Im Dienst der Nächsten. Drei Erzählungen: ELTeC Ausgabe Schlatter, Dora (1855-1915) ELTeC conversion Automatic Script 130 30070

2021-12-14

Transcription UB Basel Scan UB Basel Im Dienst der Nächsten. Drei Erzählungen. Schlatter Dora Druck und Verlag von J. F. Steinkopf Stuttgart 1895

The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1895 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1895 edition.

German Ines Bracht added TEI Header and removed noise.The Scan is used only to insert page beginnings, paragraphs, chapters and heads.

Stuttgart, 1895.Druck und Verlag von J. F. Steinkopf. Auf dem Alpli.Es war ein heller, klarer Frühlinggabend. Der Himmel spannte sich in scharfer lichter Bläue über die Berge und Thäler. Nur leise und schüchtern wagten es etliche Sternlein, hinunter zu schauen von ihrer geheimnisvollen Höhe auf die Erde, die im Abendfrieden sich breitete. Sie schauten herunter in ein einsames schmales Bergthal, auf ein grünes Alpli, das sich tief hineinschmiegte in die Falten eines trotziges Berges, des „Ahorn“, wie er sich nannte.Ein weißer Rauch steigt aus dem niederen Kamin, das aus dem Dach der einzelnen Hütte auf dem AÄlpli emporragt, und zieht in Ringeln empor in die kühle Luft. Heller Feuerschein bricht aus der geöffneten Thüre heraus auf die dunklen Gräser und die ersten Schlüsselblumen am Hang, auf die plätschernden Wasser des Brunnens und die kleinen Seelein in den tiefen Fußlöchern, die das Vieh in seiner Nähe zurückgelassen. Die Sternlein schauen aber tiefer hinein in die Hütte. Neben dem hell erleuchteten Raum, der Küche, in der mächtige Kiefernäste frei auflodern, ist der Wohnraum des Älplers und Käsers. Dort in der Ecke der kahlen Stube liegt auf einem Lager eine Auf dem Älpli.Frau, bleich und abgezehrt in der letzten Not. Ein kleines zehnjähriges Mädchen, das Kathrinchen, steht daneben, in seinen Armen hält es ein unförmliches Kleiderbündelchen,aus dem ein rotes Gesichtchen hervorschaut und ein eigener Ton hervordringt. „Sei ihm ein gutes Mütterchen, Kätheli, gelt du denkst dran,“ sagt die kranke Mutter mühsam und sucht mit ihrer schwachen Hand das Kleinste zu erreichen. „Sorg für den Vater und die Geschwister, du bist das Alteste, und ich kann's nicht mehr thun.“ Kätheli machte ein ganz ängstliches Gesichtchen beim Anhören der Ermahnung, und es faßte nicht recht, was die Mutter meinte, drückte aber das kleine Kindlein fest an seine Wange und trug es sorglich in die warme Küche hinaus, als es fühlte, wie seine Händchen kalt wurden. Der Vater aber saß drin in der Stube beim Kerzenschein und hielt die Hand seiner Frau, bis sie kälter und kälter wurde und schließlich ganz erstarrte. Es war die Hand seines Weibes,das er in jungen Jahren frohlockend heraufgeführt aufs Älpli, das ihm seine Hütte sonnig und helle gemacht, daß er nicht hätte tauschen mögen mit dem reichsten Hofbauern drunten in der Ebene, die Hand seines Weibes, die ihm sieben Kindlein in den Arm gelegt und allen eine liebende Mutter gewesen, und sie war es wohl wert, daß eine heiße Thräne auf sie fiel aus einem Ange, das selten weinte.Er kam sich auch so verlassen vor, der einsame Mann auf der stillen Alp. Sein Ruf konnte keinen Menschen erreichen zur Hilfe, niemand war um ihn, als die sieben Auf dem Älpli.Kindlein und der liebe Gott, der über der Vergwelt throni.Da kam es über den starken Mann, daß er sich wand und schüttelte in heißem Weh, und seine Seele ward nicht ruhig, bis er die Hand dessen ergriffen, der dort bei Pniel mit Jakob gerungen und gerufen hatte: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“

Dann trat er hinaus in die Küche und fand sein Töchterlein am Feuer kauern eingeschlafen über dem Köpfchen des Jüngsten. „Geh hinauf ins Heu und schlaf, Kätheli,die Mutter schickt dir noch einen letzten Gruß.“ Das Kind gehorchte und trug sein Bündelchen mit hinauf in den Gaden, wo schon fünf Brüderchen mit rosigen Backen neben einander im duftenden Heu lagen. Sorglich bettete es den Kleinen in seinen Korb, wie es schon oft gethan in Mutters Krankheit, und legte sich mit in die Reihe der Schläfer.Unten verglomm das Feuer und nur die Sterne wachten über der schlummernden Alp.

Der fröhliche Morgen weckte all die Schläfer zu neuem Leben. Die Kuhglocken tönten von der Weide herüber,der Tau glänzte in den Blüten der schwanken Anemone,die Sonne glitzerte über die Bergwand herüber; wie verklärt lag das Älpli da. Sieben kleine Wesen krabbelten aus dem Heu heraus und stiegen hernieder ans Tageslicht.Ach, da fing schon der neue Beruf des kleinen Mütterchens an. Das Kleinste schrie in seinem Korbe, so laut es seine Lunge erlaubte. Vergebens legte es dasselbe in einen hölzernen Wagen vor der Thüre und sagte zum Toni: Auf dem Älpli.„Da, zieh ihn ein wenig.“ Es wollte nichts den Kleinen über den Hunger wegtäuschen und derweil stand der Seppel am Brunnen und wollte sich nicht waschen, so viel auch der älteste Köbi an ihm zog, um ihm das kalte Naß näher zu bringen. Und doch hatte die Mutter immer gesagt:DDKätheli hielt fest an dieser Sitte, sah aber durch den schreienden Buben seine Pflicht sehr erschwert. Wie froh war es, daß es wenigstens schön Wetter war und es die fünf Buben hinauslassen konnte. Sie liefen den ganzen Tag den Kühen nach, schnitten Ruten aus dem Gebüsch und jagten sich über Stock und Stein. Heim kamen sie nur, wenn's was zu essen gab; dann aber polterten sie daher wie ein wildes Heer. Daß nun nicht immer die dampfende Schüssel bereit stand, wenn sie meinten, daß es ihre Zeit sei, befremdete sie sehr. Buben verstehen nie etwas vom Haushalt und denken nur an ihren hungernden Magen. Aber das gute Kätheli hatte wahrlich keine Ferienzeit, während die Buben draußen herumstöberten. Das kleine Wiegenkindlein war ein gar viel brauchendes Geschöpfchen und die pflegenden Arme waren recht ungeschickt. Der Vater hatte selbst alle Hände voll zu thun, besonders gegen Abend, wenn alle Sennen von weit und breit daher gestiegen kamen mit ihren Milchbehältern auf dem Rücken,um sie dem Käser zu überliefern. Da klang manchmal ein Jauchzen und Jodeln von allen Wänden und Pfaden nieder, wenn ein Kamerad den andern mit der schweren Auf dem Älpli.Last erblickte, daß es ganz lustig war hinauszuhorchen in den verglühenden Abend. Und der Käser war sonst nicht der Letzte gewesen und hatte fröhliche Antwort geleistet.Jetzt aber war er still. Wohl hatte niemand etwas gesehen von jener stillen, heißen Thräne in der Sterbenacht,auch zur Stunde nicht, da die Kameraden den schwarzen Sarg thalabwärts trugen; aber es hat auch keiner mehr den frohen Jodler wieder gehört. „Die Muitter fehlt, die Mutter fehlt,“ das klang in des Vaters Herzen wider vom Morgen bis zum Abend. Das Kätheli mühte sich ja redlich mit seiner schwachen Kraft; aber es konnte eben nicht alles, es war ja selbst noch ein Kind. Einst saß das Kätheli vor dem Haus auf der Schwelle, ein Hosenpaar auf dem Schoß, das der Rudi gestern durchgerutscht hatte auf dem Felsen und stocherte mit einer mächtigen Nadel und einem dicken Faden in dem blöden Gewebe herum,seufzend und schwitzend. Das Kleinste lag im Holzwagen daneben und spielte mit seinen Fingerchen, da kam der vierjährige Res gelaufen und rief schon von weitem: „Der Rudi ist heruntergefallen, weil sich die Geiß verstiegen hat.“ Wie erschrak das Kätheli. Was sollte es thun.Da lag das Brüderchen. Konnie es dasselbe allein lassen?Drinnen am großen Käskessel stand der Vater und bewachte die brodelnde Flüssigkeit. Er hatte die Botschaft gehört und sagte: „Laß ihn nur ein wenig liegen, schadet dem Buben nichts, wenn er dran denkt, kann jetzt nicht grad fort vom Kessel, und daß du gehst, nützt nichts, tragen

Auf dem Äülpli.kannst ihn doch nicht so weit.“ Geduldig setzte sich Kätheli wieder hin; aber schon erscholl Geheul auf der andern Seite der Hütte und mit blutender Nase schleppte der Köbi den Seppel daher, ihn anklagend, er hätte ihn über eine Baumwurzel gestoßen und sei schuld, daß er blute.Während Kätheli die arme Nafe wusch am Brunnentrog und mit ihrem Taschentüchlein trocknete, und der Seppel heulte wegen der strafenden Ohrfeige, die aus dem Dunkel der Hütte ihn ereilt hatte, fing das Kleine zu weinen an,so daß dem guten Mütterchen Hören und Sehen verging.„Es geht nicht so mit all den Kleinen,“ seufzte der Vater,als er über die Alp schritt, den verunglückten Rudi zu suchen. Zum Glück hatte er nur den Fuß verstaucht und konnte nicht mehr darauf stehen. Dem Vater aber war's ein Leichtes, den Krauskopf auf den Rücken zu laden, ihn daheim aufs Heu zu betten. „So, da kaunst still liegen und warten, bis du wieder laufen kannst, das ist die beste Mahnung zur Sorgfalt.“ Aber des Vaters Seele war beschwert; ein Gedanke ging in ihm auf und ab. Am Abend, als die Buben im Heu lagen, sagte er: „Hast du ein Papier, Kätheli?“ „Ja, denk halt in einem Heft.“„So, das ist recht, es hat Linien.“ Das Kätheli holte ein blaues Schulheft hervor, riß eine weiß gebliebene Seite heraus und legte es dem Vater hin. „So und noch Tinte.“ Ein ganz bestaubtes, schwarzes Gläschen kam zum Vorschein. Kaum tauchte noch die unterste Spitze in den schwarzen Saft. „Was willst du, Vater?“ „Einen Auf dem Älpli.Brief schreiben an die Schwester. Es geht so nicht, Kätheli; sie sollte herauf kommen.“ Als der Vater sah, daß sich des Kindes Augen mit Thränen füllten, setzte er mild hinzu: „Hast deine Sache brav gemacht, Kind, weiß schon,aber du solltest selbst noch jemand haben, der zu dir schaut,statt daß du zu den Buben schauen solltest, und die sind gar wild.“ Das sah das Kätheli wohl ein, und halb mit Schreck und halb mit Freude sah es, wie der Vater langsam seine Bitte aufs Papier malte, die Schwester möge kommen und sich seiner annehmen.

Am frühen Morgen wurde der Köbi geweckt und mit der scharfen Weisung zu laufen, was er könne, ohne anzuhalten, bis er den Brief in die Hand der „Base“ gelegt hätte. Als der Vater den Buben mit großen Sätzen davon springen sah, atmete er erleichtert auf: „Ich bin gewiß,sie kommt. Sie war immer so gut mit mir und thut mir alles zu Liebe.“ Das Kätheli war den ganzen Tag sehr eifrig. Es machte die Stube rein mit einem Reisbesen. Gar komisch sah es aus, wie die kleine Gestalt den Besen benutzte und hin und her schob mit großem Eifer. Die Buben hatte es ausgeschickt, Blumen zu suchen,damit ein Glas voll Frühlingsblumen die ankommende Base erfreue. Aber es war sehr zweifelhaft, ob sie heute schon anlangen würde. Fünf Stunden hatte der Köbi D dann würde sie vielleicht auch nicht gerade auf und davon gehen können.

)

Auf dem Alpli.Wohl hundertmal lief es hinaus vor die Thüre und spähte thalab, ob niemand sich zeige. Um so zärtlicher drückte es das Kleine an sich und erzählte ihm kosend:„Ich hab' wollen dein Mütterlein sein ganz allein; aber jetzt kommt ein besseres für dich!“ Und Kätheli fühlte etwas wie Erleichterung in seinem kleinen Herzen. Der Vater sah auch zum erstenmal etwas fröhlicher aus und trug ganz geduldig den Rudi an die Sonne, damit sein krankes Bein sich durchwärme.

Aber nochmals sank die Sonne, nochmals brachte das kleine Mütterchen die wilden Buben zur Ruh im Heu, in dem sie sich balgten um Köbis Lagerplatz, nochmals stieg das Tagesgestirn bis zur Mittagshöhe, ehe die Ersehnte in der Ferne sich zeigte. „Vater, jetzt kommen sie,“ rief Kätheli hinein in den Milchgaden, damit eilte sie auch mit fliegenden Füßen den Kommenden entgegen. Langsamer folgte ihm der Vater. Das gab ein Händeschütteln und ein Grüßen. „Gott lohn dir's, daß du kommst, AnneMarie,“ sagte der Vater. „Aber was hast du da im Korb?“ „WMein Büblein ist's, es ist erst drei Wochen alt, da konnt ich's doch nicht daheim lassen. Die andern zwei sind größer und gehen in die Schule, die können mich leicht entbehren, aber das da nicht.“ Mit diesen Worten stellte die Frau ihren Korb ab und holte ein kleines zappelndes Büblein aus den Hüllen, die es sorglich und warm umschlossen hatten. „Just wie das unsere,“ jubelte Kätheli. „Komm, Bübli, mach Platz.“ Damit rückte es Auf dem Älpli.das Brüderchen in seinem Wagen auf die eine Seite und ließ dem neuen Büblein einen schmalen Raum. Da lagen nun die zwei rosigen Gesichtchen neben einander, drehten die Köpfchen und fuchtelten mit den Händchen in der Luft herum, ein jedes erstaunt, ein anderes warmes Würmchen neben sich zu fühlen. „Nein, das ist zu viel auf einmal,zwei Büblein neben einander. Nein, aber auch wie nett!“Sie knieten alle um den Wagen herum und bewunderten das kleine Volk um die Wette. Angezogen von den Jubeltönen kamen nun die fünf Buben von allen Seiten daher;auch der Rudi kam mit gehinkt, um die neue Verwandte zu begrüßen. Da reihte sich ein Krauskopf neben den andern, der Seppli hatte den Finger im Mund und starrte mit kugelrunden Augen die Tante an.

„So, sagt auch: Gott grüß dich, zur Base,“ mahnte der Vater. „Nein, aber Hans, hast du einen Segen,“sechs Buben neben einander wie Orgelpfeifen, und dann das Kätheli noch obendrein. Ja, da glaub ich's, daß du's nicht allein machen konntest!“ Wie atmete der Vater auf,als er die kräftige Schwester am Herd walten sah, um für alle den Kaffee zu machen. Er holte die schönste Butter aus dem Milchgaden und legte sie auf ein frisches grünes Blatt, ein goldenes Stück Käse zierte den Tisch und dann ging's tapfer ans Essen. Es schien der AnneMarie unglaublich, was die Buben zu versorgen im stande waren, und sie sagte ein übers anderemal: „Nein, aber auch Hans, so viel Buben.“ Das Kätheli schlüpfte aber

Auf dem Älpli.so oft es ging zum Plätzchen, wo die Büblein lagen in süßem Schlummer, ein Köpfchen neben dem andern.Hatte die Base sich schon verwundert über den reichen Bubensegen und eingesehen, daß der Bruder nicht allein haushalten konnte, so sollte sie's erst recht erfahren. Früh gegen Morgen wurde sie an einem Lärmen und Stampfen im Stall hinten geweckt. Als sie ihres Bruders und Köbis Stimme hörte, stand sie schnell auf und trat in die Küche. Da kam ihr der Vater schon entgegen und sagte:„Wie gut, daß du da bist, ich wollte dich eben wecken und bitten, einen Trank zu kochen fürs Mei; ich bin eben um ein Kalb reicher geworden. Und drüben im Schweinestall ist's auch nicht richtig, s kommt alles auf einmal heute!“ Das gab denn einen gar bewegten Morgen auf dem AÄlpli. Die Buben hatten nur zu springen, bis sie das neue Kälbchen gesehen und bewundert hatten, und kaum war das Wunder angestaunt, kam der Vater mit der Botschaft: „Zwölf Ferkel sind erschienen im Schweinestall, schnell, Köbi, gieb Art und Hammer, daß ich einen Verschlag für sie mache.“ Und ehe er abgegangen war zur Arbeit, schrie der Rudi von der anderen Seite: „Vater,es ist ja ein schwarzes Zicklein im Stall und das Blümli meckert.“ Da rannten die Buben hin und her vor Aufregung, und die Base rettete sich eilends in die Küche, um nicht umgestoßen zu werden von dem aufgejagten Bienenschwarm. „Jetzt fehlt nur noch die Gluckhenne,“ sagte der Vater lachend, „dann wär' alles Erwartete da. Geh,Auf dem Älpli.Kätheli, und schau, ob dort alles noch still ist.“ Ein fröhliches Lachen war die Antwort. Bald kam es zurück mit einem Körchen voll kleiner lebender Küchlein; es waren sechs aus dem Ei gekrochen und eines pickte schon an der Schale, um sie zu durchbrechen. „Nein, das ist nun aber genug Junges auf einen Tag und unter einem Dach,“rief die Base aus. „Hört's bald auf, Hans?“ Die Buben aber zählten schreiend auf: „ein Kalb, zwölf Ferkel,ein Zicklein und sieben Hühnchen.“ „Ja und noch zwei Büblein, fünf Buben und ein Mägdlein,“ setzte die Base dazu. „Die Welt wird nicht leer und das Älpli auch nicht!“Da lachte der Vater so fröhlich, wie seit der dunkeln Nacht nicht mehr. „Du siehst, Schwester, daß du nicht vergebens da oben bist bei uns und daß viele deiner Pflege bedürfen und nach dir sich ausstrecken. Nun giebt's ein fröhlich Leben auf dem Älpli diesen Sommer. Gott segne all das Junge und lasse es wachsen und gedeihen unter seinem Schutz. Vergeßt es nur nicht, Buben, all Abend zum lieben Gott zu beten und ihm zu sagen: ‚Behüt und segne uns und unser liebes Älpli.““ So sprach der Vater und verschwand hinterm großen Käskessel. Die Buben tanzten auf dem Gras herum, das Kätheli kniete zu den schreienden Büblein und die Base ordnete die verlassene Stube und freute sich, daß sie zur rechten Zeit heraufgekommen war zu den Verlassenen aufs Älpli.

Zehn Lichtlein.Die Leute sagten, es sei Sommer, und der Kalender gab ihnen recht; aber die Sonne schien das ganz vergessen zu haben; sie versteckte sich täglich hinter dichtem grauem Nebel, als hätte sie sich verguckt beim Lesen des Tagesdatums und glaubte sich im November, der Nebel und Nässe erlaubht.

Wie kalt sauste der Wind herunter von den Bergen ins tiefe Thal, und der Bergbach, der rauschend und tosend den Weg suchte ins weite offene Land, sang sein eintönig schwermütig Lied. Aus dem Kampf mit Schlucht und Gestein kam er herunter, und wie er sich ausruhen möchte im Sonnenschein des ruhigen Thalgrunds, da fehlte sie.Fehlender Sonnenschein aber macht traurige Herzen.

Auf der Brücke über den Bergbach flutet ein anderer Strom; der Menschenstrom. Er ist gekommen von Ost und West, gekommen mit mancherlei Gebrechen, um beim Bachesrauschen und im Hauch des Bergwinds gesund zu werden. Tausenderlei von großen und kleinen Interessen hat er mitgebracht aus dem Gewühl der Städte mit ihrer Geselligkeit und hat sie verpflanzt in diese Bergwelt, die sonst so still, so hehr dasteht. Da blicken sie hernieder die grauen ernsten Wände von Fels getürmt, Jahrtausende sahen sie kommen und gehen, und nun wuseln und wimmeln zu ihren Füßen die kleinen winzigen Menschenkindlein, als Zehn Lichtlein.wäre ihr Leben ein langer bedeutsamer Raum, und doch ist's ein Hauch nur!

Zwei dunkle Augen mit dem schimmernden Glanz, den nur der Süden wach ruft, verfolgen die wandelnden, plaudernden Menschen. Sie gehören der kleinen Albina, die alle Jahre wiederkehrt aus dem sonnigen Land wie ein Zugvögelein. Der Vater breitet dann hinter hohen Glasfenstern, auf samtner Unterlage, auf kleinen Tischen vor und im Pavillon seine Schätze aus, die geschickte feine Finger dort unten geformt und gefügt. Da lächelt das Engelsköpfchen, kunstvoll in grauen Lavastein geschnitten,dort blickt ernst die klassisch gedachte Kamee, daneben lockt der wiegende Jasmin und das rosige Röschen aus winzig zierlichen Steinchen in dunkeln Grund gefügt, wie es das alte Byzanz erfunden und das jetzige Florenz fortführt.Die Fremden pflegen da stille zu stehen und laut und leise zu bewundern. Sie kaufen die kleinen und großen Schmuckgegenstände ein und bringen sie heim als Erinnerungsstück.

Heut ist der Vater schnell weggerufen worden; Albina hütet die Schätze. Wenn nur jemand kanfen wollte. Es ist so kalt und trüb. Die Kleine fröstelt. Sie trägt ein seidenes Tüchlein um den Kopf; das giebt dem gelblichen Gesichtchen mit den dunkeln Augen etwas Altes, Mütterliches; aber es vertreibt das Zahnweh, das diese Nacht sie am Schlafen gehindert hat. Sie bindet es noch fester um den Kopf. Sie ist so allein in der trüben Luft. Ach

Zehn Lichtlein.dort unten ist's so sonnig und farbig, so grau und häßlich ist's nie, auch nicht im Winter, und dann hat sie dort Gespielen, die ihre Sprache sprechen, die melodisch und klangvoll reden wie sie, nicht so hart und scharf wie die Kinder hier, die sie nur teilweise verstehen kann.

Schwermütig blicken die Augen dem Menschenstrom nach. Niemanden kennt sie; keiner grüßt sie; sie ist so allein. Will niemand kommen und kaufen?

Da nahen auf der Brücke zwei Mädchengestalten in hellem Kleide; leicht und zierlich ist der Schritt und eifrig wiegen sie die Köpfe gegeneinander in fließendem Gespräch.Es sind augenscheinlich zwei Schwestern, obwohl sie nach außen zwei Kontraste sind, die eine schwarz, die andere hellblond. Plötzlich springt Albina auf von ihrem Hüteplatz; wie ein Pfeil schießt sie durch die wandelnde Menge den Gestalten entgegen. „O Fräulein Klara und Fräulein Lili, endlich kommt jemand, den ich kennel“ Und Albina streckt ihr Mündchen entgegen dem liebevollen Kuß,der ihr immer zu teil wird, wenn sie den Schwestern begegnet. Zärtlich streicheln sie das dunkle Haar, erkundigen sich teilnehmend nach der Ursache des Zahnwehtüchleins,und als die Kleine klagt, sie sei so allein, da sagt Klara tröstend: „übermorgen, Albina, übermorgen, weißt du was dann ist?“ „Mein Geburtstag,“ jubelte die Kleine,„dann darf ich kommen?“ „Gewiß,“ lächelten die Schwestern. Ja, der Geburtstag stand längst wie ein leuchtender Stern über Albinas Leben. Dann durfte sie in die Zehn Lichtlein.kleine herzige Villa hinauswandern, wo die lieben Fräulein wohnten, und dort den Nachmittag vergnügt und glücklich sein.

Schon mehrere Jahre dauerte die warme Freundschaft zwischen den beiden Schwestern und der kleinen Italienerin.Auch sie führte der Sommer an den rauschenden Bergbach, und da war ihnen das dunkle sehnsuchtsvolle Augenpaar aufgefallen. Sie hatten sich der Kleinen genähert,die mit niemandem sprechen konnte, und hatten schnell ihre Liebe gewonnen. Wenn der Vater sich im Frühjahr anschickt nach dem Norden zu reisen zum Arbeitsverdienst im Sommer, dann würde Albina noch heißere Thränen weinen,wenn die beiden Schwestern nicht wären! Aber der graue Norden barg dies Wiedersehen.

Klara und Lili hatten die Kleine herzlich lieb. Der Gedanke an deren Geburtstag hatte sie seit Tagen beschäftigt. Sie hatte ihnen anvertraut, daß ihre Herzenspuppe verunglückt sei, und daß der rote schöne Ball in das Bergwasser gefallen und davon geschwommen sei. über diese Verluste sollte Albina getröstet werden. Mit zierlichen Stichen ward eine kleine reiche Toilette genäht für ein holdes rosiges Wesen mit langem blondem Haar. Ein cromefarbenes, ein blaues, ein grünseidenes Kleidchen, dazu ein weißes gezogenes und ein schwarzsamtenes Hütchen,ein blaues Käppchen lagen niedlich bereit; auch verschiedene Mäntelchen und Schürzchen fehlten nicht und das alles lag hübsch geordnet in einer Schachtel, die zugleich das Schlaf

Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 2 Zehn Lichtlein.gemach der Puppe bildete. Die beiden Schwestern nähten so emsig, als wäre die eigene Jugendzeit wieder wach geworden, und es war wohl so etwas wie ein Luftstrom der Erinnerung. Sie lag auch noch nicht gar zu fern vom blonden Köpfchen mit dem Kindergesicht und auch nicht vom schwarzen Auge, das noch leicht recht schelmisch blicken konnte.

Das „Übermorgen“ kam. Albina kam schon am Morgen durch den Garten gesprungen; sie hatte es nicht erwarten können, die beiden Fräulein zu sehen, und als Lili ihrer ansichtig wurde, eilte sie ihr entgegen, um Kuß und Glückwunsch zu tauschen. Das Zahnwehtüchlein war verschwunden; die Geburtstagsfreude hatte es weggeblasen,und hell leuchteten heute die dunkeln Augen. Doch wurde Albina auf den Nachmittag vertröstet; die Festfeier war noch nicht ganz vorbereitet. Nach dem Essen aber beluden sich die beiden Schwestern mit den ausgedachten Schätzen und wanderten damit dem Waldhüttchen zu. Das war ein trauliches hölzernes Häuschen im Grün versteckt. Ein hölzerner Tisch stand in der Mitte. Rund herum zog sich die Sitzbank, von der Decke herab hing die Blumenlampe,aus der ein üppig schönes Frauenhaar in langen Fasern niederfloß, und an den Wänden hingen farbige Bilder,die die Mädchen selbst gemalt hatten, in künstlerischer Wonne.

Über den Tisch nun breitete Klara eine blendend weiße Serviette und darauf kam in die Mitte ein reizendes Sträußchen von gelb und rosa zusammenkomponiert, wie Lili Zehn Lichtlein.es für ein Italienerauge sich ausgedacht hatte. Rund herum standen zehn Apfel und auf jedem thronte ein Wachslicht.Dann lag ein Konfektteller bereit, die Puppenschachtel, der rote Ball mit dem eidgenössischen Kreuz darauf und eine Anzahl lieblicher zarter Bildchen. Das Ganze war ein hübsches kindliches Geburtstagstischchen, das auf Albina wartete.

