The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1895 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1895 edition.
Stuttgart, 1895.Druck und Verlag von J. F. Steinkopf.
Dann trat er hinaus in die Küche und fand sein Töchterlein am Feuer kauern eingeschlafen über dem Köpfchen des Jüngsten. „Geh hinauf ins Heu und schlaf, Kätheli,die Mutter schickt dir noch einen letzten Gruß.“ Das Kind gehorchte und trug sein Bündelchen mit hinauf in den Gaden, wo schon fünf Brüderchen mit rosigen Backen neben einander im duftenden Heu lagen. Sorglich bettete es den Kleinen in seinen Korb, wie es schon oft gethan in Mutters Krankheit, und legte sich mit in die Reihe der Schläfer.Unten verglomm das Feuer und nur die Sterne wachten über der schlummernden Alp.
Der fröhliche Morgen weckte all die Schläfer zu neuem Leben. Die Kuhglocken tönten von
der Weide herüber,der Tau glänzte in den Blüten der schwanken Anemone,die Sonne glitzerte
über die Bergwand herüber; wie verklärt lag das Älpli da. Sieben kleine Wesen krabbelten
aus dem Heu heraus und stiegen hernieder ans Tageslicht.Ach, da fing schon der neue Beruf
des kleinen Mütterchens an. Das Kleinste schrie in seinem Korbe, so laut es seine Lunge
erlaubte. Vergebens legte es dasselbe in einen hölzernen Wagen vor der Thüre und sagte zum
Toni:
Auf dem Äülpli.kannst ihn doch nicht so weit.“ Geduldig setzte sich Kätheli wieder hin;
aber schon erscholl Geheul auf der andern Seite der Hütte und mit blutender Nase schleppte
der Köbi den Seppel daher, ihn anklagend, er hätte ihn über eine Baumwurzel gestoßen und
sei schuld, daß er blute.Während Kätheli die arme Nafe wusch am Brunnentrog und mit ihrem
Taschentüchlein trocknete, und der Seppel heulte wegen der strafenden Ohrfeige, die aus
dem Dunkel der Hütte ihn ereilt hatte, fing das Kleine zu weinen an,so daß dem guten
Mütterchen Hören und Sehen verging.„Es geht nicht so mit all den Kleinen,“ seufzte der
Vater,als er über die Alp schritt, den verunglückten Rudi zu suchen. Zum Glück hatte er
nur den Fuß verstaucht und konnte nicht mehr darauf stehen. Dem Vater aber war's ein
Leichtes, den Krauskopf auf den Rücken zu laden, ihn daheim aufs Heu zu betten. „So, da
kaunst still liegen und warten, bis du wieder laufen kannst, das ist die beste Mahnung zur
Sorgfalt.“ Aber des Vaters Seele war beschwert; ein Gedanke ging in ihm auf und ab. Am
Abend, als die Buben im Heu lagen, sagte er: „Hast du ein Papier, Kätheli?“ „Ja, denk halt
in einem Heft.“„So, das ist recht, es hat Linien.“ Das Kätheli holte ein blaues Schulheft
hervor, riß eine weiß gebliebene Seite heraus und legte es dem Vater hin. „So und noch
Tinte.“ Ein ganz bestaubtes, schwarzes Gläschen kam zum Vorschein. Kaum tauchte noch die
unterste Spitze in den schwarzen Saft. „Was willst du, Vater?“ „Einen
Am frühen Morgen wurde der Köbi geweckt und mit der scharfen Weisung zu laufen, was er
könne, ohne anzuhalten, bis er den Brief in die Hand der „Base“ gelegt hätte. Als der
Vater den Buben mit großen Sätzen davon springen sah, atmete er erleichtert auf: „Ich bin
gewiß,sie kommt. Sie war immer so gut mit mir und thut mir alles zu Liebe.“ Das Kätheli
war den ganzen Tag sehr eifrig. Es machte die Stube rein mit einem Reisbesen. Gar komisch
sah es aus, wie die kleine Gestalt den Besen benutzte und hin und her schob mit großem
Eifer. Die Buben hatte es ausgeschickt, Blumen zu suchen,damit ein Glas voll
Frühlingsblumen die ankommende Base erfreue. Aber es war sehr zweifelhaft, ob sie heute
schon anlangen würde. Fünf Stunden hatte der Köbi D dann würde sie vielleicht auch nicht
gerade auf und davon gehen können.
