dass die Seekrankheit bald unter den Passa-gieren ihren Einzug hielt. Neben mir sass ein junges Paar. Es wollte sein Glück in Kalifornien versuchen. Mutter und Schwestern standen weinend am Lande. Die junge Frau schluchzte. bitterlich. Die See-krankheit half ihr üher die letzten schmerzlichsten Augenblicke hinweg.
Die Wiedereinschiffung auf der Cordillere gab an Unannehm-lichkeit der Ausschiffung
nichts nach. Schliesslich waren wir alle glücklich in die fangbereiten Arme der
Cordillere-Offiziere geflogen,und zu meiner Freude fand ich mich, ungeachtet des
überfüllten
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Schiffes, Alleinherrscherin in meiner sehr bequemen Kabine. Die nächsten drei Tage vergingen mir unter Essen und Schlafen. Ich habe diese beiden Dinge als das beste Ausruhmittel erprobt.
Den 2. Mai nachmittags nahten wir der Küste Brasiliens. Lange,tropisch bewaldete Uferstrecken, später vereinzelte Villen verkün-deten die Nähe der Stadt Santos. Unsere Cordillere legte am Kai selber an. So erreichte man bequem das Land. Viel Zeit war freilich nicht zu verbummeln. Noch eine Stunde, dann erschallte die Essens-glocke, und die frühe Nacht jener Gegenden umhüllte die Erde.Eine schwüle Treibhaushitze herrschte in den engen Strassen der Stadt. Ich wanderte zunächst zur Post, dann zum Geldwechsler.„Sie werden schlecht wegkommen, das brasilianische Geld steht augenblicklich sehr hoch.“ Ach, ja! 14,200 Reis, statt 40,000, wie in den früheren Jahren, für das Pfund Sterling, und dabei alles sehr,sehr teuer!
Nach Tisch regnete es in Strömen, es blitzte und donnerte.Nachts um 11 Uhr fuhren wir ab. Den folgenden Morgen näherten wir uns Rio de Janeiro. Lange schon, bevor wir an die Bucht ge-langten, standen alle Passagiere .dicht gedrängt auf Deck. „Die Ein-fahrt ist am schönsten von Süden her“, sagten die einen. „Am Morgen früh ist sie am herrlichsten“, riefen andere. „Nein, bei Sonnenuntergang“, „Ich habe sie; vom Mond beleuchtet, unbeschreib-lich schön gefunden“, tönte es von einer anderen Seite,
Ich habe mit der Cordillere meinen Einzug in den Mittagstunden gehalten, und das Panorama so entzückend, bezaubernd gefunden,wie kein Wort es beschreiben, kein Pinsel es malen kann! Auch den abgestumpftesten Menschen muss ein Gefühl der Erhebung durch-beben bei dem Anblick dieser wunderbaren Natur. Stumm bewundernd sind wir, sind auch die rohesten Zwischendeckpassagiere da ge-standen, versunken in den Anblick der herrlich geformten Berge und der palmengekrönten Inseln. Ein phantastisches Alpenland wähnte ich zu schauen, an dessen Eingang der Paö de azucar (Zuckerhut)gleich einem eisgrauen Hüter steht; dann kommen Tijuca und Cor-covado und die einem steinernen Segel gleiche „Gavia“. In der Ferne zeichnet sich das zum kecken Vorgebirge Cap Frio gehörige Hochland aus, und drüben erscheinen die blauen, spitzen Zacken des Orgelgebirges.
Von der weissen Festung Santa Cruz donnerten die Kanonen,Salutschüsse wurden von den Forts Lagem und Säo Joäo los-gelassen. Wir näherten uns sachte der reizenden Botafogobucht,
Aus Central- und Südamerica.einem Miniatur-Golf von Neapel; die grosse, weit ausgedehnte,weisse Stadt kommt in Sicht. Ganz in Grün gebettet erscheinen die verschiedenen Quartiere, nicht langweilig in langer, regelmässiger Häuserreihe, sondern nach allen Richtungen hin zerstreut und hoch in die Berge emporstrebend.
Von überall grüsste die brasilianische grün-gelbe Flagge mit dem südlichen Kreuz und der Milchstrasse. Der 3. Mai ist ein hoher Festtag, man feiert das Andenken an die Entdeckung Brasiliens.
„Alle Geschäfte, alle Banken sind heute geschlossen.“ Ja, was sollte ich denn tun? Aus 14,000 Reis bestand augenblicklich mein Vermögen, auf die Bank konnte ich also nicht, alle meine Empfeh-Jungen gingen an Geschäftshäuser und diese waren ja geschlossen.Um mich gründlich auszuruhen, hatte ich mich abseits gehalten,konnte mich somit jetzt niemandem für die Ausschiffung anschliessen.
Ein Schatten flog auf kurze Zeit über die sonnige Landschaft,Sollte mein Brief nicht angekommen sein? Sollte niemand mich ab-holen? „Wie hübsch sieht diese Steamlaunch „Bismark“ aus,“ dachte ich, ahnungslos, dass sie für mich hinausgefahren und die Retter aus der Not schon vor mir standen. Es waren ihrer gleich drei. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Mit starkem Arm führten sie mich durch das Gedränge der Aussteigenden und der Zollrevision. Die grossen Ziegenhörner von der Robinsoninsel wurden ein Stein des Anstosses,.Sie waren in Leinwand eingenäht. „Was ist das?“ „Ziegenhörner.“„Unmöglich, die sind jedenfalls von einem Stier,“ Schallendes Ge-lächter und wir sind frei.
Auf rascher Fahrt durchquerten wir den weiten Weg zur Landung.Unterwegs teilte Herr B. mir mit, seine Frau erwarte mich als Gast.Ich freute mich darüber, freute mich aber noch viel mehr, als ich das reizende, herrlich gelegene Haus erblickte.
Wir waren auf einem weiten, grossen Platz gelandet, um bald in eine enge, alte Strasse
einzubiegen. Lange hatten wir nicht zu gehen. Plötzlich hiess es: „Hier nehmen wir die
elektrische Bahn nach Santa Theresa.“ Aufwärts ging es, zunächst über den langen,von den
Portugiesen vor. über hundert Jahren erbauten Viaduct da Carioca. In der Tiefe breitet
sich der enge, alte Stadtteil Lapa aus.Dann klimmt die Bahn steil empor, an Manga- und
Kaffeebäumen,an herrlichen Schlinggewächsen und hübschen Villen vorbei. Bei jeder Wendung
wird der Blick weiter, schöner; unter uns liegt die Bai, vor uns Wald und die kühne,
interessante Silhouette des Cor-covado. Unser Wagen lief jetzt auf. breiter, fast ebener
Strasse im
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Schatten schöner Bäume. „Aussteigen“, rief Herr B. und öffnete ein unscheinbares Holztürlein. Das führte hinab in die von ihm ge-mietete Chacara da Fortaleza, einem kleinen, irdischen Paradies. So wenigstens kam es mir während meines 17tägigen Aufenthaltes in Rio stets vor. Ein Naturpark mit hohen Urwaldsbäumen, wehenden Bambus-Riesenhecken, murmelnden Bächlein und von Busch zu Busch gaukelnden, bunt schillernden Schmetterlingen! Auch hier bildet der steil emporragende Corcovado den Hintergrund. Der Erbauer der Fortaleza, ein Engländer, hat ein niedliches Häuschen auf ein Plateau hingestellt und ein farbenprangendes Blumengärtchen daneben ge-pflanzt. Hinter dem Haus sind, wie einer Spielzeugschachtel ent-nommen, ein paar winzige Häuschen aufgestellt. In dem einen wohnen Gärtner und Koch, in dem anderen Persiliane und Jourdine, Wäscherin und Stubenmagd, alle beide kohlschwarze Schönheiten. Die perlmutter-schimmernden, weissen Augäpfel und die herrlich weissen Zähne bilden einen seltsamen Kontrast zum tiefen Schwarz der Haut. Die krausen Haare sind an Wochentagen meist gewickelt, sie stehen gleich Hörnern vom runden Schädel weit ab. An Sonn- und Festtagen entsteigt dieser Wickelung eine mehr künstliche als geschmackvolle Frisur. Der Gang ist wie bei allen Negerinnen unschön, die grossen,breiten, oft platten Füsse. gehen stark nach einwärts. Um so über-raschender sind deshalb die schön geformten, schlanken Hände,
Hinter den Wohnungen der Dienerschaft, etwas höher gelegen und von einem herrlichen Manga überschattet, liegt noch ein Häus-chen, mein Häuschen. Es besteht aus einem einzigen Zimmer. Liebe-volle Sorgfalt hatten es ausgestattet und mit Blumen geschmückt.
„Wird es Ihnen da gefallen?“ frug die freundliche Stimme der jungen Hausfrau. Im weissen Gewande stand sie vor mir, der Typus einer glücklichen Frau und Mutter. Sie hielt das Marianneli, den Sonnenschein des Hauses, im Arm.
„Werden Sie sich aber nicht fürchten ganz allein da oben? Wir wollen die Hütte des Bruno hinter das Häuschen schaffen lassen und ihn da anbinden“, schlug Herr B. vor.
Gesagt, getan. Bruno, eine schöne; braune Ulmerdogge, wurde mein Hüter. Ab und zu hörte ich seine lange Kette durch die stille Nacht rasseln. Bruno stand als schlimmer Hühnermörder gegenwärtig bei Herrschaft und Dienerschaft arg in Ungnade. Um so heller leuch-teten die Tugenden seines braven Zwillingsbruder Bob. Der Tugend-hafte und der Sünder schenkten mir gleicherweise ihr Herz und freuten sich über die Massen, wenn ich einmal Zeit hatte, mit ihnen auf dem a
Aus Central- und Südamerica.fragten sie stets nach dem Bilde des Kaisers, das in Lebensgrösse im Speisesaal hing. Sonderbarerweise malte sich meist auf den Mienen der Beschauer eine gewisse Enttäuschung, wenn sie vor dem Bilde standen. Die Offenherzigsten pflegten sich dann dem umherführenden Offizier gegenüber folgendermassen zu äussern: „Mais, mon Dieu,nous avons toujours cru, que votre empereur etait tout noir!“
Noch einige Worte über Dom Pedro Il:
Der Knabenkaiser kam natürlich zunächst unter Vormundschaft und Reichsregentschaft, aber schon den 23. Juli 1840 wurde der noch nicht 15 jährige durch Beschluss des Reichstages für mündig erklärt.Hoch aufgeschossen, ein eifriger Student, geistig ungewöhnlich reif,sein Volk körperlich und geistig an Kopfeslänge überragend, bestieg er den Thron Brasiliens. Liest man’ die Geschichte, namentlich die letzten Jahre der Regierung dieses ausgezeichneten, seltenen Mannes,so wird man mit Bedauern erfüllt. Das ruhige Los eines stillen Stubengelehrten, nicht die undankbare Aufgabe, ein Riesenreich und ein unbändiges Volk zu regieren, hätte man ihm wünschen mögen.Sein Wirken freilich in Brasilien war ein segensreiches, und sein Andenken wird bei vielen hoch gehalten. Er förderte den Bau von Eisenbahnen und Strassen, suchte Handel und Industrie zu heben und begünstigte auf allen Gebieten Kunst und Wissenschaft. Hervor-ragend war Dom Pedro als Polyglotte. Er gehörte als Mitglied meh-reren europäischen gelehrten Gesellschaften an, darunter den Aka-demien von Frankreich, Berlin, München.
Aber Volksgunst ist ein unsicheres Ding, besonders in Südamerica.Verschiedene Faktoren kamen dazu, den Kaiser unpopulär zu machen.Auf Einzelheiten einzugehen, würde mich zu weit führen, Das Un-erhörte geschah, der ehrwürdige Dom Pedro wurde nach 50jähriger Regierung einfach von eimem Tag zum anderen abgesetzt und den 15. November 1889 gezwungen, binnen 24 Stunden mit seiner ganzen Familie Brasilien zu verlassen.
Seither ist Brasilien Republik. Ihre Geschichte unterscheidet sich kaum von derjenigen der übrigen südamericanischen Freistaaten: Hie und da eine Revolution, häufiger Wechsel der Regierung, Günst-lingswirtschaft. Bestechlichkeit und Unredlichkeit der hohen und niederen Beamten.
Augenblicklich erfreut sich Rio eines neuen Präfekten, der aus-nahmsweise nicht nur für
seine eigene Tasche arbeitet. Sein Name ist: D* Mancel Pereira Passos. Rio soll sich in
den letzten vier Mo-naten mehr verschönert haben, als in den letzten 25 Jahren. Nicht
2923 weniger als 600 Häusern wurde das Todesurteil gesprochen, um eine bei zwei Kilometer lange Avenida bis an das Meer zu führen.Ein grosses Werk ist ferner die Abtragung des Morro do Castello,eines gewaltigen, übrigens sehr malerischen Hügels, um der Stadt mehr Luft zu geben, Die dabei gewonnene Erde wird zu grossartigen Kaibauten und Auffüllungen verwendet, und Hoffnung ist vorhanden,dass bis in vier Jahren die grossen Dampfer, wie in Santos, am Kai direkt anlegen können.
Als ich den 4. Mai zum erstenmal in meinem niedlichen Wald-häuschen aufwachte,rieselte und rauschte es in den Blättern und eine grämliche Nebel-kappe machte den Cor-covado vollständig un-sichtbar. Dem herr-lichen Abend war ein gründlicher Regentag gefolgt. Zum Glück sollte er der erste und zugleich der letzte sein. Sonnenschein be-glückte und verklärte nach aussen und innen meinen ganzen Aufenthalt in Rio. ;Nichtsdestoweniger musste ich zur Stadt, meiner harrte das unangenehme Geschäft der Zollrevision meines Koffers. Mit Herrn B.stieg ich zum erstenmal den steilen Weg den Schrecken der ganzen Schweizerkolonie von Chacara da Fortaleza hinab zur Tramstation Larangeiras. Ich glaube, Herr B. hatte den Tag vorher den Umweg über Santa Theresa gemacht, um mich nicht gleich ab-zuschrecken. Ungeachtet seiner Steilheit, seiner unangenehmen Stufen,seines spitzen und mit vielen Löchern gesegneten Pflasters, gewöhnte ich mich leicht daran, besonders da an beiden Enden schöne Ziele
Avenida Central.
Aus Central- und Südamerica.winkten. Oben mein reizendes, temporäres Heim, unten die stets interessante, ethnographisch und landschaftlich schöne Tramfahrt nach dem Largo da Carioca, der Pulsader Rios.
In Buenos-Aires sind die elektrischen Tram weit schöner und schneller. In Rio herrscht eine unglaubliche Rücksicht und Nachsicht den Fahrgästen gegenüber. Da gibt es keine bestimmten Haltestellen.Jeder ruft den Tram an, wo es ihm gerade passt, und der Tram hält sofort und lässt den Fahrgast in aller Gemütsruhe aufsteigen. Zwanzig Schritte weiter steht ein anderer, der dieselben Ansprüche macht.Es gibt Tramwagen erster und zweiter Klasse. In letzterer darf Hand-gepäck mitgenommen werden, und schuh- und kravattenlose Passagiere finden Aufnahme. Hier, in diesem Lande der Schwarzen, kennt man nicht die Wagen der Nordstaaten „für Weisse allein“. Hier nimmt ein tadellos, nach neuestem Pariser Chic gekleideter, schwarzer Gentleman, eine in weissem, duftigem Mull und zart rosa Schleifen noch dunkler erscheinende Negerlady, ganz selbstverständlich Platz neben der privilegierten weissen Rasse, und von dieser denkt keiner daran, unwillig bei Seite zu rücken.
Die Trambahnen haben hier einen komischen Namen, sie heissen „Bonds“, Dieser Name leitet seinen Ursprung von den durch die erste Tramkompagnie 1868 ausgegebenen Aktien (Bonds) ab.
Ungeachtet des trüben Wetters genoss ich meine erste Tramfahrt.Da kam zunächst die Vorstadt Larangeiras mit einigen altbrasilianischen Villen und vielen herrlichen Tropenbäumen, später der schöne Largo do Machado (Beilplatz) mit seiner hübschen, neuen, hochtürmigen Kirche, den hohen Königspalmen und dem Reiterstandbild des Herzogs von Caxias. An der Praia de Flamengo Herr B. machte den kleinen Umweg deshalb entzückte mich das herrliche Meeresbild.Eine andere Überraschung bietet auf grünem Hügel die malerische Kirche N* Sa da Gloria, später der schöne Passeio publico mit seinen herrlichen Baumgruppen und die 35 Minuten dauernde Fahrt bis zum Largo Carioca vergeht wie ein Augenblick.
Von dort gingen wir zu Fuss nach der langen,. schmalen Rua de Alfandega, dem eigentlichen
Geschäftsviertel. Hier befindet sich das Geschäft Eugen Meyer & Cie., wovon Herr B.,
mein freundlicher Gastgeber, einer der Chefs ist. Ach, bei diesem Regenwetter war ein Gang
durch Rios enge Viertel kein Vergnügen! Wohl absichtlich,um das Eindringen der Tropensonne
zu verhindern, sind die Strassen so eng gebaut. Auf den schmalen Trottoirs finden kaum
zwei Personen neben einander Platz. Der starke Regen hatte die zahlreichen Löcher
295 im Pflaster mit Wasser angefüllt. Wollte man von den dahin rollenden,rasch sich folgenden Wagen nicht bis an die Nase bespritzt werden,so musste man einen kühnen Seitensprung in einen beliebigen Haus-gang machen. Ohne einen Spritzer ging es jedoch zuweilen nicht ab,und nichts weniger als reinlich langte ich in der Alfandega (dem Zollhaus) an. „Das war früher noch schlimmer“, meinte tröstend Herr B., „damals gab es keine Schleusen und wenn ein so recht gründlicher, tropischer Regen fiel, so standen alle Strassen unter Wasser. Es blieb nichts anderes übrig, als sich von einem. Neger durch die Flut tragen zu lassen, oder Schuhe und Strümpfe auszu-ziehen und durchzuwaten“.
In einer Strasse, der Rua do Ouvidor, ist der Wagenverkehr ganz verboten. Dort sind die schönsten Läden natürlich denen von Buenos-Aires nicht vergleichbar , dort herrscht abends die hellste Beleuchtung, man sieht die elegantesten Flaneurs, und die feinsten Damenschleppen fegen das Pflaster. Man trägt sich sehr modern, sehr elegant in Rio, freilich mit jener etwas auffallenden,aufdringlichen Eleganz der Halbwelt. Der Pariser „dernier cri“ findet seinen Weg erstaunlich schnell über den Ocean, und je extravaganter,verrückter er ist, um so begeisterter wird er aufgenommen.
Im Zollhause hiess es: „Der Koffer ist noch nicht ausgeladen,Sie müssen morgen wieder kommen.“ Paciencia, Geduld, und mafiana heisst es auch in Brasilien, nur dass das portugiesische Wort amanhä lautet. „Warum sollst du heute tun, wozu morgen auch noch Zeit ist?“, lautet die Parole in ganz Südamerica.
Der Regen hatte nachgelassen. Ich war von einem Landsmann,Herrn St., an den ich einen Empfehlungsbrief abgegeben hatte, zum Essen eingeladen worden. Gesättigt und tatendurstig war mir zu mute. Wollen wir nach Capocabana fahren?, schlug Herr B. vor.Wieder gab es eine jener langen, entzückenden Bondfahrten, halb am Meer, halb an malerischen Felspartien entlang, wo man sich, un-endlich fern von einer langweiligen Grosstadt, in einer tropischen [deal-Schweiz wähnt. Da führt sogar ein langer Tunnel durch den Berg. Unser Tramwagen lässt diesmal die Wallfahrtskirche von Capocabana rechts auf der Höhe liegen; wir fuhren weiter dem Meere entlang, Lem& zu. Dort stiegen wir auf ein Viertelstündchen aus,wateten durch tiefen Sand dem Strande zu und erfreuten uns an dem ewig alten, ewig jungen Spiele der hier gewaltig rauschenden Wellen.
Ein andermal bin ich allein nach Capocabana gelangt. Nicht die Kirche ist es, die mir den Besuch unvergesslich gemacht hat:
Aus Central- und Südamerica.Das turmlose Gebäude mit dem flach gedeckten Langschiff erinnert eher an eine kleine Fabrik, als an ein Gotteshaus, aber die wunder-bare Umgebung bezauberte mich. Wenn ich so glücklich sein sollte,noch einmal Rio zu sehen, so würde mich einer meiner ersten Wege nach Capocabana zurückführen.
Lange sass ich allein auf einer Bank vor der Kirche. Ein lahmer,herrenloser Hund hatte sich herangeschlichen. Für solch vierbeiniges Elend pflege ich auf Reisen meist ein Brötchen in der Tasche zu führen. Wir waren bald innig befreundet, und das Tier wich nicht mehr von meiner Seite, bis ich den Tram bestieg. Mit der Elek-trizität konnte der arme Invalide freilich nicht Schritt halten. Ein-trächtig sassen wir zusammen auf der morschen Bank vor der öden Kirche. Inwendig ist sie wohl gerade ebenso morsch. Es geht wenig-stens die Sage, die Jungfrau Maria in höchst eigener Person pflege zuweilen händeringend am Strande von Capocabana zu wandeln und die Spaziergänger anzuflehen, ihr Heiligtum in würdigeren Stand zu setzen.