Die Schwestern gingen ihr entgegen zum hohen Gitterthor, das die kleinen Hände kaum zu öffnen vermochten;dann wandelte Lili langsam plaudernd mit ihr durch die Laubgäuge, während Klara davonhuschte und rasch die Lichtlein zu entzünden versuchte. Das war aber eine schwierigere Aufgabe, als sie gedacht. Immer wieder wehte die Nachmittagsbrise die zarten Flämmchen aus, so daß sich Klara schließlich so breit als möglich machte, ihre Röcke ausspannte und als Windschirm davor stand, während Lili die Kleine neben ihr ins Hüttchen hineinschob. Glückselig lachte sie die brennenden Kerzchen an, die im hellen Tageslicht nur sehr wenig Helligkeit verbreiteten, doch eben genug, um dem kleinen liebebedürftigen Herzen recht warm zu geben. Wie ein Blümlein im Sonnenschein die Blätter weit weit ausspannt, damit er hineinstrahle ins kleinste Zellchen, so öffnete Albina ihr kleines Herz der Freude und der Liebe. Und wie es wahr ist, was das Dichterwort sagt:Du magst kein Blümlein je verschenken,Eh' es dich selber schon erfreut,

Drum Liebes thun und Gutes denken,Hat in sich holde Süßigkeit! v. Der Hofbub.so waren die beiden Schwestern die Glücklichsten. Sie freuten sich, wie Albina die Puppe küßte und mit den süßesten Namen bedeckte, und wie sie jauchzend den neuen Ball einweihte.

Im Waldhüttchen feierte man das schönste Fest, und glücklicher war niemand als die drei, die um das dampfende Kaffeetäßchen saßen und wie Kinder schmausten. Im grauen kalten Norden war der Kleinen ein Sonnentag geworden,dessen Glanz nicht erbleichen wird in der Farbenpracht der Riviera. Unsre besten Freudenstunden kommen nicht in den herrlichen Naturwundern bei Berg und Meer; sie kommen meist ganz in der Stille, da, wo Menschenliebe uns begegnet in linder zarter Form, die unser Erdenwallen tröstlich verklärt und uns erinnert an ein Vaterhaus,wo die Liebe rein und klar und vollkommen, wo sie daheim ist.

Der Hofbub.Die Winterschule im Günzerloch hatte wieder angefangen.Noch hatten sich die Buben und Mädchen nicht recht erholt aus ihrem verwilderten Sommerzustand und standen rottenweise lärmend und schreiend auf dem Turnplatz beim Schulhause. Für den Lehrer und die Lehrerin war's jedesmal ein ganz neuer Anfang, nicht nur hatten die Der Hofbub.Kinder alles Wissen gründlich verschwitzt beim Heuen und Ernten, sie waren auch ganz aus Rand und Band gekommen und hatten das Stillsitzen und Gehorchen verlernt.

Dort am Barren standen die größten Bengel beisammen, steckten die Köpfe gegeneinander und berieten Wichtiges. Wahrscheinlich suchten die findigen Köpfe etwas heraus, das dem heutigen Schultage Würze verleihen könnte ihnen zur Unterhaltung und dem Lehrer zum Ärger.„Heda, Sami,“ rief der Größte plötzlich einem daherkommenden großen Jungen zu, „komm hieher und hör etwas.“ Der Angerufene kam langsam näher und schoß mißtrauische lauernde Blicke unter seiner ungekämmten ströhnernen Mähne hervor auf die Buben, so als überlegte er vor sich hin: Ist's Friede oder ist's Streit?„Komm nur schnell, sonst läutet's,“ ermunterte ihn Jörg.Sami starrte die Buben nun an und wartete auf ihre Rede. „He du, bist so groß und mußt immer noch bei der Lehrerin hocken? Der wirst auch etwa nicht folgen,wie ein sechsjähriges Büblein, he?“ Dazu stieß ihn der Jörg in die Seite. „Werd auch nicht folgen,“ sagte der Sami, dessen wunder Punkt getroffen worden war bei der Erinnerung, daß er hinter seinen Altersgenossen zurückgeblieben war, und dem es gestern ungemütlich gewesen war in der Reihe der kleinen Abeschützen unter dem Scepter der Lehrerin. „Ja, da draußen thust jetzt, als hättest Mut,“ höhnte der Jörg weiter, „aber drinnen in der Stube bist doch wie ein Lamm und thust nichts.“Der Hofbub.„Werd schon etwas thun,“ grollte der Sami zurück. „Was wirst thun? Sag's?“ reizte ihn der andere weiter. „Fluchen werd' ich,“ gab Sami zurück. Jörg lachte laut auf. Mit dem Ellbogen stieß er den Frieder an und flüsterte: „Fluchen will er, das paßt für die Lehrerin; da wird er schön ankommen.“ Zum Sami aber sagte er: „Ich möcht' dabei sein, wenn du's thust, das wird einen Spaß geben in der Klasse. Aber erzählen mußt dann nachher, wie's war.Um zwölf paß ich auf dich bei der Haselecke.“ Jetzt läutete es, und die großen Buben rannten spornstreichs dem Schulhause zu; auch Sami folgte. Er wandte sich nach rechts in das helle, große Schulzimmer, wo Bank an Bank sich reihte, alle gerichtet nach der mächtigen schwarzen Wandtafel und der bunten Zählrahme. Vorne auf dem erhöhten Tritt am Pult lehnte die jugendliche Lehrerin, die mit scharfem, klarem Blick die hereinkommende Schar bewachte, jedes einzelne fixierte und in den verschiedenen Zügen las, welche Gemütsstimmung heute oben auf war.Niemand ahnte, daß sie eben das Gespräch zwischen Sami und Jorg belauscht hatte, ohne daß diese es wußten. Mit gespannter Miene verfolgte sie den großen Jungen, der mit schwerfälligem Tritt seinen Platz in der letzten Bank aufsuchte. Was würde er nun wohl thun? Auf etwas war sie gefaßt. Sie wußte, daß ein Angriff auf ihre Autorität stattfinden würde, aber noch konnte sie sich nicht denken, wie er erfolgen sollte. Erst seit vorgestern kannte sie den Sami. Er war vorher in einem andern Teil der Der Hofbub.Gemeinde zur Schule gegangen und konnte noch nicht geläufig lesen und noch weniger schreiben und stand doch schon im fünfzehnten Lebensjahr.

Armer Kerl! So ungern sie ihn eingereiht hatte in ihre Schar von Kleinen, so hatte sie doch ein tiefes Mitleid für ihn empfunden. Er war ein Waisenkind, das der Gemeinde zur Last war und das durch das Los von einem Hof zum andern gewürfelt worden war. Er hatte es besonders schlecht getroffen, und durch sein trotziges Wesen und seine verschlossene Art nirgends ein liebewarmes Plätzlein sich erworben. Jetzt war er Hofbub beim Bauer Dürr in der Strecke, und daß er dort nicht auf Rosen gebettet lag, wußte jeder. Eigentlich hatte ihr Herz warm dem großen, verstoßenen Jungen entgegengeschlagen; aber das eben gehörte Gespräch hatte sie stutzig gemacht. Würde er die Aufreizung zur Unbotmäßigkeit wieder vergessen?

Die kurzen Minuten zwischen dem Läuten und dem Beginn des Unterrichts waren erfüllt von einem Chaos von Tönen. Die Kleinen rückten klappernd die Tafeln zurecht; die andern streckten die Griffel in die Höhe zum Zeichen, daß sie schön gespitzt seien, die dritten lasen halblaut in der Fibel. Sami benutzte den Augenblick. Er suchte Streit. Kräftig riß er an der Tafel seines Nachbars, um ihn zu hindern, dieselbe auf seinen Platz zu bringen. Der Sami riß hin, der Fritz her. Die Lehrerin schaute schweigend zu. Plötzlich hörte sie entsetzliche, gotteslästerliche Worte das Gewirr von Lauten übertönen. Sie

Der Hofbub.fuhr zusammen. Nichts traf sie mehr als solche häßliche Worte im Munde eines Kindes. Schnell gab sie mit dem Lineal das Zeichen des Schweigens auf dem Pultrand.Im Nu war alles still und alle Augen blickten gespannt auf sie. Dann schritt sie rasch gegen den Platz des Sami und sagte: „Solche Worte, wie ich sie eben hörte, will ich nie wieder in meiner Stube hören. Wenn sie je wieder kommen, werde ich dich strafen, Sami!“ „Ich werde Euch aber nicht folgen,“ sagte Sami und blickte die Lehrerin mit trotzigem und rohem Ausdruck an. „Doch, das wirst du,“ sagte sie bestimmt, „du wirst es müssen.“ Kaum aber hatte sie den Rücken gedreht, so tönte hinter ihr her ein Schall von Worten, die nur dem Munde eines geübten Fluchers entströmen. Die Lehrerin zuckte. Die Kinder stießen einen einstimmigen Laut des Entsetzens aus. Einen Augenblick stutzte die Lehrerin. Was sollte sie thun?Sollte sie jetzt ihr Strafamt üben? Nein, Sami war in aufgereizter Stimmung, er würde ihr Trotz bieten bis zum Außersten, er war im Grund stärker als sie. Vor den andern Kindern durfte sie keinen Zweikampf wagen; aber Strafe mußte sein, sonst hatte sie die Autorität verloren und kam den ganzen Winter von einer Scene in die andere. Sami mußte ihre Überlegenheit fühlen, aber wie? Langsam,ohne ein Wort der Erwiderung in innerm wogendem Kampf schritt sie zum Pult. Dort drehte sie sich um und sagte:„Wir haben alle den Namen Gottes mißbrauchen hören,heute rufen wir ihn nicht an wie gewohnt als Beistand Der Hofbub. und Hilfe für unsere Arbeit. Wir beginnen sonst den Unterricht.“

In lautloser Stille saßen die Kinder und ohne Störung in ungehemmtem Arbeitseifer verflossen die zwei ersten Schulstunden. Sami saß ganz still und malte mit ungelenken Fingern seine Buchstaben auf die Tafel; die Lehrerin beachtete ihn geflissentlich nicht. Als es zehn Uhr war, ließ sie die ganze Schar hinaus auf den freien Platz zum Spiel. Nur Sami behielt sie zurück. Wie schwer war's ihr ums Herz! Nur wer es selbst erfahren, ahnt wie es in ihr kämpfte. Mußte sie körperlich strafen? Ja,ich muß, sagte es in ihr, er ist zu roh, zu ungewohnt an eine andere Behandlung. Nur der physischen Kraft wird er sich unterwerfen. „Du weißt, Sami, ich muß dich strafen; ich thue es ungern; aber du weißt, warum ich es thun muß,“ sprach sie laut zu ihm. Dann nahm sie ein festes Seil aus ihrem Pult, um den Knaben fest zu binden, denn nur so hatte sie die Obmacht über ihn. Erst dann vollzog sie ihr Strafamt.

Sami hatte in seinem Leben schon viele Prügel erhalten. Prügel am Morgen und Prügel am Abend, das war sein täglich Brot. Dennoch sah es diesmal in seinem Gesicht anders aus als sonst. Der trotzige Ausdruck war im Kampf mit einem weichen und die starren Augen blickten schier wehmütig auf die Lehrerin. Dann schaute er sie voll an und sagte leise: „Lehrere, vo jetzt a will ig Ech folge!“

Der Hofbub.Wortlos wandte sie sich ab und war froh, daß die andern Kinder bald wieder die Sitze füllten.

Als nach Schulschluß Sami heimlief in raschem Galopp, sah er den Jörg an der Haselecke stehen und erwartungsvoll ihn anrufen. Mit einem raschen Sprung rannte Sami gegen diesen und stieß ihm die Faust so kräftig gegen die Brust, daß er taumelnd über den Wiesenrand kollerte. „Wart, ich tränk dir's ein,“ knirschte er; aber Sami hörte es nicht, kümmerte ihn auch nicht. Lesen konnte er nur wie ein Unterschüler; aber eine Faust hatte er wie ein Oberschüler.

Von dem Tag an behielt die Lehrerin den Sami im Auge. Sie las auf seinem Gesicht wie in einem Buche und wußte, ob er mit fröhlichem Gemüte zur Schule kam oder ob er schon am frühen Morgen Böses erlebt hatte.Er war so fleißig als möglich. Freilich waren seine schwieligen Hände sehr ungeschickt beim Griffelhalten. Die Lesekunst ging nur langsam voran; aber was konnte sie von ihm verlangen? Jeden Augenblick neben der Schule war ausgefüllt mit harter, schwerer Arbeit, und wenn es Nacht war, ward er im Dunkeln in die Kammer geschickt,wo die Knechte schon schnarchten. Wie sollte da die Wissenschaft grünen? Er war nicht dumm, nur vollständig ungepflegt und unentwickelt.

Aber seit jenem ersten Zusammenstoß folgte er der Lehrerin wie ein Lamm. Der Wink ihrer Augen war ihr Befehl, und als die Dezembertage kälter und kälter wurDer Hofbub.den, besorgte er an ihrer Statt den Schulofen. Sie brauchte sich gar nicht ums Heizen zu kümmern, Sami machte alle Morgen ein prächtig flammendes Feuer. Mit einer geDD Eines Tages kurz nach Neujahr sah sie in dessen Gesicht angetrocknete Thränenspuren. Niedergeschlagen und duckmäusig saß er da. Sie brachte ihn auch mit den gewohnten Mitteln nicht zu frischerer Beteiligung am Unterricht. Da muß etwas nicht im Strumpf sein, dachte sie,am Ende muß er schon wieder fort von der Strecke, das wär' mir erst noch recht leid. Beim Schulschluß behielt sie Sami zurück, setzte sich neben ihn auf die Schulbank uud sagte: „Was hast, dich drückt etwas? Hat's Schläge gegeben daheim?“ „Nein, nein,“ schluchzte Sami; „aber der Pfarrer hat gesagt, er könne mich nicht konfirmieren;ich könne den Glauben nicht und die Sprüche nicht; aber ich kann nichts dafür, wann soll ich sie denn lernen?“Nach und nach brachte die Lehrerin die ganze Geschichte des Tageslaufs aus dem Jungen heraus. Ja, 's ist wahr.Wann sollte er lernen? Kaum kam er aus der Schule,jagte ihn der Bauer in den Stall, damit er dort helfe beim Füttern und Melken. Dann hatte er am spätern Abend die bereite Milch in die Hütte zu fahren; er selbst mußte den schweren Karren ziehen eine gute halbe Stunde weit. Bis er zurück war, war's Nacht. Niemand zündete Licht an, er durfte es auch nicht. So ging er in die Kammer und ins Bett. Am frühen Morgen, wenn's nur

Der Hofbub.erst dämmerte, mußte er wieder in den Stall und konnte nur mit genauer Not frei werden, um schnell in den Unterricht zum Pfarrer zu laufen, der dem Schulmorgen voranging.„Ich will dir helfen,“ sagte die Lehrerin, „konfirmiert sollst du werden. Weißt du was, du bleibst jeden Abend nach dem Schulschluß bei mir und dann lernen wir zusammen. Was meinst du?“ „Ja, ich wollte schon,“ sagte Sami etwas hoffnungsvoller, „aber der Meister?“ „Sag dem nur, er solle die Lehrerin fragen, sie wolle es so haben!“ sagte sie tröstend. Sami trollte davon. In seinem Gesicht leuchtete die Hoffnung, daß die Drohung des Pfarrers nicht in Erfüllung gehen sollte. Er hatte viel Püffe und Demütigung erlebt; aber nicht eingesegnet werden können, das wäre doch das Argste gewesen, was ihm sein dornenvolles junges Leben schon geboten hatte.

Jeden Abend nun, wenn die große Schulstube sich entleert hatte, saß dort neben dem Pult beim Schein einer kleinen Petroleumlampe die Lehrerin neben dem Sami.Sie studierten gemeinsam den Katechismus. Sie ließ ihn die Sprüche lesen, erklärte sie ihm in einfacher, faßlicher Weise und wartete geduldig, bis er sie seinem denkungewohnten Kopf eingeprägt hatte. Es war so traulich in der dumpfigen Schulstube; aber ste waren nicht allein darin. Es war noch Einer mit ihnen darin, Er, der gesagt hatte: „Siehe, ich stehe vor der Thür und klopfe an.“Er erfüllte dort an seinem Wort die Verheißung: Es soll Der Hofbub.nicht wieder leer zu mir kommen, sondern thun das mir gefällt und soll ihm gelingen, wozu ich es sende. Während sich die beiden vertieften in den Reichtum seiner Gnade und Gabe, schauten sie dem Herrn selber immer tiefer ins Herz und schlossen sich fest und dankbar an ihn selbst an.Lehrend und lernend wuchsen sie beide an der Erkenntnis,die für uns das ewige Leben ist. Sami trollte sich jedesmal glückstrahlend davon.

So ging es etwa drei Wochen. Da war es Samstag Nachmittag. Die Lehrerin saß in ihrem kleinen, sauberen Stüblein und flickte ein Kleidungsstück im Licht der Wintersonne, die durch das einzige Fenster fiel und nicht nur sie,sondern auch die gelblichen Geranien auf der Fenstersimse streifte. Da hörte sie plötzlich einen schweren Schritt auf der hölzernen Treppe. Der Schritt stampfte über den dämmrigen Vorraum und direkt auf die Thüre zu. Dann folgte ein gewaltsames Pochen, das eher einem Hämmern glich und herein stolperte eine dicke, schwere Bauernfigur in hohen Stiefeln. Breitspurig grüßte er die Lehrerin und stellte sich vor sie hin mit der Frage: „Ich wollte nur wissen, warum die Lehrerin meinen Hofbub immer am längsten von allen in der Schule behält, als hätt' ich ihn weniger nötig als ein anderer. Am Anfang hat er mir gesagt, er habe nachsitzen müssen in der Schule, dann habe ich ihn durchgeprügelt, damit er nicht mehr nachsitzen müsse,aber 's hat allemal nichts genützt; jeden Abend kommt er zu spät heim.“ Die Lehrerin war gleich beim Eintritt

F

Der Hofbub.des Bauern aufgestanden und stellte sich nun in ihrer ganzen Würde stramm vor denselben hin: „Daß Sie den Sami durchprügeln für etwas, an dem er unschuldig ist,thut mir leid für ihn. Ich habe ihn bei mir behalten nach der Schule, um die Sprüche für die Unterweisung mit ihm zu lernen. Er findet am Abend keine Zeit dazu und der Herr Pfarrer hat gedroht, ihn nicht konfirmieren zu wollen.“ „Das ist mir alles ganz gleich,“ gab der Bauer zurück, „mögen Sie mit ihm gethan haben was Sie wollen; ich will, daß mein Bub um vier Uhr heimkommt, wie die andern; ich füttere ihn nicht ohne Gegenleistung. Er ist für die Arbeit bei mir!“ „So,“ brauste nun die Lehrerin auf und ihre braunen Augen blitzten den stolzen Bauern ordentlich an, „so, Sie wollen dem Buben keine Zeit geben zum Lernen daheim und keine Zeit bei mir. Gut, so werde ich aber den Leuten sagen, warum der Sami nicht eingesegnet werden kann. Ich werde sagen:Der Bauer Dürr ist schuld.“

Verlegen blinzelte der Mann die Lehrerin an, die so kühn und zornglühend vor ihm stand, als nähm sie's gleich mit ihm auf im Faustkampf. Daß sie's den Leuten sagen würde scharf und deutlich, das glaubte er ihr aufs Wort,und ach, was die Leute sagten, das war ihm nicht gleichgültig. Hundertmal hatte er um der Lente willen schon gelassen, was er hätte thun sollen, und gethan, was besser unterblieben wäre. Die Leute, die waren ihm sehr fatal.Eine Weile schwieg er, dann sagte er knurrend: „Nun ja,Der Hofbub.so will ich's so gehen lassen; aber behalten Sie mir den Buben nicht länger als durchaus nötig ist!“

Die Lehrerin atmete erleichtert auf, und der Bauer trappte langsam die Treppe hinunter. „Oha, sie hat mich bekommen,“ seufzte er, „aber 's ist ja bald Frühling.“

Der Sami saß alle Abend vor seinen Sprüchen, und die Gewohnheit des Lernens half ihm nach und nach schneller fassen, so daß er immer in einer halben Stunde seine Sache konnte und fröhlich dabei ward. Als Ostern kam,war er einer der besten Schüler beim Pfarrer.

Die Kirche der großen Gemeinde war dicht gedrängt voll Leute, als am Karfreitag die Kinderschar eingesegnet werden sollte. Die Lehrerin saß ganz hinten und wartete gespannt auf das Eintreten der Kinderschar. Hinten am Zuge kamen die Knaben aus dem Günzerloch, der Jörg und der Frieder gingen stolz und hölzern im Zuge und wußten nicht recht, wozu sie gesetzt dreinschauen sollten.Zu allerletzt kam der Sami in einem abgetragenen Gewand von gelbem Halblein; aber sein Gesicht trug einen Ausdruck, der die Lehrerin freute ins tiefste Herz hinein.Sie wußte, daß ihr Zögling verstand, um was es sich heute handelte. Ob wohl für den Jörg und den Frieder auch so warm gebetet wurde im Kirchlein? Möglich! Es saß manch stolze Bauernfrau in den gefüllten Bänken.Für den Sami, den armen Hofbub aber stieg es empor heiß und inbrünstig zum Vater, der ins Verborgene sieht.

* * Der Hofbub.Viele Jahre waren vergangen. Die Lehrerin hatte sich verheiratet an einen begüterten Fabrikanten nach dem Flecken B. Wie sie eine tapfere Lehrerin gewesen, so war sie jetzt eine umsichtige, tüchtige Frau. Es war Markttag.Drunten auf dem freien Platz sammelten sich an Tischen und Bänken die Landfrauen, die ihr frischestes Gemüse und ihre schneeweißen Eier feil boten. Mit großem Korbe am Arm wanderte Frau Binz dem Getriebe entgegen und lächelnd lauschte sie schon von weitem dem Gefeilsche und Gekreische. Es war ein so lustiges Durcheinander. Da fiel ihr Blick auf ein schmuckes, frisch bemaltes Bernerwägelein. Darauf saß ein stämmiger, frischer junger Mann,der mit sicherer Hand die Zügel des Braunen führte. Auch er blickte niederwärts, und kaum hatten die Augen sich gegenseitig fixiert, so ging ein breites, glückliches Lachen über des Mannes Gesicht. „Ihr seid es, Lehrere, wie froh bin ich, Euch einmal wieder zu begegnen!“ Die Angeredete staunte; aber schon war der Mann vom Wägelein gesprungen, und indem er die Zügel fest um die linke Hand schlang, schüttelte er mit der Rechten kräftig die Hände seiner Lehrerin. „Ach, du bist es, Sami,“ sagte sie, überwältigt von Bewunderung. „Ja, nicht wahr, Ihr kennet mich kaum mehr,“ sagte er, gutmütig lachend und schmunzelnd, „man sieht mir den Hofbub nicht mehr an?Ja, ich bin vorwärts gekommen. Jetzt habe ich einen netten Handel in L., bin eben hier in Geschäften. Eine brave Frau habe ich auch und zwei nette, gesunde Buben. Ihr Der Hofbub.solltet sie einmal sehen. Meine Existenz aber verdanke ich Euch. Hättet Ihr Euch nicht damals meiner angenommen,hättet Ihr mir nicht gezeigt, wie man lernen muß, und hättet mir nicht dazu verholfen, daß ich konfirmiert werden konnte, ich wäre ein armer, verstoßener Tropf geblieben.Hundertmal hab' ich Euch dafür gedankt und auch für jene ersten Prügel, wißt Ihr noch?“ Immerfort hatte der junge Mann ihre Hand geschüttelt, und jetzt lief wahrhaftig eine helle Thräne über seine wetterbraune Wange.Auch im Gesicht seiner Lehrerin zuckte es verdächtig, als er sie warm erinnerte an alte Zeiten.

„Ja, ja, ich weiß alles noch so gut, als ob's erst gestern gewesen wäre. Es waren nette Abende, nicht wahr?“ gab sie zur Antwort. Dann aber blickte sie rasch und fest in seine Augen und sagte: „Und hast du auch das Beste davon nicht vergessen? Denkst du noch zuweilen an unsre schönen Sprüche, die wir zusammen gelernt?“Da schaute Sami treuherzig drein, wie damals auf der Schulbank und sagte langsam: „Nein, vergessen hab' ich sie nicht und kann ich sie nicht; sie sind der Leitstern geworden meines Lebens, und ich hoffe, will's Gott, es soll so bleiben in Ewigkeit. Meine Buben lehre ich alles, was ich weiß!“

Das Bernerwägelein fuhr weiter, nachdem noch Rede und Gegenrede und viel Händeschütteln getauscht worden war. Der Sami war glücklich, daß er endlich einmal hatte aussprechen können an richtiger Stelle, was er längst gefühlt hatte. Die Lehrerin aber wanderte noch einige

Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 8 Ein starker Arm und ein starkes Herz.Schritte weiter in stillen Gedanken, ehe sie sich ins Marktgewühl stürzte. Es war ihr feierlich und still ums Herz,und was sie dem Wägelein nachsandte, das waren Segenswünsche.

Ein starber Arm und ein starkes Herz.„Potz tausend, wie die Veronika ausgreift! die muß etwas besonderes haben. Das Möädchen versteht doch die Naue zu führen wie ein Mann,“ so sagten die Schiffleute bei Hergiswil zusammen. Sie stunden an der Lände und warteten auf das von Luzern kommende Dampfschiff,das ihnen Arbeit und Verdienst bringen sollte. So hatten sie Zeit, dem daherkommenden Schiffchen zuzusehen, das mit kräftigem Stoß die Wellen schnitt, also daß die schaumigen Kämme sich demütig und beschämt duckten unterm schneidigen Kiel. „Ein Blitzmädel, die Vrony,“ lautete es wieder von Mund zu Mund, „schaut nur, jeder Schlag des Ruders treibt die Naue ein Gewaltsstück voran. Die hat Mark in den Armen.“ Immer mehr Augen ruhten mit Bewunderung auf dem hohen, schlank gewachsenen,aber kräftig gebauten Mädchen, das hoch aufgerichtet in der Naue stand und die beiden gekreuzten Ruder führte.Ihr dunkles Auge ruhte mit Späherblick auf der Einfahrtsstelle. Sie achtete nicht der Welle, die brausend daEin starker Arm und ein starkes Herz.her kam und das Schifflein emporhob und wieder sinken ließ, merkte nicht, daß der Wind mit warmem Gluthauch ihr die welligen Haare um die Stirne wehte, sie sah nur das Ziel und zählte die Ruderschläge, die sie davon trennten. Da, das Boot stieß auf den Sand. Ein Dutzend Männerhände streckten sich, um die große schwere Naue ans Ufer zu ziehen und vor der rauschenden Welle zu sichern.

„Was ist, Veronika, hat's was gegeben, daß du zu so ungewohnter Stunde kommst. Wo ist der Vater?“ so fragten die Schiffer aus einem Munde. „Verunglückt,muß den Doktor holen,“ gab das Mädchen kurz zur Antwort, und ohne auf die neugierigen und teilnehmenden Fragen zu achten, drängte sie eilfertig durch die Menge und verschwand in der Dorfgasse.