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Auf dem Alpli.Wohl hundertmal lief es hinaus vor die Thüre und spähte thalab, ob niemand sich zeige. Um so zärtlicher drückte es das Kleine an sich und erzählte ihm kosend:„Ich hab' wollen dein Mütterlein sein ganz allein; aber jetzt kommt ein besseres für dich!“ Und Kätheli fühlte etwas wie Erleichterung in seinem kleinen Herzen. Der Vater sah auch zum erstenmal etwas fröhlicher aus und trug ganz geduldig den Rudi an die Sonne, damit sein krankes Bein sich durchwärme.
Aber nochmals sank die Sonne, nochmals brachte das kleine Mütterchen die wilden Buben zur
Ruh im Heu, in dem sie sich balgten um Köbis Lagerplatz, nochmals stieg das Tagesgestirn
bis zur Mittagshöhe, ehe die Ersehnte in der Ferne sich zeigte. „Vater, jetzt kommen sie,“
rief Kätheli hinein in den Milchgaden, damit eilte sie auch mit fliegenden Füßen den
Kommenden entgegen. Langsamer folgte ihm der Vater. Das gab ein Händeschütteln und ein
Grüßen. „Gott lohn dir's, daß du kommst, AnneMarie,“ sagte der Vater. „Aber was hast du da
im Korb?“ „WMein Büblein ist's, es ist erst drei Wochen alt, da konnt ich's doch nicht
daheim lassen. Die andern zwei sind größer und gehen in die Schule, die können mich leicht
entbehren, aber das da nicht.“ Mit diesen Worten stellte die Frau ihren Korb ab und holte
ein kleines zappelndes Büblein aus den Hüllen, die es sorglich und warm umschlossen
hatten. „Just wie das unsere,“ jubelte Kätheli. „Komm, Bübli, mach Platz.“ Damit rückte es
„So, sagt auch: Gott grüß dich, zur Base,“ mahnte der Vater. „Nein, aber Hans, hast du
einen Segen,“sechs Buben neben einander wie Orgelpfeifen, und dann das Kätheli noch
obendrein. Ja, da glaub ich's, daß du's nicht allein machen konntest!“ Wie atmete der
Vater auf,als er die kräftige Schwester am Herd walten sah, um für alle den Kaffee zu
machen. Er holte die schönste Butter aus dem Milchgaden und legte sie auf ein frisches
grünes Blatt, ein goldenes Stück Käse zierte den Tisch und dann ging's tapfer ans Essen.
Es schien der AnneMarie unglaublich, was die Buben zu versorgen im stande waren, und sie
sagte ein übers anderemal: „Nein, aber auch Hans, so viel Buben.“ Das Kätheli schlüpfte
aber
Auf dem Älpli.so oft es ging zum Plätzchen, wo die Büblein lagen in süßem Schlummer, ein
Köpfchen neben dem andern.Hatte die Base sich schon verwundert über den reichen Bubensegen
und eingesehen, daß der Bruder nicht allein haushalten konnte, so sollte sie's erst recht
erfahren. Früh gegen Morgen wurde sie an einem Lärmen und Stampfen im Stall hinten
geweckt. Als sie ihres Bruders und Köbis Stimme hörte, stand sie schnell auf und trat in
die Küche. Da kam ihr der Vater schon entgegen und sagte:„Wie gut, daß du da bist, ich
wollte dich eben wecken und bitten, einen Trank zu kochen fürs Mei; ich bin eben um ein
Kalb reicher geworden. Und drüben im Schweinestall ist's auch nicht richtig, s kommt alles
auf einmal heute!“ Das gab denn einen gar bewegten Morgen auf dem AÄlpli. Die Buben hatten
nur zu springen, bis sie das neue Kälbchen gesehen und bewundert hatten, und kaum war das
Wunder angestaunt, kam der Vater mit der Botschaft: „Zwölf Ferkel sind erschienen im
Schweinestall, schnell, Köbi, gieb Art und Hammer, daß ich einen Verschlag für sie mache.“
Und ehe er abgegangen war zur Arbeit, schrie der Rudi von der anderen Seite: „Vater,es ist
ja ein schwarzes Zicklein im Stall und das Blümli meckert.“ Da rannten die Buben hin und
her vor Aufregung, und die Base rettete sich eilends in die Küche, um nicht umgestoßen zu
werden von dem aufgejagten Bienenschwarm. „Jetzt fehlt nur noch die Gluckhenne,“ sagte der
Vater lachend, „dann wär' alles Erwartete da. Geh,
Zehn Lichtlein.Die Leute sagten, es sei Sommer, und der Kalender gab ihnen recht; aber die Sonne schien das ganz vergessen zu haben; sie versteckte sich täglich hinter dichtem grauem Nebel, als hätte sie sich verguckt beim Lesen des Tagesdatums und glaubte sich im November, der Nebel und Nässe erlaubht.