Man scheint in Brasilien überhaupt viel weniger auf schöne Kirchen zu halten, als in spanischen Landen. Ich habe in Rio nur eine einzige Kirche besucht, und zwar die schönste, die im Herzen der Altstadt gelegene Candelaria. Vor Jahrhunderten als Votivkirche begonnen sechs Bilder erzählen die Ursache ihrer Entstehung ,ist sie eben erst inwendig ausgebaut worden. Ihre Farben und Ornamente, besonders die gewaltige Pyramide, an der sich zahllose Kerzen aufbauen, erinnert mehr an einen prächtigen Ballsaal, als an einen würdigen deutschen oder altspanischen Dom.
Doch, ich bin auf der Bank vor der Capocabana-Kirche sitzen geblieben und schaue ins Blaue. Blau rings um mich her: blau die Luft, die See, der Himmel! Ich musste dabei an das Wort Copa-cabana denken, das in der Keshuasprache „etwas Blaues, das würdig ist, betrachtet zu werden,“ bedeutet. Offenbar müssen die Indianer Perus und Brasiliens dasselbe Wort kennen. Ich ging einige Schritte auf der Landzunge vorwärts, auf der Capocabana steht, und war von drei Seiten vom Meer umflutet. Nur die Inseln, der weisse Leuchtturm, die einzelnen grossen Gebäude, der weiss anbrandende Gischt werfen andere Farbentöne in das sonst ununterbrochene Blau.
Die Heimfahrt ist wieder schön. Sie führt an grauen, mit einer Art Aloe bewachsenen
Felsen vorbei, an schönen Gärten, aus denen die feurige Poincettia hervorleuchtet, an
langen Palmenalleen, wovon die eine am englischen Spital einmündet. Das riesige Totenfeld,
an
297 dem wir vorbeifuhren, heisst S. Joäo Baptista. Wie ein kolossaler,grauer Hüter der Toten nimmt sich von hier der bizarre „Zuckerhut“ aus.
Noch einmal sollte mich mein Weg hier vorbeiführen. Diesmal war mein Ziel der weltberühmte botanische Garten. Spricht man von ihm, So wird vor allem die herrliche Palmenallee erwähnt. Die Königspalme, Oreodoxa regia, eine Tochter Ostindiens, hat in Rio einen ihr noch besser zusagenden Boden, als in der Heimat, gefunden.Tschudi erzählt von einem Exemplar, das vor zwölf Jahren aus-der Nuss gezogen, schon 60 Centimeter über dem Boden einen Umfang von drei Meter besass. Am Manguekanal, an den Wasserreservoirs der Tijuca, vor dem englischen Spital, und an zahlreichen Orten mitten in der Stadt, erheben sich, gewaltigen Masten gleich, doppelte Reihen dieser Riesenkinder der heissen Zone. Grau, starr wie Gestein,aber mit lebensfrischen Kapitälen gekrönt, streben sie, gleich den mächtigen Säulen eines griechischen Tempels, empor. Einmal löste sich ein totes Blatt in der Höhe, eine ganze Weile rauschte es in der Luft, bis es mit einem knarrenden, seufzenden Laute endlich Ruhe fand auf der Mutter Erde. Zierlichere, dichtere Alleen, als die steife,majestätische Königspalme, bildet im botanischen Garten das Bambus-rohr. In regelmässigen Abständen gepflanzt, verästeln sich die mächtigen Laubpfeiler in der Höhe, greifen ineinander mit den feinen Spitzen und vereinigen sich zu einem undurchdringlichen Decken-gewölbe. Wasserkanäle durchziehen nach allen Richtungen die grosse Anlage, Cascaden murmeln von den Böschungen, stille Teiche, mit weissen und rosa Seerosen bedeckt, glitzern in der Sonne. Mit Aus-nahme einiger Arbeiter war «kein Mensch im Garten.
Ich suchte mir ein stilles Plätzchen im Grünen. Unmöglich!Blutdürstige Moskitos warfen sich auf die willkommene Beute und erlaubten mir kaum, einige Notizen niederzuschreiben. Und doch einzelne besonders interessante Bäume und Büsche mussten auf-gezeichnet werden. Da steht neben der Kokospalme die Elaeis guineensis mit stattlicher Krone, sie liefert das Palmöl; dort ist die Enterpe oleracea, die Kohlpalme. Mit Stamm und Blatt werden Häuser gebaut und Dächer gedeckt, während die zarten, frischen Triebe dem Feinschmecker zum köstlichen Gemüse dienen. Der in der Grösse eines Kirschbaumes wachsende, dunkelgrün blättrige Busch ist ein Cajü (Anacardium occidentale). Ach, wie viele Kindheits-erinnerungen tauchen bei diesem Namen auf. „Eine Frucht, die ihren Kern aussen an der Schale trägt“, erklärte mein Vater, Das war ja riesig interessant, interessanter noch als die Uistiti-Äffchen. Dazu kam
Aus Central- und Südamerica.noch der bedeutungsvolle Name dieses Kernes: „Elefantenlaus “.Leider war es nicht die Jahreszeit, „Elefantenläuse“ zu essen.
Allmählich gelangte ich an eine Lichtung. Plötzlich sah ich etwas Leuchtendes, metallisch Glänzendes durch die Lüfte blitzen und be-grüsste mit einem Jubelruf das lieblichste Wunder der Tropen, einige Kolibris. Smaragdgrün, rubinrot, huschten sie aus einem tiefdunkeln Blättermeer hervor, durchglänzten einen Augenblick den sonnen-durchfluteten Himmel, um im geheimnisvollen Wipfel eines hohen Mangabaumes wieder zu verschwinden. Einem luftigen Gedanken gleich schwirrt der Kolibri durch die Luft, ungreifbar zumeist und,wenn einmal gefangen, dem Tode geweiht. So klein, so rasch, so zierlich sind diese Geschöpfchen, als ob sie ein auf Erden ver-gessenes Spielzeug aus dem Paradiese wären. Sogar der prosaische Portugiese hat sich zu einer poetischen Regung aufgeschwungen,indem er die reizenden Wesen Beija-flores (Blumenküsser) benennt,und sie für die unschuldigen Seelen kleiner, verstorbener Kinder hält.
Lange stand ich da, so lange, dass ich nicht bemerkte, wie die in den Garten blickenden Bergspitzen sich in dichten Nebel hüllten.Ein paar schwere Tropfen! Ich eilte dem Ausgange zu. Mit Tropen-platzregen lässt sich. nicht spassen.
Rio besitzt zudem einen ganz herrlichen Garten-Park in dem Campo S. Anna. Er wurde unter dem Kaiser Dom Pedro II im Jahre 1880 auf einer ganz wüsten Fläche von 17 Hektaren angelegt. Jetzt gibt es da köstliche Baumgruppen, herrlich gepflegte Rasenplätze,breite Kanäle und Seen mit Inseln und buntfarbigen Wasservögeln.Kleine, zierliche Rusticabrücken spannen sich darüber, riesige Stein-nachahmungen von merkwürdigen Naturgebilden stehen da. Bizarre Grotten und lauschige Sitzplätze laden zur Ruhe ein. Im Hinter-grunde erhebt sich die schöne Bergkette der Tijuca.
Während ich da sass, brach etwas aus dem Dickicht hervor,ein Hase mit merkwürdig hohen
Hinterbeinen.. Kein Mensch im Garten schien Notiz zu nehmen, und ein Neger, den ich nach
dem Namen dieses unbekannten Geschöpfes fragte, lächelte mich nur blöde an. Bald
erschienen noch andere dieser Tiere, furchtlos trabten sie an mir vorbei dem Ententeiche
zu, wo sie sich Futter suchend in und um die Fressbehälter setzten. Halt, ich hab’s ! Das
müssen Aguti (Dasyprocta) sein. Halb Hase, halb Meerschwein, besitzen sie viel höhere
Hinter- als Vorderbeine, einen kleinen nackten Schwanzstummel,nackte, runde Ohren und
borstiges Haar von braungelber Farbe.A 7 N
Fazenda do Rio Negro.
Geheime, immer wieder sich regende Herzenswünsche trägt man oft lange mit sich herum, scheinbar vergeblich, bis plötzlich die Er-füllung wie auf rosigen Wolken zu uns hernieder schwebt wir stehen am Ziel. So geschah es mit meinem Besuch auf der Pflanzung meines lieben Vaters. Ich wusste, sie lag in der Nähe von Canta-gallo und hiess Fazenda!) do N* S® da Conceicäo do Rio Negro, oder einfacher Rio Negro.
Wie aber hingelangen? Das wusste ich nicht und das konnte man mir in Rio de Janeiro nicht sagen. „Nach Cantagallo, ja, da geht eine Eisenbahn, aber was aus der Pflanzung geworden, wer sie besitzt und wie weit entfernt vom Städtchen sie ist, das wissen wir nicht“.Ich fragte Herrn W., unseren Schweizerkonsul: „Haben Sie Bekannte in Cantagallo, an die ich mich wenden könnte?“ „Ja, gewiss, meine Nichte ist mit dem Richter des Städtchens verheiratet, ich will ihr sofort schreiben“. „Wann gedenken Sie hinzugehen?“ Das waren gute Nachrichten. Ich bestimmte einen der nächsten Tage.
Früh, allzufrüh für den weiten Weg von meinem Berghäuschen nach dem Schiffe, schlug die Abfahrtsstunde. Noch strahlten die Sterne am Himmel und Nacht lag über der Erde, als ich vor 5 Uhr morgens meine Türe abschloss und mit im Winde flackerndem Lichte zunächst bis zum Wohnhaus hinuntertappte. Bob, der Getreue, gab mir das Geleit bis zu der nahen Ausgangstür. Zum Glück brannte vor der-selben eine Gaslaterne, warf einen fahlen Schein auf das abschüssige Pflaster und seine vielen Löcher, und half mir glücklich um die Ecke.Kein Mensch weit und breit. kein Laut, als das Bellen der Hunde.\ Das spanische Wort Hacienda verwandelt sich im portugiesischen in Fazenda. Während die Estancias Grundbesitzungen sind, wo ausschliesslich Viehzucht betrieben wird, beschäftigen sich die Eigentümer der Haciendas oder Fazendas vorzugsweise mit Landbau. In Guatemala lautet der Name Finka.
N
Aus Central- und Südamerica.
Mir beginnt zu gruseln. Da, trapp, trapp, hinter mir; ein heisser Atem streift meinen Nacken, fürwahr, das wird ungemütlich! Ach, nur ein biederer Esel, der, aller Bande los und ledig, hier herum privatisiert!
In sechs Minuten hatte ich die Tramstation glücklich erreicht,wartete noch eine Weile, dann ging es auf altbekanntem Wege, diesmal bei dunkler Nacht, durch die Via Cattete an dem ewig schönen Gloria-park vorbei nach dem Largo Carioca. Jetzt hiess es die richtige zur Avenida führende Strasse finden. Wie gut, dass die Dämmerung bald in helles Tageslicht überging, denn noch zeichnet sich die neu an-gelegte Avenida durch mannigfache Löcher und Unebenheiten aus,noch sind überall Arbeiter beschäftigt. Zur rechten Zeit ich war in wildem Trabe den ganzen Weg gerannt kam ich an, löste meine sehr teure Fahrkarte und bestieg das Schiff, das mich über die Bai nach Nictheroy bringen sollte.
Zum erstenmal fuhr ich in einer brasilianischen Eisenbahn. Die Wagen sind eng und niedrig, die geflochtenen Sitze dagegen kühl und reinlich, auch mit dem Spucken auf den Boden ist es nicht so schlimm, wie in Mexico. Die guten Portugiesen und Brasilianer scheinen einen heilsamen Schreck vor tuberkulöser Ansteckung zu haben. Schwindsucht ist in diesem schönen, warmen Lande sehr ver-breitet und häufige Todesursache, namentlich bei Männern.
Was dagegen Brasilianern und Portugiesen fehlt, ist die spanische,speziell peruanische Höflichkeit Reisegefährten gegenüber. Kümmert man sich dort allzuviel um solch einen „avis rara“, wie eine fremde Touristin, und drängt ihr zu viel gute Räte, zu viel Speise und Trank auf, so fällt dies hier ganz weg. Kein Mensch kümmerte sich um mich. Ich war übrigens von der Schönheit der Fahrt so hin, dass ich nur für die herrliche Aussicht Augen hatte.
Die etwa 25 Jahre alte Leopoldinabahn gehört einer englischen Gesellschaft. Nach kurzer
Fahrt in der Ebene, strebt der Bahnzug von Bocca do Matto am Fusse der Serra de Boa Vista,
in starker Steigung und vielen Kurven durch ein schmales, schön bewaldetes Tal empor. Ein
weiss schäumender, wilder Bergbach sprudelt über grosse Felsblöcke, der Lütschinen gleich
im Lauterbrunnental. Ab und zu geniesst man einen Rückblick auf die blaue Bai von Rio und
ihre wunderbare Inselwelt, Hohe, schirmförmige Bäume mit kastanienartigen, weiss
bepuderten, grossen Blättern und lilablühende Bäume unterbrechen etwas die grüne
Stufenleiter der überreichen Tropenvegetation. Diese lila Blüten gehören in die Familie
der Melastomaceen und werden hier „Quaresmas“, Fastenbäume, genannt,
301 weil sie um diese Zeit ihre reichsten Blüten zu entfalten pflegen.Unter den Blattpflanzen wuchern Bambus, Ricinus, Chamaeropspalmen und Baumfarne, wie ich niemals schönere gesehen habe. Am Boden sind es Moose und Farne, an den Bäumen Schmarotzerpflanzen, wie Aroideen und Araceen, die im täglichen Kampf ums Dasein sich gegenseitig verdrängen wollen. Eigentümlich ist die Barba de Velho (Greisenbart), ein graugrüner Schmarotzer, der sich einem Heubündel gleich an die Äste hängt, und dem Baum allmählich die Lebenskraft aussaugt.
Bei 1096 Meter Höhe ü. d. M. erreicht die Bahn in Alto da Serra die Wasserscheide und senkt sich dann rasch auf das 876 Meter hoch gelegene Novo Friburgo herab. Während wir langsam durch den langhingestreckten Ort fahren, läutet die Lokomotive, wie in Nordamerica. Schweizernamen, wie Beauclerc und Monnerat, lese ich an den Häusern, und aus den Fenstern schauen weisse und schwarze Gesichter heraus, flattert blondes und schwarzes Haar. Novo Friburgo zählt etwa 2200 Einwohner, hat Gasthöfe, Bazare, Apotheken, einen Klub „Friburgenso“ und ist Sommerkurort gleich Petropolis.
Im Jahre 1819 ist Novo Friburgo als Schweizerkolonie gegründet worden. Nach dem fürchterlichen Hungerjahre 1817 hatte die Re-gierung des Kantons Freiburg beschlossen, einem Teile der ärmeren Bevölkerung die Auswanderung nach einem fremden Weltteile zu erleichtern, und deshalb einen gewissen Nicolas Gachet als Agenten zu König Johann VI nach Brasilien gesandt. Der König‘ zeigte sich nicht abgeneigt und bewilligte die Gründung einer Schweizerkolonie unter anscheinend für diese günstigen Bedingungen.
Nachdem am 9. Mai 1818 durch den Minister des Königs und den Agenten des Kantons Freiburg ein Vertrag unterschrieben worden war, kehrte letzterer nach seiner Heimat zurück. Dort hatten sich schon 2125 Auswanderungslustige auf die Liste setzen lassen, und zahlreiche katholische Angehörige anderer Kantone schlossen sich den Freiburgern an.
Von Anfang an schwebte kein günstiger Stern über dem Unter-nehmen. Als die Auswanderer sich in Amsterdam und Rotterdam einschiffen wollten, waren die Boote noch nicht segelfertig, und die Passagiere mussten zwei volle Monate lang unter den ungünstigsten Verhältnissen in diesen Hafenstädten auf die Abreise warten. Schon vor der Einschiffung starben 43 Personen. Nach langer, stürmischer Überfahrt langten die Auswanderer in acht verschiedenen Schiffen und in verschiedenen Zeiträumen an. Während der Reise waren nicht
Aus Central- und Südamerica.weniger als 321 Personen gestorben, so dass nur 1682 Emigranten in der schönen Bai von Rio de Janeiro landeten. Immerhin betrugen sie noch die doppelte Zahl der in Brasilien Vorgesehenen. Unterdessen waren die nötigen Ländereien für die künftige Niederlassung im Distrikte Cantagallo gekauft worden. Die Wahl war die denkbar unglücklichste, denn das für die Kolonie bestimmte Terrain bestand aus zum Teil sehr schroffen Hügeln und Felskuppen, und für Kaffee-kultur war das Klima nicht mild genug. Für die Auswanderer sollte überdies das Elend erst recht nach der Ankunft in Rio beginnen.Sie wurden unverzüglich nach Tamby, einer kleinen Ortschaft an der Mündung des Rio Macacı, geschafft, wo sie 14 Tage rasteten,um dann zu Fuss, auf schlechten Wegen und mit ihren Habselig-keiten schwer beladen, die lange Reise über das Gebirge fortzusetzen.Das Tal des Macacii ist eine der fieberreichsten Gegenden Brasiliens;die ungewohnte Hitze, die giftigen Sumpfmiasmen forderten daher wiederum 31 Personen zum Opfer, und viele brachten den tötlichen Fieberkeim mit sich nach Neu-Freiburg, wo in den ersten neun Mo-naten ebenfalls 146 Menschen dahingerafft wurden. Schon kurze Zeit nach der Landverteilung die Vermessung hatte volle fünf Monate in Anspruch genommen verliessen die unverheirateten Männer die neue Niederlassung und wandten sich weiter nach Norden, dem fruchtbaren, nur 500 Meter hoch gelegenen, mildern Cantagallo zu.Viele von ihnen wurden dort reiche Fazendeiros. In Novo Friburgo blieben nur die ganz Armen oder solche zurück, denen eine bessere Parzelle zu teil geworden, und die sich allmählich zu einer ziemlich günstigen Lage emporgearbeitet hatten.
In neuerer Zeit haben Eisenbahn, Viehzucht und Ackerbau den Ort,wie mir schien, sehr in die Höhe gebracht; zudem lockt die heisse Jahres-zeit viele Erholungsbedürftige aus Rio in dieses kühle Höhenklima.
Wir hatten’ einen längeren Aufenthalt, so dass ich mich in Novo Friburgo etwas umsehen
konnte. Das Städtchen liegt in einem weiten,von Bergen umgebenen Kessel. Einige davon sind
völlig vegetations-los und tragen. deshalb den Namen Morro queimado (verbrannter Berg).
-Vom- Friedhof- aus; den ich ziemlich hoch oben liegen sah,muss die Aussicht herrlich
sein. Unterdessen hatte ich mich wieder in den Waggon gesetzt. Einige früchte- und
kuchenverkaufende Neger-jungen hatten mich erspäht und belagerten mich nun mit ihrer
Ware.Ein besonders frecher, schwarzer Jüngling er trug wahrhaftig einen Zwicker lebt in
meiner Erinnerung weiter, umso lebhafter,als ich seine schwarze Galgenphysiognomie
photographisch verewigte.
303
Bald nach Neu-Freiburg kommt die freiburgisch-schweizerisch an-klingende Station Monnerat, und von dort bis Bom Jardim gibt es viele und schöne, mit roten Beeren übersäte Kaffeestauden. In Cor-deiro musste ich Zug wechseln, hier zweigt die Bahn nach dem Städtchen Cantagallo ab.
Auf dem Bahnhof empfing mich ein eleganter Herr, Senhor Ratisbona, Juiz Municipal und Neffe unseres Generalkonsul in Rio de Janeiro. Triumphierend hielt er mir ein Papier entgegen und las: „Im Jahre 1820 hat Rodriguez v. Graffenried das war mein Grossonkel die Fazenda Na Sa da Conceicäo do Rio Negro gekauft.{m Jahre 1827 ist sein Neffe, der damals 17jährige Eduardo v. Rodt mein Vater zu ihm auf die Fazenda gekommen, Im Jahre 1834 ist Rodriguez v. Graffenried gestorben, und sein Neffe Eduardo hat die Fazenda übernommen, und im selben Jahre ist ein neues Haus durch Senhor Eduardo erbaut worden. Im Jahr 1847 verkaufte dieser die Fazenda do Rio Negro den Herren Dietrich und Künzi, beides Schweizern.“
„Und wem gehört die Fazenda jetzt?“ unterbrach ich den eifrig Lesenden. „Dem Sohn des Herrn Dietrich. Ich habe einen Wagen bestellt, um morgen mit Ihnen hinzufahren.“ „Warum nicht gleich heute?“ rief ich erregt. So nahe am Ziel meiner Wünsche, erschien nir jeder Aufschub unerträglich.