Weit und breit kannte man die Veronika am ganzen Ufer des Sees. Drüben am Fuß des Bürgenstocks wohnte sie mit Vater und Mutter im weithin sichtbaren weißgetünchten Häuschen mit dem braunen Schiffgaden davor.Der Vater war Fischer und Fährmann zugleich. Manchen Fremden aus dem deutschen Reich oder von der großen Insel, der vom Bürgenstock niederstieg, ruderte er mit sicherer Hand über den blauen, unergründlich tiefen Bergsee, in dem der Pilatus sein stolzes Haupt beschaut. Die Naue war dem Fährmann so vertraut, wie sein Stubenboden. In Wind und Wetter, in Sonnenschein und Sommerglut war er mit ihr draußen auf dem See; auf der

3*

Ein starker Arm und ein starkes Herz.Ruderbank war er alt geworden. Nie war ihm ein Unfall zugestoßen; nur heute, sonderbarer Weise eben heute hatte ihn das Ungemach erfaßt. Eben hatte er vom Schiff aus die Kette fest gemacht am Holzpflock des Strandes,eben wollte er den Fuß ansetzen zum Hinausspringen, da glitt er aus auf dem glatten Holzboden, fiel zurück und hatte Schaden genommen, so daß er nicht mehr aufstehen konnte. Beim hohen Wellengang hatte das Boot Wasser gefaßt und so war das Holz glitschig geworden.Veronika hatte dem Vater zugeschaut, wie er dahergekommen war und angelegt hatte. Mit Schrecken sah sie ihn fallen und im Nu war sie zur Thüre hinaus und beim Schiffe, bereit, dem Vater aufzuhelfen. Aber bald sah sie, daß ihre Arme zu schwach waren. „O, o,“ stöhnte der Vater, „ich kann nicht stehen auf meinem Bein; hilf mir ins Haus hinein, Vrony, dort wird's vielleicht wieder besser.“Vrony holte die jammernde Mutter herbei und von beiden gestützt, schleppte sich der Vater auf einem Bein ins Haus und sank stöhnend auf sein Bett. Was sollten sie thun!Die beiden Frauen wußten wenig Rat. Vronh erbot sich gleich, den Doktor herüberzuholen von Hergiswil; aber der Vater, der sein Lebtag nie krank gewesen war, wollte nichts davon wissen und meinte, es werde schon besser.Als aber im Lauf des Nachmittags der Knöchel am Fuß hoch aufschwoll und rot und entzündet sich zeigte, als alle warmen Kamillentheeüberschläge nichts nützen wollten und der Schmerz nur zunahm, da sagte endlich der Vater: „In Ein starker Arm und ein starkes Herz.Gottes Namen denn, Vrony, hol den Doktor. Aber sei vorsichtig, der See geht hoch und dem Oktoberföhn ist nicht zu trauen; er faßt gar heimtückisch die Naue an.“„Hab keine Angst,“ gab das Mädchen zurück, „ich kenne sie gut, und den Doktor sollst du in einer Stunde haben.“

Es war froh, etwas thun zu können für den Vater.Die Stunden, die es seit dem Vormittag an seinem Bett zugebracht hatte, waren ihm lang geworden. Es hatte das Bedürfnis, irgend etwas für den Leidenden zu thun,und nun gab ihm die Fahrt über den See Gelegenheit,sich zu bethätigen. Furcht kannte es keine, obschon die Wellen grünlich und gelblich aufschäumten und grimme Töne aus der Tiefe an den Boden der Naue schlugen.In einer halben Stunde strammen Ruderns kreuzte Vrony den See und erreichte Hergiswil gegen vier Uhr.

Schon warf die Abendsonne, die bleich und trüb durch die Wolkenschicht brach, schräge Lichtstreifen in den Seearm hinein, als Veronika den Doktor in der Naue hinüberführte zum harrenden Vater. „Laßt mich nur machen,“hatte sie gesagt, als der Doktor das zweite Ruderpaar einhängen wollte. „Ich bin mir's gewohnt.“ „Aber du wirst müde,“ wandte er ein. „Müde, ha, ha,“ lachte Vrony. „Ich rudere manchmal nach Luzern und zurück in einem halben Tag.“ So querte sie denn wieder den See, der noch höher wogte, nur daß die Schaumkrönchen jetzt hell aufglänzten im Abendlicht. „Der See ist wild heut,“ sagte der Doktor. „Ja, der Wind kommt von Ein starker Arm und ein starkes Herz.Sarnen her, dann ist's bös; aber wenn's nicht schlimmer kommt, hat's nichts zu bedeuten.“ Unverwandt blickten die scharfen braunen Augen nach dem weiß leuchtenden Vaterhäuschen und bewundernd schaute der Doktor, wie kraftvoll sich die jugendliche Gestalt über die Ruder neigte:„Vater, ich bring dir Hilfe und Trost,“ das lag in jedem Stoß des kräftigen Arms.

Und wäre Vrony müde geworden zum Umsinken, so hätte der Eltern freudvolles Willkommen sie reichlich entschädigt. Es war wirklich hohe Zeit, daß Hilfe kam.Der Doktor fand das Einrichten des gebrochenen Fersenbeins weit schwieriger durch die Entzündung, die in den langen Stunden Platz gegriffen hatte, und der starke Fährmann fand die Behandlung höchst ungemütlich. Endlich war die notwendige Arbeit gethan. Der Doktor ließ sich gerne ein Glas Wein geben von Vrony, ehe er sich zur Rückfahrt rüstete. „Nun mußt noch einmal über den See,Vrony, das ist fast zu viel,“ jammerte die Mutter, „könnt Ihr nicht da bleiben, Herr Doktor, der See thut auch gar so wild.“ Selbst das Ohr des Kranken hatte das Pfeifen und Heulen des wachsenden Windes gehört und er sagte ängstlich: „Hab doch acht, Vrony, 's ist bös heut abend.“Der Doktor erklärte aber, daß er unmöglich so lang fortbleiben könne, er habe einen Schwerkranken drüben, den er vor Mitternacht noch sehen müsse, es handle sich um Leben und Tod. Vrony zeigte auch keine Spur von Angst.Ihr war so leicht ums Herz, seit des Vaters Stöhnen Ein starker Arm und ein starkes Herz. 39 verstummt war und er so ruhig und zufrieden dalag.„Stell mir die Lampe nah ans Fenster,“ sagte sie zur Mutter. Dann gingen sie hinaus, und der Sturm verschlang den schwachen Ruderschlag.

Die Mutter zündete die Lampe an. Ihr war so bang ums Herz. Schwarz lugte die Nacht zum Fenster hinein.Nichts sah sie. Nur das Aufschäumen der Welle tönte an ihr Ohr. „Bewahr in Gnaden meine Vrony,“ betete sie inbrünstig und setzte sich dann zum Vater, der leise schlummerte.

Der Doktor und Vrony aber suchten ihren Weg durch Sturm und Wogen. Jetzt hatte er sich's nicht wehren lassen; er ruderte emsig mit und Vronh steuerte wegbewußt den Lichtern von Hergiswil zu. Hochauf stieg die Naue auf dem brausenden Kamm und nieder giug's in die Tiefe,daß es klatschte. Und wenn einen Augenblick des Sturmes Wut stärker ward als der steuernde Arm, daß eine tückische Welle das Boot von der Seite faßte, so ward dasselbe geschüttelt und geworfen wie eine Nußschale.

Der Doktor war ein starker Mann, aber ihm graute,und sehnsüchtig blickte er gegen die Lichter der Heimat.Schweigend arbeiteten die beiden. Des Mädchens Arme streckken sich und bogen sich, als hätte es nicht schon zweimal den weiten Weg gemacht. Fest stand es da, von keinem Stoß erschüttert. Schwarz dehnte sich das Wasser,schwarz wölbte sich der Himmel, kein Stern zeigte sich.Geisterhaft still starrten die hohen Bergwände, an denen die Lichtlein zerstreut aufblitzten.

Ein starker Arm und ein starkes Herz.Ich glaube, der Doktor dankte Gott, als er Sand unter dem Boote fühlte. Er sagte später: „Die Nacht werde ich nie vergessen.“

„Du bleibst nun aber in Hergiswil bis am Morgen,“bat der Doktor. „Das geht nicht,“ gab Vrony zurück.„Die Mutter würde sich zu Tode ängstigen. Denkt, sie ist allein mit dem Vater.“ Vergebens waren die Vorstellungen des Doktors. Das Mädchen sagte: „'s ist ja nur eine halbe Stunde für mich, und für die Mutter wär's eine ganze Nacht!“

Schon wandte Vrony die Naue. Wieder stand sie aufgerichtet an ihrem Ruderpaar. Das Licht der Hafenlaterne streifte die einfache Gestalt und den blonden Kopf.„Ein tapferes Mädchen,“ seufzte der Doktor und blickte ihm nach, bis Woge und Nacht es verhüllten. Und von den Bergen brauste der Föhn und fuhr heulend über die Seefläche.

2* **

Es ward Morgen. Wieder standen die Schiffer an der Lände von Hergiswil. Das Wetter klärte sich auf.Nur noch vereinzelte Stöße des gestrigen Föhns rissen das falbe Laub von den Kastanien und rüttelten an den Hüten der Stehenden. Wieder blickten sie spähend hinaus über die Seeweite. „Was schwimmt dort? Was ist's?“ fragten sie gespannt. Näher und näher trieb ein hellgrauer Holzkörper; die Welle brachte ihn kosend und schmeichelnd heran, näher und näher. „Herr Gott, es ist Vronys Naue,“ riefen die Schiffer, die jedes Fahrzeug kannten.Der erste Schritt.Kielaufwärts trieb sie daher. Draußen aber im tiefen,tiefen See liegt die tapfere Vrony, deren Herz keine Furcht gekannt hat. Und drüben brannte Mutters Lampe in den hellen Morgen hinein. Die Nacht war ihr lang geworden.

Der erste Stchritt.Es war ein reiner klarer Augustabend. Die Sonne stand nahe dem dunkeln Tannwald, der den Hügel krönte,und schaute abschiednehmend ins stille grüne Wiesenthal.Ihr Glanz brachte schon jene milde herbstliche Färbung,die so versöhnend aufs Auge wirkt nach der grellen Lichtfülle des Juli. Verklärend schaute sie aufs große Schirmdach des einsam stehenden Schulhauses, das die weit verstreuten Kinder der Gemeinde sammelte und auf die hohen roten und weißen Malven, die säulenartig im kleinen umhegten Gärtchen standen. Im Schatten des großen Daches auf trockenem Plätzchen saßen zwei Mädchen, das eine auf einem einfachen Klappstuhl bequem ausgestreckt, das andere auf einem niederen Schemelchen, die Hände um die Kniee geschlungen und auf dem Schoß ein Buch haltend, das jetzt geschlossen war. Die blauen Augen, die aus einem dunkelgebräunten Gesicht lebhaft und scharf blickend hervorsahen, ruhten träumend auf der Sonnenscheibe, die hinter die Tannwipfel tauchte. Wie wohlthuend war die Ruhe. Der erste Schritt.Man sah's, wie nach und nach das Gesicht einen ruhigeren Ausdruck annahm, die scharfen klaren Augen milder blickten.Diese Augen gehörten der Lehrerin, der Bewohnerin des Schulhauses. Dort im unteren Stock war das große, von drei Seiten mit Fenstern besetzte Schulzimmer, das Raum bot für alle die Knaben und Mägdlein, die aus Höfen und Hütten, von Berghalden und Waldgründen zusammenströmten, um in einer Stube und unter einer Leitung den Unterricht zu empfangen. Es war keine kleine Aufgabe,die die junge Lehrerin zu erfüllen hatte; waren es doch sieben Schuljahre, die zu gleicher Zeit beschäftigt und unterrichtet sein wollten; das gab manchmal ein ganzes Mosaikspiel und viel zu denken und einzuschachteln, bis alles klappte. Viel Zeit durfte da nicht mit disciplingarischen Versuchen verplänkelt werden: die kräftige kleine Lehrerin hielt stramme Zucht und ihre Augen erblickten jeden Keim zu Unfug. „Mit der Lehrere ischt nit z'spasse“, sagten die Buben. Hielt sie ihr Schulscepter stramm in den Händen, so führte sie's doch frisch, froh und frei. Sie hatte ein gesundes Herz und einen lebendigen Geist, und wer vor einer Stunde die Schar hätte davon hüpfen und springen sehen unter lebhaftem Lebewohlrufen, als gält's einen Abschied für viele Jahre, der hätte seine Herzensfreude gehabt. Nun war die Schulstube still und das Schulhaus auch, denn droben unterm Dach, erreichbar durch die hölzerne Treppe, die außen herauf zur hölzernen Galerie führte, lagen nur ihre zwei Stüblein, die sie sonst Der erste Schritt.allein bewohnte, jetzt aber mit der kränklichen abgearbeiteten Freundin teilte.

Zusammen waren sie auf der Schulbank gesessen; gemeinsam hatten sie gelernt; denselben Idealen schwärmerisch nachgestrebt und auch miteinander die Leiden des letzten Examens getragen. Solche Zeit verbindet und webt einen Faden hinüber und herüber um die Seelen, der nicht leicht zerreißen kann. Als die kleine Lehrerin hörte, daß ihre Freundin ihre Kräfte erschöpft habe im Dienst an der Jugend, daß ihre Nerven übermüdet und überreizt seien,da zögerte sie keinen Augenblick, ihr das eigene stille Heim so reizvoll und verlockend zu schildern, daß die Kranke hoffnungsvoll den stillen Ruheort aufsuchte. Sie hatte freilich nicht so schnell die Genesung einkehren sehen in das bleiche Gesicht der Freundin, wie ste gehofft, konnte sie auch den Tag über nicht bewahren vor vielerlei Lärm und Unruhe; aber die Abende lebte sie ihr, so gut sie konnte. Ein Lehrerinnenherz muß ja besonders lernen:fühlen und empfinden, was in einem andern Herzen vorgeht; sie muß die unleserliche Runenschrift der Augen und Gesichtszüge der Kinder entziffern und blitzschnell lesen lernen und auf diese Weise dem keimenden Bösen vorbeugen und das leise sich regende Gute hervorlocken.Gerade dieses Seelenlesen wird für sie zur inneren Arbeit und diese ist es, die auch die Kraft des Körpers nach und nach untergräbt. Sie kann mit Recht sagen:

Der erste Schritt.„Wohl dem, der mit dem Auge weint;Ich weine mit dem Herzen.“sieht sie doch oft einen Kampf voraus für die Kindesseele und Kindesnatur, von dem diese keine Ahnung hat und mehr noch, sie sieht auch schon mit ziemlicher Sicherheit den Sieg oder Untergang. Wer würde nicht sorgen und bangen,wenn er wüßte, daß nichts die kleine Seele, die jetzt noch lieblich und harmlos blüht, retten kann vor dem drohenden Untergang, weil neben der Blüte auch der Dornstrauch sproßt, der sie ersticken wird?

Diese Seelenarbeit befähigte aber auch die kleine Lehrerin, ihrer Freundin Lage zu verstehen und zu erleichtern.Eltern, freundlos stand sie da, angewiesen auf ihre Arbeit, ihren Verdienst und sah sich nun gebunden und gefesselt von körperlicher Schwäche.

„Wieder ein Tag hin,“ seufzte sie eben und schaute hinüber zum dunkeln Tannwald, der jetzt auch seine Strahlenkrone verloren hatte und schwarz aufragte in den Abendhimmel. „Jetzt wäre es schön dort drüben, wo man die Berge sehen kann; sie sind gewiß beleuchtet.“ „Wollen wir hingehen?“ fragte Martha lebhaft, die nur der Freundin zulieb so ruhig sitzen blieb. O nein,“ antwortete diese schlaff, „ich bin viel zu müde zum Gehen! Ach,wenn man gesund wäre. Nun sind es schon drei Monate,daß ich mich so hinschleppe und nie will es besser werden und schon sehe ich den Winter kommen und dann wird's erst recht nicht besser. Solch ein Leben ist doch eine Last!“Der erste Schritt.

4*

Martha kannte diese Klagen nur zu gut; sie konnte sie auch nicht lösen und nicht wegnehmen. Leise nur sagte sie vor sich hin:„Dulde, gedulde dich fein.Über ein Stündelein Ist deine Kammer voll Sonne!“„Ja, du hast gut trösten, du bist gesund und hast eine Aufgabe und ein volles reiches Leben, aber ich?“ erwiderte die Kranke fast gereizt. Martha zuckte, fast hätte sie eine rasche Antwort gegeben; aber zur rechten Zeit hielt sie sie zurück.Eben erschienen unten auf der Landstraße zwei Reiterinnen in langen dunkeln Reitkleidern mit wallenden hellen Schleiern,gefolgt von einem Groom. Die Augen der beiden Mädchen wandten sich dorthin; selbst die der Kranken blickten lebhafter auf die schönen Gestalten, die sich prächtig machten auf den dunkeln Pferden. „Fräulein Erna und Irma vom Schloß,“ sagte Martha. „Wie stolz Erna sich hält!“„Ja, die haben's gut,“ seufzte die Freundin. „Ach Lina,hent bist du auch gar in den Klageliedern. Bringt dich nichts daraus? Siehst du, Fräulein Irma hat heraufgegrüßt. Hast du's bemerkt?“ „Ja,“ gab Lina zurück,„kennt sie dich denn, oder vielmehr, kennst du sie?“ „Ja wohl, ein wenig,“ gab Martha zur Antwort; „wir trafen uns schon oft droben auf der Waldhöhe und auch schon da und dort in den Häusern. Sie ist sehr nett. Nur schade, daß sie so wenig im Schloß wohnt, es ließe sich sonst was anfangen mit ihr.“ Und ganz eroberungslustig k

Der erste Schritt.glänzten die blauen Augen. „Und die andere?“ fragte Lina zurück. „Die,“ lautete verächtlich die Antwort, „weißt,die ist mir gleichgültig. Sie ist stolz und kalt und denkt,sie sei aus besserm Holz als so ein Lehrerlein im Schulhaus. Kümmert mich nicht. Wenn ich im Sppyribüchlein mit den Kindern lese von den „Artischocken, dann denke ich an diese da. Tauschen möcht' ich doch nicht mit ihr.Es ist ein leeres Mädchenleben, wenigstens hat es den Anschein. Aber ich habe einen Beruf und den liebe ich über alles.“ „Ich liebte ihn auch!“ gab Lina leise zur Antwort, „jetzt führe ich aber auch ein, leeres‘ Leben, wie du es heißt.“ „Leiden und Geduld haben, macht kein Leben leer,“ erwiderte Martha lebhaft, „das ist noch mehr als lehren und schulmeistern, und gewiß, es ist nicht für immer. Laß die Hoffnung nicht sinken. Dulde, gedulde dich fein! Denk dran! Bitte!“

So sprachen die Freundinnen mit einander, während über ihrem Haupte auf dem Dache eine Amsel ihr Abendlied flötete.

Einige Tage später saß Martha allein auf der Waldhöhe. Sie hatte einen jener Schultage hinter sich, die einen Unstern an sich tragen. Überall hatte der Wagen geknarrt; überall war sie auf bodenlose Vergeßlichkeit und rettungslose Zerstreutheit gestoßen, und nach und nach hatte sich der Schulhimmel mit dichten Wolken bedeckt. Nun war es ihr Bedürfnis gewesen, die düstere Stimmung auszulaufen. Lina war besonders ruhebedürftig heute und konnte sie gut entbehren. Hier oben auf der einsamen Der erste Schritt.

47 Höhe legten sich die Wellen, die Last löste sich vom Herzen und schon konnte sie wieder lächeln, wenn sie aufs Schuldach niederblickte. Drüben aber standen die Berge in ewiger Majestät und Schöne. So ruhvoll standen sie da,so unentwegt und gewaltig, daß auch das zappligste Menschenherz an ihre Ruhe sich anlehnen konnte und selbst stille werden. Mit Wonne nahm Martha das Bild in sich auf, und um ihren Gedanken Worte zu verleihen,summte sie leise Dichterworte vor sich hin. Da plötzlich raschelte es hinter ihr. Rasch blickte sie auf. Fräulein Irma vom Schloß stand hinter ihr. „Störe ich Sie?“sprach sie schüchtern. „Mit nichten,“ antwortete Martha,„wir haben schon oft den Platz hier oben geteilt und sind nachgerade gute Bekannte gewörden.“

Irma setzte sich auf die Erde nieder und pflückte ein Zweiglein des eben erblühenden Heidekrauts. „Wie köstlich ist es hier! Es giebt doch nichts Herrlicheres als solch einen Blick hinüber auf die Berge! Den ganzen Tag habe ich mich gesehnt auszureißen, aber es ging nicht; wir haben Besuch,“ setzte sie erläuternd hinzu. „Sie haben auch, nicht wahr, Fräulein?“

„Ja,“ gab Martha zurück; „Sie sahen uns jüngst,als Sie vorbeiritten. Es ist eine Freundin, die sich im Beruf überarbeitet hat.“

„Was fehlt ihr?“

„Nervenüberreizung, das ist ein vielbedeutendes Wort.Bei ihr äußert es sich in Herzschwächen.“

Der erste Schritt.„Und Sie pflegen sie?“

„Es giebt nicht viel zu pflegen. Ruhe ist für sie das beste, und völliges Loslösen von allen plagenden Gedanken.“

Irma schaute fragend in die blauen Augen der Sprechenden.

„Sie verstehen das nicht? Ja, ich begreife. Nerven sind eigene Dinger. Aber wissen Sie, unsereinen plagt beim Kranksein vor allem das Gefühl, unnütz zu sein.Meine Freundin sehnt sich so sehr zurück nach der Arbeit,dem Beruf, der Ausfüllung von Zeit und Kraft.“

„Halten Sie denn die Arbeit für etwas so Großes!“

„Ja, ein unnütz Leben ist ein früher Tod, nein,schlimmer als das.“

Martha hatte in gewohnter Lebhaftigkeit gesprochen und sah nicht, daß Irma errötete.

Diese nahm nach kurzem Schweigen das Gespräch wieder auf und sagte:

„Sie berühren da ein Thema, das mich schon viel,viel beschäftigt hat. Ich kann es mit niemanden besprechen;nun will ich es heute nicht gleich fahren lassen. Ich selbst D ich habe Sie schon oft beneidet, wenn ich an der Schule vorbeikam und hörte Sie mit den Kindern lernen und singen. Was soll ich aber? Was nützt es, daß ich oft das Gefühl habe, ich vergeude mein Leben und versäume eine Pflicht. Wenn ich Erna sage, daß ich mich sehne nach einer Arbeit, dann sagt sie: die Frau sei nicht zur Arbeit auf der Welt; sie habe, der Blume gleich, die AufDer erste Schritt.gabe, dieselbe zu schmücken und zu zieren mit entzückender Schönheit. Antworte ich ihr dann, daß das alles auf leere Eitelkeit hinauslaufe und daß die Geschichte nicht von den Frauen spreche, die durch blumenartige Schönheit berauscht hätten, sondern von denen, die gearbeitet und gewirkt haben für andere, dann spielt sie als ihren einzigen zerschmetternden Trumpf aus: Arbeit ist für die Armen. ‚Wir müssen leben, wie es unser Stand befiehlt, und ich für mein Teil bin zufrieden damit.“ Ich aber möchte etwas sein und werden. Sagen Sie, wie kann ich das?“

Irma hatte feurig gesprochen und Martha mit Interesse zugehört. So oft hatte sie selbst darüber nachgedacht;darum war sie auch gleich daheim in Irmas Denkungsweise. Ernsthaft setzte sie ein: „Ich glaube auch, daß D Erfüllung einer Aufgabe und wäre sie auch noch so klein.Wie Sie dazu gelangen, weiß ich freilich nicht. Dazu kenne ich Ihre Verhältnisse zu wenig. Aber ich denke mir immer, wenn wir den Wunsch darnach in unserer Seele tragen und die Augen offen halten, so giebt das Leben uns so manches an die Hand, das wir thun können, und vom Kleinen führt uns Gott zum Großen. Als Graf Tolstoi diese Regung in sich spürte, fing er damit an,daß er seinem alternden Diener das Fenster abnahm und es zum Brunnen trug an seiner statt, wo es gewaschen werden sollte. Ich meine, das ist ein einfacher Anfang.“

Irma sann nach. „Wissen Sie, Fräulein, was ich

Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten.

Der erste Schritt.dachte, als ich Sie und Ihre Freundin sah? Ich dachte,vielleicht könnte ich dieser zuweilen Gesellschaft leisten, während Sie Schule halten. Ich könnte ihr vorlesen, dann würde ihr die Zeit gewiß weniger lang.“

„Gewiß, das wäre herrlich; gleich will ich das Lina erzählen,“ erwiderte Martha lebhaft.

„Das wäre ein Anfang,“ seufzte Irma, „aber ein so kleiner. O, ich möchte so gerne einmal etwas thun für andere; aber etwas Rechtes.“

„Es wird schon kommen,“ tröstete Martha und erhob sich.Sie schüttelte Irma die Hand, und beide schieden von einander wie treue Kameraden. Nichts verbindet so sehr wie gemeinsame Ansichten und Interessen und gleiches Streben. Beide hatten sich im gegenseitigen Austausch gestärkt. Martha war sich der Herrlichkeit eines festen Berufs neu bewußt geworden, und Irma befestigte in sich den Wunsch, ihr Leben nützlich zu machen für andere.Das ist die Handreichung, die wir bewußt oder unbewußt einander leisten.

Von da an kam Irma fast täglich hinüber ins Schulhaus, und nie kam sie mit leeren Händen. Bald brachte sie eine duftige Theerose, bald einen flaumigen, frisch gepflückten Pfirsich, bald eine neue Photographie eines bedeutenden Kunstwerks, immer auch eine anregende und gehaltvolle Lektüre, so daß die Kranke bald sehnsüchtig wartete von einem Kommen des liebevollen Mädchens zum andern,Der erste Schritt.mit den Gedanken nur bei ihm lebte und mit dem Herzen sich davon nährte.