Wie kalt sauste der Wind herunter von den Bergen ins tiefe Thal, und der Bergbach, der rauschend und tosend den Weg suchte ins weite offene Land, sang sein eintönig schwermütig Lied. Aus dem Kampf mit Schlucht und Gestein kam er herunter, und wie er sich ausruhen möchte im Sonnenschein des ruhigen Thalgrunds, da fehlte sie.Fehlender Sonnenschein aber macht traurige Herzen.
Auf der Brücke über den Bergbach flutet ein anderer Strom; der Menschenstrom. Er ist
gekommen von Ost und West, gekommen mit mancherlei Gebrechen, um beim Bachesrauschen und
im Hauch des Bergwinds gesund zu werden. Tausenderlei von großen und kleinen Interessen
hat er mitgebracht aus dem Gewühl der Städte mit ihrer Geselligkeit und hat sie verpflanzt
in diese Bergwelt, die sonst so still, so hehr dasteht. Da blicken sie hernieder die
grauen ernsten Wände von Fels getürmt, Jahrtausende sahen sie kommen und gehen, und nun
wuseln und wimmeln zu ihren Füßen die kleinen winzigen Menschenkindlein, als
Zwei dunkle Augen mit dem schimmernden Glanz, den nur der Süden wach ruft, verfolgen die wandelnden, plaudernden Menschen. Sie gehören der kleinen Albina, die alle Jahre wiederkehrt aus dem sonnigen Land wie ein Zugvögelein. Der Vater breitet dann hinter hohen Glasfenstern, auf samtner Unterlage, auf kleinen Tischen vor und im Pavillon seine Schätze aus, die geschickte feine Finger dort unten geformt und gefügt. Da lächelt das Engelsköpfchen, kunstvoll in grauen Lavastein geschnitten,dort blickt ernst die klassisch gedachte Kamee, daneben lockt der wiegende Jasmin und das rosige Röschen aus winzig zierlichen Steinchen in dunkeln Grund gefügt, wie es das alte Byzanz erfunden und das jetzige Florenz fortführt.Die Fremden pflegen da stille zu stehen und laut und leise zu bewundern. Sie kaufen die kleinen und großen Schmuckgegenstände ein und bringen sie heim als Erinnerungsstück.
Heut ist der Vater schnell weggerufen worden; Albina hütet die Schätze. Wenn nur jemand
kanfen wollte. Es ist so kalt und trüb. Die Kleine fröstelt. Sie trägt ein seidenes
Tüchlein um den Kopf; das giebt dem gelblichen Gesichtchen mit den dunkeln Augen etwas
Altes, Mütterliches; aber es vertreibt das Zahnweh, das diese Nacht sie am Schlafen
gehindert hat. Sie bindet es noch fester um den Kopf. Sie ist so allein in der trüben
Luft. Ach
Zehn Lichtlein.dort unten ist's so sonnig und farbig, so grau und häßlich ist's nie, auch nicht im Winter, und dann hat sie dort Gespielen, die ihre Sprache sprechen, die melodisch und klangvoll reden wie sie, nicht so hart und scharf wie die Kinder hier, die sie nur teilweise verstehen kann.
Schwermütig blicken die Augen dem Menschenstrom nach. Niemanden kennt sie; keiner grüßt sie; sie ist so allein. Will niemand kommen und kaufen?
Da nahen auf der Brücke zwei Mädchengestalten in hellem Kleide; leicht und zierlich ist
der Schritt und eifrig wiegen sie die Köpfe gegeneinander in fließendem Gespräch.Es sind
augenscheinlich zwei Schwestern, obwohl sie nach außen zwei Kontraste sind, die eine
schwarz, die andere hellblond. Plötzlich springt Albina auf von ihrem Hüteplatz; wie ein
Pfeil schießt sie durch die wandelnde Menge den Gestalten entgegen. „O Fräulein Klara und
Fräulein Lili, endlich kommt jemand, den ich kennel“ Und Albina streckt ihr Mündchen
entgegen dem liebevollen Kuß,der ihr immer zu teil wird, wenn sie den Schwestern begegnet.