Herr R. brachte mich in sein Haus zu seiner jungen Gattin Olympia und seinem Sohn Leandro. Dieser, ein sechs Monate altes Kind, ist für das gesunde Klima Cantagallos eine wahre Reklame,ain richtiges Ausstellungsbaby! Gross, wohlgenährt, rotwangig, paus-bäckig, wie ein derber Schweizerjunge, bildet er eine Ausnahme aınter den blassen, zarten, im heissen Brasilien geborenen Kindern.Ein vortrefflicher Kuchen, Obst und Kaffee wurden mir vorgesetzt,aber für meine Ungeduld dauerte es unendlich lange, bis der Wagen andlich kam. Herr R. erklärte, mich selber begleiten zu wollen, was ich mit Dank annahm.
In raschem Galopp ging es durch das nette Städtchen Cantagallo,der Jugendheimat meines lieben Vaters zu. Die. Fazenda Rio Negro liegt ungefähr 71/2 Kilometer vom Städtchen entfernt. Letzteres ver-dankt seinen Namen Cantagallo (Hahnengeschrei) einem sehr ge-fiebenen Goldschmuggler, den das Krähen eines Hahnes nach langem Suchen der Polizei verriet.
Endlich gelangten wir in ein langes, von Kaffeebergen ein-geschlossenes Tal. „Hier ist die Fazenda des Conde de Novo
Aus Central- und Südamerica.
Friburgo, sie stösst an die Fazenda do Rio Negro.“ Also auch hier nichts verändert! Ein Novo Friburgo, vermutlich der Vater des jetzigen Besitzers, war schon vor bald 60 Jahren Nachbar meines Vaters gewesen. Jener erste Novo Friburgo war als blutarmer Bursche aus Portugal nach Brasilien ausgewandert und zunächst als Aus-läufer und unterster Diener in ein Geschäft getreten. Das Glück lächelte ihm, er gewann die Gunst eines reichen Fazendeiro, begann glückliche Spekulationen, und wurde bald einer der grössten Grund-besitzer Brasiliens. Seinen Namen Antonio Clemente Pinto wandelte er nach der neuen Schweizerkolonie in Novo Friburgo um.
Der Weg war sehr holprig geworden. Grosse Löcher liessen den Wagen beinahe umkippen und
bald zogen wir es vor, zu Fuss zu gehen. Es war kühl und die Sonne am Untergehen. Weiche,
warme Töne lagen über der einsamen, bergigen Landschaft. Unter uns rauschte,einem dunkeln
Bande gleich, in mannigfachen Windungen der Rio Negro. Hie und da bildet er kleine
Stromschnellen. Die eine erkannte ich aus einer Aquarellskizze meines Vaters. Endlich
erschienen einige Hütten, eine zerfallene Mühle. Auch sie kam mir bekannt vor. Immer noch
weiter! Da endlich deutete der Kutscher auf eine Anhöhe mit einem langen, gelben Gebäude.
Hier ist die Fazenda! Von einer Art Laube, wo, wie bei unseren Schweizerhäusern, die
Treppe einmündet,blickten drei Paar neugieriger Mädchenaugen auf die späten, un-gewohnten
Besucher herab. Die Älteste und die Jüngste der drei Mädchen zeigten unverkennbar den
brasilianischen Typus, die Mittlere war ein blondes Schweizerkind, wohl das Abbild des
Grossvaters oder der Grossmutter. Aber auch von ihren frischen Lippen klangen nur
portugiesische Laute. Was mich aber am meisten in Erstaunen setzte, war, dass Herr D., der
Sohn eines schweizerischen Vaters und einer schweizerischen Mutter, ausschliesslich
portugiesisch sprach.Die jungen Mädchen, die Älteste mochte kaum 15 Jahre zählen, waren in
tiefer Trauer und schienen nicht recht zu wissen, was mit den unerwarteten Gästen
anstellen. Stumm, verlegen blieb die eine bei uns sitzen, während die andere eine Tasse
Kaffee holte, die dritte den Vater suchte. Endlich erschien er, offenbar hatte er sich
um-gekleidet. Er schien traurig und sorgenvoll. „Meine Frau ist vor wenigen Tagen
gestorben.“ Ach, hätte ich das gewusst, hätte ich geahnt, dass die drei jungen Mädchen mit
einem vierten Kinde nach unsern europäischen Begriffen waren sie ja noch alle Kinder
ausschliesslich den Haushalt besorgen, so wäre ich doch lieber erst den folgenden Morgen
gekommen und hätte besonders auf die Frage,
305 ob ich schon gegessen, nicht so hungrig bereitwillig mit Nein ge-antwortet. Später erst sollte ich ‚erfahren, dass auf den Fazendas schon um vier Uhr gegessen wird, und dass es seit der Sklaven-emanzipation mit den Dienstboten- und Vermögensverhältnissen auf vielen Pflanzungen traurig aussieht. Vorbei, wohl auf immer, sind die Zeiten, -wo die Fazendeiros in Saus und Braus in Rio lebten und auf ihren abgelegenen Fazendas einen Verwalter und einen Feitor (Sklavenaufseher) nach Belieben schalten und walten liessen.
Herr R. stellte mich vor und erklärte die Ursache meines Kommens; dann verabschiedete er sich, er wollte noch denselben Abend ungeachtet des schrecklichen Weges in Cantagallo eintreffen.Auch die drei jungen Mädchen verschwanden, sie mussten mir ja Essen und ein Zimmer bereiten und ich blieb mit Herrn D. allein.Mit grosser Bereitwilligkeit ging er auf meinen Wunsch ein, mir Haus und Gut zu zeigen. Sehr beklagte ich dabei die Schwierigkeit der Verständigung. So manches, was ich gerne erfahren, blieb dadurch unaufgeklärt. Herr D. zwar schien meine spanischen Fragen ganz gut zu verstehen, während es mir dagegen sehr schwer fiel, seine portugiesischen Antworten zu entwirren. Dabei sprach er schnell und leise.
„Das Haus ist gerade so geblieben, wie Ihr Herr Vater es im Jahre 1834 erbaut hat, nur die Laube mit der Treppe ist von meinem Vater angefügt worden.“ Ich pries innerlich den konservativen Sinn des Käufers und namentlich, dass Rio Negro nicht Hand geändert hat. Der jetzige Besitzer ist auf der Fazenda geboren. Meine Furcht,ein neues Gebäude und neue Besitzer, die von dem alten Herrn der Fazenda nichts wussten, zu finden, war also glücklicherweise ganz unbegründet gewesen.
Wir sassen im Salon. An den Wänden hängen Familienbilder.Herr D. hielt. die Lampe hoch empor, um mir jedes einzelne zu zeigen.Da blicken in schweren, vergoldeten Rahmen die Eltern D. und deren Eltern herab, richtige Schweizertypen. Dann wird mir das Bild der eben verstorbenen brasilianischen Frau D. mit liebendem Stolze ge-zeigt: Ein reizendes Geschöpf mit den dunkeln, schwermütigen Augen und dem elfenbeinfarbenen Teint ihrer Rasse. Daneben hängen die Bilder der mir bekannten jungen Mädchen, als kleine Kinder. Die teilweise nicht übeln Ölmalereien bilden den Schmuck des sonst sehr nüchternen Salons, der übrigens, wie ich später sehen sollte, für Bra-silien typisch ist. Vorhänge und Portieren, Nipp, Spiegel und Tische fehlen gänzlich. An der Hauptwand steht ein grosses, mit kleinen,
Aus Central- und Südamerica.weissen, gestickten Decken behangenes Sofa aus Jacarandä (Palisander-holz). Der Sitz ist aus Rohrgeflecht. Links und rechts vom Sofa stehen im rechten Winkel, symetrisch aufgestellt, je ein Armsessel und noch drei Stühle, im Stile des Sofas, einander gegenüber. An Stelle eines Tisches sind zwei Consolen an der Wand. In der Mitte des Zimmers steht das unvermeidliche Klavier. Lieber nicht lesen und schreiben,als nicht Piano klimpern können, heisst es beim Südamericaner,besonders beim Brasilianer. Eines noch habe ich vergessen: Zwei grosse, sehr bunte, vasenförmige Spucknäpfe, ebenso schön symetrisch,wie die Stühle, rechts und links vom Sofa aufgepflanzt.
Noch einfacher ist das Esszimmer. Es liegt zu ebener Erde auf der Hinterseite des Hauses und enthält einen grossen, langen Tisch,einfache Stühle, einen Geschirrschrank und eine Wanduhr. „Der Tisch und einige Stühle stammen noch aus Ihres Vaters Zeit her,“bemerkte Herr D. Unwillkürlich strich ich liebkosend über das harte Holz. Wie gut tut es in so. weiter Ferne, am väterlichen Tische zu sitzen! ;
Sehr früh geht man in Brasilien auf dem Land zu Bette. Ich lag ungeachtet aller Müdigkeit schlaflos in meinem grossen, vier-fenstrigen Zimmer. Der Rio Negro toste unter mir wie ein Wasserfall,und der Wind strich über mein Bett hin. Die Fenster hatten teils zerbrochene Scheiben, teils waren sie mit Papier überklebt, das bei jedem Luftzug leise knisterte. Der Weg zu meinem Zimmer führte mich durch eine kleine Hauskapelle, wie frommer Brauch sie in den fern von Kirchen gelegenen Fazenden errichtet, Über dem blumen-geschmückten Altare brannte eine ewige Lampe. Die warf einen eigentümlich wehmütigen, geheimnisvollen Schein in mein Zimmer.Meine aufgeregten Nerven glaubten, die vor wenigen Tagen ge-storbene Frau des Hauses in ihr Zimmer und auf ihr Bett zuschreiten zu sehen, in dem ich lag. Dann änderte sich das Bild. Mein Vater stand vor mir: „Bist Du auch da, wie kommst Du hieher?“ fragte seine wohlbekannte Stimme. Von ihm schweiften meine Gedanken zu dem längst vor meiner Geburt gestorbenen Onkel Rudolf, den sie hier Rodriguez nannten. Er war wohl einer der allerersten weissen Be-wohner dieses Distriktes gewesen. Was mag ihn veranlasst haben,die Axt des Ansiedlers zu ergreifen und fern von seiner Familie,seinem väterlichen Schloss, fern von allem, was ihm lieb und teuer war, in weitem, undurchdringlichem Walde eine Heimat zu suchen?
Aus jener längst verflossenen Zeit von 80 und mehr Jahren sollte ich am folgenden Morgen
noch einen lebendigen Zeugen sehen, einen
307 ehemaligen Sklaven meines Grossonkels, Namens Luiz. Während 18 Jahren hatte Luiz auch meinem Vater gedient und war dann-mit der Fazenda an Herrn D. verkauft worden. Sein neuer Gebieter hatte dem damals 60 jährigen Luiz, nach brasilianischer Sitte, die Freiheit ge-schenkt. Er war als freier Arbeiter auf der Fazenda geblieben. Auch als die Kunde der Sklavenemanzipation wie ein Lauffeuer durch das ganze Land gedrungen war, hatte sich Luiz nicht entfernt, sondern war wie ein treuer Kettenhund an seiner jetzt freilich ganz lockeren Kette geblieben. Der weit über 100 Jährige geniesst das Gnaden-brot auf Fazenda do Rio Negro.Ich habe seither die in den 40er Jahren geschriebenen Briefe meines Vaters gelesen und darin immer wieder Folgendes ausge-sprochen gefunden: „Ich muss einen guten, menschenfreundlichen Käufer für meine Pflanzung ab-warten, denn ich würde mir ein Gewissen daraus machen, meine Leute an den ersten besten Schin-der zu verkaufen“. Dieser Wunsch scheint hier in Erfüllung gegangen zu sein. Abgesehen von Huma-nität, lag es übrigens im Interesse eines jeden Fazendeiro Seine Sklaven gut zu behandeln, denn sie waren ein teures Besitztum.Ein guter Neger wurde in den 40er Jahren mit 300 Mil Reis bezahlt, ungefähr Fr. 2500 in franzö-sischem Golde, später stiegen die Sklaven noch erheblich im Preise,Sehr früh am folgenden Morgen stand ich auf. Es galt die Zeit auszunützen, da ich noch denselben Tag wieder in Cantagallo ein-treffen wollte. Zunächst führte mich mein Weg in die Küche, wo ich schon die Töchter des Hauses und ein kleines, schwarzes Aschen-»rödel in vollster Arbeit fand. Von da ging es in die ehemaligen Wohnungen der Sklaven. Teilweise liegen sie im Unterstock des Hauses, teilweise in einem langen Gebäude zu ebener Erde dicht daneben, Senzales genannt. Längs der ganzen Langseite des Gebäudes,ungefähr ein Meter über dem Boden, stehen Pritschen. Jede Pritsche ist etwa meterbreit und durch eine meterhohe Wänd von der Schlaf-
Luiz.
Aus Central- und Südamerica.stelle des Nachbarn geschieden. Auch nach vorn ist sie durch eine Esteira (Strohmatte) vom Korridor abgeschlossen. Dieser. läuft durch die Mitte des ganzen Gebäudes und enthält eine Menge kleiner Feuerstellen, auf denen die Neger sich abends gerne noch etwas extra zu kochen liebten. Die Hauptnahrung bestand damals und be-steht heute noch bei den Schwarzen aus Anguü, einem Brei von Mais-mehl und Wasser, Carne secca, an der Luft getrocknetem und ge-salzenem Fleisch, und schwarzen Bohnen, Feijao. Letztere erscheinen bei Arm und Reich täglich auf jedem brasilianischen Tisch, mit Carne secca zusammen gekocht und mit Mandiocamehl reichlich bepudert,
Unterdessen war der alte Luiz aus seiner Behausung hervor-gekrochen und sah sich ebenso neugierig die Tochter des Padron Eduardo an, wie diese das elende, runzlige, zusammengeschrumpfte,schwarze Männchen, an dem nur das Haar weiss hervorleuchtete,sich betrachtete. Ja freilich, er erinnerte sich noch an Padron Rodriguez, seinen ersten Herrn, und an Padron Eduardo. „Wie kam es denn, dass dieser so jung gestorben ist? Hatte er noch andere Kinder ausser mir hinterlassen und warum war er nie mehr auf die Fazenda gekommen?“ Das alte, wohl 120 jährige Gehirn wie alt Luiz ist, weiss niemand genau, damals bestand ja noch kein Zivil-stand schien noch ganz klar zu sein. Gehorsam humpelte er, den grossen Hut in der einen, den langen Stock in der anderen Hand,der Hausmauer zu und kauerte nieder, um sich photographieren zu lassen. Eine kleine Geldgabe schien den Alten sehr zu freuen.
Nun ging es mit Herrn D. und seiner Ältesten hinaus in den taufrischen Morgen. Berge, Fluss und kühle Luft liessen mich einen Augenblick von der fernen Schweiz träumen, aber Palmen, Kaffee-bäume und tropische Pflanzen riefen mich schnell in die diesmal so schöne Wirklichkeit zurück.
Unten am Berge steht ein verfallenes Kolonistenhaus. Soviel ich Herrn D. verstanden habe,
gibt es deren bei 40 auf der Fazenda.Ein Terreiro (Kaffeetrockenplatz) von ungefähr 800
Quadratmeter Ausdehnung liegt davor. Jede Pflanzung besitzt je nach ihrer Grösse 416
davon. Diese Terreiros sind grosse Tennen aus Granitplatten,Ziegeln oder Zement. Die
Kaffee-Ernte hatte soeben angefangen und von den Kaffeebiüschen wurden mit Rechen unreife,
reife und über-reife Früchte gestreift. Um teure Arbeitskräfte zu sparen, und
wahr-scheinlich auch aus angeborener Trägheit, wird in Brasilien nur einmal im Jahr,
Mai-Juni, geerntet. Ein Karren war eben geleert worden und ziemlich flüchtig hatte man
Erde, Steine, Blätter und
Brasilien.
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Zweige daraus entfernt und die Früchte auf dem Terreiro ausgebreitet.Dort sollten sie, möglichst der Sonne ausgesetzt und täglich gewendet,langsam trocknen. Dann kommt der Kaffee in die mit Wasser- oder Dampfkraft betriebene Mühle, „Engenho“ genannt, und wird ähnlich
Ein mittlerer Ertrag von 1000 Kaffeebäumen bringt jährlich 50 bis 60 Aroben. Eine Arobe ist gleich 15 Kilo. Man kultiviert Java-;Mokka-, Liberia- und grossbohnigen Bahia-Kaffee. Herr D..machte mich auf besonders reich tragende Büsche aufmerksam. Sie trugen ockergelbe Früchte. „Der heisst Botucatıi und ist sehr fein.“ „Wird er denn nicht besonders‘ gepflückt und getrocknet?“, fragte ich:„Ach nein, das wäre zu zeitraubend, die Kaffeepreise stehen ja so niedrig“, meinte achselzuckend Herr D.
Unterdessen hatten wir auf einer Brücke den Rio Negro über-schritten. „Ihr Herr Vater hat sie noch erbaut, aber geben Sie acht,die Bretter sind ganz faul.“ Dasselbe hatte ich schon bei einigen Zimmerböden bemerkt. Rio Negro ist entschieden dem Verfall nahe,und doch von meinem pietätsvollen Standpunkt aus ist mir das viel lieber, als eine moderne Anlage von fremder Hand. Eines nur ver-misste ich: den schönen Urwald. Strauchwerk und abgesägte Strünke von Riesenbäumen geben noch traurige Kunde von gewesener Pracht.Alle die Lieblinge und Pfleglinge meines Vaters hat aber die mör-derische Axt und das noch verderblichere Feuer vernichtet, und deshalb ist auch der Fluss, der Rio Negro, so viel schmäler und wasserärmer geworden.
Die Kaffeebäume können bis zum 50. Jahre bei guter Pflege Ernten geben. Am besten gedeihen sie auf bergigem, frisch ausge-rodetem Urwaldboden. Das Zuckerrohr dagegen wächst hier auch in der Ebene. Herr D. zeigte mir die verschiedenen Kaffeeanpflan-zungen, die alten, längst im Ertrage stehenden, und die neu an-gelegten. Dabei waren wir immer weiter gewandert, hatten immer wieder neue Ausblicke in das malerische Tal genossen. Selten kamen wir an einem Häuschen, einem Neger vorbei. Die tiefe Stille wurde nur durch merkwürdige Töne unterbrochen, deren Ursprung ich mir gar nicht reimen konnte. Sie wurden lauter und lauter. Ein Ochsen-wagen kam langsam hinter uns her. Wie sonderbar vorweltlich sehen die plumpen, hölzernen Räder aus! Sie drehen sich auch nicht auf ihrer Achse, sondern Achse und Räder drehen sich zusammen,und wahrhaftig, die Musik kommt aus diesen Rädern. Die Portugiesen halten grosse Stücke auf das ohrzerreissende Quietschen. In Por-
Aus Central- und Südamerica.tugal unterlassen sie deshalb das Salben der Räder, und in Brasilien bedient man sich ausserdem eines besonders musikalischen Holzes bei deren Verfertigung. Allen Ernstes behaupten die Portugiesen,ohne diese Musik wären die Ochsen gar nicht in Marsch zu bringen,
Es war Zeit, in die Fazenda zurückzukehren. Ein reiches Mahl wartete dort unser, die guten Mädchen hatten ihre ganze Kochkunst aufgeboten. Arme, einsame Kinder, ohne liebende Mutterpflege, allein auf der abgelegenen Pflanzung mit dem sorgenvollen Vater! Herr D.hatte mir geklagt, der rege Verkehr mit den Nachbarn zu Lebzeiten seines Vaters hätte ganz aufgehört. Die einen wären tot, die andern weggezogen, und selten nur käme ein Gast nach Fazenda do Rio Negro.
Herr D. hatte sich in feierliches Schwarz geworfen, er wollte mich nach Cantagallo
geleiten. Die Pferde standen bereit, ein herz-licher Abschied, noch einen. letzten Blick
auf das liebe, alte Haus,und wir ritten dem Städtchen zu, wo das Riesen-Baby Leandro, Herr
ınd Frau R. und eine abermalige Mahlzeit meiner harrten,
Umgebung von Rio de Janeiro.Hinter den gewaltigen Bambusbüschen der Fortaleza erhebt sich in stolzer Höhe die kühne Silhouette des Corcovado.
Sei erklommen, du Grosser in deinem Reich! Auch dem schlech-testen Fussgänger bist du erreichbar! Er setzt sich einfach in die Eisenbahn. Stellenweise beinahe senkrecht, klettert das Dampfross empor, kühne Brücken, schaurige Schluchten spielend bezwingend.Eine märchenhafte Vegetation entfaltet sich zu beiden Seiten der Linie, und ebenso märchenhaft sind die Ausblicke auf das Meer, die phantastisch geformten Inseln und die unzähligen, weissen Häuser der Stadt. Der oberste Gipfel muss zu Fuss bewältigt werden; für den meist trägen Brasilianer ein so hartes Muss, dass er sich kaum öfter als einmal in seinem Leben bis auf den Aussichtspunkt wagt.Mein Begleiter und ich dägegen eilten im raschesten Tempo den steilen Felsenpfad hinan, denn verdächtige Nebelfetzen flogen schon umher und hängten sich, gerade wie bei uns, als undurchdringliche Schleier vor das bezaubernd schöne Bild.