Auch für Irma hatte das Leben Reiz und Inhalt gewonnen. Sie beschäftigte sich in Gedanken mit der Kranken und dem, was ihr wohl thun könnte und Erquickung brachte,und die Lektüre bot so manchen Anlaß zu ernstem Gespräch, daß ihr eine neue Welt aufging und ihre Anschauung davon sich wesentlich veränderte. Erna spottete zwar sehr fühlbar. „Irma hat eine neue Flamme aufgefischt im Schulhause. Sie schwärmt immer noch wie ein Kind von sechzehn Jahren.“ Auch suchte sie sie zurückzuhalten, so oft sie konnte und führte alle möglichen Gründe an, sie zu hindern. Aber selbst das schwere Geschütz:„Heute kannst du doch wirklich nicht ins Schulhaus laufen,Leutenant v. S. kommt ja heraus,“ verfing nicht, sondern lockte nur die lächelnde Antwort auf Irmas Lippen: „Der ist zufrieden, wenn er dich hat zur Gesellschaft.“

Irma lernte neben dem kranken Mädchen Last und Sorge des Lebens kennen, ein Gebiet, das bis dahin von ihr fern gehalten worden war, und mit der neuen Erkenntnis wuchs auch das Verlangen, diese Last zu mindern und tragen zu helfen. Dies thun wir aber nie ohne inneren Gewinn. Wochen waren verstrichen. Der Oktober neigte sich seinem Ende zu. Schon hatte der Klappstuhl an die Sonne gerückt werden müssen; denn herbstliche Nebel krochen des Morgens schon durch das Thal und um die Hügel.Am Nachmittag war es um so köstlicher, wenn der zartDer erste Schritt.blaue Himmel niederschaute auf die buntgefärbten Laubkronen und die Erde prangte im Abschiedsschmuck. Von fern her tönte das Klappern des Flachsbrechens und aus dem Wiesengrund der Glockenton der Herde. Lina blickte melancholisch in die Herrlichkeit. Martha saß neben ihr mit einer notwendigen Flickarbeit. Sie hatte Ferien und benutzte die Zeit zur Wintervorbereitung. „Wie lange bin ich nun schon bei dir,“ seufzte Lina, „und wie wenig besser ist's geworden. Ich wollte, ich könnte mich auch zur Ruhe legen wie die Natur; aber wir Menschenkinder müssen harren und dulden. Ist es nicht fast hart?“„Ja, es wäre wohl hart,“ gab Martha zurück, „wenn die Verheißung nicht wäre von einem Leben der Vollendung,in dem alle Leiden zur Ruhe und alle Fragen zur Lösung kommen werden. Wir müssen wohl noch besser Geduld lernen!“ Lina seufzte. Plötzlich wandte sich ihr Kopf rückwärts. Sie hatte den Schritt erlauscht, den sie so oft erwartet hatte in den letzten Wochen und der ihrem Ohre bekannt war. „Irma kommt,“ verkündete sie lebhaft. Und wirklich erschien die Ersehnte mit hochrot glühenden Wangen und freudig glänzenden Augen. Auf den ersten Blick sah man, daß irgend etwas Fröohliches sie erregte und hergetrieben hatte. „Endlich, endlich werd' ich mein Geheimnis los! Wie hat mich das gedrückt. Aber ich konnte nicht schwatzen, bis alles fix und bestimmt war. Jetzt müssen Sie nur noch Ja sagen und dann ist's gelungen.“ Verwundert blickten die beiden auf die Redende, die atemlos Der erste Schritt.vom Laufe die Worte hervorsprudelte: „Da lesen Sie!Es ist am besten, Sie lesen selbst, damit Sie wissen, woran Sie sind.“ Damit streckte Irma ein fein gefaltetes duftiges Brieflein der Liegenden entgegen. Martha eilte ins Haus, einen dritten Stuhl zu holen, und bald saß das Trio nun vereint um die Lektüre. „Es ist meine Lieblingstante, die beste und einzige, die mich versteht,.“ gab Irma als erläuterndes Vorwort zum Besten. Lina las:„Liebes Kind!

Gut, so will ich denn auf Deine dringenden Vorstellungen hin auf Deinen Plan eingehen und Deine neue Freundin an Deiner Statt mitnehmen nach dem Süden.Ich hoffe, Deine Wünsche gehen beiderseits in Erfüllung.Was in meiner Macht steht, will ich thun. Aber wird sie auch in acht Tagen reisefertig sein können? Berichte mir bald darüber, damit ich den Tag der Abreise festsetzen kann!

Lebe wohl, liebe Irma und denke zuweilen an Deine Tante,die Du im Stich lassen willst.“

„Was bedeutet das?“ fragte Martha forschend, während Lina mit einem sinnenden Lächeln den Brief anschaute.

„Ach, Sie verstehen nicht? So muß ich doch noch alles erklären, und ich hoffte doch, der Brief würde Ihnen alles sagen. Das ist meine Tante Ida, die das schreibt,ein liebes, herzensgutes Tantchen. Sie bringt fast jeden Winter in Bordighera zu und wollte dies Jahr mich mitnehmen als Gesellschafterin. Und da bin ich auf die köst

Der erste Schritt.liche Idee gekommen, das wäre etwas für Sie! Sie sehnen sich so nach Wärme und Sonne, und fürchten sich vor dem Winter. O, Sie würden gewiß gesund werden, nicht?Ich habe schon so oft gehört, daß Kranke im Süden gesund werden!“

Schweigend hatte Lina zugehört. Verlockend genug stieg der Gedanke vor ihr auf. Irma fürchtete ein Nein,und schaute flehend auf Martha: „Sagen Sie ihr, daß es gut für sie ist. Sie glauben es gewiß auch!“ „O,gewiß glaube ich's, und ich wäre zu glücklich für Lina,wenn sich das machen ließe. Sie haben einen herzigen Plan ausgeheckt, Fräulein Irma,“ sagte Martha mit Wärme. „Ja, nur zu herzig,“ wandte nun Lina ein, deren körperliche Schwäche ihre Hoffnungsfähigkeit geknickt hatte.„Ich kann mir nicht denken, daß Ihre Tante mich wildfremden Menschen mitnehmen will. Und dann ist das Opfer, das Sie mir bringen, zu groß!“ „Mein Opfer?“ rief Irma, „mein Opfer ist nicht großl Wozu sollte ich in den Süden? Sehen Sie nur meine Backen an, Erna sagt so wie so, ich sehe so schrecklich gesund aus,viel zu wenig interessant. Wenn ich nun noch zu den linden Lüftlein zöge, würde ich ja noch strotzender und röter! Können Sie sich das denken? Nein, sehen Sie,bei mir wär's Wasser in den Rhein tragen. Aber Sie haben's nötig. Stellen Sie sich's nur vor, wie's wäre,wenn Sie im Frühjahr gesund wiederkehrten zu Ihrem Beruf!“Der erste Schritt.Linas Augen leuchteten ein wenig auf. Die Hoffnung begann leise ihre Flügel zu regen.

„Und Erna?“ fragte dann Martha. „Sie ginge gewiß selbst gern!“

„Erst sah sie etwas scheel zu meinem Plan,“ gestand Irma ehrlich, „sie meinte, sie ginge sehr gern an meiner Stelle, als ich ihr aber sagte, daß Leutnant v. S. sie sehr vermissen würde während der Saison im Winter, war sie bald zufrieden. Sie findet es geratener, keine so lange Trennung zu riskieren. Und dann amüsiert sie sich köstlich in der Stadt; viel besser als in Bordighera. Meine Tante mag die großen Gesellschaften nicht leiden. Sie lebt gern für sich, lesend und arbeitend. Zudem ist sie eine leidenschaftliche Naturfreundin und meint immer, in unsrer toten, erstorbenen Winterwelt sterbe ihr auch das Herz. Ich bin gewiß, Fräulein Lina wird sehr gut mit ihr auskommen.“

„Daran zweifle ich nicht! O, ich wollte ja schon schrecklich gerne den Traum für wahr halten; aber ich fürchte, er könnte verfliegen. Dann wäre das Üübel größer als vorher!“

„Nein, nein,“ rief Irma freudig, „das wird bald wirkliche Wahrheit. In acht Tagen sind Sie fort, weit fort von hier im Lande der Palmen!“

Mit kräftigem Händedruck trennte sie sich von den Freundinnen und eilte heimwärts nach dem weißen Schlosse am Hügelrand. Wie froh klopfte ihr Herz! „Ein erster

Der erste Schritt.Schritt, lieber Gott, ich danke dir! Ich bin so glücklich,so frohl Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einem Mitmenschen nützen können! Nun gieb du zum ersten Schritt deinen Segen!“

Noch lange plauderten die beiden Freundinnen von Reisehoffnung und Reiseplänen, Lina sah mit neuem Lebensmut in die Zukunft.

*

**

Schon war der erste Reif über die Äste der Bäume gestreut und hart und braun lag die festgefrorene Scholle,als Irma wieder den Weg zum Schulhaus betrat. Sie wollte bei der eifrigen Lehrerin Erkundigung einziehen über das Ergehen der Freundin und zugleich Lebewohl sagen,da der Umzug zur Stadt nun beschlossene Sache war.

Sie fand Martha in der geräumigen Schulstube, die sich eben entleert hatte und noch das Odium der vielen Menschenkinder an sich trug, die sie gefüllt hatten. Martha erblickte die Eintretende nicht gleich, war sie doch vertieft in ein Häufchen blauer Hefte, die heute beschrieben worden waren.„Wie sonderbar, daß Sie so allein sind,“ sagte da eine Stimme. „Ihre Freundin mangelt Ihnen gewiß,und ich habe sie Ihnen entführt.“

„O, ich bin sehr froh darüber, d. h. nicht übers Alleinsein, sondern über die Entführung. Jeder Gedanke an Lina ist ein Freudenjauchzer und ein Luftsprung. Ich bin Ihnen unsäglich dankbar.“Der erste Schritt.„Doch halt, hier ist ja ein Einschluß an Sie.“ Damit kramte Martha unterm Pultdeckel hervor ein kleines rosafarbenes Briefchen.

„Wenn Sie erlauben, lese ich grad.“ Irma setzte sich auf den Schultisch dem Pult gegenüber und las:

„Liebes Fräulein!

Nachdem mein Körper sich von der Reiseermüdung und meine Sinne sich von den überwältigend neuen Eindrücken erholt haben, treibt es mich, Ihnen in erster Linie zu sagen, wie glücklich Sie mich gemacht haben. Jetzt schon weiß ich wieder, was Leben ist. Ich atme und atme die reine, milde, kostbare Luft, und mit jedem Atemzug löst sich die Bangigkeit vom Herzen und füllen sich meine Adern mit neuer Kraft! Schon ein einziger Blick aus dem Fenster ist genug, mich für einen ganzen Tag glücklich zu machen.über die Kronen der immergrünen Bäume und der wehenden Palmwipfel sehe ich einen Streifen blauen Meeres,auf dem die weißen Segel ziehen und das Abendgold sich wiegt. Dorthin schaue ich mit entzücktem Auge und von dort her weht mir neue Lebenskraft. Ihre verehrte Tante ist die Güte selbst für mich, und Ihnen, liebes teures Fräulein, verdanke ich den Genuß und mehr als das, diesen Gewinn fürs Leben. Sie haben einem verschmachtenden Pflänzlein Tau gebracht, Gott lohne es Ihnen tausendfach.Sagen Sie Martha, daß es jetzt wahr geworden: ‚über ein Stündelein ist deine Kammer voll Sonne.“ Wenn ich vernünftiger bin, werde ich mehr und ausführlicher schreiben,

Der erste Schritt.damit Sie in der kalten Schweiz mitleben können an unsrer rühlingsschönheit.Sehaiigeschönb Immer werde ich bleiben Ihre von Herzen dankbare Lina.“

Leise war eine Thräne über Irmas Wange geschlichen,eine Thräne der Freude, daß der liebe Gott sie gewürdigt hatte, einem Herzen wohlzuthun. Wie reich fühlte sie sich.Hatte sie nicht den größten Gewinn?

„Ich bin so froh über diesen Brief, noch nie war ich so froh in meinem Leben. Wie wenig braucht es doch,um andern zu dienen, wenigstens für mich war's leicht,solche Freude zu ernten.“

Martha verstand sie; sie ehrte ihre Gefühle und sprach nicht weiter davon. Fest legten sich ihre Hände ineinander.Es that Martha schmerzlich leid, Irma für so lange fortziehen zu lassen, wußte sie doch, daß sie ihr sympathisches Wesen sehr entbehren würde.

„Ich werde den Abend auf der Waldhöhe nie vergessen.Dort haben Sie mich etwas gelehrt,“ sagte sie scheidend.

„O nein, nicht gelehrt,“ erwiderte Martha, „nur etwas befestigt, was schon in Ihnen war!“

Mit ernstem Lebewohl trennten sie sich. Sie wußten,daß sie für immer verbunden bleiben würden, fühlten sie sich doch beide als Gefreite im Dienst der Liebe.“ 3 3*

Ein Heckenröslein.Das kleine Häuschen des Drechslers Wangemann liegt im ewigen Schatten. Das hohe steinerne Haus mit den antik sein sollenden Steinsäulen vor der Hausthür und den ausgehauenen jonischen Schnecken steht breit und behäbig davor und verdeckt ihm nicht nur den gleichgültigen Ausblick auf die Straße, wo die Leute auf und ab fluten,sondern vor allem hindert es den Weg der goldnen, hellen Sonnenstrahlen. Nur im Sommer, da kommen sie für ein kurzes Weilchen hoch übers Dach geklettert und schauen senkrecht nieder auf das kleine, verborgene, ungesehene Häuschen. So oft sie es aber sehen, schauen sie auch gar freundlich drein. Drinnen in der niederen Werkstatt des Erdgeschosses dreht der unermüdliche Meister die schnurrende Drehbank. Die Füße treten auf und ab, auf und ab,und die fleißige Hand hält sicher und fest das scharfe Eisen am drehenden Holz. Kommodenfüße sind es, die da entstehen, ein Dutzend ums andre; auch schlanke Stuhlbeine mengen sich dazwischen und wohl auch mal als Seltenheit eine glattpolierte Strumpfkugel. In der saubern Oberstube waltet die Mutter und hält in Liebe und Treue zusammen, was die Hand des Vaters erschafft. Vor dem Haus aber auf dem schmalen, gepflasterten Streifen Boden spielt der einzige Knabe, der fünfjährige Martin. Er sammelt große und kleine Holzabfälle in der Werkstatt zu 30 Ein Heckenröslein.sammen und bildet daraus wundersame Sterne und Figuren,oder türmt sie auf zu seltsamen Gebäuden. Er ist ein stilles, sinnendes Bürschchen, das selten zu wildem Jagen und Springen sich aufmacht, meistens still versunken an seinen Hölzern sitzt oder dem Vater zuschaut, wenn er seine gewundenen Formen zauberhaft herausgestaltet aus dem vierkantigen rohen Holzklotz. Ums große Vorderhaus kümmern sich die Leute herzlich wenig. Dort wohnt ein reicher, alter Herr mit seiner einzigen Tochter. Es ist ein sehr stilles Haus, aus dem nur zuweilen die polternde Stimme des alten Herrn herausschallt, der selten mehr die Schwelle überschreitet. Nur ein Fenster übt auf den kleinen Martin eine Anziehungskraft aus. Dort hinauf blickt er zuweilen mit sehnsüchtigen Augen, wenn er im Hofe sitzt, und sobald er dort einen dunkelbraunen Mädchenkopf auftauchen sieht, eilt er leise die Treppe hinauf, an der Küche vorüber und in sein Schlafkämmerchen. Dort steht er dann,das Gesicht an die Scheiben gedrückt, unverwandt hinüberblickend. Hinter dem Fenster sitzt die junge Nachbarin an einem einfachen hölzernen Tischchen. Vor ihr liegt ein helles Blatt Papier und in der Hand hält sie einen schwarzen Pinsel. Die Augen heften sich auf das blühende Primelstöckchen, das vor ihr steht, dann wieder aufs Papier, auf dem leicht und sicher das Bild des Pflanzenwesens entsteht.Martin verfolgt jeden Pinselzug. Er kann zwar herzlich wenig sehen, die Entfernung ist zu groß; aber er sieht doch, wie der Pinsel ins Wasserglas sich taucht, dann auf Ein Heckenröslein.der weißen Porzellanpalette Füllung sucht und schließlich auf dem Papier hin und her geht. Er sieht, wie sich die jugendliche Malerin zurückneigt, das Bild aufhebt, ins beste Licht rückt und eifrig weiter arbeitet. Das ist Martins Lebensinteresse. Er weiß stets, was gemalt wird.Des Frühlings und des Sommers Flor zieht an ihm vorüber; er sieht den Zweig der Heckenrose und den leuchtenden Mohn, und endlich die dicke, fröhliche Dahlia und die herbstliche Aster stehen und abgemalt werden, und seinem kleinen Kopf scheint das ruhige leichte Handhaben des Pinsels etwas so Selbstverständliches und Leichtes.

Die junge Malerin kennt den friedlichen Knabenkopf am Fenster gegenüber sehr wohl. Sie weiß gut, daß er auftaucht sobald sie sich ans Fenster setzt mit ihrer lautlosen Beschäftigung, und daß die guten braunen Augen jeden Strich begleiten. Es ist ihr sogar fast lieb, daß sie es thun. Sie ist sonst so allein. Niemand kümmert sich um sie und ihre künstlerischen Versuche. Der Vater entbehrt sie nicht zu dieser Zeit, eine Mutter hat sie lange nicht mehr, Freunde sieht sie selten; da sind die Blumen ihre Freunde, mit deren lichter, farbiger Gestalt sie genaue Bekanntschaft gemacht hat und deren Eigenart und Schönheit wiederzugeben ihre Herzensfreude ist. Ihr etwas hartes Gesicht wird lind und weich, so oft es sich vor den Blumen befindet, und mit scharfem Blick faßt sie jedes einzelne Individuum auf, damit ihre Lieblinge von heute sich unterscheiden von denen von gestern.Ein Heckenröslein.Martin weiß nicht, daß dort ein leiser Krieg und Kampf sich ausficht am schlichten Holztisch, daß dort eine Hand mit Wasser und Farbe gestalten will, was die Seele aus dem Blumenkelche gelesen, und daß oft die Hand ungeduldig zittert, wenn das Bild ledern und trocken, langRDVV und webt, duftet und zart aufblüht. Ganz verwundert reißt er die träumerischen Augen auf, wenn dort drüben das Fenster hastig aufgerissen und mit einer Bewegung der Hand ihm verkündet wird, daß das herausflatternde Blatt ihm gehöre. Wie ein Pfeil fliegt er die Treppe hinunter und liest das Blatt zärtlich vom Pflaster auf. Wie schön kommt ihm die Rose vor, wie dunkelrot leuchtet die Fuchsie!Mit schüchternem Blick schaut er auf zu der Geberin, die lächelnd sich freut am Entzücken des Knaben. „Ihm gefällt's,“ murmelt sie und schließt lachend das Fenster.

Nach und nach sammelt Martin ein ganzes Päckchen von heraus versandten, von der Malerin verstoßenen Blumenbildern, und zärtlich umschließt er sie mit einem festen,grauen Packpapier. Es sind innig geliebte Schätze und er kann die Mutter nicht begreifen, die an langen Wintertagen sie ihn hervorholen heißt, um mit einer dicken Stecknadel Loch um Loch um die Ränder der Blumen und Blätter zu stechen. Dazu braucht er ein großes Kissen vom alten Kanapee, und bei jedem Stich geht es ihm wehmütig durchs Herz. Aber die Mutter will es und findet es schön, wenn man die Blätter ans Fenster halten und durch die Löcher Ein Heckenröslein.hindurchblicken kann. „Das Fräulein giebt sie dir deswegen, wozu auch sonst,“ belehrte die Mutter, wenn Martin zärtlich verweigerte, das letzt erhaltene Blatt zu stüpfeln.Martin wußte nicht, warum das Fräulein die Blätter zu ihm niederfliegen ließ, er wußte nur, daß er diese grenzenlos liebte und für seine Heckenrosen und Fuchsien all anderes Spielzeug hingegeben hätte.* 2 *

Zwanzig Jahre zogen vorüber am Hinterhäuschen.Noch kletterten die Sonnenstrahlen am Dach des Vorderhauses herauf und schauten in den gepflasterten Hofraum;aber sie sahen nur geschlossene Läden, stille schweigende Geschäftsräume. Der Drechsler war schon lange fortgezogen; das Häuschen war anders vermietet worden, und was aus dem kleinen Martin geworden, das wußte niemand mehr. Nur eins war sich gleich geblieben. Dort am hohen Fenster des Vorderhauses in der stillen Hinterstube saß immer noch die Malerin am schlichten Holztisch bei ihren Blumen. Viel hatte sich auch in ihrem Leben geändert. Der alte Vater, der ihr zugehört hatte mit voller Liebe, war gestorben und hatte sie ganz allein gelassen im großen steinernen Hause. Alleingelassen sein will aber etwas heißen für ein weibliches weiches Herz, und es ist leicht möglich, daß dieses sich mit einer scheinbar harten Kruste umschnürt, um das Wort „Alleinsein“ besser ertragen zu können. Der Umgang mit dem eigenartigen Vater hatte die junge Natur nicht gerade gefüge gemacht zum

Ein Heckenröslein.Verkehr mit andern. Sie war nicht von gewöhnlicher Art und durch das Stillleben für sich zu gewohnt, den Menschen und Dingen auf den Grund zu sehen. So ließ sie sich denn eher suchen, als daß sie suchte, so daß das Haus auch weiter ein stilles blieb. Wohl kam man zu ihr,wenn man Hilfe bedurfte und Beiträge für alle möglichen guten Zwecke; man fand auch Interesse für alle Zweige von künstlerischen Bestrebungen; aber im ganzen lebte die Einsame doch allein in der wuselnden, beweglichen Menschen familie.

Mit ihren Blumen aber war sie in Gemeinschaft geblieben, und zwar war diese immer mehr gewachsen, hatte sich vertieft und verklärt. Wie lebensvoll und duftend füllten die Rosen die reichen Schalen; wie schwankten die reich beladenen Zweige der Fuchsien; wie streckte die Iris ihr märchenhaftes Haupt; wie gewissenhaft und klar fügte sich ein Blütchen der Aster zum andern, bis das rot und blaue Körbchen gefüllt war, und wie farbenreich und vieltönig schlang sich das Laub der wilden Rebe um die weißen Beeren des Geißblatts. Immer mehr hatte sie sich hineingelebt in die Formen und Farben der stillen Blumenwelt. „Sprachlos und still seid ihr wie ich, gebunden im Ausdruck nach außen, dennoch voll Seele und meine Freunde und Freude,“ sprach sie oft zu ihnen. „Niemand weiß,wie ich die Wonnen der Jahreszeiten und die Freuden der intimen Natur erlebe und durchkoste in meiner Hinterstube.Wenn ich still und langsam eine Apfelblüte um die andere Ein Heckenröslein.beschaue und male, sieht mein inneres Auge die ganze sonnige, wonnige Frühlingswelt, und wenn ich die letzten gelben Blätter male am kahlen Zweig, dann erschauert meine Seele in Winterahnung und weint leise eine Thräne der Klage um die verblichene Pracht. Unter meinem Pinsel versteckt sich so viel Schönes und Empfundenes, das niemand sieht.“

Warum legt aber heute die stille Malerin den Pinsel mitten aufs weiße Blatt, daß ein großer Tropfen Karmin niederfällt darauf und birgt das Gesicht in die schmale Hand? Ach, sie sieht einen Feind an der Thüre stehen,er ist noch nicht da, erst ganz leise klopft er an; sie sieht aber mit erschreckender Deutlichkeit die ganze Tragweite seines Nahens und seines Kommens. Sie sieht die feinen Blättchen der Herbstaster dort im Glase nicht mehr deutlich, sie reibt erst die Augen aus, rückt dann das Glas näher, beugt sich wieder übers Papier, malt eifrig weiter und dann kommen die Thränen. Ja, die Jahre sind hingezogen, aber nicht ohne Spuren. In ihre schwarzen Haare,die schlicht gescheitelt am Kopfe liegen, ziehen sich weiße Fäden; über die breite starke Stirne kriechen tiefe Furchen,und über den Stern der Augen schleicht ein Schleier.Wenn sie aber nicht mehr mit den Blumen verkehren, nicht mehr mit ihnen fortleben kann, dann ist sie nicht mehr „nur allein,“ dann ist sie mehr als allein. Sie darf nicht daran denken. „Es ist meine einz'ge Freude; ich habe kein Herz, dem ich zu eigen gehöre als liebsten Schatz,

Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 5

Ein Heckenröslein.keine Menschen, denen ich notwendig unentbehrlich bin;wer mich liebt, der liebt nicht eigentlich mich, er liebt meine freie, unabhängige, mitteilsfähige Stellung, der Schmuck meines Lebens sind meine Blumen, und sie hüllen sich in Nebel. Der Tropfen auf dem Blatt vertrocknet; sonst bleibt es leer.“

*Der graue Gast ist lange an der Thüre gestanden und hat mit dem Finger gedroht. Endlich ist er hereingekommen und hat seinen grauen Schleier über den Tisch in der Hinterstube gelegt. Die Malschachtel ist zugeklappt, die Mappen ruhen im Schrank, die Vasen und Töpfe stehen leer, und nie mehr sähe der kleine Martin, wenn er noch das Fenster bewachte, die malende Hand. Jetzt sitzt sie vorne am Fenster und strickt. Es ist dort sonniger und lebhafter; man sieht Menschen vorbeiwandeln und fühlt sich weniger allein. Die Blumen haben die Hinterstube belebt:ohne sie ist's dort nicht zum Aushalten.

So stille Strickstunden sind aber rechte Arbeitsstunden.Wie viel Zeit und Raum durchwandeln die Gedanken,während die Hände Masche um Masche mechanisch heben und senken. Oft sind die Nadeln langsam und schneckenhaft hin und her gegangen, oft flogen sie klirrend auf und ab, je nachdem drinnen im Herzeusstübchen die Gedanken zogen oder flogen.

Ja, viel stilles Murren und Knurren hat sich hineingestrickt. Es geht so lang, bis ein Menschenherz sagen kann:Ein Heckenröslein.„Ich will nicht, was mein Wille will,Nur deinen Willen fromm und still!“Und wenn es meint, es habe nun glücklich ergriffen die Stille und Beugung des Herzens, gleich wieder sagt ein Stimmlein dazwischen: „Und 's wär' doch so schön, wenn's nicht wäre!“ADDDDD bis ihr der graue Gast ein annehmbarer und geduldeter wurde, und ihr der liebe Gott gleich lieb war in seinem Nehmen wie in seinem Geben; manch heiße brennende Thräne haben die trübe gewordenen Augen geweint. Sie weiß, daß sie blind werden wird im Laufe der Zeiten.

Auch heute wieder sitzt sie im warmen Sonnenstrahl des Frühsommers und läßt die Nadeln klappern und die Gedanken auf und ab gehen. „Ich hab' eigentlich blutwenig genützt in meinem Leben,“ seufzt sie, „ja, da ein wenig Geld gegeben und dort ein wenig; gute Werke unterstützt, so viel man wollte, aber so wirklich genützt, ich möchte sagen, Spuren meines eigensten innern Wesens hinterlassen, habe ich doch sehr wenige. Dort meine Mappen sind das einzige, was von meinem Gedankenleben zeugt,und schließlich sieht es niemand als ich.“ Da geht die Thüre auf. Das Mädchen bringt eine weiße Visitenkarte herein. „Es ist ein junger Herr draußen, der Sie durchaus sprechen will. Soll ich ihn hier herein führen?“ Das Fräulein ist keine Freundin von fremden Besuchern, deshalb mustert das Mädchen fragend deren Gesicht.

5 * Ein Heckenröslein.„Martin Wangemann,“ liest sie laut. „Woher klingt dieser Name? Ich kannte ihn einmal; aber wo denn?Nun ja, so führen Sie den Herrn herein,“ fährt sie lebhaft das Mädchen an. Gespannt blickt die Wartende dem Eintretenden entgegen. Es kommt ein mittelgroßer junger Mann, mit brauner Gesichtsfarbe, schlichtem braunem Haar und guten warmen braunen Augen. Die sahen sie schon einmal an. Richtig, da dämmert's ihr. Aus ferner ferner Kindheit schauen sie hinüber zu ihr ins Fenster der Hinterstube. Jetzt kennt sie ihn und mit dem Erkennen steht all jene ferne sorglose Zeit vor ihr. Darum der freundliche Willkomm, der warme Händedruck. „Ist's möglich, sind Sie der kleine Martin von ehemals aus dem Hinterhause? Und was treibt Sie zu mir nach so langen Jahren?“ „Ich wollte das Fenster wiedersehen, jenes Fenster im Hofe, Sie wissen, woher mir die roten Hagrosen zugeflogen kamen, wissen Sie noch? Diesen verdanke ich meine ersten Kunstanregungen, das heißt Ihnen,und deshalb möcht ich Ihnen danken,“ sagt der Jüngling mit frischer Stimme. „Mir danken?“ stammelt das Fräulein, und ein lustiges Lachen geht über ihre Lippen, als sie der entronnenen verstoßenen Kunstkinder gedenkt.