Zärtlich streicheln sie das dunkle Haar, erkundigen sich teilnehmend nach der Ursache des
Zahnwehtüchleins,und als die Kleine klagt, sie sei so allein, da sagt Klara tröstend:
„übermorgen, Albina, übermorgen, weißt du was dann ist?“ „Mein Geburtstag,“ jubelte die
Kleine,„dann darf ich kommen?“ „Gewiß,“ lächelten die Schwestern. Ja, der Geburtstag stand
längst wie ein leuchtender Stern über Albinas Leben. Dann durfte sie in die
Schon mehrere Jahre dauerte die warme Freundschaft zwischen den beiden Schwestern und der kleinen Italienerin.Auch sie führte der Sommer an den rauschenden Bergbach, und da war ihnen das dunkle sehnsuchtsvolle Augenpaar aufgefallen. Sie hatten sich der Kleinen genähert,die mit niemandem sprechen konnte, und hatten schnell ihre Liebe gewonnen. Wenn der Vater sich im Frühjahr anschickt nach dem Norden zu reisen zum Arbeitsverdienst im Sommer, dann würde Albina noch heißere Thränen weinen,wenn die beiden Schwestern nicht wären! Aber der graue Norden barg dies Wiedersehen.
Klara und Lili hatten die Kleine herzlich lieb. Der Gedanke an deren Geburtstag hatte sie seit Tagen beschäftigt. Sie hatte ihnen anvertraut, daß ihre Herzenspuppe verunglückt sei, und daß der rote schöne Ball in das Bergwasser gefallen und davon geschwommen sei. über diese Verluste sollte Albina getröstet werden. Mit zierlichen Stichen ward eine kleine reiche Toilette genäht für ein holdes rosiges Wesen mit langem blondem Haar. Ein cromefarbenes, ein blaues, ein grünseidenes Kleidchen, dazu ein weißes gezogenes und ein schwarzsamtenes Hütchen,ein blaues Käppchen lagen niedlich bereit; auch verschiedene Mäntelchen und Schürzchen fehlten nicht und das alles lag hübsch geordnet in einer Schachtel, die zugleich das Schlaf
Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 2
Das „Übermorgen“ kam. Albina kam schon am Morgen durch den Garten gesprungen; sie hatte es nicht erwarten können, die beiden Fräulein zu sehen, und als Lili ihrer ansichtig wurde, eilte sie ihr entgegen, um Kuß und Glückwunsch zu tauschen. Das Zahnwehtüchlein war verschwunden; die Geburtstagsfreude hatte es weggeblasen,und hell leuchteten heute die dunkeln Augen. Doch wurde Albina auf den Nachmittag vertröstet; die Festfeier war noch nicht ganz vorbereitet. Nach dem Essen aber beluden sich die beiden Schwestern mit den ausgedachten Schätzen und wanderten damit dem Waldhüttchen zu. Das war ein trauliches hölzernes Häuschen im Grün versteckt. Ein hölzerner Tisch stand in der Mitte. Rund herum zog sich die Sitzbank, von der Decke herab hing die Blumenlampe,aus der ein üppig schönes Frauenhaar in langen Fasern niederfloß, und an den Wänden hingen farbige Bilder,die die Mädchen selbst gemalt hatten, in künstlerischer Wonne.
Über den Tisch nun breitete Klara eine blendend weiße Serviette und darauf kam in die
Mitte ein reizendes Sträußchen von gelb und rosa zusammenkomponiert, wie Lili
Die Schwestern gingen ihr entgegen zum hohen Gitterthor, das die kleinen Hände kaum zu öffnen vermochten;dann wandelte Lili langsam plaudernd mit ihr durch die Laubgäuge, während Klara davonhuschte und rasch die Lichtlein zu entzünden versuchte. Das war aber eine schwierigere Aufgabe, als sie gedacht. Immer wieder wehte die Nachmittagsbrise die zarten Flämmchen aus, so daß sich Klara schließlich so breit als möglich machte, ihre Röcke ausspannte und als Windschirm davor stand, während Lili die Kleine neben ihr ins Hüttchen hineinschob. Glückselig lachte sie die brennenden Kerzchen an, die im hellen Tageslicht nur sehr wenig Helligkeit verbreiteten, doch eben genug, um dem kleinen liebebedürftigen Herzen recht warm zu geben. Wie ein Blümlein im Sonnenschein die Blätter weit weit ausspannt, damit er hineinstrahle ins kleinste Zellchen, so öffnete Albina ihr kleines Herz der Freude und der Liebe. Und wie es wahr ist, was das Dichterwort sagt:Du magst kein Blümlein je verschenken,Eh' es dich selber schon erfreut,
Drum Liebes thun und Gutes denken,Hat in sich holde Süßigkeit! v.