Da stehen wir 717 Meter hoch. Berge begrüssen uns von allen Seiten. Tief unten und nach allen Richtungen hin weit zerstreut,liegen, gleich zierlichem Kinderspielzeug, die Häuser Rios, unter denen sich die Candelariakirche, das Irrenhaus und die Militäranstalt gross abheben. Immer wieder zieht sich leider eine neidische Nebel-wand zwischen uns und die Aussicht, und glücklich müssen wir uns schätzen, wenn da und dort die frische Meeresbrise ein blaues Loch hineinbläst.
Ein zweiter Ausflug auf den Corcovado brachte mich nur bis zur halben Höhe, zur Station des „Grand Hotel des Etrangers.“Wiederum wurde ein Festtag gefeiert. Diesmal war es der-Freudentag der Schwarzen, das Andenken an die Sklavenbefreiung vom 13. Mai
Aus Central- und Südamerica.
1888. Die beiden Negerinnen im Hause B. hatten sich schon einige Tage vorher darauf vorbereitet, die krausen Haare erschienen noch straffer gewickelt, als sonst, und bis spät in die Nacht wurden zart-farbige Gewänder unter eifrigem Gespräch gebügelt. Das Resultat all dieser Bemühungen war denn auch ein verblüffendes, Leider war aber dabei Jourdine, der Wäscherin, der Kamm nicht nur nach aussen,sondern auch nach innen geschwollen. Sie verlangte, den Abend,vermutlich auch die Nacht, in der Stadt zuzubringen. Die Herrschaft schlug dies ab und bot ihr dafür an, nachmittags nach Rio zu gehen.Jourdine schmollte und blieb den ganzen Tag zu Hause. Sie schmollte auch die folgenden Tage, schmollte noch den 18. Mai, am Tage meiner Abreise. Pechschwarze Schmollerei!
Herr B., mein freundlicher Gastgeber, hatte zur Feier der Sklaven-befreiung auch einen freien Tag. „Wollen wir auf den Corcovado?“schlug er vor. Frau B. konnte sich leider nicht entschliessen, das Marianneli zu Hause zu lassen. So gab sie uns nur das Geleit, und wir setzten uns ohne sie in die Zahnradbahn. Eine kurze Strecke nur; wir stiegen schon an der Hotelstation aus. Das stattliche Haus liegt in einer Höhe von zirka 450 Meter. In der heissen Jahreszeit viel besucht, ist es in diesem Augenblick .ganz verlassen und ver-ödet. Hinter dem Gasthof führt ein nahezu ebener, gewundener Waldweg um den Berg nach der sogenannten Teufelsbrücke.
Wir wanderten bis dorthin eine schwache Stunde, und während der ganzen Zeit hatten wir den schön gemauerten Kanal der Wasser-leitung zu unserer Rechten. Eine halbe Stunde vorher hatte ich auf dem Theresienberg das grosse Sammelbecken bewundert. Auf kühnem Aquädukt läuft das Wasser von da in die Stadt bis zum Largo da Carioca. Diese grossartige Wasserleitung ist nach dem Muster der Lissaboner-Wasserwerke schon im Jahre 1740 von den Portugiesen fertig erstellt worden und bildete bis 1884 die ausschliessliche Wasser-zufuhr der Stadt,
Herr B. hatte sich gleich zu Anfang einen Stock geschnitten, da die Bogen der Leitung ein Lieblingsaufenthalt der feuchte Wärme liebenden Schlangen sein soll. Die Vorsichtsmassregel erwies sich als unnütz. Ich hatte das Glück, während meines ganzen Aufenthaltes in Brasilien keine einzige Schlange zu Gesicht zu bekommen.
Herrliche Bäume mannigfachster Art beschatten den breiten, wohl-gepflegten Weg, auf dem
es sich wie in einem Waldpark wandelt.Moose und Farne aller Art wachsen am Bergeshang. Hie
und da nickt eine farbenprächtige Orchidee aus der Höhe: „Gelt, du möchtest mich
313 erwischen“. „Versuchs!“ Dasselbe schienen die ab und zu aus dichtem Waldesdunkel hervorschwebenden, wundervollen Schmetterlinge zu sagen, die märchenhaft grossen, blauen, nach denen mein Herz ge-lüstete. Lianen schlingen ihre dichten Ranken von Baum zu Baum und bilden natürliche Einrahmungen für die entzückenden Landschafts-bilder, die jeder Ausschnitt, jede Wendung des Weges bietet. In diesem grünen Rahmen erscheinen Bucht und Himmel noch einmal so durchsichtig blau.
Auf der Teufelsbrücke war es so feuchtglatt, dass ich mich kaum vorwärts wagte, kaum mich umzublicken getraute, Ahnte ich wohl schon das heimtückisch lauernde Verhängnis? Herr B. hoffte, den 11 Uhr Zug zu erreichen. Wir liefen daher im schnellsten Tempo zurück, um dennoch nicht zeitig genug zu kommen. „Gehen wir zu Fuss, so können wir den elektrischen Theresienbergertram bis zur Fortaleza benutzen!“ Gesagt, getan! An einem echt tropischen,palmenbeschatteten Gartenhäuschen vorbei, durch eine enge Schlucht,erreichten und betraten wir den jäh absteigenden Schienenweg der Bergbahn. In bestimmten Zwischenräumen liegen die Schienen frei über etwa metertiefen Gräben. Wir waren jetzt im vollen Sonnen-lichte, und Schmetterlinge aller Farben und Grössen flatterten um uns herum. Mein Begleiter suchte mit seinem Schmetterlingsnetz einen zu erhaschen. „Halt, da fliegt ein herrlicher Morpho!“ O weh,plötzlich fühlte ich keinen Boden unter mir, ich war in einen der Gräben gefallen. „Es ist nichts“, rief ich schnell dem erschrockenen Herrn B. zu, „ich habe nur meinen Sonnenschirm, aber selber kein Glied gebrochen.“ Weh tats freilich. Mein rechtes Bein war hart an den Schienen aufgeschlagen und trug noch lange einen schwarz-blau-grünen Denkzettel vom Corcovado. Vorläufig diente der steile Abstieg zur heilsamen Massage, umso mehr, da auch der elektrische Tram gerade an uns vorbeigesaust war, und wir nun den ganzen Weg zu Fuss machen mussten.
Mein anderer Landsmann, an den ich eine Empfehlung hatte,wohnt ganz auf der entgegengesetzten Seite Rio’s, im Tijucaviertel,Zwischen den Larangeiras und den Tijuca-Bewohnern herrscht eine gewisse Rivalität. Jeder lobt die Reize seines Berges (Corcovado und Tijuca), seiner Luft, seiner bequemen Zufahrten zu der Stadt, „Wir sind elektrisch“, ruft ein Larangeiraner, „und Ihr habt ja nur einen Eselstram nach der Tijuca“, Ich stelle mich natürlich auf die Seite der Laran-geiraner, bin ich doch ganz entzückt vom Corcovado und der zu seinen Füssen liegenden Fortaleza.
Aus Central- und Südamerica.
Nichtsdestoweniger habe ich zwei unvergesslich schöne Sonntage an und auf der Tijuca verlebt, Der höchste Gipfel dieser beträcht-lichen Kette ist der Papagaio, der an bizarrer Gestalt dem -Corcovado ähnlich sieht. In ihre Täler und Höhen führen schöne, breite Chausseen,Gut gehaltene Wege durchkreuzen den Wald nach allen Richtungen,Sie sind das Werk Dom Pedro’s II, der ein grosser Naturfreund war.Er besass auch einen Sommerpalast, oder besser gesagt eine sehr schlichte Villa auf der Tijuca.
In starken Windungen führt die elektrische Bahn ziemlich hoch den Berg hinan:. Wir machten bei einem grossen Gartenrestaurant Halt.Wenn ich nicht irre, hiess es Jardim do Alto da Boa vista. Herr St.bestellte einen Vierspänner, und bis dieser bereit war, spazierten wir zu einer prächtigen Cascade, deren. wundervolle Wassermenge brausend auf grosse Steinplatten niedertost. Langsam schlenderten wir weiter bergaufwärts durch den herrlichen Hochwald, den schönsten um Rio. Des freuten sich wohl die gemächlich hinter uns trabenden Maultiere, Später sollten sie noch genug an uns zu schleppen be-kommen bis hinauf zum Tijuca-Plateau. Oben auf luftiger Höhe fanden wir eine Menge Volks, am Bergeshang liegend oder sitzend. Die Aussicht auf Rio ist ähnlich, wie vom Corcovado. Viele sehenswerte Punkte gibt es ausserdem auf der Tijuca, wie die Vista chineza, die Grotte von Paul und Virginie, und weiter unten die seenartigen Sammelbecken der Tijuca-Wasserleitung. Hohe Palmenalleen führen hinzu, und an ihren Ufern entwickelt sich eine. fast überreiche Vegetation.
Mit dem ersten Ausflug nach der Tijuca verband ich den Besuch des ethnographisch-naturhistorischen Museums. Professor E. Göldi,von Geburt ein Schweizer, der geniale Schöpfer des Museum Göldi in Parä, wurde seinerzeit vom Kaiser nach Rio zum Ordnen dieses Museums berufen. Seit der Republik befindet es sich in Saö Chri-stoväc, einem Palast, wo sich der Kaiser vorzugsweise aufhielt, um sich mit Astronomie zu beschäftigen.
Das sehr schön gehaltene und geordnete Museum enthält mannig-fache Gegenstände aus vieler
Herren Länder, aber für mich hatte natürlich das speziell Brasilianische am meisten
Interesse. Da waren eine Menge indianischer Federarbeiten, phantastischer Kopfputz aus
Arrasfedern, Pfeile, kunstreiche Flechtarbeiten, Schnitzereien aus Kokosnuss, das Schönste
aus der Provinz Matto Grosso stammend.Ferner eine Menge Mineralien; die mannigfachen,
prächtigen Holz-arten Brasiliens, schön poliert und geordnet, ein grosses
Herbarium,
315
Fische, Muscheln, Indianerschädel und -Skelette und eine besonders reichhaltige Vögelsammlung, speziell aller Colibriarten. Zwischen-durch musste ich immer wieder einen Blick aus den Fenstern werfen.Für mich war diese Aussicht auf die Tijucaberge und die an ihrem Fusse liegenden Quartiere ein ganz neuer. Der Park des, Palastes muss zu Kaisers Zeiten sehr schön gewesen sein. Jetzt ist er eine wüste Trümmerstätte, und der grosse, flussartig sich windende Teich ist so versumpft, dass gewichtige Wasservögel auf seiner grünen Oberfläche bequem Parade stehen können. Doch auch hier wird der rege Präfekt binnen kurzem Ordnung schaffen.
Dieselbe frühe Morgenstunde wie nach Cantagallo .es war sogar eine Viertelstunde früher brachte mich einen Tag später nach der Prainha. Heute war der Morgen besonders klar, die Fahrt auf dem Dampfer besonders herrlich. Oder war es der Gedanke nun bald dieses wunderbar schöne Rio verlassen zu müssen, der mir alles so verklärte? Im Osten war soeben die Sonne aufgegangen. Die Inseln und Inselchen schienen leise auf der leichtgekräuselten, golden-blauen Meeresfläche auf und nieder zu schweben. Hinter uns hatten wir das Häusermeer Rios im goldenen Duftschleier gelassen, vor uns ragten aus rosigen Wolken die phantastischen Zacken des Orgel-gebirges hervor, „Finger Gottes“ habe ich sie nennen hören, Nach einer guten Stunde landeten wir in Porto do Mauä, wo die Eisenbahn unserer wartete. Streckenweise führte unser, zunächst ganz ebener Weg durch sumpfiges Terrain; aber auch hier macht sich eine fast überreiche Vegetation, bald hätte ich unverschämte gesagt, breit. In zwanzig Minuten sind wir am Fusse der Serra da Estrella. Dort wird der Zug geteilt. Eine Lokomotive schiebt je zwei Personenwagen bergaufwärts. Die 900 Meter Höhe werden mit 15° % Steigung durch eine Zahnstangenbahn bewältigt. Sie ist durch unseren bekannten Schweizer-Ingenieur Riggenbach erbaut worden. Unterdessen waren von oben eine ganze Reihe Züge eingetroffen. Wem es die Verhältnisse erlauben, der wohnt wenigstens im Sommer in dem kühlen, gesunden,gelbfieberfreien Petropolis. Diplomaten, Kaufleute, Beamte begeben sich für ihre Geschäfte meist täglich in der Frühe nach Rio hinab und fahren nachmittags nach Petropolis zurück, immerhin eine an-ständige Reise von sechs Stunden,
Mitten durch himmelanstrebende, schroffe Berge führt der Weg durch herrlichen Wald, an
tiefen, schön bewachsenen Schluchten vorbei. Von allen Seiten tosen und rauschen wilde
Bäche und Wasser-fälle. Ich hätte mich im Berner Oberland wähnen können, wenn nicht
Bei Alto da Serra waren wir nach halbstündiger Fahrt auf der Höhe. Die Berglokomotive wurde mit einer gewöhnlichen vertauscht,und nach weiteren 20 Minuten gelangten wir nach dem in einem Kessel gelegenen Petropolis.
Die elegante, schon recht grosse Stadt ist neueren Datums. Im Jahre 1845 hiess sie noch Corrego secco und war eine Fazenda Dom Pedros II. Also auch hier eine Schöpfung des verbannten Kaisers,Verlockt durch Versprechungen von hohem Lohn, Reichtum, Über-fluss waren im Jahre 1843 an die 2300 Auswanderer aus Deutschland nach Rio gekommen. Da die Regierung nicht die geringsten Vorkehr-ungen für ihre Aufnahme getroffen hatte, kamen sie bald in Not und Elend. Um diesem abzuhelfen, beschloss der Kaiser eine Kolonie auf seiner Fazenda zu gründen und einen Palast daselbst bauen zu lassen. Den Kolonisten wurden Landlose zugeteilt. Sie mussten sich zunächst Hütten bauen und den Wald roden, um Getreide anzupflanzen.Daneben fanden sie bei dem Bau des kaiserlichen Palastes und dem Strassenbau über das Gebirg nach der Provinz Minas Geraes auf lange Zeit reichlichen Verdienst.
Von dem fast kesselförmigen Zentrum breitete sich die Nieder-lassung über die radienförmig auslaufenden Täler der Umgegend aus,Zum Mittelpunkt hatte sie den kaiserlichen Palast. Die Kolonie war in 22 Quartiere eingeteilt, die nach der Heimat der dort nieder-gelassenen Kolonisten benannt wurden. Da war ein Schweizertal, ein Unterrheintal und ein Oberrheintal, ein Palatinat, ein Mosel- und ein Nassauertal u. s. w. Ob sie ihre Namen alle noch beibehalten haben,weiss ich nicht, jedenfalls existiert noch das Schweizertal und das Palatinat.
Petropolis ist allmählich zu einer Art Baden-Baden geworden ;feine Equipagen fahren in
den langen, schattigen Alleen auf und ab,und elegante Villen viele im Schweizerstil
blicken aus schönen Gärten hervor. Wie das alles blüht und glüht! Nur die
weissen,zahlreichen Kamelien prangen in kalter, farbloser Pracht auf steifem Stengel.
Lange Strassen mit zahlreichen, im ganzen bescheidenen Läden ich meine äusserlich, nicht
was die Preise anbetrifft wechseln mit eigentlichen Villenquartieren ab. Ein breiter Kanal
durchzieht einen guten Teil der Stadt, malerische, sich hoch in der Mitte wölbende
Holzbrücken führen hinüber, und eine schöne Art Bergpinie läuft alleenartig zu beiden
Seiten des Wassers.
317
Ein besonders schöner Stadtteil heisst „Avenida Köhler“, in
Erinnerung an Major Köhler, den Gründer und ersten Direktor der deutschen Kolonie auf Petropolis. Jetzt leben zwar eine Menge brasilianischer Familien hier oben, aber das deutsche Element ist dabei durchaus nicht untergegangen, es mögen ungefähr 4000 Deutsche hier wohnen. Deutsche Namen, deutsche Typen, deutsche Sprache hört und sieht man an jeder Strassenecke, und wenn ich um Auskunft oder nach dem Wegfragte,konnte dies ruhig in deut-scher Sprache geschehen.Deutsch klang mir meist auch die Antwort entge-gen. Petropolis besitzt eine deutsch - protestantische und eine deutsch -katho-lische Kirche, .
Einige Stunden war ich in brasilianisch-Inter-laken umher gewandert,hatte einen bescheidenen,aber teuren Imbiss genos-sen, mich etwas in den beiden, durch die Strasse getrennten reizenden, klei-nen, öffentlichen Gärten ausgeruht und fühlte mich tatendurstig. Ich wollte Natur, nicht Pariser Ele-ganz und Toiletten sehen.
„Wo ist es am schönsten,wenn ‚man draussen vor der Stadt spazieren will?
„Im Schweizertal,“ lautete die Antwort, Ja, da wollte ich hin. Ich liess mir den Weg beschreiben, verlief mich erst etwas, bis ich mich endlich auf einem schmalen, vom Regen ausgewaschenen Pfade in engem Tale befand. Zu meiner Rechten rauschte eines der zahlreichen Bergflüsschen, deren Wasserreichtum .die breiten Kanäle in der Stadt bedingen. An den Ufern des Itamaraty, so hiess ‚das Flüsschen im Schweizertal, wächst ein wahrer Urwald von Riesenkaladien und wind-zerfetzten Bananenstauden, Da und dort. schimmert ein winzig Häus-
Im Schweizertal bei Petropolis.
Aus Central- und Südamerica.chen durch, dessen Hauptschmuck herrliche Schlingpflanzen oder feurig leuchtende Poinsettia bilden. Auf der hohen Böschung zur Linken und wie Schwalbennester angeklebt, sehe ich einige Hütten,und zahlreiche blonde und schwarze mir begegnende Kinder deuten auf die Bewohntheit des Tales. Und doch, wie still, wie friedlich!Blumenpflückend, Schmetterlinge zu haschen suchend, bin ich höher und höher emporgestiegen. Blickte ich zurück, so fand ich mich von schön bewaldeten, herrlich geformten Bergen und Hügeln ganz ein-geschlossen. . Hie und da nur ein Stückchen Ebene, einen Streifen des eben erstiegenen, schmalen Weges!
Ja, hier ist es schön, hier oben kann ich das in südländischer Überschwenglichkeit ausgedrückte Lob Alfredos de Paiva begreifen.„Die anmutige und stolze Stadt Petropolis, das geliebte und ange-betete’Eldorado für unser High-life“, besingt er unter anderem fol-gendermassen: „Nicht Venedig mit seinen Lagunen, noch Sorrent,noch Neapel und Mailand mit ihren Kunstwerken, ihren Wundern der Architektur, mit ihren Skulpturen und Bildsäulen aus dem schön-sten carrarischen Marmor, noch die Schweiz mit ihrer Natur, noch Paris mit seinem Boulognerwäldchen, seinen Boulevards, seinen Avenuen, sind zu vergleichen mit diesem Blumenkörbchen, welches Petropolis oder Perle der Estrella heisst.“
Unaufhaltsam flog der Zug die hohe Serra hinunter. Leider dunkelte es schon, und die Nacht war angebrochen, als ich das Schiff bestieg. Auf dem dunkeln Wasser brannte eine mit Petroleum beladene Barke. Weithin verbreitete sich der grelle Feuerschein, und eine Riesengarbe stieg majestätisch zum Himmel empor. Ein grausig schöner Anblick!
In langsamer Fahrt näherte sich das Schiff Rio, dessen unzählige Lichter wie glänzende Feuerkugeln leuchteten. Blitzend schimmerte das Sternengefunkel der Tropennacht und spiegelte sich mit dem hellen Licht des Mondes im dunkeln Meere wieder. Die Himmels-körper gaben mir freundliches Geleite auf meiner langen, späten Fahrt, sie leuchteten mir auf dem dunkeln Weg nach der Fortaleza und mein letzter. Blick, bevor ich die Türe meines Häuschens ab-schloss, traf das gerade über meinem Kopf stehende Sternbild des südlichen Kreuzes.
Es war für mich keine kleine Freude, zu hören, dass die Oropesa,das englische Schiff, mit
dem ich nach Bahia reisen sollte, um ein oder zwei Tage verspätet ankommen würde. Ich
verwandte die mir vergönnte Frist zum Besuch des reizenden, öffentlichen Gartens. an
319 dem ich täglich vorbeigefahren, dessen herrliche Baumgruppen ich täglich sehnsüchtig geschaut hatte. Stets winkten fernere Ziele und so war ich bis jetzt niemals hingelangt. Gross ist der Garten nicht,dafür enthält er zweierlei: eine breite Steinterrasse am Meere und eine Anlage, wo das Herrlichste an tropischer Pflanzenwelt blüht und wächst. Da gibt es Palmen aller Klassen und Formen, die grosse,fremdartige Fächerbanane Madagaskars, die Ravenala, riesige Magno-lienbäume, elegante Araucarien. Dazwischen leuchtet das buntfarbige Volk der Kroton- und Poinsettiabüsche und ganze Gruppen gespren-kelter Caladien- und Coleusblätter, An Gemäuer und Gitter schlingen sich dunkelfarbige Winden, Bougainvillea, und das schlangenartige Gewächs der schönsten Kaktee, der „Königin der Nacht.“ Auf den gut gepflegten Wegen und dem grünen Rasen bewegen sich schlank-beinig, gravitätisch Reiher und Flamingos, als Herren dieses Zauber-gartens,
Zum letztenmale bestieg ich den Tram am Largo da Carioca, zum letztenmale wies ich den Sturm der Lotterielos- und Süssigkeiten-Verkäufer ab. Noch tönt mir der einförmige Ruf der letzteren in den Ohren: „Bala, Bala!“ Diese Bala sind hübsch und appetitlich in weiss und rosa Seidenpapier eingewickelt und finden namentlich bei den Eltern guten Absatz. Wer könnte auch so einem niedlichen,schönäugigen Brasilianerkind eine Bitte versagen?