Der junge Mann öffnet seine Mappe, die er unterm Arme trägt.

Da taucht es empor, das steife rote Heckenrsslein,das der jungen Malerin so viel Seufzer entlockt hatte,und als es dem Ideale so fern geblieben war, zum Flug Ein Heckenröslein.in die Tiefe des Vergessens verurteilt ward. Da erstand es aus derselben ganz so steif und langweilig wie damals und rund herum glänzten runde Stecknadellöcher.

Die Einsame lachte, lachte so hell, wie seit Jahren nie: „Und das nennen Sie Ihre Kunstanregung?“ „Es ist so,“ erwiderte der Jüngling ernsthaft, „ohne dies Röslein wäre ich nicht, was ich bin.“ „Und was sind Sie denn?“ forschte sie weiter, und lud den Fremdling endlich zu sich auf den bequemen Sitz.

Nun hatte Martin zu erzählen, wie ihm seit jenem Rosenblatt ein Sehnen geblieben sei nach dem Ausdruck des Schönen, das er nicht in seines Vaters Werkstatt noch in seiner Mutter Küche finden konnte. „Erst schleppte ich Blumen heim und zeichnete und malte ste, um meinem von Ihnen gesteckten Ideal ganz nachzukommen, dann zeichnete ich alles, was mir vor Augen kam, Schönes und Häßliches. Malen und malen war meiner Seele Begier.Sie können sich denken, daß es nicht nach meiner Eltern Wunsch war, aber so sehr sie sich Mühe gaben, mir andere Gedanken beizubringen, es gelang nicht. Mein Vater starb und hinterließ so viel, daß meine Mutter leben und ich hinausziehen konnte, um einen bescheidenen Studiengang machen zu können. Ich war lang nicht mehr hier,aber diesmal wollte ich die alte Stadt nicht heimsuchen,ohne Sie gesehen und Ihnen gedankt zu haben.“

Von Dank wollte das Fräulein nun wohl nichts anerkennen; dennoch zuckte es leise um ihre Lippen. Wie

Ein Heckenröslein.schön war's, zurückzudenken an die alte goldene Zeit. Der junge Mann öffnete seine Mappe und führte Skizze um Skizze der Freundin vor, und trotz des Schleiers empfanden die trüben Augen den Reiz des stillen Wiesenthals mit den einsamen silbergrauen Weiden, oder der sonnigen zitternden Sommerluft überm Kornfeldchen im stillen Rahmen der blauen Berge, oder der tiefllaren Spiegelung des Waldbaches, der einsam durchs Tannengebüsch sich windet. Mit Spannung verfolgten sie gemeinsam die warm empfundene Naturauffassung und erklärend und fragend erschloß sich beiden immer tiefer, immer gründlicher deren verborgener Zauber. Es war, als klänge ein Glockenton aus längst verschollener Zeit ins alternde Herz, als fände dieses ein Werk der Jugend, was es selbst gesucht,ersehnt, erstrebt, ohne es je zu erreichen. Als die Mappe zu Ende war, da seufzte sie auf: „Sie haben gefunden,was ich gesucht, Sie singen, was ich gestammelt habe.“„O nicht doch,“ gab er zurück, indem er zärtlich das fahle Röslein streichelte. „Sie gaben die Anregung. Eine Anregung ist goldeswert, mehr wert als zehn Ausführungen.Sie haben den Blick fürs Schöne in mir aufgethan und damit war der Weg offen. Ich werde Ihnen danken, so lange ich lebe.“

Als der junge Mann die Thüre hinter sich geschlossen hatte, da saß die Einsame noch lange still sinnend ohne Strickstrumpf.

Die Lippen bewegten sich leise, und nach und nach Die silberne Reise.drang es flüsternd über dieselben: „Ich danke dir Gott für diese Erquickung und für den Trost, daß ich einem Menschenkinde genützt habe. Ich that es unwillkürlich, aber du hattest doch deine Hand drin, und darüber ist mein Herz fröhlich. Wenn wir es nicht meinen, ist dein Trost am nächsten.“Leise ging sie hinüber ans Fenster in der Hinterstube und blickte hinunter in den Hof. Nochmals lebte sie jene frühen Zeiten durch; aber heute weinte sie nicht, heute war sie glücklich und ihre trüben Augen lächelten dankbar. „Nicht nutzlos,“ sagte sie vor sich hin, „nicht ich ernte die Frucht,aber andere. Es ist alles gut.“

Die silberne Reise.Die dichten Vorhänge waren fest verschlossen: kein Lichtstrahl durfte hereindringen in den dämmrigen Raum.Kaum erkennbar saßen da einige Männergestalten und unterhielten sich in langsamem Gesprächston. Abseits von ihnen saß ein einzelner kleiner Mann, der selbst eine feste Binde auf einem Auge trug, neben einem Bett, in dem sein Kamerad ruhte. Dieser hatte ein ganz besonders schlimmes Auge und die Ärzte fürchteten, es nicht retten zu können, und verordneten vollkommene Ruhe. Die Tage der Krankheit sind immer lang und die in einem Augen

Die silberne Reise.spital noch besonders. Es ist die Wucht des Leibes, die den Lauf der Minuten und Stunden hemmt und der Seele das Gefühl giebt, als flöge sie weit weit voran dem schleichenden Gang der Zeit. „Ist es erst zwei Uhr?“ fragte der Liegende. „Ach, mir scheint, es sei schon so lang seit dem Mittagessen. Wann kommt deine Frau?“ „Vor halb drei Uhr kann sie nicht da sein.“ Der Kranke legte sich zurück aufs Kissen, um ergebungsvoll weiter zu warien.Die Uhr tickte fort und fort. Die Flüsterworte der andern könten herüber, der Kranke achtete nicht darauf. Als eine Weile verstrichen war, drehte er sich wieder gegen den Kameraden und fragte: „Ist's jetzt halb drei?“ „Nein,noch nicht, erst ein Viertel nach zwei,“ lautete die Antwort. Der Frager seufzte: „Wenn sie nur bald kommt!“Da lachte der Genosse ganz lustig auf, und es klang verwunderlich durch den düster schweigenden Raum und sagte:„Wahrhaftig, man würde meinen, es wäre deine Frau und nicht meine, so sehnsüchtig erwartest du sie!“ Eifrig erwiderte der andre: „Ja, du kannst lachen, meinethalb;eifersüchtig brauchst nicht zu werden; aber das ist gewiß,daß ich verzweifelt wäre in den letzten Tagen, wenn deine Frau nicht gewesen wäre. Ihr Kommen war für mich stets eine Freude, und wenn sie zur Thür hereinkam und ich ihre fröhliche Stimme hörte, war's mir immer, als ginge ein Stern auf.“ Erstaunt blickte der kleine Kamerad auf den Sprechenden. Ihm war's ganz natürlich vorgekommen, daß seine Frau ihn besuchte, und daß sie einem Die silberne Reise.

73 Stern verglichen werden könnte, war ihm auch nie eingefallen. Sie hatte ein fröhliches Gemüt, seine Sophie,das ist wahr; aber ihm war's selbstverständlich vorgekommen, daß ihr Lachen ihn umgab; er hatte den SonnenV Mann mit dem verunglückten Auge solch ein Wesen daraus.War „er“ etwa ein Phantast? Ach nein, bewahre, er war ein schlichter armer Taglöhner aus dem Oberland, der in der sauren Arbeit ums tägliche Brot alt und schwielig gegeworden war. Gespannt blickte er nun auch nach der Thür, ob sie nicht bald sich öffnen werde für seine Frau!

Endlich kam sie! Der Kranke richtete sich rasch nach der Thüre, hatte er doch schnell den Schritt gekannt. Ja,da kam der Stern! Es war eine ganz einfache Frau,hoch und schlank gewachsen; aber schon der freundliche Gruß, mit dem sie ihren Mann begrüßte und auch den andern bedachte, war wie ein Lichtstrahl im dunkeln Raum.Sie setzte sich nun neben den Mann ans Bett des Armen,so daß dieser jedes Wort hören konnte, und nachdem sie sich nach dem Befinden der leidenden Angen erkundigt hatte,erzählte sie harmlos und fröhlich, was sich im kleinen Haushalt ereignet habe, daß der kleine Theodor von einem Hunde umgeworfen worden sei auf der Straße, daß die Frau im unteren Stock ein Kleines bekommen habe in der Nacht, und daß sie morgen ins Doktorhaus gehe zum Waschen, lauter kleine Dinge, die alle Tage auf der Welt sich ereignen; aber sie erzählte alles so lustig und lebendig,

Die silberne Reise.daß die Männer mit ins Lachen kamen, das sie so austeckend anstimmte. Wie lebendig schilderte sie ihre beiden Mädchen und deren Not in der Strickschule und wie sie gestern abend gejammert, daß der Vater ihnen nicht helfe die Rechnung zu lösen auf der Schreibtafel, weil sie weniger gewußt als die Kinder, natürlich und wie fröhlich berichtete sie, daß sie noch dann Karls Geburtstag gefeiert haben mit einem Krug süßem Most. „Das Einzige, was uns fehlte, warst du; er hätte dir am besten geschmeckt von uns allen,“ sagte sie lachend zu ihrem Mann.

Kein Wort der Klage tönte durch, daß sie den Verdienst des Mannes entbehre, allein die Last der Haushaltung trage. Es war, als hätte sie vor ihrem Eintritt in das Krankenhaus bei Konrad Meyer Lebensweisheit geschöpft und sich auf dessen Frage:

Wie heilt sich ein verlassen Herz,

Der dunkeln Schwermut Beute?die Antwort gemerkt:

Mit nur ein bißchen Freude!Die Uhr an der Wand schlug vier helle Schläge: „Vier Uhr,“ rief der Kranke laut aus, wie ist's möglich, das ist ganz sonderbar, wie die Zeit verstreicht, wenn Sie da sind,Frau Vogel. Wenn Sie immer da wären, wär's hier ganz nett zum aushalten!“ „Ja, der Fluck freut sich jedesmal auf dein Kommen, fast mehr als ich,“ erläuterte ihr Mann. Als Antwort zog die Frau aus ihrer Tasche zwei prächtige Wecken, goldbraun und knusperig; „das ist zu Die silberne Reise.Eurem Kaffee, damit er Euch gut schmeckt; er wird gleich kommen und dann schmeckt es prächtig!“ Sie erhob sich und schnitt die Dankesworte fröhlich ab. „Sobald ich kann, komme ich wieder. Vertreibt Euch die Zeit so gut als möglich und habt Geduld; es kommt gewiß bald besser!“

Als sie fort war, war's ein Weilchen still am Bett;nur der glänzende Wecken erzählte noch, daß sie dagewesen war und ihr heiteres Lachen hinterließ einen Lichtstreifen,der den ganzen Abend die beiden aufheiterte, so daß sie sich erzählten von allem, was sie je erlebt hatten in ihrem einfachen Leben.

Sieben Jahre waren dahingezogen seit jenen Tagen.Herr Vogel war längst aus dem Krankenhause heimgekehrt. Leider erinnerte ihn eine bleibende Augenschwäche immer noch an jene Zeit. Den Kameraden Fluck hatte er auch nicht vergessen. Von Zeit zu Zeit schrieb dieser einen Brief voll Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Frau Vogel war eben heimgekehrt von ihrer Tagesarbeit, aus ihrem Korb lugte noch die Flasche hervor, die sie im Kundenhaus bekommen hatte zum Tagesgebrauch und deren größern Inhalt sie heimgebracht hatte für die Familie.Sie band die große Hausschürze um, und wollte in die Küche verschwinden, als der Briefträger einen Brief an sie brachte. Mit zitternden Händen trug sie ihn zur Lampe und studierte den Poststempel über der undeutlich geschriebenen Die silberne Reise.Adresse. „Aha, vom Fluck,“ rief sie aus. „Hat er wohl etwas besonderes, daß er an mich schreibt, statt an Dich,wie gewohnt?“ Eilfertig löste ste das Couvert ab, entfaltete den Brief und las:

„Liebe Frau Vogel!

Heute ergreife ich die Feder, um Ihnen noch einmal die dringende Bitte vorzutragen, daß Sie uns besuchen möchten. Ihrem Manne habe ich's schon oft geschrieben;aber es hat nichts genützt. Ich bin schon alt und weiß nicht, wie lange ich noch leben werde; aber Sie möchte ich noch einmal sehen, ehe ich sterbe. Die Tage im Spital werde ich nicht vergessen und was Sie dort für mich gethan haben. Schreiben Sie, wann Sie kommen, es würde sich unsäglich freuen Ihr J. Fluck.“

„Es nimmt mich wunder, daß er nichts vom Stern sagt,“ brummte es hinter der Lampe herbor. „Böser, du,“gab die Lesende zur Antwort, „sei nur still, du warst auch froh genug, wenn ich kam. Und denk nur, wie herzgut der Fluck ist, daß er uns immer und immer wieder einlädt zum Besuch. Eigentlich ging ich noch recht gern,wenn's Reisen nicht Geld kostete.“ Der Vater sagte nichts,machte aber ein Gesicht dazu, als gefiele es ihm auch nicht übel, den alten Kameraden nochmals zu sehen. „Weißt du, Mutter, wie ihr's machen könntet,“ fiel da Karl ein, der nun schon ein junger Mann war, und selbst sein Brot verdiente, „ihr sagtet ja schon oft, dies Jahr sei Die silberne Reise.euer silberner Hochzeitstag. Könntet ihr nun nicht zu dessen Feier nach Mels reisen, um den Fluck zu besuchen. Das paßte sich prächtig.“ „Was du nicht sagst, Karl,“ lachte die Mutter in ihrer gewohnten Weise, „wie sollten wir so was Großes erleben? Dein Vater und ich sind nur eine einzige Nacht einmal zusammen fort gewesen bei der Schwester im Thurgau, und nun sollten wir so weit reisen?Was denkst auch?“ Der Karl lächelte nur verschmitzt und blinzelte zur Agnes hinüber und zum Theodor, der hinter seinem Markenheft saß und nur halb zuhörte.

An dem Abend wurde nicht weiter davon gesprochen.Dennoch hatte der Gedanke Wurzel gefaßt. Vater und Mutter hatten im Herzen eine stille Lust, ihren silbernen Festtag gemeinsam zu feiern; fünfundzwanzig Jahre gemeinsam getragene Lebenslast ist ein schönes Stücklein Weges; hat man's hinter sich, darf man wohl ein wenig Rast halten, dankbar zurück sehen und neuen Atem schöpfen für die nächsten fünfundzwanzig. Tag um Tag hatten sie gebetet: „Gieb uns heute unser täglich Brot,“ und Tag um Tag hatte der liebe Gott es ihnen geschenkt und dazu noch Frieden und Eintracht und Freude an den heranwachsenden Kindern. Der Karl hatte ein geheimnisvolles Komplott erstellt. Er wollte von seinem Lohn etwas zurücklegen für die silberne Reise, Agnes verdiente auch schon ein Weniges in der Woche und Röseli hatte ein Sparkässeli mit einem Franken drin. Selbst Theodor wurde dazu gezogen; er trieb einen kleinen Handel mit Papier

Die silberne Reise.schnitzeln und Knochen und steuerte ein glänzendes Fünfzigrappenstück; so gab's ein kleines Beiträgle an den Reisegedanken. Das setzte dann die Lust der beweglichen Mutter in kühnere Bewegung, und nach und nach stimmte man auch den bedächtigeren Vater zu dem Gedanken um, wirklich und gewiß die Reise zu wagen. Dem guten Fluck wurde geschrieben, daß man kommen werde, und alle schauten nun begierig dem herrlichen Augustwetter entgegen,das der hundertjährige Kalender verhieß.

Es gab indessen noch manch wechselnde Stimmung beim reisefreudigen Silberpaar. Zuweilen sagte die Mutter mit energischer Stimme: „Nein, nein, Vater, wir reisen doch nicht; ist das etwas Dummes, sich monatelang das Notwendige am Munde absparen und dann plötzlich so viel Geld verreisen.“ Aber der Karl rief dann mit drohender Stimme: „Doch Mutter, ihr reist! Ihr habt noch nie etwas zu eurem Vergnügen gethan innert fünfundzwanzig Jahren! Wir Kinder wünschen's!“

Dafür wollte man doch wenigstens noch einen guten Zweck verbinden mit dem Vergnügen. Die Eltern wollten unterwegs nach dem Edmund sehen, der in Zürich in Arbeit stand am Wasserwerk. Er war der zweite Sohn, und wie die Mutter sagte, das einzige Böckli in der Herde.Er hatte den größten Verdienst von allen, hatte aber nie einen Rappen übrig für die andern, sondern brauchte alles für sich und sein Gelüsten. Den wollten sie einmal bebesuchen und ihm ans Herz reden.Die silberne Reise.Mit Hilfe der Landkarte und des Fahrplanes wurde nun eine kleine Rundreise zusammenplaniert, in welche auch ein Stück Marsch dem Walensee entlang eingefügt wurde.Dort war der Vater aufgewachsen, und sein sehnsüchtiger Wunsch ging dahin, die Stätte seiner Kindheit, die im goldensten Licht der Erinnerung lag, wiedersehen zu können.„Du kannst dir nicht denken, wie schön es dort ist,“ sagte er wiederholt zu seiner Frau.

So kam der Reisetag glücklich heran. Der freundlichste Sonnenschein bestrahlte die frohgemut Abfahrenden, die von den Kindern allen begleitet wurden. Es war ein Abschied, als gälte es eine lange Trennung. Es war Sonntag, auders hätte man ja den Edmund nicht besuchen können,und sonntäglich war die Stimmung des Silberpaares.

In Zürich wanderten sie zuerst ins Selnau hinaus zu einem Schulkameraden des Vaters, der dort sich niedergelassen hatte und bei dem sie Quartier bestellt hatten. „Wir müssen der Billigkeit nachgehen!“ hatte die Mutter lächelnd erklärt, „aber unwert sind wir dort nicht, sonst gingen wir doch nicht.“ Dieser Kamerad zeigte ihnen den Weg zum Logierhaus des Sohnes. Er war nicht dort. „Er wird in der Kirche sein,“ sagte die Hausfrau, „steigt nur dort hinauf.“ Die Eltern stiegen hinauf. Es waren wohl viel Leute dort in der Kirche; aber Edmund war nicht dabei. Entmutigt ging's zum Logierhaus zurück in der Hoffnung, er sei unterdessen dort angelangt, aber nirgends war eine Spur von ihm. Da wollte dem Mutter

Die silberne Reise.herzen schon eine kleine Thräne ins Auge steigen; es hatte sich so gefreut, den Sohn zu überraschen, und jetzt verstrich Stunde um Stunde, ohne daß sie ihn sah. „Weißt,Vater, ich geh nicht von Zürich fort, bis ich ihn habe!“erklärte sie.

Am Nachmittag durchwanderten sie wieder die Straßen.„Wir treffen ihn vielleicht plötzlich und ungesucht,“ hatte der Kamerad getröstet. In einer Straße staute sich die Menge. Ein Festzug kam daher. Ein Gesellenverein hält Fahnenweihe. Eine Schar jungen Volks zog voran im Schritt der Musik, und siehe, in der vordersten Reihe zog der Edmund mit. Im Nu hatte ihn die Mutter erkannt.Der Kamerad rannte auf ihn los, riß ihn am Arm aus den Reihen, und als der Verblüffte sich empört erkundigen wollte, was das bedeute, stand er vor seiner Mutter.„Das gleicht euch wieder, daß ihr plötzlich kommt, ohne eine Karte zu schreiben,“ war das erste, was er sagte.„Ich bin nicht allein, guck, der Vater ist auch da,“ gab die Mutter zur Antwort, und nach und nach wickelte sich aus der Verblüffung die Freude des Wiedersehens.Edmund lief nun mit ihnen und bald hatten sie ein behaglich Plätzchen gefunden, wo sie im Schatten sitzen und plaudern konnten. Die Mutter brachte allerlei zur Sprache,verstand auch die Lage des Sohnes, die manche Schwierigkeit brachte, besser. Als dieser sagte: „Mich nimmt nur wunder, wie ihr das Geld zusammenbringen konntet für die Reise,“ antwortete ihm die Mutter: „Ja, gelt, von dir Die silberne Reise.kommt's nicht, du mußt dich nun doch gewiß schämen vor dem Karl und den Mädchen, sogar vor dem Theodor,die alle beigesteuert haben.“ Und der Edmund schämte sich wirklich ein wenig; nur war und blieb eben die Tasche leer. Zahltag war vor acht Tagen gewesen, da war nichts mehr zu finden. Das Wiedersehen mit den Eltern hat ihm aber doch gut gethan. Wieder einmal in treue, klare Augen schauen und den Pulsschlag ehrlicher Liebe fühlen,ist heilsam für ein junges, leichtsinniges Burschenherz, und der Gedanke an die fünfundzwanzigjährige treue Lebensführung der Eltern begleitete ihn in die Woche hinein.Wer weiß, wie lange er noch nachwirkt. Die Mutter nahm Abschied von ihm mit bewegtem Herzen.

Der nächste Morgen führte die Reisenden in aller Frühe dem blauen See entlang nach Rapperswyl und von dort über Weesen nach Mühlehorn am tiefblauen Walensee.Was hatten sie nicht zu sehen und zu staunen. Noch nie hatte die Mutter die Berge so nahe geschaut, so greifbar nahe,und fast grauste es ihr, wie die Felswände sich so stotzig in den unergründlichen Seespiegel tauchten. Der Vater lebte auf in jugendlicher Erinnerung, und war auch vieles anders und er selbst fremd auf der heimatlichen Erde, die Berge und die Wasserbäche, die rauschend und jubelnd sich herniederstürzten in den tiefen Wassergrund, sie waren dieselben geblieben, ewig herrlich und schön. Es war ein Feierstündchen, das die beiden wandernd am See zubrachten.Niemand kann so reiche Feierstunden bereiten als Gott der

Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. k

Die silberne Reise.Herr, der seine Welt so schön und wunderbar aufbaut,daß auch das ärmste Menschenherz darob staunt und seine Nähe verspürt.

Es war Abend geworden, als der Bahnzug die beiden nach Mels brachte, wo sie von Fluck sehnsüchtig erwartet wurden. Er war zwar nicht selbst auf dem Bahnhof.Nicht feiern durfte der arme Mann den Gästen zu Ehren.Er war auf der Alpwiese am zweiten Schnitt und kam erst später heim; aber die jüngste Tochter war da, das lustige, gutmütige Vreneli. Schon dreimal war sie dem ankommenden Zug entgegengelaufen und stets vergeblich.Die Hoffnungsfreude war so groß gewesen, daß sie sie mit Sicherheit am Mittag schon erwartet und die Mutter schon das Festmahl bereitet hatte. So war die Spannung bis zum Abend aufs höchste gestiegen.

Wie traulich war's im niedern braunen Holzstübchen,vor dessen Fenstern die Nelken feurig glühten im Abendstrahl. Wie eine Königin ward Frau Vogel empfangen,und was die Küche nur irgend leisten konnte, kam auf den Tisch. Das schönste braune Birnenbrot hatte die Frau extra gebacken. Da mußte gekostet und gerühmt werden.Als der alte Fluck kam, da gab's ein Händedrücken und Schütteln und Freuen. „Endlich sind Sie da,“ sagte er,„nun ist mir alles gleich, nun will ich gern sterben, da ich Sie nochmals gesehen habe. Ja, wenn ich denke, wie mir's im Krankenhaus gegangen wär ohne Sie“ ....Thränen erstickten seine Stimme.Die silberne Reise.So saßen sie beisammen und erzählten und plauderten bis spät in die Nacht. Als die Reisenden endlich ihr sauber gefegtes Schlafkämmerchen bezogen hatten, in dem alles glänzte in reiner Neuheit, von den roten Bettbezügen an bis zum Waschbecken und dem Kamm, sagte die Mutter:„Du, Vater, ich glaube, die Leute haben mehr Mühe mit uns gehabt, als wir ahnen. Hast du gesehen, wie unsre Löffel und unsre Gabeln nagelneu glänzten? Nein, aber so hochgehaltene Gäste zu sein, ist fast zu schön!“

Trotz des schönen Bettes kam der Schlaf aber nur spärlich zu den Reisenden, und am Morgen meinte die Mutter lachend: „Wenn den reichen Leuten das Reisen so viel Ungemach brächte wie mir, ich glaube, sie thäten's nicht so oft!“

Nun lag noch ein schöner Tag vor ihnen im traulichen Häuschen der guten Leute. Nur getrübt war die Freude dadurch, daß Fluck wieder weit hinauf mußte in Sonnenbrand und Glut zur strengen Arbeit. So war das Sehen nur sehr kurz gewesen; aber Frau und Tochter zeigten den Reisenden alles, was sehenswert war, vor allem das eigene weite Gemüseland, aus dem sie manchen Franken Erlös zogen durch Verkauf in den besuchten Orten am See. Es war aber keine rechte Ruhe mehr in der Seele der Frau Vogel. Schon klopfte das Heimweh nach den Kindern bei ihr an, und so sehr die Leute sie auf den Händen trugen und so prächtig die Bergköpfe niederblickten aufs Thal, sie war doch froh, als sie im Bahnzug saß, der sie heim brachte.

„Was bringen wir den Kindern mit?“ fragte sie den

82*

Die silberne Reise.Mann. „Weißt was, wir kaufen auf dem Heimweg ein halbes Pfund Käse, das giebt dann ein köstliches Nachtessen. Karl kann dann noch etwas Most holen,“ lautete die tröstliche Antwort.