Schliesslich schlug die Abschiedsstunde. Herr B. und Herr St.brachten mich auf einer Steamlaunch an Bord. Jedenfalls trug das Trennungsweh von Rio nicht wenig dazu bei; mir alles auf der Oro-pesa unangenehm erscheinen zu lassen. Ein kleines, altes, überfülltes Schiff war sie ja. Dazu hatte mir entweder der Agent in Rio oder der „Purser“ auf dem Schiff einen bösen Streich gespielt. Man hatte mich hoffen lassen, ich würde allein in der Kabine sein, Es war auch niemand darin, .als ich hineingeführt wurde, und den engen Raum mit den beiden schmalen Kojen und dem noch schmaleren Sofa betrachtend, dachte ich: „Klein aber mein“. Ich richtete mich häuslich ein und packte meinen Handkoffer aus. Unmittelbar vor der Abfahrt klopfte der Steward: „Es ist ein Irrtum vorgefallen, diese Kabine ist an drei Herren vergeben. Sie sind mit zwei Damen in einer anderen Kabine.“ Da half kein Protest, keine Bitten. Der andere Raum, in den man mich brachte, war ebenso eng. Meine beiden Ge-fährtinnen hatten ihn :schon seit Valparaiso inne und waren möglichst bequem darin eingerichtet. Sie empfanden und empfingen mich als Eindringling. So ein Nachzügler ist übel daran, auf dem Schiff, im
Aus Central- und Südamerica:Postwagen, auf der Eisenbahn und auch sonst noch im Leben... „Was braucht denn die noch zu kommen? Wir waren so bequem, so be-haglich eingerichtet,“ mögen. die beiden Damen gedacht haben. -„Da auf dem Sofa können Sie schlafen“, meinte die eine.„Wo?“, fragte ich. Handkoffer, Schuhe, Wäsche, Kämme, Pomaden-jöpfe bedeckten es völlig, und ‚von den Nägeln an beiden Seiten des Fensters baumelten Kleider darüber hinab. „Wir wollen versuchen,etwas Platz zu machen“, und wirklich am Abend lag alles in buntem Chaos auf der Erde, und eine Art Bett war aufgeschlagen. Nur die Kleider hingen weit über meinen Kopf und meine Füsse hinab und machten die Hitze umso unerträglicher. Die beiden folgenden Nächte schlich ich mich in den Salon, legte mich angekleidet auf ein Sofa und liess mich einschliessen.. Hier wenigstens hatte ich Luft! Ruhe?Nur bis 5 Uhr. Dann pflegten zwei dienstbare Geister mit Wischtuch und Besen zu kommen, und ich musste schleunigst den Platz räumen.
Pavillon des Hotel Corcovado.
Rio Vermelho.
Bahia.
Den 21. Mai um 8.30 vormittags lagen wir vor Bahia, oder wie die Stadt mit ihrem ganzen Namen heisst: „Cidade de San Salvador da Bahia de todos os Santos“. . Ihre erste Geschichte lautet etwas sagenhaft. Im Jahre 1510 strandete ein portugiesisches Schiff an dieser von dem mächtigen Stamme der Tupinambas bewohnten Küste. Die ganze Mannschaft mit Ausnahme des Kapitäns Diego Alvares Correa wurde von den Bewohnern getötet. Da Correa im Besitz eines Gewehres war, wuchs er bald im Ansehen der Tupinambas. Er wurde Caramurü,Feuermann, getauft und erhielt die Tochter eines mächtigen Häuptlings,die schöne Paraguasiü zur Gemahlin, was sein Ansehen im Lande nicht wenig hob.
Unterdessen hatte aber König Johann III von Portugal das ganze brasilianische Land vom Kap San Antonio bis zum Flusse San Francisco einem seiner Günstlinge Don Francisco Pereira Cutinho geschenkt.Als dieser über den Ocean kam, um sein Reich in Besitz zu nehmen,fand er zu seinem nicht geringen Schreck schon einen Besitzer vor,der zudem sein Landsmann war. Ein heftiger Kampf entbrannte
Cs
Aus Central- und Südamerica.zwischen den Beiden und der unglückliche Correa wurde gefangen genommen. Da rüstete die junge Paraguasü, eingedenk ihrer ehelichen Pflichten und ihres kriegerischen Blutes, ein grosses Tupinambas-Heer aus, und zog gegen Cutinho zu Felde. Cutinho musste fliehen, sein Boot scheiterte aber auf der Insel Itaparica, und er wurde mit seinen Gefährten von der lieblichen Paraguasü und ihren Heerführern auf-gegessen. Correa war frei. Er reiste bald darauf mit Paraguasü nach Europa, wo er und seine Gemahlin aufs beste aufgenommen wurden.In Paris erhielt die indianische Häuptlingstochter die heilige Taufe.Ihr Name lautete von nun an Catharina Alvares und kein Ge-ringerer als der nachmalige König Heinrich II von Frankreich war ihr Taufpate.
Was König Johann II über das unzeitgemässe Ende seines Günstlinges Don Francisco Pereira Cutinho gesagt hat, darüber schweigt die Geschichte. Die Zivilisation und den Besitz Brasiliens hatte er dagegen nicht aufgegeben. Er schickte fünf grosse Fahrzeuge mit 600 Freiwilligen und 1500 Verbrechern unter den Befehlen des Vize-königs Tome de Souza nach Brasilien, um in der Bai de todos os Santos die Hauptstadt für ganz Brasilien anzulegen. Correa und seine Paraguasıi waren unterdessen auch wieder hieher zurückgekommen.TCorrea wurde die rechte Hand des Vizekönigs und zeigte sich seinen Landsleuten bei der Anknüpfung eines freundschaftlichen Verhältnisses mit den Tupinambas sehr behülflich.
Bahia blühte unter den kolonisierenden Jesuiten mächtig auf. Im Jahre 1588 verteidigte der Orden die Stadt siegreich gegen die Eng-länder, und immer mehr mussten sich auch die ursprünglichen Be-wohner, die kriegerischen Tupinambas, ins Innere zurückziehen. Im Jahre 1624 wurde Bahia auf ein Jahr holländische Kolonie. Dann wurde es von den Portugiesen zurückerobert und gewann immer mehr an kommerzieller Wichtigkeit, bis Rio de Janeiro 1763 zur Hauptstadt des mächtigen Reiches gemacht wurde. In einem Punkte nur hat Bahia Rio nicht weichen müssen, es ist die geistige Metropole des Staates geblieben und Residenz des Erzbischofs. Man zählt nicht weniger als 160 Kirchen und rechnet je eine auf 67 Menschen,daneben gibt es noch eine Menge Klöster.
Doch zurück auf meine Oropesa, wo es wie in einem Ameisen-haufen krabbelte. Ungeduldig
harrte ich des Augenblickes, das über-füllte Schiff. verlassen und das herrliche, vor mir
liegende Stück Festland betreten zu können. Endlich kam eine lustige Gesellschaft auf
einem Dampferchen angeschwommen. Die ganze Schweizerkolonie
323 sass so ungefähr darauf. Sie gab einigen ihrer nach Europa reisenden Mitgliedern das Geleite, und zugleich hatte Herr W., der Vertreter des abwesenden schweizerischen Konsuls, Herrn St., die Freund-lichkeit, mich abzuholen. Grosse Begrüssung, Vorstellung, Abschieds-und Willkommenstrunk folgten im raschen Wechsel. Dann ging es Bahia de todos os Santos zu. Die Stadt hatte aus der Ferne so reizend ausgesehen, dass eine Enttäuschung beim ersten Betreten der Unterstadt nicht ausblieb. Bald aber schwebten wir per Seilbahn lichteren Höhen zu. Ein Maultiertram wurde erreicht und nun ging es bald mit, bald ohne Vorspann, je nach den grossen Unebenheiten des Terrains. Einmal werden sogar die Maultiere ausgespannt, und Wagen und Passagiere rutschen, ich glaube vermittelst Drahtseil,eine steile Gasse herab. Am Passeio publico und einem grossen,öden Platze vorbei, bogen wir in den Corredor da Victoria, eine schöne, auf beiden Seiten mit Villen eingesäumte Strasse ein, wo mir Herr Vize-Konsul W. in der Pension Ribeiro ein sehr schönes Zimmer bestellt hatte.
Als ich zum Fenster hinausschaute, lag das weite, blaue Meer weit unter mir, ruhig und glatt wie ein schöner Traum. Dann blieb mein Auge auf dem wunderbaren, mannigfachen Grün einer Tropen-welt haften, wie ich sie schöner wohl kaum je erblickt. Der 21. Mai stand im Kalender. In dieser Hemisphäre ist es Winterszeit und dabei herrscht die Temperatur eines Treibhauses. Keinen Winter haben,.o wie schön! Ein warmes Klima erfreut das Gemüt und gibt der Seele Frieden, während ein frierender Mensch zu nichts zu ge-brauchen ist. Freilich hier gibt es kein Frühlingserwachen, kein geheimnisvolles Säuseln milderer Lüfte, kein sich von starrer Eis-decke befreiendes Wasser. Hier gibt es zwar nicht die Melancholie der Vergänglichkeit alles Blühenden, aber auch nicht den Jubel, die triumphierende Freude ihrer jährlichen Erneuerung!
Einen nahezu ebenso schlimmen Feind, wie den nordischen Winter, hat aber diese wonnige Bahianervegetation, einen ganz kleinen und doch ganz grossen in seinen Wirkungen: die Ameise. Den schönsten Rosenbusch, den stattlichsten Baum kann sie über Nacht in ein trauriges Skelett verwandeln. Wer daher seinen Garten und seine Pflanzen liebt, muss um jeden Stamm ein mit Wasser gefülltes Blech- oder Tongefäss anbringen.
Mehrere junge Schweizer wohnen in der Pension, Sie wird von einer Deutschen, Witwe eines Portugiesen, gehalten, und mütterlich sorgt die Frau für ihre Pflegebefohlenen,
Aus Central- und Südamerica.Nach einem belebten Frühstück, an dem auch Konsul W. teilnahm,wurde ein gemeinsamer Spaziergang es war Sonntag unter-nommen. Er führte nach dem malerischsten Teil Bahia’s, dem Rio Vermelho, dem roten Fluss. In Rio war mir Bahia als hässlich und unsehenswert geschildert worden, wie angenehm war ich daher über-rascht, eine Gegend zu sehen, die alle Erinnerungen an Colombo in mir wachrief. Dieselbe warme Luft, dieselben hohen, gegen oben sich sanft biegenden Kokospalmen, dieselben sturmzerrissenen Bananen-blätter, dieselben tropischen Hütten, nur dass statt schöner, bronze-farbener, schlanker Singhalesenkinder, ebenso nackte, ebenso schönäugige, aber realistischere, drallere, kleine Neger daraus hervorgucken!
Doch ich greife vor. Noch sind wir in der Vorstadt. Bunte,portugiesische Villen im Zopfstil stehen in Gärten, deren Pracht-vegetation den Stolz jedes europäischen, botanischen Gartens bilden würden. Aber ach, herzlich gutgemeinte Glaskugeln und scheussliche Cementstatuen nehmen ihnen jeden Zauber. Vor uns liegt ein riesiges,graues Gebäude, ein Quadrat, in der Art des Escorial, mit zwei Türmen. Es schwebt gleichsam über der Stadt, überwältigt und zer-drückt sie, nimmt ihr das farbenfrohe Gepräge und ändert von hier ihre Silhouette vollständig. Der Riesenbau ist ein Franziskanerkloster.
Nun bleibt unser Maultiertram stehen. Wir steigen alle ab,steigen einen steilen Berg zu Fuss hinab und finden unten einen andern Wagen, die Tropenwelt, und den Rio Vermelho., Bald breit,bald schmal, bald gerade, bald gewunden schlängelt er sich, umsäumt von Aroideen und Arum, von nickendem Bambus und Strauchwerk aller Art, an riesigen Jaccäi- und Mangabäumen, an bizarren Hügel-ketten vorbei. Nichts erinnert an die Nähe einer grossen Stadt.
Wie im Traum fuhr ich durch dieses Zauberland und fand mich plötzlich auf einer alten Befestigung. Tosend leckt der Meeresgischt an ihr empor, und doch liegt blau und still die Wasserfläche vor uns. Ein paar Schritte weiter bildet sie eine tiefe Bucht, Fischer waren beschäftigt, ihre reiche Beute zu bergen; am Strande lagen einige Kähne der Eingeborenen, lose mit Stricken aneinandergehaltene,nasse Baumstämme.
Wir wandten uns zur Rückkehr, Meine Landsleute machten mich freundlich auf alles
aufmerksam, und dankbar genoss ich all das Schöne. Namen und Tatsachen aber wollten nicht
haften bleiben,wie ein Traumschleier lagerte es sich an jenem Sonntag über meinem
Auffassungsvermögen.
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Einzelne Bilder nur treten hervor: eine ländliche Kapelle, Gesang ertönte, ich blickte hinein. Eine Menge junger Negerinnen lagen betend auf den Knien; im Hintergrund durch die offene Türe leuchtete blau das Meer. Ein paar Schritte weiter erklang ebenfalls Musik.Vor einer zerfallenen Negerhütte wurde gefiedelt und getanzt. In der Nähe waren auf dem sandigen Boden Schienen gelegt. Zwei struppige Miniaturesel waren vor einen Wagen gespannt, dessen Bestandteile vier plumpe Räder, ein dickes Brett und drei lehnenlose Bänke bildeten,alles aus Holz und aufs roheste gezimmert. „Hollah, der Trolly wird gemietet und die Musikanten dazu“, rief einer meiner Schweizerherrn.Eine lange Unterhandlung begann. Der Eigentümer schien nicht gewillt; ein Milreis nach dem anderen wurde geboten, jedenfalls ein starker Liebhaberpreis, Endlich stimmte man überein. Die Musici und ich wurden zunächst aufgepackt, die fünf Herren sassen und standen, wie sie konnten, und im wilden Trabe, unter dem Quietschen der Geigen rasten die struppigen Eselchen dem Strande entlang.Nach zehn Minuten kam das Ende des Geleises und unserer Fahrt.Wir wanderten landeinwärts auf hügligem, sandigem Boden, Hie und da war eine Mulde, hie und da ein steiler Hang zu bewältigen;zuweilen wölbte sich ein lauschiges Kokoswäldchen über uns, zu-weilen trat der eine oder andere von uns in eine tiefe Lache. Der Dämmerung war rasch die Nacht gefolgt. Nur einzelne Sterne, herr-liche, grünlich leuchtende, geflügelte Elateren (elater noctilocus) und bescheidenere Johanniskäfer warfen ab und zu einen freundlichen,hülfreichen Schimmer auf unseren holprigen, beschwerlichen Pfad.Es war ein freudiges Aufatmen, als wir endlich sehr erhitzt, aber mit heilen Gliedern, auf der Chaussee der Zivilisation standen, und von Ferne das Rasseln des Maultierbond hörten,
Abends lehnte ich noch lange am Fenster. Es ist doch etwas köstliches um ein Zimmer mit schöner Aussicht! Gleich bei dem Erwachen ein herrliches Naturbild vor Augen haben, beglückt für den ganzen Tag. Vor dem Einschlafen einen kurzen Aufblick zum Sternenhimmel, einen Ausblick in eine stille, weite Landschaft klärt manches, was der Tag an Aufregung und Verdriesslichkeiten mit sich gebracht hat. Ein Blick in die weite, schöne Ferne ohne Menschen-spektakel und leeres Geschwätz ist die beste Geisteserholung und dem Herzen eine Erquickung.
Nach dem Frühstück fuhr ich zur Stadt hinunter, Dort erwartete mich mein getreuer Landsmann Herr D. Auf meinen Fahrten und Gängen durch die Stadt war er mir stets ein angenehmer Begleiter.
Aus Central- und Südamerica.
Seine Herzensgüte ist dem armen Volke in der Unterstadt wohl be-kannt, und auch er scheint liebenswürdige Seiten an den sonst von den Weissen verachteten Schwarzen zu finden. Als er meine Freude,mein Interesse am Volksleben sah, hat er mir manchen malerischen Winkel in der für ihren Schmutz berüchtigten Unterstadt gezeigt, den wohl wenige in Bahia wohnende Europäer kennen. Das Wetter hatte sich natürlich längst wieder aufgeklärt, und so fuhren wir mit der Trambahn nach Itapagipe. Das war für mich wieder eine unbekannte Gegend. Als wir die engwinklige Innenstadt hinter uns gelassen hatten,kamen köstliche Ausblicke auf die See, ja wir fuhren zuweilen lange Strecken dem Ufer entlang. Abwechslungsweise gelangten wir in belebte und dicht bebaute Vorstadtquartiere, wo mir die merkwürdige Zusammenwürflung von Reichtum und Armut besonders auffiel. Elende Mietbaraken lehnen sich. unmittelbar an schöne Villen.
Viel Freude gewährte mir der Besuch des Marktes. Wir waren über die Ladeira da Montanha
in die Unterstadt gelangt, und be-wundernd hatte ich die originelle, praktische Verwendung
der Brücken-bogen angestaunt. Gleich Schwalbennestern sind menschliche Woh-nungen darein
gebaut, wobei freilich Tür, Fenster und Rauchfang eines bildet. Auf dem Fischmarkt
herrschte reges Leben. Ausser merkwürdigen Fischen und Krabben wurden auch riesige
Jaccäfrüchte,saftige Apfelsinen und eine grosse Menge poröser Tonkrüge zum Verkauf
angeboten. Und mit welcher Zungenfertigkeit! Sie stand auf gleicher Höhe mit dem
kolossalen Umfang der Bahianer Markt-weiber. Ich hatte in der Pension Ribeira schon
Gelegenheit gehabt,zwei solcher schwarzen Riesinnen in Person der Köchin und der Wäscherin
kennen zu lernen. Bereitwillig warfen sie sich in ihr Schönstes, um von mir photographiert
zu werden. Leider haben meine Films in Brasilien ihre Schuldigkeit nicht mehr erfüllt, sie
waren schon zu alt und die tropische, feuchte Temperatur trug vollends das ihrige zum
Misslingen bei. Diese Negerinnen tragen grosse, lose,gewundene, weisse oder lichtfarbene
Turbane. Ein feingesticktes,weisses, kurzärmeliges Hemd umhüllt den Oberkörper, während
ein grell geblumter Rock in weiten Falten über die starken, im Gehen sich wiegenden Hüften
herabfällt. Je nach dem Reichtum der Trägerin baumeln am Halse bis unter die Taille mehr
oder weniger Gold-ketten, Glasperlen und Kruzifixe herab. Ebenso sind die Arme geschmückt.
Ein buntfarbiger Shawl. drapiert sich beim Ausgehen malerisch um die Schultern und lässt
die samtweiche, schwarze Haut noch glänzender im Kontraste hervortreten. Was die
Gesichtsbildung
327 anbetrifft, sind diese Kolossen im allgemeinen, und besonders wenn sie älter werden, grundhässlich.
Der 1. Juni war Himmelfahrtstag. In der Hoffnung, in einer der vielen Kirchen eine festliche Messe mit guter Musik zu hören, fuhr ich schon in aller Frühe in die Stadt. Wo ich eine grosse Kirche sah, trat ich ein. Überall fand ich viele Menschen, überall wurde Messe celebriert, überall erklang etwas Musik, aber schön, oder auch nur mittelmässig war sie nicht. Ich kehrte zeitig genug in die Pension zurück, um mich in Gala zu stürzen. Fand doch ein Essen zu meinen
Ladeira da Montanha.Ehren bei dem Herrn Vizekonsul W. statt. Mehrere Herren der Schweizerkolonie waren mit eingeladen. Plötzlich hiess es: „Wir haben den Bond verfehlt, vormittags fährt keiner- mehr nach der Barre, wo Herr W. wohnt, wir müssen ein gutes Stück Weg zu Fuss machen.“ In der Nacht hatte es stark geregnet und der Marsch auf abschüssigem Fusspfad und glatter, roter Erde, die sich an den Schuhen ballt, war mit Schleppkleid und niedrigen Lackschuhen kein Vergnügen. Ich konnte meine schlechte Laune darüber nicht verbergen.Als aber der erste Ärger überwunden und ich weder ausgeglitten,noch mein Kleid sehr schmutzig gemacht hatte, genoss ich das ent-zückend tropische Element dieses ländlichen Spazierganges. Ich freute mich an den schlanken Kokospalmen, an einigen Negerbuben, die
Aus Central- und Südamerica.so flink wie ihre Vetter, die Affen, daran emporkletterten, an den äusserlich so idyllischen Negerwohnungen, an den herrlichen Farn-blättern und Aroideen. Ich freute mich auch an der warmen Treib-haushitze, und den an den Bäumstämmen und auf dem Waldboden spielenden Sonnenstrahlen.
Zur rechten Zeit waren wir da. Die Familie W. bewohnt ein allerliebstes Haus in der Nähe des Leuchtturmes. Das Meer bildet hier eine kleine Bucht. Nur ein .schmaler Streifen Land trennt das Haus von der über die Barre brausenden, schäumenden See. Sitzt man im Hause, besonders in der Glasveranda, so braucht es wenig Phantasie, um sich auf hoher See zu wähnen. Dem deutschen Er-bauer dieser originellen Wohnstätte scheint das Bild einer gemüt-lichen Schiffskabine oder einer Art Ideal-Arche Noah vorgeschwebt zu sein. Die Zimmer sind nach der Form des Daches abgeschrägt.Statt Türen führt eine Art Torbogen von einem Zimmer ins andere,und um die Täuschung vollständig zu machen, steht ein altes Steuer-ruder da, an dessen Griffen jetzt die Hüte aufgehängt werden. Dieses,sowie eine grosse Hängelampe stammen von einem vor ungefähr 20 Jahren an der Barre links vom Hause gestrandeten englischen Schiffe.
Ein gemütliches Frühstück-Diner vereinigte uns. Dann setzte sich Frau W. ans Klavier, und die Herren erfreuten sich und mich durch einen höchst lebhaften, freilich im Schweisse ihres Angesichts getanzten Cake walk. Durch die Musik angelockt, bildete die schwarze Dienerschaft vor dem Salon eine entzückte und dankbare Zu-schauerschaft.
Gegen 4 Uhr brachen Herr D. und ich auf. Wir wollten uns die grosse
Himmelfahrtsprozession . nicht entgehen lassen. Diesmal klappte es ganz schön mit dem
Tram, und wir kamen zur rechten Zeit an, um uns eines guten, erhöhten Stehplatzes vor der
Kirche zu versichern. Das Zischen einzelner Raketen, das Knattern der mir verhassten
Frösche hatte natürlich schon längst begonnen, und laut und lebhaft gestikulierend und
schnatternd bewegte sich eine bunte Menge auf dem Platze. Ungewöhnlich zahlreich war das
weisse,gelbe und besonders schwarze, schöne Geschlecht in höchster Toilette vertreten, und
wichtig und gewichtig bewegten sich einige der eben beschriebenen, umfangreichen
Bahia-Neger-Aristokratinnen zwischen Kirche und Platz. Wie man mir erzählte, sind sie
gewissermassen die Patroninnen der Prozession, indem sie zu deren möglich glanz-vollem
Gelingen grosse Geldsummen spenden. Statt des bunten Shawls tragen sie bei dieser
Gelegenheit breite, schwerseidene, gold-
329 gestickte Bänder, Sie sind über die rechte Schulter gewunden und enden unter der linken Hüfte in einer Schleife. Am Halse hängen drei schwere Goldketten tief über die Brust hinab, und im Nacken baumeln noch alle möglichen Kreuze und Amulette. Die Armbänder reihen sich bis über den Ellenbogen dicht aneinander. Trotz alledem ist es einer mageren, unscheinbaren Negerin diesmal gelungen, ihre stattlichen Schwestern in den Schatten zu stellen. Wodurch? Durch einen zebrastreifigen Shawl. Er ist so buntfarbig, so extravagant in seiner Zusammenstellung, dass er die ganze Menge übertönt, gleichsam beherrscht. Er scheint zudem seiner Besitzerin die Gabe der All-gegenwart verliehen zu haben, denn, wohin man sich auch bewegt,der Zebrashawl ist auch da, leuchtend in wunderbarem Farbenspiel.Auch uns nahm sein Zauber gefangen. Als aber Herr D. der glück-lichen Besitzerin ein paar anerkennende Worte sagte, wandte sie sich stolz, verächtlich ab.
Endlich verkündeten massenhaft aufsteigende, im Tageslicht wirkungslos über den Köpfen der Zuschauer verpuffende Raketen den Beginn der Prozession. Voran Schritten barhäuptige Soldaten,dann gruppenweise die einzelnen Brüderschaften, in Lila und Grün,oder zwei andere scharf von einander abstechende Farben, gekleidet.Sie hielten alle Fackeln. Fahnen, Kreuze, Heilige wurden jeweilen der Brüderschaft vorangetragen, der sie gehörten. Die Kirche liegt unten an einem jener Hügel, deren Bahia viele besitzt, und es war daher keine leichte Last, die mehr als lebensgrossen Heiligen auf ihren schweren Postamenten den Berg hinauf zu schleppen. Häufig mussten sie abgestellt und die Träger gewechselt werden. So hatte das Publikum alle Musse, seine mehr oder weniger populären Heiligen zu begrüssen und ihnen frische Sträusse zu Füssen zu legen. Den Reigen eröffnete das Christuskind, darauf folgten der heilige Franz und der heilige Johannes. Im weissen Ordenskleid und ekstatischem Blicke kam der heilige Bernhard und, mit verdoppeltem Raketen-geknatter begrüsst, „Unsere“ besonders aufgeputzte „liebe Frau“,Zwei schwarze Kinderengel mit schön buntfarbigen Flügeln hüpften in zierlichem Tanzschritt hintendrein. Der eine hatte sein Taschentuch vergessen und litt dabei an einem ganz irdischen Schnupfen, denn immer wieder fuhr der Handrücken wischend an die Nase. Eine ganze Gruppe wurde zum Schluss mühsam von 20 bis 30 stämmigen Negern bergauf geschleppt, sie stellte Gott Vater, Christus und die schmerzensreiche Maria mit dem Schwert in der Brust vor. Nur ausnahmsweise beteiligte sich ein Weisser ’an der Prozession.
Aus Central- und Südamerica.
Es fiel mir auf, wie wenige Geistliche man.in Brasilien im Gegensatz zu Peru trifft. Als im Jahr 1889 das Kaiserreich Brasilien sich in eine Republik verwandelt hatte, proklamierte die provisorische Regierung schon nach wenigen Wochen die Trennung der Kirche vom Staat und zugleich den vollständigen Atheismus. Sämtliche kirchliche Feiertage wurden abgeschafft und als Ersatz wichtige Ge-denktage aus der Geschichte Brasiliens eingesetzt. Doch das ging bei dem Volk, besonders bei den Negern, nicht durch. Nach kurzer Zeit hatte es alle seine lieben, alten Heiligen wieder aufgenommen und feierte sie mehr wie je neben den offiziellen Festtagen.
EZB
Pflanzung Victoria.
Auf der Pflanzung Victoria.Einige Stunden von Ilh&os, einer südlich von Bahia gelegenen Kleinstadt, lebt eine junge Bernerin als Frau eines Fazendeiro. Ich hatte ihren Verwandten in Bern versprochen, sie zu besuchen,
{m Hafen von Bahia lag ein Segelschiff im Begriff, die Anker für {lIheos zu lichten. Freilich hatte ich damals in Valparaiso ein Gelübde getan, jedem derartigen Fahrzeug weit aus dem Wege zu gehen.Jetzt aber war mir nur die Wahl zwischen dem altersschwachen Post-dampferchen, dem heiligen Felix, der erst etwa in acht Tagen ab-fahren sollte, und dem neuen zur sofortigen Reise gerüsteten Segel-boot. Herr W., unser Vizekonsul, redete mir zu, die gute Gelegenheit zu benützen. Die Fahrt konnte bei günstigem Winde 18 bis 20 Stunden beanspruchen. „Warum sollte ich diesmal kein Glück haben,“dachte ich und rüstete mich so unbeständig ist der Mensch zu einer abermaligen Segelpartie.
Diesmal sorgte ich besser für Proviant, und Herr W. versah mich mit Tellern, Bestecken und einem sehr beträchtlichen Früchtevorrat,Gegen Abend brachten er und zwei Herrn der Schweizerkolonie mich auf das Boot. Schön rein gehalten und gross war es, auch gab es eine Frau an Bord und eine vom Schlafraum getrennte Kajüte, Auch hier fand ich einen Schiffshund, wie auf der „Sirene“, und ausserdem noch ein Miniaturäffchen, ein Uistiti, Mich entzückte das flinke Ge-schöpfchen mit seinen kleinen, lebhaften Augen und den weissen Haarbüscheln, die ihm ein ordentlich wildes Ansehen verliehen. Wie
Aus Central- und Südamerica ein Kobold kletterte es auf Masten und Segeln; gegen Abend ver-schwand es. Als ich später den Schlafraum betrat, lag ein ausge-höhlter Kürbis auf der Erde und drinnen schlief auf alten Kleider-fetzen gebettet mein Uistiti. Seine Freundschaft erwarb ich mir durch leckere Saputifrüchte und sanftes Kratzen seines klugen Köpfchens.
Die Nacht war keineswegs angenehm. Ich hatte eine ziemliche Kletterpartie in meine Koje und diese war steinhart. Ausser Checo,dem Äffchen, und einem vierjährigen Bübchen des Kapitäns befand sich auch dessen Frau in der Kabine. Die junge, hübsche Person rauchte und schnarchte abwechselnd die ganze Nacht hindurch. Dies war auch ihre Beschäftigung über Tag, wobei als dritte Arbeit das Essen hinzukam. Sie kochte nicht, sie nähte nicht, sie las natürlich nicht, sie wusch und zog nicht einmal ihr Söhnchen an, sondern überliess das alles einem halbwüchsigen Schiffsjungen. Diese Träg-heit soll bei den meisten brasilianischen Frauen zu finden sein, denen die Not keine Arbeit in die Hand drückt.
Die erste Nacht ging vorbei. Wir aber waren unserem Ziele nicht näher gekommen. Keine Spur von Wind blähte die Segel und immer zeigte sich dasselbe Landschaftsbild an der unfernen Küste.Den ganzen Tag blieb es so. Meine einzige Zerstreuung war Checo,das Äffchen, sowie Lesen und Schreiben. Entschieden hatte ich kein Glück mit Segelschiffen !
Eine zweite Nacht brach an, ach, ich hatte gedacht, sie im be-haglichen Bett auf der Pflanzung Victoria zuzubringen! Gegen Morgen erst hörte ich das Wasser leise an die Schiffswand schlagen; endlich hatte sich ein günstiger Wind unserer erbarmt und während einigen Stunden segelte das gute Schiff mit der Geschwindigkeit eines kleinen Dampfers. Lange dauerte die Freude freilich nicht. Immerhin gelangten wir 28 Stunden später als programmgemäss in die reizende Bucht von Ilheos. Es war hohe Zeit, schon wollte es Abend werden, und ich konnte nicht daran denken, die Fazenda Victoria an diesem Tage noch zu erreichen. Auch für diesen Fall hatte Herr W. gesorgt, und mir einen Brief an Dr. R., den Arzt des Ortes, gegeben.
Lange, ausgehöhlte Baumstämme schwammen auf dem Wasser.In dem einen sass ein Mann, er
ruderte an unser Boot. Nein, einem solchen Kahn vertraute ich gewiss nicht mein Leben an.
Mein Kapitän verhandelte mit dem Schiffer, es wurde lange eifrig gesprochen. Ich verstand
nur: „gestorben, heute beerdigt“. Ich zeigte meinen Brief.„Frau Dr. R, ist plötzlich
gestorben.“
333
Was mich aber dabei noch tragischer berührte meine Lands-leute erzählten es mir war folgendes: Frau Dr. R. wollte mir in echt brasilianischer Gastfreundschaft einen möglichst freundlichen,schönen Empfang bereiten, Sie hatte soeben ihren Töchtern die hübschesten Kleider herausgegeben und mit der Köchin ein Kuchen-rezept besprochen, als sie vom Schlage gerührt tot niederfiel. Un-schuldig, fühlte ich mich schuldig und wehmütig war mir ums Herz,als ich einige Tage später die Bekanntschaft des armen betrübten Witwers machte.
Unterdessen war von der anderen Seite lautlos ein Kanoe, so heissen ja diese ausgehöhlten Baumstämme, herangerudert, Darin sassen ein Herr, eine Dame und ein kohlschwarzes, etwa zwölfjähriges Negermädchen, Es waren Herr und Frau v. St., die mich abholten.Sie erwarteten mich seit 24 Stunden schon in Ilheos. Bald sass ich bequem auf einem Stuhl im Kanoe und fuhr vergnügt davon, als ob ich mein ganzes Leben auf solch einem Schiff gefahren wäre.
Ich muss mich immer wieder wundern, wie schnell ich mich auf dieser Reise an alles gewöhnte, wie selbstverständlich mir jede Lage erschien, nachdem ich erst ihre Bekanntschaft gemacht. Der Mensch ist entschieden elastisch!
Für heute war es unmöglich, an eine Weiterfahrt zu denken.Wir gingen sofort nach dem St.’schen Familienhause, das wohl vor hundert und vielleicht noch mehr Jahren durch die Jesuiten als erstes im Städtchen Ilheos erbaut worden ist. Die grossen, etwas düsteren Räume, die 60 Centimeter dicken Mauern, das an der einen Türe an-gebrachte Schiebfenster, erinnern an Kloster, Refektorium oder gar Ge-fängnis. Ein hohes, dunkles Ziegeldach wölbt sich über dem Ganzen.Der Estrich fehlt, ebenso die Gipsdecke, die sich bei uns über jedem einzelnen Zimmer wölbt. Dies hier ist echt brasilianische und auch indische Bauart und eignet sich vortrefflich für das heisse Klima.Die Zimmer sind weit kühler, findet doch der Wind durch einzelne Risse und Lucken im Dache stets Eingang. Freilich, für nervöse Gemüter ist das Knistern in der Höhe zuweilen unheimlich ; unheim-licher noch, wenn mitten in der Nacht eine Eidechse, ein Mäuslein oder gar eine Schlange oder Ratte dem Schläfer auf die Nase fällt.
Mit all dem eben Beschriebenen ausgestattet, würde das alte Jesuitenhaus in Ilh&os eine prächtige Staffage zu einer Mönchs- oder Nonnenspuckgeschichte abgeben. Was mich anbetrifft, schlief ich jene Nacht sanft und traumlos. Das Knistern in den Dachsparren, das Klirren der Ketten, der schleifende Schritt ruhelos Dahingeschiedener,.
Aus Central- und Südamerica.verlor sich vollständig in dem gleichmässigen Brausen des nahen Meeres,
Den folgenden Morgen brachen wir bei Zeiten auf, Eine etwa dreistündige Kanoefahrt lag vor uns, wir wollten dazu die kühle Tagesstunde und die Flut benutzen. Die Fahrt auf dem Flusse er heisst Cachoeira Itabuna ist bei aller Einförmigkeit eine reizende,Zuerst die hügelige, mit hübschen, weissen Häusern bekränzte Bucht von Ilheos, dann die Einfahrt in dem nicht breiten Fluss. An seinen beiden Ufern wachsen zunächst nur eigentümliche, erlenartige Bäume,Mangle (Rhizophora Mangle) genannt. Sie gedeihen vorzugsweise am oder im Salzwasser. Je nach Ebbe und Flut stecken ihre Wurzeln im Wasser oder schweben, nur zu unterst den Schlamm berührend,stelzenartig hoch in freier Luft. Um nicht das Gleichgewicht zu ver-lieren, stützen sich diese Stelzen gegenseitig, schlingen sich ineinander und erhalten noch Beistand von oben, indem‘ sich von den Ästen Luftwurzeln in den weichen Grund herabsenken.
Grotesk, phantastisch sieht dieser Manglewald aus, phantastischer noch wird er durch seine Bewohner; zahllose, buntfarbige Krabben:Feuerrot, himmelblau, schwefelgelb haften sie, Blumen gleich, in grosser Menge an Wurzeln und Ästen. Je nach Tageszeit und Lieb-haberei halten sich die Krabben unten in der Nähe des Wassers auf, oder klettern auf bequemen Stufen ein Stockwerk höher an den Stamm empor und auf die tief grünblättrigen Äste. Träge, anscheinend regungslos, vielleicht in ernste, philosophische Probleme versenkt,erfreuen sie sich ihres Daseins.
Mit jagdbegierigen Augen erblickte Frau von St. die vielen Krabben,deren Namen: Ciri,
Aratü, Gioamü und Carangueiro mir zwar sehr harmonisch in die Ohren klangen, im Gedächtnis
aber nicht haften blieben. Ich liess mir sie zwar nachträglich aufschreiben, könnte aber
nicht sagen, ob die himmelblauen die Ciri, die korallenroten die Aratü,die schwefelgelben
die Gioamiü wären, oder umgekehrt. Auch mich erfasste der Jagdeifer. Ich erklärte mich
willig und bereit, Schuhe und Strümpfe auszuziehen und die friedlichen, buntfarbigen
Krustaceen mit Krieg zu überziehen. „Aber was denken Sie, meine Damen“, meinte beruhigend
Herr von St., „die lassen sich nicht so leicht fangen“.„Übrigens ist die Ebbe bald da,
dann fährt unser Kanoe auf, und wir können. einen langen, unbequemen Marsch auf den
glatten Steinen mitten durch den Fluss zurücklegen“. Die Philosophen auf den Mangle-bäumen
waren übrigens durch unsere Gegenwart sichtbar unruhig geworden, einige zogen sich in
zierlichem Seitengalopp in die grünen
Was liesse sich übrigens besseres in diesem stillen Naturfrieden tun. Nur der Schrei eines Vogels, das Schlagen der kurzen, runden Ruder auf die schläfrig schwankende Oberfläche des Wassers unter-bricht die Stille. Mit dem Wachsen des Tages machte sich die Hitze allmählich fühlbar, Dick, samtartig fühlte sich die Luft an, und ich wähnte mich in ein Treibhaus versetzt. Doch nein, hier ist es viel,viel schöner, Nicht mühselig erheizte Palmen, sondern freie Sonnen-kinder strecken ihre Wedel fein und durchsichtig wie Filigranarbeit,kraus wie Straussenfedern in das dunkle, heisse Blau des tropischen Himmels. Und wahrhaftig ich muss es mir immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen ich bin es selber, die jetzt im indianischen Kanoe dem richtigen Urwalde zugeführt wird.
Die Manglebäume haben allmählich hohem Schilf, üppiggrünenden Sträuchern den Platz eingeräumt. Einige blühen gelb, andere lila.Darüber neigen sich schlanke Palmen und wölbt sich das mächtige Laubdach des Jaccäbaumes. Hie und da schimmert es rot in den Zweigen, ich glaube, der Vogel wird hier Sangue do boy, Ochsen-blut (Rhamphopis brasilicus) genannt, oder ein blauer Riesenfalter fliegt über das Wasser.
Allmählich nähern wir uns dem Ziel; ein Palmendach, ein Kanoe erinnern an menschliche Nähe. An einer Stelle, wo sich der Fluss zur Bucht ausweitet, lagen sechs Segelschiffe und warteten auf Cacaoladung.
Nach dreistündiger Fahrt war das Ziel erreicht. Zu Fuss gingen wir nach der nahen Fazenda Victoria, die wohl seit bald hundert Jahren in Schweizerhänden ist. Das auf einem Hügel freiliegende,nicht grosse Haus, ist für Europäer und europäische Bedürfnisse erbaut. Zunächst betritt man einen grösseren Raum. Der lange, wohl-gedeckte Tisch lassen ihn sofort als Esszimmer erkennen. Mein Auge schweift aber darüber hinaus in ein feuriges Blättermeer, Gleich roten und gelben Flammen steigen die Krotonbüsche in nie gesehener Pracht hier empor, und dahinter leuchten im dunklen Laube herrliche
Aus Central- und Südamerica.
Apfelsinen. Sie sind weltberühmt, die Orangen von Bahia, und unter ihnen verdienen diejenigen der Planzung Victoria wohl Nummer eins,Die Bäume blühen und tragen das ganze Jahr, und was für Früchte!Einzelne wiegen bis 800 Gramm. Eine Eigentümlichkeit besitzen sie,diese zuckersüssen, saftigen Goldbälle. Ihr Kernhaus ‚sitzt nicht mitten in der Frucht, sondern oben im ehemaligen Fruchtboden der Blüte. Deshalb werden sie Nabelorangen, umbigo, genannt.
Zur Rechten und Linken vom Speisesaal münden die Wohn-zimmer ein. Während Herr und Frau v. St., wenn sie nicht auf ihrer noch weiter landeinwärts gelegenen Cacaopflanzung weilen, die Zimmer rechts bewohnen, haust Frau Libussa (portugiesisch Libuca geschrieben), die Schwester des Hausherrn und Miteigentümerin des Hauses, auf dem linken Flügel. Der Name der tschechischen Fürstin passt nicht schlecht zu seiner schweizerisch-brasilianischen Trägerin,Weise und mit fester Hand hält sie die Zügel der Regierung, und wenn es auch keine 150 Sklaven auf Victoria mehr gibt, so ist doch auf der ausgedehnten Fazenda der Hausstand an Mensch und Vieh ein grosser.