Daheim aber wortete ihrer viel Besseres in Gestalt einer großen Uberraschung. Die Kinder hatten am Abend nach der Arbeit im Wald Epheu geholt und Tannengrün,und alles festlich geschmückt. Die Leute im Haus hatten alle sich zusammengethan zur Feier der Ankunft, denn bei allen war das silberne Paar sehr beliebt, und alle wollten den Festtag recht eindrücklich machen. Der Tisch war gedeckt mit einem saubern Teppich, darauf standen vier Bierflaschen und dazwischen ein Blumenbouquet in erhabener Schönheit. Daneben fand sich ein Bierglas von Karl,ein Korb von den Mäödchen, ein Brotkörbchen von einem Mitbewohner, in dem mit Goldbuchstaben zu lesen war:„Willkommen, liebe Gäste!“ und erst noch glänzten zwei silberne neue Münzen auf einem großen duftenden Kuchen!Die Mutter wußte sich nicht zu fassen vor Rührung. Die Thränen liefen ihr über die Wangen und immer wieder rief sie: „Nein, es ist zu viel! Zuerst die schöne Reise und nun der Empfang! Und alle die Liebe und Güte, es ist zu viel. Der liebe Gott meint's viel zu gut mit mir!“Der Karl aber sagte: „Mutter, fünfundzwanzig Jahre sind auch eine lange und schöne Zeit, und um uns verdient hast du's!“ „Nein auch, nein auch, ich bin gar nicht mehr mich selber; ich glaube, die große Liebe macht mich ganz »s Wilhelmli.dumm. Erst hat mich der Fluck überschüttet, als wär'was an mir, und jetzt empfangt ihr mich so. Die Liebe ist zu groß, ich kann sie nicht fassen!“

So schloß der Reisetag in glänzender Weise, und wenn die nächsten fünfundzwanzig Jahre dem Silberpaar wieder Arbeit und Mühe genug bringen werden, die Leutlein werden im Glanz des Tages weiter wandern, sich dran freuen und nie mehr vergessen, wie Liebe glücklich macht.s Wilhelmli.Ein lachender goldener Sommertag lag über der Erde; die Kornfelder wogten und rauschten leise im Morgenwind, und die Mohnblumen leuchteten rot und strahlend aus dem Goldgrund hervor. Das Gelb hatte die Oberhand in der Landschaft, nicht nur auf dem weiten Ackerland, auch auf dem frisch gemähten Wiesboden und der sonnbeschienenen Straße zeigte es sich in verschiedenen Schattierungen. Der einzige dunkle Farbfleck war das braune Bauernhaus im Schatten des großen Birnbaums,das „Hüfli“ genannt. Es war ein kleines Heimwesen,aber ein gut geordnetes, und der blumige Garten mit den feuerroten Nelken erzählte von einer sorgsam waltenden Frauenhand. Es war die Zeit zwischen Heuet und Ernte, da gab es ein paar Ruhetage, die die Bäuerin be 's Wilhelmli.nutzte, die blühenden Lieblinge aufzubinden und die Beete vom sprossenden Unkraut zu säubern. Plötzlich richtete sie sich aus ihrer gebeugten Stellung auf, streckte sich hoch empor, legte die Hand über die Augen und spähte die glühend heiße Straße niederwärts. Richtig, da nahte eine Schar geputzter Leute. Voran in blühender Jugend die älteste Tochter aus der Erlen, dem größten Hof in der Gegend. Sie trug auf dem Arm ein weißes Bündelchen,das vom weißen Flortuch verhüllt war. Niemand hätte etwas Lebendiges darin entdecken können, wenn nicht eine kräftige Kinderstimme daraus hervor gegen Hitze und Sonnenbrand protestiert hätte. Lachend suchte die Trägerin durch Wiegen und Kosen zu trösten und schlug einen mächtigen Schritt an, um bald möglichst die über die Baumwipfel sichtbare Kirche zu erreichen. Es war ein gar hübsches Bild, das im Sonnenglanz daherzog. Die weißen bauschigen Ärmel der Trägerin leuchteten hell neben dem tiefschwarzen Mieder, unter dem die grünseidene Schürze in zarten Wellen flatterte, und auf dem lachenden Mädchengesicht saß keck und kühn ein helles modernes Strohhütchen.Nicht umsonst zogen die jungen Männer, der Gespiele des Mädchens und der Vater des Kindleins stolz hinterher.Das alles hätte die jätende Frau eigentlich sehr interessiert,aber heute mochte sie den Anblick nicht ertragen, sie flüchtete sich hinter einen großen Hollunderbusch, dessen Früchtetrauben schon rot schimmerten, und machte sich am Boden zu schaffen, als sähe sie nur das Unkraut und nicht den Wilhelmli.Zug auf der Landstraße. Dazwischen fuhr sie auch mit dem gewürfelten Taschentuch ins Gesicht und hatte viel mit der Nase zu thun.

Erst als die Schritte ferne verklungen waren, kroch sie aus dem laubigen Versteck hervor, um sich den Nelken zuzuwenden. Siehe, da stand ihr Mann plötzlich neben ihr. Die Neugierde hatte ihn herausgetrieben an die Hecke,um den schönen Taufzug zu schauen, und da hatte er seine Frau hinterm Hollunderbusch beobachtet. Ein Blick in ihr Gesicht, auf dem noch die letzte Thränenspur glänzte,sagte ihm, daß er wahr gesehen.

So näherte er sich ihr und sagte mit zärtlich gestimmter Stimme: „Du hast geweint, Trini? Mißgönnst ihnen etwa den schönen Tag? Sonnenschein auf das Tauftuch bringt Glück fürs Neugeborne.“ „Ja, das weiß ich schon und mißgönnen thu ich's ja dem Bethli auch nicht; wir waren ja Schulfreundinnen; aber denk selbst nach: wir sind nicht weit auseinander getraut worden und jetzt trägt man heute schon 's zweite zur Kirche.“ „Aha, und du denkst, bei uns steht die Wiege immer noch leer,“ lachte der Mann und legte seinen Arm um die junge Frau.„Na, deswegen brauchst nicht zu weinen; was nicht ist,tann werden. Verzagen mußt alleweil noch nicht. Und sag, sind wir denn nicht glücklich gewesen? Kannst sagen,daß du es nicht bist?“ „Das schon nicht,“ sagte Trini schon halb getröstet, „aber die Leut munkeln schon, weil's ihnen zu lang geht. Meistens bin ich auch sonst zufrieden; s Wilhelmli.aber manchmal, wenn ich ein Taufkissen seh oder so was,dann denk ich ....“

„'s könnt wohl bei uns eins kommen,“ fiel der Mann ein, „ja schön wär's ja schon; aber 's pressiert nicht überall gleich und wer weiß, was übers Jahr ist. Jedenfalls weinen mußt nicht. Das ist in sechs Jahren noch früh genug.“ Trini lachte und bückte sich getröstet zu ihren Nelken. Doppelt liebevoll band sie die knospenschweren Stengel an den hellen Stecken. O, sie konnte nicht anders,sie mußte oft so recht lebhaft dran denken, wie's wär,wenn sie ein hold klein rosig Kindlein zu hegen und zu pflegen hätte. Es war schon der Gedanke so süß, wie würde erst die Wirklichkeit sein!

Wieder war's ein Sommertag. Drunten im Dorf öffnete sich die Thür des Pfarrhauses, das traulich im Schutz der Kirche und der Kirchhofsmauer lag. Die Pfarrfrau kam heraus, eine mittelgroße Gestalt mit schmalem Gesicht,das den Ausdruck jener duldenden Ergebung trug, der so oft sich auf schwächlichen, im Kampf mit dem Leben ermüdeten Frauengesichtern festsetzt. An der Hand führte sie ein sechsiähriges Büblein, das ihrer Führung sehr zu bedürfen schien, denn die Füße streiften unsicher und schleppend über das Kies des Gartenweges. Die Augen des Knaben blickten unstät, fast schielend und wie ziellos aus dem eigentümlichen Gesicht. In den Händen trug er 's Wilhelmli.eine eiserne kleine Schaufel. Die Mutter schleppte den kleinen Lastwagen, der dazu gehörte, hinter sich her.Augenscheinlich strebten sie der schattigen Pfeifenblatt-Laube zu, die geräumig am Ende des Gartens winkte. Plötzlich kam Leben in den kleinen sonderbaren Mann. Er riß an der Hand der Mutter und strebte ungestüm vorwärts.Mit dem Finger zeigte er auf die rot schimmernden Johannisbeeren, steckte ihn dann in den Mund, legte ihn mit bittender Gebärde aufs Herz und stieß dazu einige Töne aus, die die Mutter nur allzugut verstand. Doch schüttelte sie den Kopf und sagte: „Nicht jetzt, Wilhelm,in einer Stunde; du hast ja erst Milch getrunken.“ Diese Erklärung begleitete sie mit Gebärden, die nun auch der Knabe sehr schnell begriff. Ein bitterböser Ausdruck legte sich auf sein Auge, und nur um so kräftiger suchte er seine Hand aus der der Mutter zu befreien, um dem ersehnten Ziele zuzustürzen. Vergebens suchte sie ihn abzuziehen von dem fixen Gedanken, indem sie neben ihm am Boden kniete, mit der Schaufel Kies faßte und in den Wagen lud, und ihn aufforderte, ihre Thätigkeit nachzuahmen, Wilhelm wollte nicht; er sah nur die Beeren, und da er diese nicht haben konnte, wollte er gar nichts. Der Mutter blieb schließlich nichts übrig, als Wilhelm am Boden sitzen zu lassen mit seinem Trotzkopf, und selbst allein von der Laube aus ihn zu beobachten. „Immer nur ans Essen denkt er, sonst belebt ihn gar nichts,“ seufzt sie, und eine leise Thräne schleicht über die Wangen. Sie denkt s Wilhelmli.der Tage, da sie wonne- und hoffnungsvoll hinausblickte auf die Stunde, die ihr dies Kindlein bringen sollte, an die Freude, als es wohl und kräftig in der Wiege lag,und an die Enttäuschung, als es nach und nach seine Verkümmerung zeigte. Ach, und eben jetzt kam der müde Ausdruck so sehr zum Vorschein, sie dachte auch daran,daß sie das Kindlein so sehr gewünscht hatte, vielleicht zu sehr, und dem lieben Gott angelegen hatte bei Tag und Nacht um diese Gabe, und nun hatte er die Bitte erfüllt, aber so. Es war immer noch ein Schatten von beschämter Bitterkeit in ihrer Seele. Nicht, daß sie ihr Wilhelmchen nicht geliebt hätte, im Gegenteil. Wer mißt die Mutterliebe aus? Sie liebte ihn grenzenlos, innig und fest; sie deckte seine Schwäche, so gut sie konnte; sie lebte ihm,lehrte ihn, suchte den kleinen Geist zu entwickeln und zu rufen, aber die Arbeit war eine schmerzensreiche und die Liebe eine dorngepaarte.

Wie froh war sie auch heute, als die verheißene Wartestunde vorüber war und sie den ungebrochenen Trotzkopf,der finster starrend am gleichen Fleck sitzen geblieben war,holen und ihm deuten konnte, jetzt dürfe er essen. Wie lachte er plötzlich mit breitem Gesicht, wie rannte er zu den beladenen Ästchen, und nun schmauste er sehr sachverständig und brachte es dabei so weit wie ein Vollsinniger.Dazu stieß er Töne aus, die zwischen Grunzen und Jauchzen die Mitte hielten. Die Mutter lächelte mit und freute sich mit; aber tief unten im Herzen that etwas weh.'s Wilhelmli.Am Abend desselben Tages pflückte die Frau Pfarrerin grüne frische Hülsen von der saftig stehenden Staude in ihr blankes Gefäß, als sie durch die Blätter sah, wie sich die Küstersfrau heranschlängelte an die Gartenhecke und spähte, ob die Frau Pfarrer auch erreichbar sei mit ihrer Stimme. Das that sie immer, wenn irgend eine Dorfneuigkeit ihre Seele bedrückte und darnach rang, sich auch auf eine andre mitfühlende Seele hinüber zu wälzen.

Es war, als betrachtete sie es als Pflicht, das Pfarrpaar, das noch nicht so lange hier eingezogen war, bekannt zu machen mit den Personalien der Dorfkinder. Lächelnd sah die Pflückende die Anstalten der Küstersfrau, ihre Aufmerksamkeit anzuziehen; aber erst als das Erbarmen siegte über den lustigen Spott, streckte sie den Kopf durch die Ranken, und entbot freundlichen Gruß über die Hecke. „Ach,Sie sind's, Frau Pfarrer, ich meinte, es sei Ihr Vreny;nur nicht zu fleißig, 's ist heut abend noch gar heiß,“spann sie den Faden an. „Ja wohl, etwas heiß ist's noch, aber unser einer hat sich nicht zu beklagen, der fast immer am Schatten ist; aber die Leute draußen, die haben heiß,“ kam die freundliche Antwort. „Ja, ich hab mich heut auch nicht überanstrengt. Ich war nur im Hüfli droben. Wissen Sie's eigentlich schon? Die junge Frau droben ist eine Art Base zu mir. „So, so, und was ist's denn mit dem Hüfli? Ist etwas Fröhliches passiert, oder etwas Trauriges?“ fragte die Pfarrerin, um der wichtigen Neuigkeit auf die Beine zu helfen. „O, etwas sehr Fröhliches.T 7»s Wilhelmli.Die Base hat diesen Morgen ein Kindlein bekommen, das erste wissen Sie, das ist ein Jubel. Man kann's ja wohl einsehen, drei Jahre sind sie schon verheiratet und alle haben schon die Hoffnung aufgegeben, und nun kommt so ein strammer, rosiger Bub. Das Merkwürdigste ist, daß ihnen aber in der gleichen Nacht die beste Kuh im Stall gestorben ist. Der Jakob hat erzählt, er hab' immer nur hin und her laufen müssen, von der Kammer in den Stall und vom Stall in die Kammer. Dort sei's Leben gekommen und da der Tod.“ „Da ist ja Glück und Unglück nah bei einander gewesen,“ meinte die Hörerin teilnehmend. „Ja wohl so,“ meinte die andere, „aber der Jakob hat gesagt, er hab' gar nicht an sein Kuhli denken können vor Freud über den Bub, und geweint hab' niemand im Haus; der Bub sei ihm mehr wert als zwanzig Napoleon.“ „Ist hoffentlich so,“ erwiderte die Pfarrfrau,„und schön ist's, daß die Leute im Dank über die Gabe,die ihnen der liebe Gott geschenkt hat, das Klagen über den Verlust vergessen haben. Dankbarkeit hilft über viele Thränen.“

Die Küstersfrau sann ein wenig nach über die Worte,die sie hörte, dann sagte sie, teils aus Wahrheitsgefühl,teils aus purer Freude am Plaudern: „Ob's wegen der Dankbarkeit war, weiß ich nicht recht. Sie glauben eher,es habe sich vom lieben Gott gehört, und sei recht und am Platz, daß er ihnen endlich ein Büblein geschenkt hat, und daß der Vater die Kuh verschmerzt hat, ist, glaub' ich,s Wilhelmli.nur reiner Vaterstolz. Die Base hat mir vor einem Jahr einmal anvertraut, sie mache es halt wie die Hanna in der Bibel und halte dem lieben Gott an mit Weinen und Bitten, bis er ein Einsehen habe und ihr ein Kindlein schenke, und wenn es waähr sei, daß er Gebete höre und erhöre, so müsse er ihr eines geben. Nun hat sie, was sie erbeten hat.“ „Ist schon recht so, wenn sie's annimmt mit Demut und Dank,“ sagte die Pfarrfrau, und jener müde, traurige Zug schlich wieder über ihr Gesicht. „Ich wünsche, daß Eure Base weiter viel Freude erlebe und sie bei dem Herrn bleibe wie die Hanna.“ Die Frau hatte ihr Herz erleichtert und zog sich langsam rückwärts. Die unterbrochene Arbeit in den Stauden ward wieder aufgenommen.

Als der Pfarrer heimkehrte, wurde ihm die eingekramte Botschaft erzählt und von diesem mit Teilnahme gehört.Er kannte das Hüfli und seine Bewohner und beschloß,morgen seine Freude und sein Mitleid zugleich dort auszudrücken. Er freute sich herzlich, daß den wackern Leuten ein Kindlein beschert sei, und wußte, daß er dasselbe bald in der Kirche sehen werde.

Der Winter war gekommen und hatte den Pfarrgarten mit Schnee bedeckt und den Wilhelmli draus vertrieben.Das war immer eine mit Sorgen begrüßte Zeit für die Mutter. Es war so viel schwerer, den unruhigen Gesellen 8 Wilhelmli.zu unterhalten in der Stube als draußen im Freien, und zudem strebte er selbst immer hinaus.

Im Hüfli war eitel Freuen gewesen. Jedes Lächeln des kleinen Erben ward bejubelt und bewundert, und jeden Tag maß der Vater mit Stolz die runden, strammen Arme und Beine des frei zappelnden Wesens. „Was lange währt, kommt endlich gut,“ scherzte er dann zu seiner Frau, „wirst sehen, der holt in einem Jahr ein, was dein Bethli vor drei Jahren voraus hatte. Einen schönern giebt's weit und breit nicht.“ Glückselig lächelte die Mutter;etwas Lieberes und Schöneres hatte und wußte auch sie nicht, und sie hatte kein Auge und Ohr für etwas anderes als für ihren Alfred. Sie fand es herzig, an seiner Wiege zu sitzen und zu lauschen, wie der leise Atem zum rosigen Mündchen aus- und einging; noch lieber aber träumte sie von dem Tage, da der kleine Schelm Mutter würde sagen können. Oft kostete sie im voraus die Wonne der spätern Augenblicke. So lange es sonnig und warm gewesen war, haite sie ihn täglich hinausgelegt in den Schatten des Birnbaums und ihn dort strampeln lassen in der würzigen freien Luft. Jetzt mußte sie ihn in der Stube behalten; der Ost blies oft recht rauh ums Dach des Hüflis.

Ein früher Winterabend breitete graue Dämmerung über das Pfarrhaus. Wilhelmli kniete am Boden der Wohnstube und stellte Bauholz auf Bauholz, bis ein hoher 's Wilhelmli.Turm dastand, den er dann mit einem Stoß in das Fundament zum krachenden Sturz brachte. Das belustigte ihn so sehr, daß er denselben jedesmal mit lautem Krähen begleitete, bis der Mutter des Lärms schier zu viel wurde.Da kam der Vater herein, lächelte leicht seinem Büblein zu und sagte: „Gieb mir meinen Mantel; ich muß hinauf ins Hüfli. Sie sagen, die Frau komme fast von Sinnen.“„Ja, was ist denn? Ist etwas geschehen?“ fragte die Pfarrfrau. „Ja, das Büblein ist gestern vom Croup befallen worden und heute gestorben. Es soll so gesund gewesen sein, daß niemand ans Sterben dachte; aber solche Halskrankheiten machen manchmal schnell. Trag ein wenig Sorge zum Wilhelm; die Krankheit geht um im Dorf.“„Wie dauert mich die arme Mutter,“ fuhr die Frau fort,„sie soll das Kindlein so ersehnt haben, und es ist ja immer schwer, eins zu verlieren und so schnell.“

Der Pfarrherr hatte sich reisefertig gemacht, um durch die Winternacht hinaufzusteigen zu seinen Pfarrkindern, die der liebe Gott so schwer heimgesucht hatte.

Als er heimkehrte nach einer Stunde, war sein Gesicht noch viel ernster als vorher. „Ich habe nichts genützt dort,“ sagte er, „die Frau weint wie verzweifelt. Sie läßt ihr Büblein nicht einen Augenblick aus den Armen und will es nicht glauben, daß es tot sei. Reden nützt da noch nichts. Sie hört nicht einmal, was man sagt.Da kann nur die Zeit etwas heilen. Vielleicht könntest du einmal zu ihr gehen. Frauen finden oft das rechte s Wilhelmli.Trostwort leichter als Männer, die sich am zügellosen Schmerz eher stoßen.“ „Ja, ich will schon hingehen, aber erst, wenn die Beerdigung vorbei ist. Bis dahin kommen so viele Frauen mit den üblichen Redensarten, da bleibe ich lieber weg. Nachher giebt es dann stille Stunden,“lautete die Antwort.

Einige Tage darauf machte sich die Pfarrerin auf nach dem Hüfli. Sie that es mit schwerem Herzen und seufzte in ihrem Herzen zu Gott um das rechte Wort und den warmen, teilnehmenden Sinn. Wie sollte sie Trost bringen in ein so zerschlagenes Mutterherz? Es soll ja herzzerreißend gewesen sein, wie sie das kleine Särglein umklammerte,als man es ihr forttragen wollte zum letzten Ruheplätzchen und dann klagend und jammernd ihm gefolgt war, bis sie es nicht mehr sah.

Mit langsamem Schritt trat sie über die Schwelle des Bauernhauses, das totenstill dalag. In der Stube saß Frau Trini. Die Pfarrerin grüßte; aber kaum ein merkliches Erkennen glitt über das Gesicht der trauernden Mutter. Die Augen weinten nicht mehr. Rot und trübe starrten sie auf die gerungenen Hände, die krampfhaft sich auf dem Schoß hin und her bewegten. „Es thut mir so leid um Sie,“ hob die Besuchende an, „und ich möchte Ihnen selbst sagen, daß Ihr Schmerz uns tief zu Herzen geht.“ „Sie haben mir mein Bubeli weggenommen; sie haben mir mein Bubeli fortgetragen,“ klagte sie tonlos.FV 's Wilhelmli.

97 ist sehr schwer für Sie, viel schwerer als für eine andre Natur.“ Die Frau horchte auf. Sie mochte es gerne hören, daß sie Schwereres erlebte als andre. Wo ist ein Herz, das nicht dächte, sein Schmerz sei der größte, der je erduldet wurde?

„Wenn man sich ein Kindlein so sehr gewünscht hat,“fuhr sie fort, „dann ist es doppelt schwer, wenn's einem so schnell wieder dahin geht, aber Sie müssen nur daran denken, daß es im Himmel ist beim lieben Gott.“ „Aber das will ich nicht denken,“ fuhr die Frau lebhaft auf,„warum nahm er's mir? Hätt' er mir's doch nie gegeben,dann hätt' ich nicht gewußt, wie schön es ist, eines zu haben; aber geben und nehmen in so kurzer Zeit, das ist grausam und an ihn denken will ich nicht. Ich will eben mein Kindlein zurück!“

Ruhig schaute die Pfarrerin in das verhärmte Gesicht.Dann sagte sie: „Liebe Frau, Sie müssen's noch lernen,dem lieben Gott zutrauen, daß er's mit Ihrem Kindlein gut meinte und mit Ihnen. Sehen Sie, Ihr Geschick erinnert mich ein wenig an das meine, obwohl das Ihre viel bitterer ist für den Augenblick. Nicht wahr, Sie hatten lange kein Kindlein und haben sich's sehr gewünscht?“Die Frau nickte. „Und Sie haben den lieben Gott angehalten darum mit Bitten und Thränen und ihm alles Gute versprochen, wenn er Ihnen ein Kindlein schenke?“Wieder nickte die Frau. „Sehen Sie, all das habe ich auch gethan. Der liebe Gott versagte uns sechs Jahre

Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 7 *48 s Wilhelmli.den Kindersegen, und vielleicht habe ich noch viel eigensinniger gebetet als Sie, wenigstens that ich's sehr ungestüm. Und endlich kam ein Büblein. Es war ein niedliches, gutgewachsenes Kindlein. Wir hatten ein Jahr voll Glückseligkeit. Sie wissen ja wie's ist. Dann aber kam Furcht, Zweifel und Angst, die Leute ermangelten nicht,uns Klarheit darein zu bringen. Unser Büblein war taubstumm. Der liebe Gott hatte mir gesagt: „Ich will deine Bitte erhören und dir geben, was dein Herz so ungestüm verlangt; aber ich will es geben auf meine Weise und nach meinem heiligen Willen.‘' Ich kann Ihnen sagen, ich habe geweint wie Sie. Es war mir, als wär' mir mein Kindlein genommen. Das, das ich mir ersehnt und erbeten hatte, war mir ja auch genommen. Ich hatte nur ein armes, unvollkommenes Tröpfli, das ich mit Schmerz und Trauer heranwachsen sehen und einem Leben übergeben muß, dem es nimmer gewachsen scheint. Aber jetzt will mich eben der liebe Gott lehren, was ich vor Jahren nicht von selbst glauben wollte, daß seine Gedanken höher sind als unsre Gedanken, und daß wir Menschenkinder nie besser fahren, als wenn wir still und kindlich uns seinen Weg gefallen lassen und ihm nicht drein reden. Liebe Frau,ich wollte Ihnen nicht predigen, ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich Sie verstehen kann und daß ich herzlich wünsche, daß Sie bald den Weg der Ergebung finden.“

Trine hatte eifrig zugehört. Ein augenscheinliches Licht des Verständnisses dämmerte in ihrem Gesicht. Leise mahnte 's Wilhelmli.

99 die Erinnerung an die Stündlein, da sie wie ein eigenwilliges Kind an der Thüre Gottes gestanden; ja sie hatte etwas lernen müssen, es war ihr klar. Sanftere Thränen flossen über die Wangen und ein leises Beben ging durch die gefalteten Hände. „'s ist etwas Wahres in dem, was Sie sagen, Frau Pfarrer,“ seufzte sie auf. „Und denken Sie nur,“ fuhr diese nun weiter, „Sie dürfen nun Ihr Kindlein suchen dort oben, wo die hellen, lichten Scharen sind! Sie müssen nicht mehr fürchten, daß es taub, oder stumm, oder lahm werden könnte, oder ins Verderben des Leibes und der Seele geraten möchte. Gott hat das Schäflein nun schon sicher heimgebracht in seine sonnige, selige Hürde. Nun ist's ein glückliches Kind im Reiche der Englein und wartet dort auf sein Mütterlein. Gewiß schaut es und wartet, ob es auch sicherlich nachkomme. Denken Sie weniger an Ihren Schmerz, mehr an das, was Gott Ihrem Kindlein schon geschenkt hat und dann werden Sie sagen lernen: „Der Herr machet alles wohl.“

Die weinende Frau faßte die Hand der Pfarrerin und drückte sie: „Sie haben mir wohl gethan. Alles habe ich noch nicht verstanden, aber etwas. Es geht bei mir alles langsam.“

Die Besuchende stand auf und sagte, herzlich warm Abschied nehmend: „Wenn Sie wieder verzweifeln wollen und nach Ihrem Bubeli schreien, dann denken Sie schnell an mein Wilhelmli!“ Dabei zuckte es nun verräterisch um diese Lippen.

2*

Der alte Hannes.Schneller als sie gekommen schritt sie zum Pfarrhaus zurück. „Ich muß schnell heim und sehen, was er macht.Es ist mir nie recht wohl, wenn ich den Wilhelmli allein weiß. Gott hat mir ihn geschenkt zum lieb haben, und ich will ihn noch treuer und inniger umfassen als bisher.Mutterthränen sind doch sehr schmerzlich.“

Und die Frau im Hüfli schaute der Daboneilenden nach und dachte: „Sie mag recht haben, daß Gott doch etwas Gutes mit mir im Sinn hatte und mit meinem Kindlein. Vielleicht war's ein Bewahren. Verstehen kann ich's jetzt noch nicht und glauben auch noch nicht recht,aber vielleicht lerne ich's noch.“

Der alte Hannes.Das letzte Abendgold verglomm über dem fernen Buchenwald. Der Bilchegg-Hannes blickte hinüber nach dem goldenen Strahl, nahm den alten verwetterten Strohhut vom Kopfe und betete laut: „Herr, bleibe bei mir, denn es will Abend werden.“ So oft er den Abendschein sah, wie heute, dachte er an jenen einen unvergeßlichen Abend, da die glückseligen Jünger den Auferstandenen erkannten. Ihm war's fast so zu Mute wie jenen; er war wohl allein auf der Straße, die eben durch leichtes Gehölz führte einem in der Tiefe rauschenden Wasser zu; aber ihm war der Der alte Hannes.

101 Unsichtbare nicht ein fernes Wesen, zu dem er nur zuweilen die Hände faltend betete in stummer Ehrfurcht, er konnte sagen:„Mit meinem Heiland steh So lange Jahr' ich herzvertraut In Wonne, wie in Weh.“Und weil's ihm immer zu Mute war, als wär' der Herr ganz nahe bei ihm, fiel es ihm gar nicht ein, als thät'er etwas Lächerliches, wenn er plötzlich laut mit ihm zu reden anfing auf der stillen Landstraße oder daheim in seinem kleinen Haus auf der Bilchegg.