Auch‘ Frau Libuca hält sich, wie ihre Schwägerin, eine kleine Schwarze zur persönlichen Bedienung. Diese führt den schönen Namen Adelaide und scheint mit Antonie auf bestem Freundschafts-fuss zu stehen. Gemeinsam bedienen die beiden bei Tisch, und zwar recht geschickt und halten die Zimmer in Ordnung. Als dritte im Bunde kommt ein zierliches, wohl kaum 6jähriges Negerkind dazu: Paulina. Offenbar tut es sein Möglichstes, auch bald als „Dienerin“ angestellt zu werden, und seine Mutter bietet es immer wieder der jungen Frau v. St. zum Geschenk an. Auch die beiden Grossen sind „Geschenke“, Die Geberinnen, ehemalige Sklavinnen auf der Fazenda, machen dabei gar kein schlechtes Geschäft. Ihre Kinder werden gut genährt, gut erzogen und geschult, lernen alles mögliche Nützliche, so dass, wenn sie später nicht im Hause bleiben sollten, eine gute Stelle oder auch eine gute Heirat ihnen sicher sind.Zu letzterer freilich muss die Herrin ihre Erlaubnis erteilen.
Herr v. St.’s Vater er wanderte um 1845 nach Brasilien aus besass auserlesen schöne
Sklaven. Er hielt sie unter militärischer Zucht und Dressur. Nichtsdestoweniger waren er
und seine herzens-gute Frau, eine vornehme Brasilianerin, bei ihren Schwarzen sehr beliebt
und verehrt. Die Beziehungen der ehemaligen Sklaven, jetzt freien Arbeitern, zu den
Nachkommen des alten Herrn von St. bestehen deshalb immer noch weiter. Einige sind als
bezahlte Dienstboten in
337 der Familie geblieben, andere arbeiten im Taglohn, andere bieten ihre Kinder, wie schon erzählt, zum Geschenk an, noch andere wünschen Don Fernando oder Dona Libuca zu Paten für ihre Kleinen.Wie vielen kleinen, schwarzen Seelen mag Don Fernando schon zu Gevatter gestanden sein! Dabei ist die Patenschaft nicht wie häufig bei uns eine blosse Form, nein, sondern der compadre „Mitvater“ist wirklich ein solcher geworden. Kein wichtiger Entschluss wird gefasst, z. B. kein Beruf für den Knaben bestimmt, ohne den Rat des compadre, und das Verhältnis zwischen padrinho (Paten) und afilhado (Patenkind) bleibt ein herzliches für das ganze Leben.
Ich bin weit abgeschweift von meiner Beschreibung des Herrschafts-hauses auf der Fazenda Victoria, Frau Libuca hat mir eines ihrer Zimmer eingeräumt. Die darin enthaltenen Geräte sind europäisch mit Ausnahme der Moringa, des porösen ungebrannten Tonkruges,wo das Wasser sich frisch und kühl erhält und des Bettes. Statt Matratzen und Federbetten liegen verschiedene binsengeflochtene Decken, sogenannte Esteiren auf der hölzernen Bettstelle. Kühl und glatt, freilich auch etwas hart, fühlen sich diese durch das weisse,leinene Bettuch. Zur Decke genügt ein Stück geblumten Kattuns.
Um die Vorderfront des Hauses läuft eine Veranda, sie blickt gerade in die schon erwähnten, herrlichen, bunten Kroton- und dunkeln Apfelsinenbäume. Tritt man zu diesen, so blickt man in einen tiefen Talkessel herab, der auf der anderen Seite ebenso steil empor geht.Dort auf der Höhe, dem Herrschaftshaus gerade gegenüber, liegt ein langes, hässliches, niedriges Gebäude. Da wohnten früher familien-weise, in kleine Zellen abgeteilt, die Sklaven; also auch hier waren sie beständig unter dem Auge des Herrn.
Zur Linken im Tale schimmert ein grosser Teich, man könnte ihn nach europäischen Begriffen auch einen kleinen See nennen.Zwischen tropisch bewachsenen, hügeligen Ufern schlängelt er sich,bald eine breite Bucht, bald einen schmalen Arm bildend. Etwas poetischeres, lieblicheres kann man sich schwer denken. Für mich besitzt der Teich aber noch einen ganz besonderen geheimnisvollen Zauber, und ich wandere jeden freien Augenblick an sein Ufer: Er ist von Tacare. Krokodilen !). bewohnt. Bei Nacht kommen sie zu-\ Eigentlich sind es Alligatoren oder Kaiman. Sie unterscheiden sich von den Nil-Krokodilen dadurch, dass der sogenannte Eckzahn des Unterkiefers in eine Grube des Oberkiefers hineinpasst und die Zehen der Hinterbeine nur durch halbe Schwimmhäute verbundeu sind. Die Kaiman oder Jacare sind kleiner und weniger kräftig, als die Krokodile. Sie sind oben dunkel-olivengrau,unten gelblich-grün und haben auf dem Rücken vier schwarze Querstreifen.
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Aus Central- und Südamerica.weilen ans Land, man sieht ihre Spur an bestimmten Stellen des UJfers. Ein unvorsichtiges Ferkel oder eine naseweise Gans fällt ihnen bei diesen Streifzügen häufig zum Opfer. Bei Tag sonnen sie sich an der Oberfläche des Wassers, wobei ein gutes Stück des Kopfes wie ein grau-grüner Baumstamm hervorlugt.
Die Haut eines Jacare als Trophäe in die Heimat zu bringen,wurde mein heissester Wunsch. Herr v. St. machte mir Hoffnung.Ein Ochse wurde geschlachtet, die Milz als Köder an einen Angel-hacken geheftet und über Nacht auf den Teich gelegt. Man zählte darauf, das gefrässige Jacare würde sich darein verbeissen und könne dann am folgenden Morgen aus dem Wasser gezogen und leicht getötet werden. Voller Hoffnungen und Krokodilsträume schlief ich ein. Ach, am andern Morgen hörte ich als Erstes: „Milz und Angelhacken hat das Jacare richtig verschluckt, aber es selber hat sich loszumachen gewusst. Wahrscheinlich geht es in einigen Tagen am Angelhacken elendiglich zu Grunde, aber an welcher Stelle?“ Der Ja-careteich wird dieses Geheimnis treulich bewahren. Mittags sonnte sich abermals dieses oder ein anderes Jacare. Ich rief Frau v. St’s Bruder, Mit dem Gewehr bewaffnet und dem heiligen Feuer der Jagdlust, erschien er sofort. Schlau und schweigsam wie eine Rot-haut umschlich er den Teich schoss aber kein totes Jacare zeigte sich auf der Bildfläche! Ein nochmaliger Versuch mit dem Köder schlug ebenfalls fehl. Seither hat man mir nach Bern ge-schrieben: „Bis jetzt kein Jacare erwischt. Dafür haben diese Un-holde einer ganzen Anzahl Hühnern, Enten und Gänsen den Garaus gemacht.“
Eine Stelle des den Teich speisenden Baches wird weiter oben als Badeplatz benutzt. Das Tälchen ist dort noch mit Bäumen und Buschwerk dicht beschattet. Ein hübscher Fussweg führt vom Hause in drei oder vier Minuten hin. Da wo das mutwillige, spiegelklare Bächlein eine kleine Stromschnelle und darunter ein mit breiten Steinen gepflastertes, natürliches Becken bildet, ist eine hölzerne Röhre befestigt. Wer sich darunter stellt, wird durch ein ordentliches Sturzbad herrlich erquickt und erfrischt. Dieses Bad im Walde, der erste Gang am Morgen, der letzte am Abend, ist eine wahre Wohltat für die Bewohner der Victoria.
Den ersten Tag wanderte ich mit Herrn v. St. durch die weit-läufige Pflanzung, wo seit
der Sklavenbefreiung manches brach liegt,was einst schönen Ertrag lieferte. Kaffee wird
nur noch für den Haus-gebrauch gepflanzt, auch kein Zucker mehr produziert, die
Arbeits-
Brasilien.
339 kräfte der freien Schwarzen sind dazu viel zu teuer. Die einst mit grossen Kosten erbaute Zuckermühle feiert und geht ihrem Verfalle entgegen. Um das Zuckerrohr, die Wasserkräfte und die vorhandene Einrichtung zu benützen, wird sogenannter Cachaca, Zuckerrohrschnaps,bereitet. Auch in dem heissen Brasilien ist das Feuerwasser leider sehr beliebt und allgemein zu Hause. Ich nenne das, den Teufel mit Beelzebub austreiben. Zylinder, die durch ein gewaltiges Wasser-rad getrieben werden, zermalmen das Zuckerrohr. Der dabei ge-wonnene Saft kommt in einen Behälter, von dem er in drei aus-gehöhlte Baumstämme läuft. Zusammen mögen sie bei 300 Liter Schnaps fassen. Der Saft gährt während drei Tagen darin; zum Kochen braucht er einen halben Tag.gelangt, will ich gleich das noch materiellere der brasilianischen Speisekarte berühren. Auf der Fazenda Victoria sollte sich mein Wunsch, brasilianisch zu leben, auch in dieser Beziehung erfüllen.Es berührt mich immer sonderbar, wenn ich in fernen Weltteilen,besonders in den Tropen, die Europäer, namentlich die Engländer,aber auch die Deutschen und Schweizer so zäh an ihrer heimatlichen Ernährungsweise festhalten sehe. Da wird zunächst viel, ja viel zu viel getrunken, nicht nur Cachaca, sondern teures Bier und noch teurere, importierte Weine, und doch ist das Wasser, wenigstens in Rio, reines Quellwasser von den Bergen und an wundervollen, durst-stillenden Früchten gibt es einen Überfluss. Teure Kartoffeln ver-schreibt man sich aus Europa. Dem Brasilianer bietet die sogenannte Farinha, die süssen Kartoffeln, batata doce, die Taja (Caladium esculentum) die Yams- und andere Wurzeln und vor allem die schwarzen Bohnen, Feijao und Reis, vollständigen Ersatz dafür. Auch das europäische, tägliche Beefsteak lässt sich leicht durch Carne secca,Krebse, Fische, Hühner, Gürteltier, Milchschwein u. s. w. ersetzen.
Herr v. St. und seine Schwester, beide in Brasilien geboren und erzogen, machten sich
eine Freude daraus, dem fremden Gaste alle Tage neue brasilianische Leckerbissen
vorzulegen, und ich hätte zweier Magen bedurft, um all dem Gebotenen gerecht zu werden,Da
erhielt ich zunächst Faultier und Affe, dann liess ich mir die von den Manglebäumen her
bekannten Krabben herrlich schmecken.Ebenso gut waren die „Pitü“ heissenden
Süsswasserkrebse. Sehr gern mochte ich das weisse Fleisch des Tat, des Gürteltieres, etwas
herbe und bitter erinnert es an den Fasan. Die Krone alles Fleisches aber war für mich ein
kleines, feines, zartes Ferkel. Ich bekam das-
Aus Central- und Südamerica.selbe Gericht noch einmal in Bahia vorgesetzt. Das Tierchen kommt in ganzer Gestalt auf den Tisch und macht einen etwas babyhaften Eindruck, so dass ich mich eigentlich innerlich ungern dazu ent-schloss, davon zu essen. Fett und rund, knusprig und aromatisch,liess es aber bald alle Vorurteile bei mir schwinden. Aromatisch besonders; hat es doch nicht in einem elenden, schmutzigen, übel-riechenden Verschlag das Licht der Welt erblickt, sondern im Felde oder Walde. Freie Urwaldsluft hat das kleine Ferkel umfächelt, und seine Mutter hat sich aromatische Wurzeln und Kräuter zusammen-gesucht, hat sich in goldener Ungebundenheit Tag und Nacht im Freien getummelt, sich im Bache gewälzt und Löcher gegraben nach Herzenslust und einer unzählbaren Nachkommenschaft das Leben gegeben.
Allerlei Vögel mussten meinetwegen, teils ihres Gefieders, teils ihres Fleisches wegen, das Leben lassen. Da gab es Turrurim, eine Art Taube mit schwarz und weissem, Gavion, ein kleiner Raubvogel mit braun und schwarzem Gefieder, Arassari mit roter Kehle, und Araponga, ein essbarer Zugvogel. Von Gemüsen erhielt ich Quiabo,ein Busch mit weissen, wohlriechenden Blüten und grossen kastanien-artigen Blättern. Für Kohlpalme und Guimgambö6 war es nicht die richtige Jahreszeit. Letztere, eine gurkenartige Schlingpflanze liefert alt und getrocknet das als Schwamm gebrauchte Gewebe der Lufa.Ausser der schon erwähnten farinha de Mandioca wurde aus der-selben Wurzel, Manihot utilissima ist ihr lateinischer Name, ein aus-gezeichneter Kartoffelbrei bereitet.
Herr und Frau v. St. weilen jetzt nur noch besuchsweise auf der Victoria. Ihre
Hauptresidenz und Tätigkeit liegt weiter im Innern auf der Pflanzung Alegrias. In der
Sommerszeit bei normalen Weg-verhältnissen in zwei bis drei Stunden zu Pferde erreichbar,
soll man gegenwärtig, wo die Regenperiode schon angefangen, einen halben Tag und mehr dazu
verwenden müssen. Dabei pflegen Ross und Reiter fusstief in den Löchern und Sümpfen des
sogenannten Weges zu versinken, und ohne verschiedene, oft unsanfte Stürze von Mann und
Ross kommt man kaum an das Ziel. Anbetrachts dieser Umstände und der Kürze meines
Aufenthaltes musste darauf verzichtet werden.Herzlich leid freilich tat es mir, diese viel
urwäldlichere Pflanzung und das eigentliche Reich der jungen Frau nicht kennen zu
lernen.Kaum anderthalb Jahre im Lande, scheint sie sich merkwürdig leicht eingelebt und
zur richtigen Fazendeirofrau herangebildet zu haben. Die Alegrias gilt im Lande weit und
breit für eine Mustercacaopflanzung.
341 Ochsen befördern den Transport des Cacao an den Fluss hinunter;dort bleibt er einige Zeit in den sogenannten Trapiche, einer Art Schuppen, wird dann per Segelschiff nach Bahia geführt, auf einen Oceandampfer verladen und nach Europa gebracht.
Da ich nicht nach Alegrias gelangte, waren Herr und Frau v. St. so freundlich, mir eine näher gelegene Cacaopflanzung und zugleich ein Stück Urwald zu zeigen. Mit einem selber fabrizierten,etwas primitiven Schmetterlingsnetz und einer Flinte bewaffnet zogen wir selb dritt aus. Ach, hätte ich nur ein paar hohe Stiefel gehabt!Zunächst ging es den Berg hinunter in ein etwas sumpfiges Terrain.Hie und da führt eine aus einem oder zwei Balken bestehende, etwas schwindlige Naturbrücke über einen grössern Tümpel, öfter aber liegen einfach ein paar dicke Bambusrohre im Wasser. Meist balan-ciert man sich heil durch, zuweilen aber dreht sich das runde Rohr,und man zieht einen oder auch zwei Schuh voll Wasser heraus.Es sollte noch mehr dazu kommen.
Wir sind im Urwald. Grünes Dämmerlicht umfliesst uns, Planzen-massen drängen sich, Luft und Licht abhaltend, um uns. Sie steigen,in immer neuen Stockwerken einander überragend, empor, und schliessen sich endlich in einer dichten, schattenspendenden, von Lianen durchzogenen und verbundenen Decke hoch über unserem Haupte. Wo ist der Anfang, wo das Ende der einzelnen Pflanzen?Ihre Stämme werden von Büschen anderer Klassen umzogen und ver-hüllt; von metallisch schimmernden Begonien und sanft sich wiegenden Farnwedeln; ihre Krone birgt sich in den Luftfäden und Luftwurzeln fremder Parasiten. Da gibt es neben der in Schiffskabelform ge-wundenen Liane eine braune Sorte mit in regelmässigen Zwischen-räumen sich wiederholenden Kugeln. Sie trägt im Volksmund den Namen Affenleiter.
Der elegante Baumfarn, mein Liebling, scheint sich allein frei zu halten von all dem Schmarotzergesindel. Sein gerader, haariger Stamm mit der feinen Federkrone strebt ungehindert aus dem grünen Chaos der Sonne entgegen. Von andern Bäumen des Waldes lernte ich den mimosenähnlichen Jacarandä oder Palisander kennen. Sein köstliches Holz ist weltberühmt. Dann sah ich den Lecythis, dessen Früchte sich deckelartig öffnen und zur. Herstellung von. Trinkgefässen dienen; ich sah Bixaceen- und Bombaceen-Bäume. Ich sah plumps da lag ich! Ungestraft darf man im brasilianischen Urwald nicht zu viel in die Höhe gucken. Tückische Wurzeln lauern überall am Boden, und ach, wie nass, wie glatt, wie lehmig ist die rötliche,
Aus Central- und Südamerica.reiche Erde! Zuweilen blieb der eine, zuweilen der andere Schuh in dem klebrigen Lehmbrei stecken. Bald lief ich auf blossen Strümpfen,bald versuchte ich es barfuss, aber das waren die ewig beschuhten,europäischen Füsse nicht gewöhnt, und dieses Paradies hat zudem seine Schlangen!
Endlich gelangten wir in eine Lichtung, dort steht das Häuschen eines Arbeiters oder Aufsehers der nahen Cacaopflanzung. Mit dem primitivsten Material gebaut, sieht es doch ganz schmuck und sauber aus. Statt Ziegel bedecken hübsch ineinandergelegte Palmblätter den Dachstuhl. Von innen gesehen bilden sie eine gleichmässige und sauber geflochtene Decke. Die Wände bestehen aus einem Gitterwerk aus Bambus. Die rote Lehmerde, über die ich soeben noch geklagt,füllt die Lücken alle aus. Feuchtnass dareingestrichen, wird sie in der Tropensonne nach wenigen Tagen steinhart und bildet vereint mit dem Bambus eine feste Mauer. Das sehr reinliche Innere des Hauses leidet nicht an Möbelüberfluss, wimmelt aber von kleinen Negerkindern und jungen Hunden. Erstere. hatte man jedenfalls zu unseren Ehren in feierliche Hemdchen und Höschen gesteckt, und die ungewohnte Kleidung und der ebenso ungewohnte Besuch machten sie stumm und still. In einem kleinen Nebenraum lag die Mutter. Sie hatte Tags zuvor einem winzigen, schwarzen Wesen das Leben gegeben.
Auf trockenerem Wege gelangten wir von hier bald in die Cacaoplantage. Die schönen, je
vier Meter auseinander entfernt ge-pflanzten Bäume haben feierlich runde Kronen und
grosse, längliche Blätter. Diese standen im Begriff, sich in ihre winterliche Farbe zu
kleiden und leuchteten teilweise in herrlichem Purpur. Viele Blätter lagen am Boden; man
wähnte auf einem Samtteppich zu wandeln.Die mattgelben, grossen, fünfkantigen Früchte
hängen mehr oder weniger dicht unmittelbar an den stämmigen Ästen, ebenso die winzigen,
rötlichen Blütchen. Öffnet man die Frucht, so findet sich ein angenehm säuerlich
schmeckendes, durststillendes, weisses Mark darin. Es umhüllt 16 übereinanderliegende
Bohnen. Wie bei den Apfelsinen trägt der Baum Blüten und Früchte zur selben Zeit, so dass
vom April bis zum Februar des folgenden Jahres eigentlich beständig geerntet werden kann.
Ein Baum bringt vom vierten bis zum sechzigsten Jahre Früchte. Steht er in seiner
Vollkraft, so kann man auf einen Jahresertrag von einem Kilo rechnen. Eine Cacao-pflanzung
besteht durchschnittlich aus 1020,000 Bäumen. Der Sack Cacaobohnen ä 60 Kilo berechnet,
bezahlt sich augenblicklich mit 36,000 Reis.
343
Schön weilte es sich unter den Cacaobäumen. Schräg fiel die Sonne auf die hellen, glatten Stämme und liess die roten Blätter noch feuriger erglühen, Auf dem Heimweg wurde nichts geschossen,das schwere Gewehr war vergeblich mitgeschleppt worden. Ich freute mich darüber, und doch, o widerspruchsvolles Herz! mein ganzes Sinnen und Trachten ging auf das Fangen und Morden der schönen Schmetter-linge, besonders der grossen, herrlichen, blauen Morpho, aus. Doch die waren klug und weise und liessen sich so wenig wie in Rio fangen,So musste ich mich mit kleinerer, bescheidenerer Beute begnügen.
Den halben Urwald an Schuhen und Kleidern kehrte ich nach Victoria zurück. Gut dass der liebe Gott gerade vor dem Hause einen Baum wachsen lässt, dessen Blätter jedwelche Spur der häss-lichen, roten Lehmerde aus Kleider und Wäsche entfernt. Dieser Baum ist der mir schon von den hawaiischen Inseln her bekannte Melonenbaum, der Papaya. Wie das Unkraut schiesst er vorn am Hause auf und dient einer besonders grossen Zitronenfalterart und einem reizenden, kleinen, roten Vögelchen mit schwarzen Flügeln und weissem Schnabel zum Tummelplatz und Lieblingsaufenthalt.