Seine alte, liebe Trude daheim, die verstand das auch so gut und hatte ihre Freude dran. Wie oft hatte sie gesagt: „Du, Alterchen, wir beide haben doch immer die allerbeste Gesellschaft und sind nie allein, auch wenn's schneit und stürmt.“

So wanderte der Hannes auch jetzt in trauter Gemeinschaft, und sein braunes, tiefliegendes Auge unter der sonderbar buschigen Braue leuchtete fröhlich, und über die Falten seines alten Gesichts zog zuweilen ein Lächeln, das nicht vom Abendgold herrührte. Und nun fing er gar noch zu singen an mit eigener, fast tonloser Stimme, das mehr einem melodischen Reden glich:Er ist auf der Himmelsreise Täglich meine Seelenspeise,

Und ich mag nichts andres wissen,Als sein teures Heil genießen.

Der alte Hannes.Es war dem Hannes seliger Ernst, obwohl seine jetzige Reise just nicht erschien wie ein Stück Himmelreise, sondern recht sehr nach der Erdenwanderung aussah. Die Beine machten mühsame Schritte vorwärts; die Bewegung in den Knieen sah steif und schwerfällig aus, kam er doch schon weit her vom Vetter aus der Neurüti, der ihm sein mageres Kuhlein so gern verkauft hätte, da er dringend ein paar Franken bares Geld nötig hatte. Das hellgelbe Tier wanderte gemächlich neben her an der Halfter, die Hannes fest hielt. Es schaute ganz zufrieden vor sich hin; der gemächliche Trott behagte ihm und aus der Stimme des Führers hörte es das menschliche Wohlwollen heraus und das gab ihm trostvolle Garantie für die Zukunft. Zuweilen drehte Hannes seinen Kopf nach ihm um, und wenn er des Tieres ansichtig wurde, sagte er gutmütig: „Ein wenig mager bist schon, weißt, und Staat machen kann ich keinen; aber du wirst dich schon bessern auf der Bilchegg, wart nur.“

Unterdessen waren sie dem Wasserrauschen näher gekommen. Ein klarer sprudelnder Bach hatte sich den Weg gebahnt durchs Gestein und Gebüsch. Eine kleine steinerne Brücke führte darüber und gerade dahinter lag ein braunes Holzhaus, das seine wenigen Fenster starr und kalt auf die Straße richtete. Wie düster lag das Haus unterm Dach der Laubbäume, die am Abhang standen und wie einsam mußte es da sein beim Rauschen des Baches. Das Haus sah lotterig und alt aus. Ein paar blau und rote Wäschstücke hingen an einigen Zaunresten, um in der AbendDer alte Hannes.

103 luft völlig auszutrocknen. Hinter der Hausecke verschwanden eben zwei Buben, und ein kleineres Mädchen zog den alten Kinderwagen, in dem ein kleines bleiches Kindlein saß,hin und her. Der Hannes schaute nachdenklich nach der Holzbank am Hause, auf der eine Frau saß, die gefalteten Hände im Schoß und die Augen starr auf den Boden geheftet. Sie schien in tiefes Sinnen versunken und alles um sich her vergessen zu haben. „Da steht's bös,“ dachte der Hannes, „die Mutter sieht struppig aus und die Kinder nicht besser; dazu achtet sie sich gar nicht, was diese machen.Muß doch einmal ein paar Worte mit ihr reden. Er näherte sich nun vollends dem Hause, dann schlang er die Halfter um den ersten Zaunstecken und sagte: „Guten Abend Margret, ich wollte doch nicht vorbeigehen, ohne dir guten Abend gesagt zu haben. Sah dich ja nicht mehr seit dem Tag, da wir den Kaspar hinaustrugen. Wie geht's denn bei dir?“ „Wie's geht bei uns?“ sagte die Frau auffahrend und mit scharfem Ton, so als hätte sie lange auf jemanden gewartet, gegen den sie ausleeren könnte. „Schlecht geht's! Kannst dir's übrigens selbst denken, Hannes, ohne lang zu sinnen, daß es schlecht geht,wo kein Mann ist, der verdient, und vier Kinder, die essen wollen. Ja so ein einzelnes Weibsbild ist schlecht dran hier auf dem Lande, wo's nichts verdienen kann.In die Stadt zög ich, wenn ich nicht dächte, es hat dort ohne mich schon Leute genug zum Verhungern; aber verhungern müssen wir doch noch alle miteinander.“ Der Hannes

Der alte Hannes.stand etwas überrumpelt da vom mächtigen Redestrom,den er nicht erwartet hatte. Er blickte der Frau ins ver VV tiefe Furchen abwärts, die Sorge und Bitterkeit gegraben.„Ja, nicht wahr, du weißt kaum, was ich meine,“ fuhr ste eifrig fort, du hast's immer gut gehabt; auch jetzt stellst mir noch deine Kuh vor die Augen hin, um mir zu sagen: Sieh, ich vermag's und du hast nur Geißen im Stall.“ „Margret,“ erwiderte da der Hannes schnell,„ich will dir nicht übel nehmen, was du da gesagt hast,du sprichst aus Bitterkeit und Betrübnis heraus; aber du weißt ganz gut, daß es mit dem Guthaben bescheiden ausADD uns redlich bemüht ums Durchkommen, und wenn's nicht langen wollte, haben wir auf den lieben Gott unser Vertrauen gesetzt.“ „Ja mit dem lieben Gott bist du allzeit bereit, du thust gerad immer, als wär er auf der Bilchegg daheim und sonst nirgends. 's ist auch möglich,“ lachte sie bitter, „bei mir ist er wenigstens nicht eingekehrt, nicht daß ich wüßte.“

Damit drehte sie sich um und verschwand im Hause.Hannes blieb einen Augenblick verdutzt st ehen, dann faßte er sinnend die Halfter und schritt weiter. Das hatte er wahrhaftig nicht beabsichtigt. Er wollte der Margret ein freundlich Wort sagen, und nun hatte sie ihn überschüttet mit Bitterkeit. Mißverständnisse thun aber immer weh, und der Hannes wanderte nur ganz langsam durch die sinkende Der alte Hannes.Dämmerung. Es war ihm, als thät ihm etwas weh am Herzen. Er konnte das Schmerzgefühl nicht los werden.„Lieber Gott,“ sagte er da laut vor sich hin, „du weißt,wie ich's gemeint habe; nimm den Schatten von meiner Seele, und gieb mir wieder deinen Frieden.“

Daheim fand er seine Trude seiner wartend. Seine neue gelbe Kuh stellte er sorglich in den Stall zu ihrer Kamerädin und ging dann zu Bett. Aber lange fand er keine Ruhe. Immer sah er das harmverzehrte Gesicht der armen Wittwe und durch das Rauschen des Baches hörte er ihre herbe Stimme. „Ja, ich sollte ihr helfen, ich darf nicht an ihr vorbeigehen wie der Levit am Verwundeten;ich darf nicht vom lieben Gott reden und thun, als wüßt ich nichts von ihrer leiblichen Not; ist sie jetzt schon irre an Gott und den Menschen, so wird sie's immer noch mehr. Mich hat Gott deshalb an ihrem Hause vorbeigeführt, damit ich hinein sähe in dies Herz voll Bedrängnis und Not. Wenn ich nur einen Weg wüßte!“

Betend und sinnend verlebte Hannes die Nachtstunden,und nur langsam fand er Ruhe im Wort der Verheißung:„Ich will dich mit meinen Augen leiten.“

Einige Tage später wanderte Hannes wieder der Tobelbrücke zu; diesmal aber ohne Begleiter. Es lag ein fester ruhiger Ausdruck in seinem Gesicht, als wollt er sagen:„Heut soll mich die Margret nicht verblüffen.“ Wieder fand er sie auf der Bank; sie hielt eine große Schüssel Bohnen auf den Knieen, um sie zuzurüsten für die Pfanne.

Der alte Hannes.Als sie den Herankommenden erkannte, färbten sich ihre Wangen mit einem tiefen Rot; sie wußte nur zu gut, wie häßlich sie sich benommen hatte das letzte Mal, und es war ihr eigentlich unangenehm, daß der Hannes sie zwang, ihn schon wieder zu grüßen. Und nun kam er direkt auf die Bank zu, nun grüßte er sie freundlich wie vormals und setzte sich noch gar neben sie. Ohne Umschweife begann er.„Ich habe über deine Rede nachgedacht, Margret, und habe begriffen, wie schwer es dir fallen muß, dich und die Kinder durchzubringen, und daß dir dabei allerlei Gedanken aufsteigen über Gott und Menschen, ist auch verständlich. Hunger und Kummer ist der Ackerboden der Verbitterung, und ich seh jetzt, daß ich früher hätte an dich denken sollen, das wäre nichts gewesen als Bruderpflicht. Siehst du, an dem Abend hat der liebe Gott zu mir gesagt: ‚Hannes, sieh da wohnt die Margret, der du helfen sollst. Ich will es auch gerne thun. Erst hab ich lang nichts gewußt, heut nacht ist mir etwas eingefallen.“ Die Frau hatte erst eifrig die langen Fäden von den Bohnen gezogen, daß sie sich zusammenringelten zu künstlicher Spirale; nach und nach hatte sie aufmerksamer gelauscht und stiller ihr Werk betrieben. „Im Sommer gehst du dahin und dorthin zum Taglohn und im Herbst zum Flachsbrechen, gelt, das giebt immer ein paar Rappen?“fuhr der Hannes fort. „Ja wohl, und die Buben gehen täglich in die Beeren und bringen auch zuweilen einen Batzen,“ fiel sie ein. „Gut, es handelt sich also um den Der alte Hannes.Winter, in dem draußen nichts zu machen ist?“ Die Frau nickte.

„Ich hab da eben herausgefunden, daß du's mit dem Weben versuchen solltest.“

Die Frau blickte ihn erstaunt an. „Ich wollt schon,wenn ich könnt, aber ich hab's nie gelernt, und vor allem hab ich keinen Webstuhl, es ist dir doch nicht ernst?“

„Doch, doch, grad gestern sagte mir Gerbers Andres,er habe einen Webstuhl stehen, den er gern losschlüge um ein Billiges, den brächte ich dir herüber; einen Keller hast ja. Weben ist freilich eine strenge Arbeit und nicht immer lustig; aber der Verdienst ist doch besser als nichts,und ich meinte, es wäre einen Versuch wert. Ich thu's auch immer noch mit meinen alten Beinen, und anderes als selbst gewobenes Halblein hab ich nie getragen.“

Margret schaute auf die wackere Kleidung des Mannes,der so gutmütig in ihr Gesicht blickte. Es gingen ihr allerlei Träume und Bilder durch den Sinn und eine leise Hoffnung mit eigener Arbeit die Kinder durchzubringen.Endlich sagte sie: „Einen Webstuhl hätten wir nun und Lust ihn zu brauchen auch, aber weißt du, Hannes, wo soll ich die Hauptsache hernehmen? Ich habe nie weben gelernt?“„Das hab ich schon alles bedacht,“ lautete die ruhige Antwort; ich will herüberkommen und dich's lehren. Mehr als glattes Leinen weben, wirst du nicht mehr lernen, dazu sind deine Füße schon zu steif; aber mit gutem Willen

Der alte Hannes.wird die einfache Kunst schon gehen. Willst du, so mache ich heute den Kauf fertig und morgen schon fahre ich den Webstuhl herüber.“

Margret saß ganz still da. Es stieg ihr etwas in den Hals, das ihr die Stimme wegnahm.

„Ich wollte schon gern, wenn ich's nur lernen kann.Ach, siehst du, Hannes, vergiß doch die bösen Worte, die ich einst sagte, ich meinte, ich müsse die Kinder von mir und fremden Leuten an die Kost geben; jetzt ist's mir grad,als fiel mir ein Alp von der Seele. Wie will ich dir danken, wenn's gelingt. Und du glaubst, daß ich's lernen kann? Und du willst mich's selbst lehren?“ Margret wurde ganz gerührt und eifrig vor lauter Hoffnung.

Hannes stand schnell auf. „Also die Sache nimmt ihren Anfang; aber vergiß nicht, Margret, daß wir nichts thun können ohne den lieben Gott, nicht einmal weben lernen.“

Beschämt wandte sie sich ab. Er aber ging davon.

An einem Abend im Oktober lenkte Hannes wieder seine Schritte dem Tobel zu. Wie oft war er in letzter Zeit den Weg gegangen und jedesmal hatte sein Herz fröhlich geklopft im Gedanken an den Nutzen, den seine Gänge eintrugen. Bald war seine Webschülerin genug geschult, um sich ohne Rat und Beistand weiter zu helfen; heut wollte er nochmals darnach sehen, ob kein unDer alte Hannes.vorhergesehener Übelstand eingetreten set und nicht allzu biele zerrissene Faden die Geduld erschöpft haben. Schon von weitem hörte er den regelmäßigen Stoß des Webstuhls,der durch die Stille der Nacht drang. „Sie ist an der Arbeit,“ dachte er, „wie gut ist's doch, daß sie nicht mehr sitzt und sinnt, sondern arbeitet, und auch die Buben sind beschäftigt, wenn sie nach der Schule daheim sind. Ich danke dir, lieber Gott, daß du uns den Weg zeigtest. Ja der hat's gut, dem du ein Heiland bist,Sauft und mild und voll Vergeben,Trost und Kraft und Heil und Leben.“

Unwillkürlich war er ins Summen gekommen und hatte nicht auf den Weg geblickt, bis er hart vor dem Häuschen stand. Fast erschrak er da. Plötzlich war es ganz hell vor ihm und um ihn. Auf dem steinernen Brückengeländer lohte eine qualmende Flamme empor. Auf einem Blechteller brannte unter züngelnden Lichtern und fürchterlichem Gestank ein großer Harzhaufen. „Alles dir zu Ehren,Vetter Hannes,“ schrien die Buben, die sich aus der Dunkelheit loslösten und an seine Hände sich hingen; das Harz haben wir alles selbst gesammelt im Wald beim Beerensuchen und nun brennen wir's ab dir zu Ehren.Die Mutter hat's erlaubt, sie hat dich erwartet.“ Hannes wollte lachen über der Illumination, die ihn überraschen sollte, aber der Husten erstickte sein Lachen, und kaum konnte er Worte finden im dicken Oualm. Geisterhaft stach das qualmende Feuerchen ab vom dunkeln Waldgrund Der alte Hannes.und die Buben stocherten jubelnd im Harz, um es zu neuer Thätigkeit zu entflammen. Da stand der Webstuhl still. Die Mutter kam heraus. Sie entschuldigte sich wegen des Gestankes, „aber die Buben wollten sich's nicht nehmen lassen, dir zu Ehren das Harz abzubrennen.Den ganzen Herbst haben sie es in hölzernen Zündholzschachteln gesammelt und aufgespart. Sie müssen auch eine Freude haben. Man kann nicht alles verbieten, wenn auch Hosen und Hände etwas abbekommen beim Geschäft.“Hannes lachte und schaute fröhlich der lustigen Gruppe zu. Die Buben ergötzten sich am Feuerwerk und die Mutter wiederum an ihren Sprüngen und Gauteleien.„Und wir verdienen nun auch Geld,“ sagte Jörg stolz.„So, so und wie? das möcht ich wissen?“ gab Hannes zurück. „Für dreißig Spühli, die ich der Mutter mache,bekomme ich fünf Rappen. Ich hab schon angefangen; aber die Finger thun mir weh dabon,“ setzte er etwas kleinlaut hinzu. „Macht nichts,“ tröstete der Alte und streichelte die Finger, in die der starre Faden tief eingeschnitten hatte,„die Gewohnheit härtet ab; bald geht's besser und Arbeit macht glücklich!“

Mit frohgemutem Sinn ließ Hannes das Tobelhäuschen zurück. Alles war glücklich und zufrieden dort; die Mutter hatte ohne großen Unfall ihr Tagewerk gewoben, die Buben freuten sich des Feuerwerks und alle hofften aus Not und Hunger entronnen zu sein. Lang noch schaute der Heimkehrende den blauen Lichtschimmer aus der Tiefe Der alte Hannes.aufblitzen. Er warf seinen hinein.

Widerschein hell in sein Herz

„Wie lange ich auf der Bilchegg bleiben werde, weiß ich jetzt noch nicht zu sagen; vielleicht komme ich bald wieder, vielleicht geht's ein paar Tage; aber ich muß zum Vetter Hannes und selbst sehen, wie es um ihn steht.Du bist alt genug, das Hauswesen zu besorgen, Marieli und der Jörg schaut sonst zum Rechten,“ so sagte die Mutter zu den Kindern, während sie ihre notwendigsten Bedürfnisse in ein Zwilchsäckli packte. Dann verließ sie eilig das Tobelhäuschen. Gestern abend hatte ihr eine vorübergehende Nachbarin gesagt, daß es schlimm stehe auf der Bilchegg und der Hannes wahrscheinlich nie mehr aufkommen werde.

Wie war sie erschrocken. Sie hatte gar nicht gewußt,daß er krank sei. Es ging immer lang, bis eine Neuigkeit das Tobelhäuschen erreichte. Den Hannes selbst hatte sie lange nicht mehr gesehen, aber vergessen hatte sie dessen Liebesdienst in jener schweren Zeit der ersten Not nicht und oft an ihn gedacht in den letzten zwei Jahren. Ihm verdankte sie's, daß sie ihre Kinder hatte um sich behalten können, und bald waren diese groß genug, der Mutter tüchtig zu helfen.

Das Gefühl ungetilgter Dankesschuld trieb Margret der Bilchegg zu! Wie sollte das alte Fraueli, die Trude,

Der alte Hannes.die ihr Lebenlang so schwächlich gewesen war, mit der Pflege ausreichen? Gewiß war die Not groß um das Krankenlager.

Als Margret in die Küche trat, fand sie dort niemand.Wohl aber tönte ihr aus der Stube lautes, tönendes Atmen entgegen und dazwischen die schluchzende Stimme: „Armer Hannes! Wenn ich dir nur helfen könnte!“ Mit leisem Schritt trat sie an die offene Thür, da lag der Hannes im großen Bett an der Wand, abgezehrt und bleich, mühsam Atem suchend und ruhelos den Kopf hin und her bewegend, als suchte er Rast und Ruh für ihn. Schnell entschlossen ergriff Margret eins der harten Kissen, das auf dem alten Lotterbett am Fenster lag, trug es zum Bett und schob es sachte unter die Federkissen, so daß der Kopf des Kranken höher zu liegen kam. Dankbar lächelnd nickte er, doch war er zu müde, ein Wort zu sagen. Erst als der Atem etwas freier aufstieg aus der beengten Brust,schien er sie zu kennen und sagte: „Bist du auch gekommen, nach mir zu sehen? Es geht nun nicht mehr lang; ich gehe bald heim!“

Margret sah, daß ihre Hilfe hier not that. Ihre starken Arme vermochten den Kranken zu heben und ihm das Liegen leichter zu machen, und Trude sagte mit thränenerstickeer Stimme: „Ich bin so froh, daß du kamst, ich wußte mir schier nicht mehr zu helfen.“

Es war zwar der Margret zuweilen ganze bange ums Herz; es war ihr, als triebe sie etwas fort von der Bilchegg Der alte Hannes.heim ins Waldtobel, wo die Vögel sangen und das Leben blühte. Das Menschenherz spürt ungern den leisen Schritt des Todes, und die Schatten, die der Feind des Lebens vorauswirft, gefallen ihm nicht; nur ein festes Herz kann ihn kommen hören, und nur die Kraft Gottes ihm helfen auszuhalten, da wo sein Schritt erklingt. Von dieser Kraft aber hatte Margret erst eine Ahnung bekommen an jenem Abend, als Hannes ihr in vergebender Liebe seine Hilfe anbot, und jetzt trat sie ihr neu entgegen, wenn sie in sein Auge blickte, das hell und friedvoll leuchtete mitten in der leiblichen Not. Immer wieder blickte sie hin und dachte: „Wenn ich so bereit wäre zum Sterben!“

So standen denn die beiden Frauen bei Tag und Nacht in treuem Dienst und keine ward müde im Lieben und Dienen. Die Augenblicke der Ruhe und Erquickung wurden immer kleiner. Wenn aber Trude sagte: „Lieber Hannes, ist dir schwer ums Herz?“ Dann sagte er:„Nein, o nein, du weißt:Daß ich einen Heiland habe,

Und in seinem Heil mich labe,Und in sein Verdienst mich kleide,Das ist meines Herzens Freude!Du weißt, Trude, so hab' ich's mein Lebenlang erfahren!“

Das war sein Psalm bis zum Ende. Margaret stand daneben und lauschte ihm mit tiefer Rührung und heißer

Sehnsucht. Es war ihr, als blickte sie in eine Schatzkammer voll leuchtenden Gesteins, von dem sie niemals Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 9

Der alte Hannes.eine Ahnung gehabt. Machte das so sicher, so ruhig im Leiden und im Sterben, wenn man sagen konnte: „Daß ich einen Heiland habe!“

Ruhig und still ist der Hannes eingeschlafen. Margret leistete die letzten Dienste; dann ließ sie die Trude allein bei der stillen, weißen Gestalt. Sie brauchte ihren Arm nicht mehr. Sie hatte nun ausgekämpft den irdischen Kampf; die Seele war daheim im Reiche Gottes.

Margarete schritt langsam dem Tobelhäuschen zu. Der Morgenwind strich kühl durch die Zweige, und die Sonnenstrahlen schauten erst einzeln auf die Dachschindeln. Dort stand die Bank, wo der Hannes mit ihr gesessen. Wie leer kam ihr der Platz vor. Aber etwas trug sie in sich,das sie vorher nicht gehabt hatte, um eine Erfahrung war sie reicher geworden. Sie hatte gesehen, wie einer stirbt,der einen Heiland hat.

Und als sie an der Brücke stand, unter dem das Wasser laut und feierlich rauschte in der Morgenstille, da überkam's ihre Seele mit heißem Verlangen, und betend sprachen ihre Lippen: „Du Heiland des alten, lieben Hannes, werde auch mein Heiland und hilf mir vor dir leben und einst mit dir sterben wie er!“

Nicht ohne Thränen.Fünf Treppen hoch in der Mansarde des alten Bürgerhauses wohnt Traugott Traber. Die Mitbewohner des Hauses wußten wenig von ihm, nur daß er ein Junggeselle sei, sehr still die Treppen auf- und absteige, alle freundlich grüße, aber mit niemandem plaudere, und irgendwo in einem Notariatsburean in der Amtshausgasse den Tag hinter Akten und Schreibpapier zubringe. Er ist wirklich eine sehr stille Existenz. Zwei Zimmer sind sein Reich.Die kleine, grün tapezierte Stube mit dem grünsammtenen alten Kanapee, den gleichfarbenen Stühlen und der roten,verschobenen Tischdecke siteht ganz traulich aus, und wenn der Feierabend gekommen ist, setzt sich Traugott auf den Tritt am Mansardenfenster, lehnt sich behaglich in seine Stuhllehne und blickt hinaus über die Dächer zu den Schwalben, die mit hörbarem Jubelgeschrei am blauen Himmel kreisen. Den Tritt hat er sich ertra machen lassen,daß er höher hinaufkomme ans Fenster, und das Gefühl der düstern Einsamkeit verliere, denn wenn man hinaussehen kann zum hellen, klaren Himmel und zu den kleinen Kreaturen, die sich darunter tummeln im Schutz des ewigen Vaters, kommt man sich nie allein vor. Dann träumt er erst ein wenig, bis er mit raschem Griff die Zeitung nimmt und sich in die Lieblingsarbeit aller Männer stürzt. Ohne Zeugen ist er aber dabei nicht. Auf der Fenstersimse

2*

Nicht ohne Thränen.stehen rotleuchtende Geranien und schneeweiße Nelken, und schauen bald nach den Sonnenstrahlen, die golden herein winken, bald nach dem stillen Leser, der ihnen den Abendtrank noch nicht gebracht hat. Und dort an der Wand blitzt es zuweilen glänzend auf; dort hängt ein Waldhorn an einem hellblauen, verblaßten Band, durch das sich ein Eichenzweig schlingt. Es ist zwar schwer zu erkennen,ob's ein Eichenzweig ist oder irgend etwas anderes, denn dürr und zusammengeschrumpft hängen die Blätter daran.Der leiseste Windhauch würde genügen, sie zu trennen vom AÄstchen. Eine Spinne hat auch ganz schlau ihre grauen Fäden darum gesponnen, und Traugott läßt sie gewähren,weil er mit ihnen die welken Zeugen der Erinnerung zerstören würde! Wie lang ist's her, seit es nicht mehr von der Wand kam das alte Horn, und doch blickt Traugott zärtlich zu ihm hinüber. Wer fühlte es nicht warm werden am Herzen beim Anblick eines Gliedes der schönen goldenen Jugendzeit!

Er war eigentlich noch nicht alt, der Mann in der Mansarde, erst in den vierzigen; aber ein Magenleiden hatte ihn früh alt gemacht, ihn getrennt vom Kreise der Genossen, die beim schäumenden Trunk sich freuen, und ihn gezwungen, ein sehr ruhiges Leben zu führen. Die Frau des Tapezierers im Erdgeschoß besorgt ihm sein Frühstück aufs Zimmer und bringt ihm den Abendthee mit DD hat er ihr alle Verrichtungen anvertraut, die einer weibNicht ohne Thränen.lichen Hand bedürfen; nur an seine Blumen und sein Waldhorn darf sie nicht rühren.

Auch jetzt, da sich Herr Traber eben vertiefen will in den sozialpolitischen Leitartikel, klopft es an die Thüre,und sein Hausgeist tritt herein, beladen mit einem Berg weißer, steif geplätteter Hemden. „Entschuldigen Sie,Herr Traber, wenn ich stören sollte; die Wäsche ist eben gekommen, und ich wollte sie gleich heraufbringen.“ „So,so,“ erwidert der Gestörte, „legen Sie sie doch auf den Tisch, ich will sie dann weiter befördern.“ Es war ihm stets ein kleiner Schrecken, wenn seine Wäsche ging oder kam und er sich mit diesen Sachen abgeben mußte. Auch jetzt sah er mit gemischten Gefühlen zu, wie auf seinem Tisch die steifen Dinger sich breit machten. Frau Marti blickte unschuldig nach ihm hinüber. Ihr gefiel die Bürde,die sie eben abgeladen. Kein Knopf fehlte und kein Bändchen; man konnte doch sehen, wie gut sie ihren Pensionär in Ordnung hielt. Sie hielt große Stücke auf ihn, war er doch ein guter generöser Zahler und nie unfreundlich oder grob, wie andere; aber daß er immer so allein hockte,das ärgerte sie zuweilen. „Sie sollten auch nicht immer so allein sein, Herr Traber,“ platzte sie los, „dazu sind Sie eigentlich noch viel zu jung. Giebt es denn nicht genug junge Leute, die froh wären an Ihrer Gesellschaft?“„Meinen Sie?“ gab der Gefragte ruhig zurück, „ja, da müssen Sie mir nun schon meinen eigenen Geschmack lassen,Frau Marti, sehen Sie, es ist für mich besser so. Mit

Nicht ohne Thränen.Menschen umgehen macht mich unglücklich; allein bin ich am frohsten, da thut man niemanden weh, und niemand sticht einem dahin und dorthin; allein ist am besten!“

Dabei lächelte er ganz freundlich seine gute Frau an.Diese hatte dieselbe Rede schon oft gehört, eben weil sie die gleiche Ermahnung schon oft hatte abgehen lassen.Wieber schüttelte sie den Kopf und murrte: „Ich kann's nicht recht fassen, aber eben jeder hat seinen Kopf!“ Damit ging sie zur Thür hinaus.

Traugott blickte ihr nach, dann sprach er laut vor sich hin: „Ja, ja, einmal hab' ich schon nicht geträumt, daß ich so einsam sein würde; aber 's ist besser so. Als ich es nicht war, da hatte ich immer nur Herzweh. Ich hing mich an die Menschen, und wenn sie von mir gingen,ließen sie ein schmerzend bittres Loch. Jetzt hang ich an niemand und niemand hängt an mir; nun thut's niemand weh. Zärtlich blickte er zu seinem Waldhorn hinüber und packte dann seine Wäsche unter den Arm, um sie im Schrank der Schlafkammer unterzubringen.

Frau Marti aber trabte schweren Schrittes die Treppe hinunter. „Niemand kommt draus, warum er immer so allein sein will. Er sagt mir nichts,“ murmelte sie; „man würd' meinen, er wär' ein versessener Egoist, der nur an sich denkt und für sich sorgen will; aber das ist er nicht.Die Kinder vom ganzen Haus und in der ganzen Straße hangen ihm an, und jeden Tag, wenn er vom Mittagstisch in der Herrenpension kommt, klaubt er was aus der Nicht ohne Thränen.Tasch heraus, das er dem Nachtisch abgewonnen hat. Für sich ißt er ja nie so was, aber den Antonle und das Eveli und die kleine Nellh vergißt er nie. Ihnen ist er das Ideal und Glück des Tages. Ein Egoist ist er nicht;aber sonderbar ist's doch, daß er so allein sein will.“

Traugott war nicht immer so allein gewesen. Einst war auch er ein lustiges, frohes Bürschchen. Wie gern dachte er an jene Zeit zurück! Im entgegengesetzten Stadtteil von dem, da er jetzt wohnt, ist sein Vaterhaus gestanden. Es lag in einer Reihe niederer Häuser, die ihre wenigen Stockwerke gerettet hatten aus einer Zeit, da man noch keine Mietnot kannte und gerne etwas breit und weit für sich wohnte. Jedes dieser Häuser hatte nach hinten einen kleinen Hof, der je nach dem Geschmack der Bewohner zum Geschäftsbetrieb oder zur abendlichen Erholung benutzt wurde. Der Vater war Uhrmacher und hatte nach hinten seine Werkstatt verlegt, da dort mehr Licht auf die kleinen Rädchen und Schräubchen fiel, die er mit der eingekniffenen Loupe betrachten mußte. Derselbe war ein stiller, etwas mürrischer und unzugänglicher Mann, der mit dem kleinen Traugott wenig anzufangen wußte, und dem die ältere Schwester Trinchen, die nichts konnte im Leben als lachen, lieber aus dem Weg ging. Die Mutter war aber eine herzensgute Mutter für ihn gewesen, die für ihn durchs Feuer gegangen wäre und die treulich da

Nicht ohne Thränen.für sorgte, daß seine Jugendzeit so wenig an Sonnenschein verlor als möglich. Den holte er sich aber am liebsten im Hofe des Nachbarhauses. Dort wohnte das einzige Töchterlein des Bankangestellten Klauser, ein herziges, rotbackiges, frisches Ding. Dorthin zog's ihn mit unveränderlicher Anziehungskraft, und so oft er frei war von der Schule und ihn die Mutter auch sonst nicht brauchte,war er im nachbarlichen Hofe. Der war auch ganz besonders gestaltet. In einem viereckigen, mit Erde gefüllten Kistchen wuchs ein Johannisbeerstrauch, der im Juli wirkliche rote Beeren trug, zu deren Schmaus er regelmäßig von der kleinen Freundin eingeladen wurde. Der grüne Strauch war Huldas Lebensinteresse, und von dem Augenblick an, da er im Frühling die ersten Knospen trieb, der Gegenstand ihrer Pflege. Mit kindlicher Freude steckten sie dann zusammen die Kapuzinersamen an seinen Fuß und bewachten deren erste Lebensregungen. Dann hatten Huldas Eltern eine grüne Bank hinausgestellt, auf der die ganze Familie sich lagerte in der Abendkühle, und oft,wenn die stille, schmale Mondsichel sichtbar ward in dem bescheidenen Himmelsausschnitt über dem Hofe, sang man da gemeinsam: „Guter Mond, du gehst so stille.“ Traugott würde bis an sein Ende die verschiedenen Stimmen hören, als sängen sie jetzt noch hart an seinem Ohr, und Huldas helles Stimmchen vor allen. Ach, diese Bankstunden waren doch allzu schön. Als er älter wurde, ward das reine Singkonzert bereichert durch die Begleitung seines Nicht ohne Thränen.Waldhorns. Sein Vater hatte aus einer poesievollen Anwandlung gewünscht, daß sein Sohn das Waldhorn blasen lerne, und so hatte er denn mit Anstrengung seiner Lunge etwas tuten gelernt. Viel war's nicht, und die Nachbarhäuser hatten mit endloser Geduld den ersten grausigen Tönen zuhören müssen, die seine schwingende Luftsäule entwickelte. Aber lustig war's doch, als er „den guten Mond“ begleiten konnte, und am lustigsten, als er's zur Wacht am Rhein brachte und dann jedesmal bei der erhöhten Stelle: „Lieb Vaterland kannst ruhig sein,“ der alte Cäsar laut zu heulen anfing. Ungezählte Male wiederholten sie den Versuch und immer wieder ließ er den Donnerhall und Wogenschwall ruhig vorübergehen, und erst beim emphatischen Schluß stieß er ein durchdringendes Geheul aus, das erst mit dem Schlußakkord endete. Ungezählte friedliche Abende hatte Traugott auf dem Hofbänklein zugebracht, und es war ihm immer so wohl gewesen darauf, in der friedlichen, feiertäglichen Ruhestimmung,bis die Mutter ihn nach Hause rief. Die Kameraden hatten ihn oft geneckt, daß er so selten mit ihnen spielte und raufte auf der Straße und lieber hinterm Hause hocke mit einem Mädchen; aber das Necken kümmerte ihn wenig.Er strich an ihnen vorüber und war glücklich für sich.Als er älter wurde, führte ihn der Weg fort aus der Heimatstadt. Er mußte seine Lehre in einem Notariatsbureau der französischen Schweiz machen. Es ward ihm die Trennung leichter, weil auch Hulda die ersten Flüge Nicht ohne Thränen.in die Welt versuchte. Allerdings atmete er tief auf, als nach einigen Jahren der Trennung alles so ziemlich im Alten war. Im Alten und doch etwas neu. Hulda war groß geworden und kräftig und griff tüchtig in die Wirtschaft ein. Die Singabende auf dem Bänkchen waren nicht ganz eingeschlafen; aber doch nicht mehr für ihn da; niemand lud ihn mehr dazu ein. So konnte er denn nur hinter der Gardine stehen in seinem Stüblein und lauschen,wenn unten auf der grünen Bank die traute Weise anhob.Auch er mußte seine musikalische Erholung allein suchen.Die Wacht am Rhein hatte er schon längst verlassen,kein Cäsar saß neben ihm, dafür hatte er unmerklich sich das alte Lied: „Steh ich in finstrer Mitternacht“ zur oft wiederkehrenden Lieblingsmelodie erkoren. Er wußie selbst nicht recht warum. Und noch etwas hätte sich verändert.Der Johannisbeerstrauch blühte und grünte nicht mehr.In Huldas Abwesenheit war er einer langsam schleichenden Krankheit anheimgefallen, die sich zuerst am Laubwerk geäußert hatte. Jetzt stund eine grüne Holztreppe an seiner Stelle und darauf zeigte sich in Reih und Glied ein Topfpflänzling am andern. Alle Abende bewachte Traugott diese Treppe. Fast beneidete er die roten Geranien und die gelblichen Nelken, daß sie von Hulda so zärtlich gepflegt und in die Hände genommen wurden. Oft wartete er eine ganze Stunde lang am Fenster auf den Augenblick,da sie mit der grünen Gießkanne im Arme heraustreten würde, ihre Pfleglinge zu gießen und der Anblick stimmte Nicht ohne Thränen.ihn glückselig. Er machte sich's nicht klar, ob er liebe oder nicht, noch weniger dachte er an irgend eine Zukunft; er war nur glücklich im täglichen Anblick der Kinderfreundin,und in seinem Herzen nahm sie dieselbe Stelle ein wie früher, wenn er sie auch selten sprach. Ach, und dann war er so linkisch und zerstreut. Meistens brachte er nur ein paar ganz gewöhnliche Sätze heraus übers Wetter oder eine Zeitungsnachricht; aber seinem Herzen war es doch, als hätte er ihr das Beste und Schönste gesagt. Ob sie's wohl ahnte? O gewiß, sie konnte es nicht nur ahnen,sie mußte es wissen, er blies ihr ja oft die Frage vor:„Ob sie auch hold und treu verblieb?“

Eines Tages hörte er plötzlich im Vorübergehen, wie zwei Nachbarfrauen zusammen sagten: „Jetzt giebt's bald eine Brautschaft in der Nachbarschaft. Na, die Hulda wollte jeder gern, sie ist schon darnach!“ Das war für Traugott wie ein plötzliches Erdbeben. Er war so sicher auf seinem Grund gestanden, hatte so fröhlich gelebt im Genuß ihrer Nähe und nie, nie etwas anderes gedacht.War's denn möglich, daß sie nicht so gemeint hatte wie er?Ja, freilich, er hatte ihr nie gesagt, daß er sie liebe und noch weniger wie sehr ers thue, hatte ihr nie irgend wie ein Zeichen gegeben; aber sie mußte es ja wissen, es konnte nicht anders sein. Traugott stürzte in sein Stüblein! Wie viel hatte er zu verarbeiten und nachzudenken.

Richtig ja, er hatte in den letzten Tagen oft einen jungen Mann hineingehen sehen, einen Lehrer, der Brille Nicht ohne Thränen.nach und der Art, sich zu geben, war's wohl der? Und dann stand fast jeden Tag ein neues Blumenstöcklein auf der grünen Treppe, bald ein schneeweißes Röslein, und bald eine glühend rote Nelke. Er hatte sich oft gewundert,wo die auch herkämen, und auch oft geplant, wie er auch eines hinstellen könnte, ihr eine Freude zu machen; aber es war immer beim Wollen geblieben und nie wirkliche That geworden. Ach, wenn's etwa an den Blumenstöcklein gelegen hätte? Traugott fuhr sich verzweifelnd in die Haare! Ach nein, das war's wohl nicht, es waren wohl die Jahre, die noch vergehen würden, bis er ein groß genuges Gehalt beziehen konnte, um sie ehrenvoll fragen zu können. Zum ersten Mal fühlte er sich arm, sehr arm.Bis dahin war er ja immer reich gewesen, reich im Besitz ihrer Nähe! Traugott fühlte, wie die Thränen aufsteigen wollten; er wischte sie weg. Es war gewiß nur Geschwätz und weiter nichts.

Wie harrte er des Augenblicks, da Hulda kommen würde, ihre Blumen zu begießen. In ihrem Gesicht wollte er die Wahrheit lesen. Er harrte vergebens. Die Blumen blieben ungetränkt. Erst als die Dämmerung dicht und dichter über die Höfe sank und schon das Mondsichelchen scharf und klar sich abzeichnete am blauschwarzen Himmel, hörte er die Hinterthüre knarren und sah sie heraustreten, aber nicht allein, sondern hinter ihr kam eine andere Gestalt, die zog ihren Arm in den seinen und neigte sich vertraulich zu ihr.Nicht ohne Thränen.Er hatte genug gesehen. Wer kennt die Stunden,da mit einem Riß zusammenfällt, was man in Jahren sich erbaute mit seliger Hoffnung? Wer kennt die Hammerschläge, mit denen der allmächtige Gott ans und ins Herz klopft seine alte ewige Wahrheit: Ich halte dein Leben in meiner Hand. Ich ordne deine Wege, und ohne mich ist all dein Raten und Suchen nichts. Mein Wille lenkt die Geschicke bis ins Kleinste.

Es war ein dunkles Stündlein, das Traugott dori durchlebte. Es war durchzogen mit hundert: Warum?denen es keine Antwort gab, als die stille Beugung unter den Willen dessen, der für uns unerforschlich dem einen giebt und dem andern verweigert.

Dort ist er der stille Traugott geworden, der er später war. Niemand hat einen Laut gehört aus seinem Munde.Nur die treue Mutter ahnte, was in ihm vorging. Schen ist er von da an am Nachbarhaus vorübergeschlichen und hat Hulda nie mehr angesehen aus Furcht, sie könnte es ihm ansehen, wie herb es ihn ankomme.

Am Hochzeitstage, als die Kutsche die liebliche Braut für immer seiner Nähe entführt, seinem alleinigen Besitz entrissen hatte, da nahm Traugott sein Waldhorn unter den Arm, zog hinaus in den abendlichen Wald und lagerte sich unter den Eichen, durch die die Sonne lichte Ringe warf auf den dunklen Waldboden. Er suchte Ruhe und Frieden für sein Herz. Es ward ihm auch wohler in der Einsamkeit des Waldes, und das Pochen des Herzens, das Nicht ohne Thränen.ihn heut den ganzen Tag gequält hatte, wurde milder.Dann nahm er sein Horn, setzte es an und wollte blasen.Unwillkürlich wollte er einlenken in seine altgewohnten Melodien, aber da brach er plötzlich ab, und neu anhebend kam er in die Choralmelodie:„Der Wolken, Luft und Winden Giebt Wege, Lauf und Bahn,Der wird auch Wege finden,Da dein Fuß gehen kann.Nur daß er im Stillen statt Fuß den Begriff: Herz hineinsetzte, denn es war ihm in den letzten Tagen gewesen,als hätte sein Herz den Boden verloren und flatterte herum wie ein Vöglein, das aus dem Neste gefallen. Aber der, dem er mit diesen Tönen sein wegloses Herz anbefohlen hatte, kam ihm schon entgegen und hat in der Waldesstille Worte zu ihm gesprochen, die freilich kein menschlich Ohr vernahm, die aber in seine Seele sich eingruben mit unauslöschlichen Lettern. Da hat Traugott einen Eichenzweig gebrochen und ihn in sein Waldhorn gesteckt als ein Zeichen: „Ob Berge weichen und Hügel hinfallen, so soll doch nicht von mir weichen seine Gnade.“

Von da an hat er sein Waldhorn nicht mehr berührt,und wenn der Eichenzweig gar so hinfällig wurde, hat er ihn mit einem neuen vertauscht.

Hulda ist auf ein naheliegendes Dorf gezogen, wo ihr Mann die Schule führte, wie sie sagten in musterhafter Weise. Traugott aber sah sie kaum mehr.Nicht ohne Thränen.„Etwas suchen und verlangen,Etwas lieben muß das Herz,Etwas zu verlieren bangen

Und um etwas tragen Schmerz ꝛc.“so meinte Traugott damals noch, und so wandte er denn noch innigere und tiefere Liebe der treuen Mutter zu.

Der Vater starb; die lustige Schwester trat in den eigenen Hausstand. So blieben die beiden allein im gewohnten Hause. Traugott wäre gerne fortgezogen in einen andern Stadtteil; aber da der Mutter Liebe und Erinnerung fest haftete an den gewohnten Räumen, brachte er gern das Opfer. Es hatte sich für ihn doch genug geändert,um ihn nicht mehr allzu lebhaft zu mahnen an die vergangene Zeit. In den unteren Räumen, da der Vater über seinen Rädchen gesessen, war jetzt ein Matratzenmacher eingezogen und vor dem Fenster seines Stübleins hatte er eine Reihe Blumenstöcke aufgepflanzt, die ihm als Vorhang dienten und den Ausblick in den kleinen Hof verdeckten. Die Jahre zogen ohne große Ereignisse an den beiden vorüber. Traugott ließ für sich sorgen wie in den Kinderjahren und fühlte sich behaglich, wenn er alle seine Bedürfnisse bereit und liebevoll beachtet fand. Dafür empfand er aber das wohlige Bewußtsein, daß seine Arbeit das alternde Mütterlein jeder Sorge enthob.

Sie hatten sich so an ihr stilles Leben gewöhnt und auch die andern Leute konnten sich's nicht anders denken, so daß alle jäh aus ihrer Ruhe aufschreckten, als plötzlich der Tod

Nicht ohne Thränen.hineintrat ins stille Haus und die alte Mutter dem Sohne entriß. Wieder fühlte er sich völlig entwurzelt und in bielen Beziehungen noch mehr als je. „Hab ich denn ein besonders dummes Herz oder ein besonders weiches,“ fragte sich Traugott, „daß ich immer den Boden verliere, wenn mir ein geliebtes Menschenkind entrissen wird? Nun ist es aber Zeit, daß ich mein Leben anders einrichte und mich nicht mehr an einen Menschen hänge. Ich habe nur Schmerz davon! Es geht ja nun nicht allzulang mehr! So lang werd' ich nun wohl allein sein können. Es ist besser, es weint niemand um mich, wie ich um die Mutter weinen muß.“

Mit diesen Gedanken wappnete sich Traugott zum Auszug aus dem alten Hause, in dem sein Herz Blüten getrieben in Liebe und Glück. Mit ihnen hat er sich eingemietet in der Mansarde bei Frau Marti.*

Etwas mehr als ein Jahrzehnt hat er dort gewohnt.Da hat sein Magenleiden eine schnelle und böse Wendung genommen. Mit klarem Blick hat er seinen Weg erkannt und gewußt, daß es sich um die letzten Schritte handle.„Rufen sie eine Schwester aus dem Diakonissenhause,“ sagte er zu Frau Marti, die ihn ab und zu besorgt hatte, „jetzt kann ich mir nicht mehr selbst helfen. Es geht nicht mehr lang.“„Um Gotteswillen, Herr Traber, Sie meinen doch nicht,daß es schlimm gehen könnte?“ gab sie zur Antwort und wollte mit dem Taschentuch ins Gesicht fahren. Ängstlich flehend schaute er sie an und bat: „Bitte nur keine Thränen.Nicht ohne Thränen.Bei mir ist alles in Ordnung, was das Leben anbelangt,und das Sterben ist mir kein schrecklicher Feind; ich dachte zu viel daran. Holen Sie mir die Schwester!“

Die gute Frau trollte davon. Sie wußte, daß wenn er in dem Ton sprach, das Gespräch nicht weiter fortgesetzt werden durfte, und daß sie nichts Besseres thun konnte als seinen Wunsch erfüllen.

Die Schwester kam und leistete dem Kranken die letzten Dienste. Als sie eintrat, musterte er sie einige Sekunden,dann legte er sich beruhigt hin. Sie war eine von den linden und stillen Naturen und störte ihn nicht mit Schwatzen.Sie erinnerte ihn sogar etwas an seine Hulda, deren Gestalt er nie vergessen hatte und die er wachend und träumend an seinem Bette sah, und die er segnete mit seines Herzens letztem Zug.

Die Schwester hatte gar erstaunte Augen gemacht, als sie ihm einmal das Waldhorn von der Wand nehmen und auf die Decke legen mußte. Schon hatte sie ermahnend die Lippen zu öffnen und ihrer Angst, er möchte blasen wollen, Ausdruck zu geben versucht; aber er hatte energisch den Kopf geschüttelt. Still hatte er das alte Instrument angeschaut und gemurmelt:

„Der wird auch Wege finden,

Da dein Herz gehen kann!Ja, und bald wird es nun ganz gehen, nein, jauchzen und singen können!“ Ein dankbares Lächeln verklärte ihn.

An einem frühen, sonnigen Morgen lag Traugott still

Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. q9

Nicht ohne Thränen.und bleich auf seinem weißen, letzten Lager. Wie ruhte er aus! Man sah's der langgestreckten Gestalt an, wie sie so recht von Herzen ruhte. Aus war der Lebenskampf und all das stille Herzweh. Da öffnete sich leise die Thüre und Frau Marti kam herein und hinter ihr her der Anton und das Eveli und ganz zuletzt die kleine Nelly von der Straße. Alle standen still und ehrerbietig um die ruhende Gestalt her. Dann streckte Eveli die Hand voll Blumen der Mutter ins Gesicht, daß diese sie ihm abnehme. „Ja, gieb her,“ sagte sie, „er hat's verdient,daß ich ihm meine schönsten weißen Nelken abschnitt. Er soll sie mitnehmen, war er doch immer so gut und freundlich. Gelt, Kinder, ihr habt ihn lieb gehabt!“ Da schluchzten alle: ja. „Er hat's zwar nicht leiden mögen,wenn man's ihm sagte, aber jetzt darf man's sagen, er wird uns sehr mangeln, wenn er nicht mehr die Treppe auf und absteigt; mir kommt das Leben gar nicht mehr vor wie früher. Immer hätte er einen freundlichen Gruß und ein stilles Lächeln, und für euch etwas Süßes, nicht wahr, Kinder.“ Und wieder antworteten sie: ja. Dann strich die gute Frau liebkosend über die weißen Hände und legte ehrfurchtsvoll die duftenden Nelken darein, dann wischte sie die hellen Thränen von der Wange und seufzte:„Ich wollt', er wär' nicht gegangen.“ Und die Kindlein schluchzten mit.

So hatte auch der stille Traugott Traber in der Mansarde seine Thränen gefunden, die um ihn flossen.Inhalt.

Auf dem Älpli

Zehn Lichtlein

Der Hofbube.

Ein starker Arm und ein starkes Herz Der erste Schritt.

Ein Heckenröslein

Die silberne Reise s Wilhelmli.

Der alte Hannes.

Nicht ohne Thränen

Seite 8 14 20 34 41 59 71 85 100 115 Im Verlag von J. F. Steinkopf in Stuttgart ist erschienen:Schlatter, Dora, Kampf überall. 8 Erzählungen für das Volk. Kart. 75 59.

„Kampf überall“, im Hochgebirge mit den Naturmächten, im Leben mit den Menschen und Verhältnissen, in der eigenen Seele aber Frieden mit Gott,das ist der Gegenstand dieser schönen bewegenden Erzählungen.

Sewell, Elis., Tante Sarah oder Lebenserfahrungen.4. Aufl. Gebunden M A. -.

Für Mädchen und den Familienkreis. Jungfräulich wie die Rosenknospe,sr und sinnig, demütig und thatträftig ist ‚Tante Sarah‘ noch im Silberhaar ie Herzensfreundin aller jungen Mädchen.

Für Z3wölfjährige:Emmy Herbert. Jungeren Töchtern gewidmet.5. Aufl. Geh. A 8. . Geb. M A. .

Das Pfarrhaus zu Caneton. 3. Aufl. Geh.AM 2. 40. Geb. A 3. 40.Jugendschön, voll Duft und Gehalt.Mitgabe auf die Lebensreise. Blütenstrauß geistlicher Lieder und Gedichte. Auf jeden Tag des Jahres.7. neue Aufl. Prachtausgabe mit 8 Kompositiomen von Prof. D. C. G. Pfannschmidt. (Ausgabe A.) Widmungsblatt und Einband gez. v. E. Beck.Taschenform. geb. mit Goldschnitt 4. .

Ein Andachtsbuch auf jeden Tag des Jahres, voll Weihe, Kraft und edelster Poesie. Ausgabe B ein einfachem Einband ohne Bilder. A 2. .

Bernieres, Louvigni, Das verborgene Leben mit Christo in Gott. In deutscher Wiedergabe von G. Terstegen.Mit Anhang von Liedern. Ausgabe in großem Druck.22 Bog. 80. Geheftet M 2. . Schön geb. A 8. .

Ein Demant unter den Erbauungsbüchern. Gleich Thomas von Kempis unberührt vom wechselnden Geschmack der Zeiten noch von der Verschiedenheit der Konfessionen und Standpunkte. Für einfache und tiefe Seelen, welche aus n sheden Umtrieb sich in Gott zurückziehen, in das Innere, in die ewige «88 2223

Im Verlag von J. F. Steinkopf in Stutkgart ist erschienen:Frommel, D. E, Exzählungen. GesamtAusgabe. J. Aus der Chronik eines geistlichen Herrn. (Aus dem unterfien Stockwerk. Aus der Familien-Chronik. Aus vergangenen Tagen.) 2. Aufl. Mit dem Bildnis des Verfin Lichtdruck.A 8. -. Schön geb. M 4. 20.

TA. I Nach des Tages Last und Hitze. Wanderungen durch Werkstatt, Schlachtfeld und Pfarrhaus. Der Heinerle von Lindelbronn. ‚O Straßhurg, du wunderschöne Stadt!In zwei Jahrhunderten.)“ 2. Nufte . Schön geb. Al 4. 20.

Wie das bekannte FF. „srisch, fromm, fröhlich, frei Weitbrecht, G., Heilig ist die Jugendzeit. Ein Buch für Jünglinge. 11. AÄufi. Mit Titelbild von Professor Grünenwald.Geh. A4. . Schön geb. A 58. -. Mit Goldschn. M 5. 60.

Ein Lebensbuch für jeden jungen Mann. Mit sonniger Jugendfrische giebt Verf. die rechten Gründanschauuugen von Führung, Zwed und ge des Lebens und zeigt den Weg der Wahrheit und der Pflicht zů den ewigen Idealen. MAaria und Martha. Ein Buch für Jungfräuen. Mit

Titelbild von Prof. D. Pfannschmidt. 5. Aufl. Geh. M 4. .Schön geb. A 5. -. Mit Goldschn. A s. 6ö. 7

Nicht die Künste des Gefallens zeigt das Buch, aber esß zeugt von der wahren Weiblichkeit und ihrem Hauch aus Goit, von der Hoheit der Demut, von allen den Eigenschaften, die wie Lilien und diofen in der jungfräulichen Seele e sollen. und von den unwandelbaren Leitsternen des inneren um äußeren ebens.

Der Fels in den Wellen. Altes und Neues. Geheftet A. &. Schön geh. A 5. . Mit Goldschn. . 8. 60.

Viele betrachten den Glauben wie ein Fragezeichen, an dem ihr Verstand vergeblich sich abarbeitet, der chriftliche Glaubẽe aber ist ein helles Licht und Leben,der Friede und der Ruheplatz der Seele. Die Gaben und Hielpunkte des Buches sind un. a.“ Der Glaube und sein Recht; Die Bibel; Das Gewissen; Bildung;Ldurus; Fortschritt; Kampf ums Dasein; Ist mit dem Tode alles aus; Christus;Blick übers Grab; Anfang und Ende der Wenschheit u. f. w. Das Leben Jesu nach den vier Evangelien für die christliche Gemeinde dargestellt. 2. Aufl. Geh. A4. Geb. Ab.

Verf, war bemüht, das wunderbare Licht des Lebens Jesu selber leuchten zu lassen, damit es seinen eigenen Beweis in dem Wahrheitsgefühl und in der tiefsten Empfindung des Lesers führe.

Unser Glaube. Der Gemeinde dargelegt. Geh. M8.Geb. M.A. .

Das Buch giebt auf eine Menge von Fragen über das Ganze und das Einzelne des christlichen Glaubens die Antwort nach den kraftvollen Wahrheiten der Schrift und der Kirche in einfacher Klarheit und ebensvoller Faßlichkeit. die Festzeit Jes Kirchenjahres. EvangelienPredigten vpon Advent bis Pfingsten. Geh. 8.Geb. ,(Unter der Presse.)

Reichtum an kliaren und tiefen Lebensgedanken bei lurzer Fassung sind wesentliche Eigenschaften dieser Festpredigten.