Unweit des Hauses stehen verschiedene, prächtige Exemplare von Jaccäbäumen (artocarpus integrifolia), einer Abart des Brotfrucht-baumes. Die kürbisgrossen, bis 15 Kilo wiegenden Früchte hängen unmittelbar am Stamm und gelten für ein gesundes, nahrhaftes Essen,dessen Mehlgehalt wiederum Brot und Kartoffeln ersetzen. Augen-blicklich waren die Früchte noch nicht ganz reif. Es wurde zwar eine für mich gepflückt, allein einmal aufgeschnitten, fand man sie nicht genügend gereift, um mir einen guten Begriff von der Jaccä zu geben. Ich erhielt sie deshalb nicht zu kosten.
Eine Pflanze, die hierzulande prächtig gedeiht, deren Wert und Nutzen aber nicht genügend erkannt wird, ist der Bambus. Nicht weniger schön als in Birma, steigt er in herrlichen, dicken Röhren mächtig und hoch empor. Bis jetzt fehlt ein Absatzgebiet, fehlen einige geschickte Korbflechter. Mit Messer und Feuer erklärt man dem allzu üppig treibenden Bambus den Krieg. Am Johannistag werden im ganzen Lande Feuerwerke abgebrannt, und mächtige Feuer lodern zu Ehren des Festes auf allen Höhen. Dann legt man einfach das Feuer an eine oder mehrere Bambusgruppen. Sie flammen empor,brennen bis zur Wurzel, treiben aufs neue und werden womöglich im nächsten Jahre abermals dem Johannistag geopfert,
Ein zweiter Spaziergang im Urwald war von keinen besseren Wegen begünstigt, und so hielt ich mich künftig auf den Bahnen
Aus Central- und Südamerica.der Zivilisation. Diese sollte ich in überraschendem Masse in der kleinen, zwanzig Minuten vom St.’schen Hause entfernten Ortschaft am Flusse finden. Bis vor kurzem noch Urwald, sind in den letzten Jahren an.200 Häuschen hier emporgeschossen. Etwas abseits, in einem Hause europäischen Stiles, wohnen zwei Schweizer, in einem anderen Herrn v. St.’s verheiratete Schwester, Frau S. Auch in den Trapiche warfen wir einen Blick. Es war Sonntag Nachmittag, und nach brasilianischer Sitte sass jede Familie vor ihrem Häuschen,um zu sehen und sich sehen zu lassen. Wie waren sie aber auch aufgedonnert, diese Negerschönheiten! Die kunstvollen Frisuren ent-sprachen den feinen Kleidern, die, meist in weiss oder rosa ge-halten, das tiefe Schwarz der Haut noch besser hervortreten liessen.Um so einfacher war dafür die Kleidung einiger dickbäuchiger Jungens.Sie bestand aus einem riesigen Hut. Eine wunderbare Abend-beleuchtung lag golden-purpurn auf dem Fluss. Die Ebbe hatte die grossen, schwarzen Steine blossgelegt im Wasser, und schwarz er-schienen die waldigen Ufer.
Abends gingen wir nochmals zu Frau S. Eine Laterne, die Herr v. St. mitgenommen, leuchtete über die Höhen und Tiefen des aus-gewaschenen Weges. Prasselnd schossen Raketen in die Höhe, und ununterbrochen kollerten „Frösche“ unmittelbar am Eingang einer hellerleuchteten, sehr bunt aufgeputzten Kapelle. Durch die offene Türe sahen wir eine Menge weissgekleideter, knieender Negermädchen.In ihre mit näselnder Stimme, ohne jedwelche Modulation vorgetragenen,einförmigen Hymnen klang immer wieder der Lärm der Raketen und Frösche.
Nach fünf schönen Tagen hiess es auch hier wieder scheiden.Herr und Frau v. St. liessen es sich nicht nehmen, mich wieder nach Ilh&os zurückzuführen und an Bord des berüchtigten, heiligen Felix zu bringen. Die Kanoefahrt war gerade so reizvoll, wie das erste Mal, die Ciri, Aratü u.s. w. ebenso zahlreich.
In Ilheos fanden wir Frau Libuca mit Adelaide, und die Nach-richt, der Saö Felix würde
erst diesen Abend hier eintreffen und morgen Mittags nach Bahia fahren. So hatte ich
Musse, mir Ilheos,eine brasilianische Kleinstadt zu betrachten. Interessant ist sie
nicht,sie besitzt keine schönen Kirchen und öffentlichen Gebäude, und die Häuser sind zum
Teil recht ärmlich. Eines aber zeichnet Ilheos dafür aus: seine wundervolle Lage. Soviel
ich mich erinnere, ist IIh6os eine Halbinsel. Auf der linken Seite endigt sie in einem
palmengekrönten meerumspülten Hügel, den wir zunächst erkletterten. Eine oder zwei
Die Rückseite des v. St.’schen Hauses liegt in einer langen Häuserreihe am Strande, Die Ilheosianer scheinen für Naturschön-heiten wenig Sinn zu haben. Vor einiger Zeit erging die Verord-nung, jeder Hausbesitzer müsse zwischen seinem Haus und der See eine hohe Mauer errichten. ‘Spazieren zu gehen am Strande würde nie jemandem einfallen, einem Strande, für dessen Besitz in Europa Unsummen geboten würden. Unabsehbar lang dehnt sich die leuchtende Linie aus; in ewigem Einerlei rollt die See über den feinen, weissen Sand, je nach Ebbe und Flut ihn mehr oder weniger bedeckend. Herrliche Kokospalmen stehen in langer, dichter Reihe längs des Strandes.
„Kann man denn hier nicht baden?“ „O ja, wenn es Nacht ist,dann wagt sich keine Menschenseele an den Strand, allerlei böse Geister sollen dort spucken“, St.’s hatten Besuch aus dem Städtchen,leise schlich ich mich badebereit aus dem Hause. Kein Mond leuchtete am Himmel, dunkel war das Ufer, noch dunkler das Meer. Ebbe herrschte und das Wasser schien weit, ach so weit weg. Adelaide und Antonie, die beiden kleinen Negerinnen hatten Befehl erhalten,mich zu begleiten und meine Kleider zu bewachen. Einen Stuhl zum bequemeren An- und Ausziehen hatten sie auch mitgebracht. Angstlich hielten sie sich in der Nähe der Häuser, ängstlich, ich muss es nach-träglich gestehen, schritt auch ich allein in die dunkle Nacht, einer noch viel dunkleren, beweglichen, brausenden Masse zu. Je weiter ich vorwärts ging, desto mehr schien sie mir zurückzuweichen. Was für ein elendes Atom war ich in dieser schwarzen Unendlichkeit! Schreien hätte ich mögen, nur um eine andere Stimme, als das Tosen der Wellen zu hören und hätte mich dabei gefürchtet vor meinem eigenen
Aus Central- und Südamerica.Schrei. Endlich berührte das Wasser meine Füsse. Ich duckte mich in den ganz warmen Sand und liess eine Welle nach der anderen über mich rollen. Meine beiden kleinen, schwarzen, dienstbaren Geister hatten sich unterdessen noch näher ans Haus gezogen. Als ich sie fragte, ob sie jetzt baden wollten, schüttelten sie energisch die wollenen Häupter: „Naö, naö“.
Ich erinnerte mich, wie auf der Victoria, Antonie abends etwas ausserhalb des Hauses holen sollte. Das Kind zögerte unter allen möglichen Vorwänden, dem Befehl nachzukommen, und erst als ihm Schläge in Aussicht gestellt wurden, zog es laut weinend ab, um in kürzester Zeit atemlos, wie von Furien gepeitscht, mit dem ge-wünschten Gegenstand zu erscheinen. Dieselbe Furcht vor Finsternis und Nacht quält also die Kinder der weissen und der schwarzen Rasse!
AR
Heimkehr.
Meine Tage in Brasilien waren ge-zählt. Noch einen halben Tag in Ilheos,einen oder zwei in Bahia, dann schau-kelte ich auf meiner geliebten See der fernen Heimat zu. Einmal noch sollte ich unter Palmen wandeln. Unwillkür-lich tauchte die Erinnerung an meine letzten Stunden in Ceylon auf. Damals war ich in einem Palmenhain gestanden,und ein schlanker Singhalese hatte mir eine Kokosnuss vom hohen Baume her-untergeholt. Nun sollte auch hier der Besuch einer Kokospflanzung den Schluss meiner brasilianischen Spazier-gänge bilden.
Wohl ein halbes Stündchen waren wir dem herrlichen Strand von Ilheos entlang gewandert, als unser Weg ganz plötzlich um ein schwarzfelsiges, zerklüftetes Kap führte. Hinter diesem lag der Ein-gang meines Kokosnuss-Paradieses. Die beiden kleinen Negerinnen und die Kanoeruderer hatten uns begleitet. Erstere zu ihrem Ver-gnügen, letztere, um uns die Nüsse von den hohen Bäumen herab-zuwerfen. Wie lustig prasselten die grossen, harten Früchte auf den weichen Boden! Mit dem langen Messer, das jeder Urwaldbewohner bei sich trägt, wurden sie uns mit grosser Gewandtheit mundgerecht gemacht. Schmeckte eine davon nicht ganz süss, so wurde sie einfach weggeworfen ; kleine Negerkinder, hungrige Hunde und gierige Schweine harrten auf die Brosamen von der Herren Tisch. Ich tat
Creoula in Bahia.
Aus Central- und Südamerica.mir nicht wenig gütlich, es waren ja meine letzten, und etwas mehr oder weniger Seekrankheit auf dem heiligen Felix, darauf kam es mir nicht an.
Wie reizend tropisch ist es im Kokoswald! Die Tausende von Bäumen mit ihren zierlichen Federkronen, die in Bündel wachsenden grünen und braunen Riesenfrüchte, der weisse Strand, die brausende See und die Negerstaffage mit allen ihren bunten Fetzen werden mir immer unvergesslich bleiben. Tropisch war auch der uns unter-wegs überraschende Regen. Und mein Regenschirm? Ach, der war auf der Kanoefahrt in einem Manglebaum bei den Ciri und Aratı hängen geblieben. Ein warmer Tropenregen trocknet übrigens schnell,wir merkten schon eine Viertelstunde später nichts mehr davon, dass wir triefend nass gewesen waren. Ein rasches Frühstück und die Abfahrtsstunde war da. „Der Saö Felix wird die Fahrt diesmal noch überstehen“, meinte beruhigend Herr v. St. Er hatte mich dem Kapitän und der Mannschaft so warm empfohlen, dass ich wie eine Prinzessin bedient und gehalten wurde. Erschien mir wohl deshalb der „Heilige“viel besser, als sein Ruf? Passagiere gab es wenige, und so wurde mir zunächst die grosse Damenkabine angewiesen.
Wir hatten. eben das reizende Ilheos umfahren und die letzten Abschiedsgrüsse dem ferner und ferner erscheinenden Strande zu-gewinkt, als die Seekrankheit losging. Der „Heilige“ tanzte wie eine Ballerine, hoch spritzten die Wellen über das Heckrad und männig-lich, Männlein und Weiblein, begannen zu speien. Mich alte Seeratte verschonte Gott Neptun gnädiglich. Als ich aber die Damenkajüte betrat, welch’ Jammerbild: Drei Brasilianerinnen, stöhnend, ächzend,jammernd.
Ich liess den Vorhang eiligst fallen und bat um eine Kabine für mich allein. Sie wurde mir auch zu teil, und die 18 Stunden dauernde Fahrt verlief wider alles Hoffen und Erwarten gut.
Um 6 Uhr früh landeten wir in Bahia. Es regnete, nein es goss, wie dies nur in den Tropen möglich ist. Herr T., aus dem Hause Wildberger, war so freundlich gewesen, mich an Bord zu holen. Der Arme hatte dafür in dunkler Nacht von der Oberstadt hinabsteigen müssen und stand nun triefend vor mir.
Als der Regen etwas nachgelassen hatte, fuhr ich nach der Pension Ribeiro, wo mein
schönes, altes Zimmer und ein freund-licher Empfang meiner warteten. Ich zog mich um,
ruhte etwas aus und ging dann an das unangenehme Geschäft des Einpackens, denn schon am
folgenden Morgen in aller Frühe wurde der französische
349 Dampfer der Messageries Maritimes „Chili“ erwartet. Mit ihm wollte ich die Heimreise antreten.
Um auch etwas von den wohltätigen Anstalten Bahias zu sehen,brachte mich Herr D. in den auf Bergeshöhe isoliert gelegenen Spital Santa Casa, oder, wie er auch heisst, Santa Izabel. Ich will nicht wieder ein Spital beschreiben, will mich auch nicht in Einzel-heiten über die trefflichen „soeurs de St. Vincent et Paul“ einlassen,die uns ein selber gebrautes, gallenbitteres Bier so freundlich an-priesen und kredenzten, dass schliesslich auch wir an seine Güte zu glauben anfingen. Ich will auch nicht von der herrlichen Lage des Spitales schwärmen, sondern nur noch einen scheuen Rückblick auf ein von gelben Rosen umsponnenes, in leuchtende Poinsettia und gelb und grüne Krotonbüsche gebettetes, weisses Häuschen werfen. Tür und Fenster standen weit offen. Unwillkürlich warf ich einen Blick hinein und schauderte zurück. Auf einem Tisch lagen lang hingestreckt zwei Leichen. „Blühend Leben, blasser Tod“ so dicht beieinander! Ein Sonnenstrahl glitt in diesem Augenblick durch das Fenster und verklärte das starre Totenantlitz des einen der stillen Schläfer. Die Schwester war ruhig, scheinbar achtlos vorangeschritten.Der Tod ist ja für sie ein bekanntes Bild. Sie genoss augenblicklich die freie Viertelstunde, das Plaudern mit einer französisch sprechenden Europäerin.
„Und morgen reisen Sie wirklich nach meinem Frankreich ?“[rug sie leuchtenden, Blickes. Erinnerungen an Heimat, Eltern und Geschwister, an eine glückliche Jugendzeit erwachten in ihr. „Wie weit. liegt das hinter mir“, murmelte sie vor sich hin. „Sie werden gewiss einmal Frankreich wieder sehen“, sagte ich tröstend. „Das weiss ich nicht, ich darf nicht fragen, keinen Wunsch äussern, ich muss dahin gehen, wo man mich sendet.“ „Haben Sie niemals Ferien?“ „Nein“, antwortete die Schwester mit einem schönen,ruhigen Lächeln, „Gott gibt uns die.Kraft zum Ausharren in der Arbeit.“Ich bin gottlob auf meinen Reisen niemals krank geworden, aber der Gedanke, mich in einem südamericanischen Spital verpflegen zu lassen, hätte nichts abschreckendes für mich gehabt. Ausserhalb des Spitales ist eine ärztliche Behandlung, namentlich in Brasilien,. ein teures Vergnügen, und man besinnt sich nicht zwei, aber zwanzig mal, ehe man einen Aesculap ins Haus kommen lässt. Am schlimmsten ist es, wenn Stellung und Vermögen des Patienten den Arzt zu einer grossen Rechnung ermutigen, Das Unerhörteste leistete in dieser Art
Aus Central- und Südamerica.
_ es sind freilich schon eine Anzahl Jahre darüber verflossen der damalige erste Arzt Bahias, Baron Itapoan. Die Familie eines sehr reichen Patienten hatte ihn rufen lassen, aber er sah auf den ersten Blick, dass der Fall ein verzweifelter war. Er schickte des-halb zwei seiner Assistenten, die abwechselnd am Krankenbette sassen,während er selbst sich damit begnügte, einige Male nach dem Ster-benden zu sehen. Nach zwei Wochen trat der Tod ein. Die Rechnung lautete: 1000 Contos = zweieinhalb Millionen Franken, und die Familie zahlte.
In dem Spital Casa Santa machte ich die Bekanntschaft des Chefarztes Dr. P. Auch er sollte den folgenden Tag mit der „Chili“nach Bordeaux fahren, und während der langen Reise hatten wir manches Plauderstündchen auf Deck. Dr. P. und mehrere seiner Kollegen reisten nach Lourdes, worüber ich mich insgeheim wunderte,da der gebildete Brasilianer im allgemeinen für skeptisch gilt.
Dr. P. bekommt als Chefarzt des Spitals monatlich 700,000 Reis,(augenblicklich stand der Kurs: 14,200 Reis == Fr. 25). Die Besoldung läuft auch während den viermonatlichen Ferien weiter. Dem Spital braucht er nicht mehr als zwei bis drei Stunden täglich zu widmen,den Rest der Zeit kann er seiner Privatpraxis nachgehen. Auch die Assistenzärzte bekommen neben freier Station monatlich 300,000 Reis.
Auf nach Brasilien! höre ich verschiedene unserer, ach, so zahl-reichen. und nicht immer sehr beschäftigten jungen Ärzte ausrufen.Gemach, auch die brasilianischen Mediziner scheuen europäische Konkurrenz und Examina lauern in Bahia auf die Fremden. Wie schwer sie sind, weiss ich nicht, ich weiss nur, dass auf der Universität Bahia ausschliesslich Professoren brasilianischer Nationalität lehren.
Meinen letzten Abend auf brasilianischer Erde verklärte ein wunderbarer Sonnenuntergang. Golden leuchteten Meer und Inseln und in stillem Entzücken genoss ich den herrlichen Anblick. Weniger still waren meine Nachbarn, Von allen Seiten liess sich das Ge-klimper unmusikalischer Tonkünstler auf mehr oder weniger ver-stimmten Klavieren vernehmen. .
Den folgenden Tag war ich in aller Frühe auf und fertig, aber die „Chili“ erschien erst
gegen Mittag. Ungeduldig jetzt plötzlich brannte mich der Boden unter den Füssen fuhr ich
in die Alt-stadt hinunter. Herr T. begleitete mich in das schwarze Gewühl des Marktes.
Schwarz war die Farbe der Käufer und Verkäufer,so schwarz, „dass man sich ordentlich
seiner weissen Haut genieren muss“, meinte Herr T. Er kaufte mir zur Wegzehrung einen
grossen
Heimkehr.
351 Korb jener einzig köstlichen Bahianerapfelsinen, die mir auf lange Zeit alle anderen sauer erscheinen liessen.
Wir wanderten weiter dem Tiermarkt zu; buntfarbige Papageien plauderten und kreischten mir entgegen. Ich konnte mich nicht für sie begeistern, sondern wandte mich den engen, ach so engen Käfigen zu, wo reizende Uistitis ein trübselig Dasein führten. Da war die grössere Sorte mit den unternehmenden, weissen Büscheln in den Ohren, und die ganz kleine Abart mit dem weissen Stern auf der Stirne. „Und wenn Sie ein Paar von den kleinen nach Bern brächten ?“fragte Herr T. Ich war sehr unentschlossen. Die grosse Lust, solch niedliche Dinger zu besitzen, die Unbequemlichkeiten der weiten Reise,das Gefühl, die Tierchen in unserm schlechten Klima einem sichern Tode zu weihen, das alles liess mich zu keiner Entscheidung kommen.„Hier auf dem Markte in dem engen Behälter, wo sie kaum zu fressen haben, können sie auch nicht leben, nehmen Sie sich doch zwei mit!“überredete der Versucher weiter. Ein winziges Körbchen wurde ge-kauft, zwei Tierchen eingefangen, und ehe ich mir die Sache reiflich überlegt, standen Körbchen und Uistiti in meiner Kabine.
Ach, meine kleinen, heute noch nicht verschmerzten Uistiti! Ein Sprünge und Schelmenstreiche, Eure Naschhaftigkeit, Eure Klugheit,Eure innige Eintracht, die nur zuweilen bei besonderen Leckerbissen in die Brüche geriet. „Les petits rois en exil“ nannten sie meine Reisegefährten, und als sie endlich die 17tägige Seereise glücklich überstanden hatten und in Bern angekommen waren, erfreuten sie sich einer goldenen Freiheit und einer sehr abwechslungsreichen Tafel. Das Beste war gerade gut genug für die kleinen, verbannten Könige. Eines nur konnte ich ihnen nicht geben, ihre warme, schöne Tropenheimat! Der Herbst war ungewöhnlich nasskalt. Das schöne,glatte Fell wurde struppig, die flinken Füsschen starr und ungeschickt.Beim Klettern fielen die Tierchen häufig hinunter, das eine brach ein Bein, es wollte nicht heil werden, und da das Äffchen viel jammerte, liess ich es chloroformieren. Von diesem Augenblick an kauerte sein Brüderchen regungslos Tag und Nacht auf seiner Wärme-flasche. Nur die schönen, klugen, menschlichen Augen zeigten Leben.Sie blickten mich so traurig an, dass ich es nicht länger aushielt und auch dieses einschläferte.
Doch, mein Buch darf nicht so wehmütig ausklingen.
Lieber will ich noch erwähnen, dass, ungeachtet des überfüllten Schiffes, meine Reise nach Bordeaux sehr glücklich verlief, und ich,
Aus Central- und Südamerica.zwar müde, aber gesund, voller Dank für gnädige Bewahrung, und reich an schönen Erinnerungen in die liebe Heimat zurückkehrte. Das schon über 250 Jahre alte Sprüchlein Philanders von Sittewald hatte ich aber öfters Gelegenheit anzuwenden :
Wer reisen will,
Der schweig’ fein still,Geh’ steten Schritt,
Nehm’ nicht viel mit,
Tret’ an am frühen Morgen Und lasse heim die Sorgen!