Im Waldhüttchen feierte man das schönste Fest, und glücklicher war niemand als die drei, die um das dampfende Kaffeetäßchen saßen und wie Kinder schmausten. Im grauen kalten Norden war der Kleinen ein Sonnentag geworden,dessen Glanz nicht erbleichen wird in der Farbenpracht der Riviera. Unsre besten Freudenstunden kommen nicht in den herrlichen Naturwundern bei Berg und Meer; sie kommen meist ganz in der Stille, da, wo Menschenliebe uns begegnet in linder zarter Form, die unser Erdenwallen tröstlich verklärt und uns erinnert an ein Vaterhaus,wo die Liebe rein und klar und vollkommen, wo sie daheim ist.
Der Hofbub.Die Winterschule im Günzerloch hatte wieder angefangen.Noch hatten sich die
Buben und Mädchen nicht recht erholt aus ihrem verwilderten Sommerzustand und standen
rottenweise lärmend und schreiend auf dem Turnplatz beim Schulhause. Für den Lehrer und
die Lehrerin war's jedesmal ein ganz neuer Anfang, nicht nur hatten die
Dort am Barren standen die größten Bengel beisammen, steckten die Köpfe gegeneinander und
berieten Wichtiges. Wahrscheinlich suchten die findigen Köpfe etwas heraus, das dem
heutigen Schultage Würze verleihen könnte ihnen zur Unterhaltung und dem Lehrer zum
Ärger.„Heda, Sami,“ rief der Größte plötzlich einem daherkommenden großen Jungen zu, „komm
hieher und hör etwas.“ Der Angerufene kam langsam näher und schoß mißtrauische lauernde
Blicke unter seiner ungekämmten ströhnernen Mähne hervor auf die Buben, so als überlegte
er vor sich hin: Ist's Friede oder ist's Streit?„Komm nur schnell, sonst läutet's,“
ermunterte ihn Jörg.Sami starrte die Buben nun an und wartete auf ihre Rede. „He du, bist
so groß und mußt immer noch bei der Lehrerin hocken? Der wirst auch etwa nicht folgen,wie
ein sechsjähriges Büblein, he?“ Dazu stieß ihn der Jörg in die Seite. „Werd auch nicht
folgen,“ sagte der Sami, dessen wunder Punkt getroffen worden war bei der Erinnerung, daß
er hinter seinen Altersgenossen zurückgeblieben war, und dem es gestern ungemütlich
gewesen war in der Reihe der kleinen Abeschützen unter dem Scepter der Lehrerin. „Ja, da
draußen thust jetzt, als hättest Mut,“ höhnte der Jörg weiter, „aber drinnen in der Stube
bist doch wie ein Lamm und thust nichts.“
Armer Kerl! So ungern sie ihn eingereiht hatte in ihre Schar von Kleinen, so hatte sie doch ein tiefes Mitleid für ihn empfunden. Er war ein Waisenkind, das der Gemeinde zur Last war und das durch das Los von einem Hof zum andern gewürfelt worden war. Er hatte es besonders schlecht getroffen, und durch sein trotziges Wesen und seine verschlossene Art nirgends ein liebewarmes Plätzlein sich erworben. Jetzt war er Hofbub beim Bauer Dürr in der Strecke, und daß er dort nicht auf Rosen gebettet lag, wußte jeder. Eigentlich hatte ihr Herz warm dem großen, verstoßenen Jungen entgegengeschlagen; aber das eben gehörte Gespräch hatte sie stutzig gemacht. Würde er die Aufreizung zur Unbotmäßigkeit wieder vergessen?
Die kurzen Minuten zwischen dem Läuten und dem Beginn des Unterrichts waren erfüllt von
einem Chaos von Tönen. Die Kleinen rückten klappernd die Tafeln zurecht; die andern
streckten die Griffel in die Höhe zum Zeichen, daß sie schön gespitzt seien, die dritten
lasen halblaut in der Fibel. Sami benutzte den Augenblick. Er suchte Streit. Kräftig riß
er an der Tafel seines Nachbars, um ihn zu hindern, dieselbe auf seinen Platz zu bringen.
Der Sami riß hin, der Fritz her. Die Lehrerin schaute schweigend zu. Plötzlich hörte sie
entsetzliche, gotteslästerliche Worte das Gewirr von Lauten übertönen. Sie
Der Hofbub.fuhr zusammen. Nichts traf sie mehr als solche häßliche Worte im Munde eines
Kindes. Schnell gab sie mit dem Lineal das Zeichen des Schweigens auf dem Pultrand.Im Nu
war alles still und alle Augen blickten gespannt auf sie. Dann schritt sie rasch gegen den
Platz des Sami und sagte: „Solche Worte, wie ich sie eben hörte, will ich nie wieder in
meiner Stube hören. Wenn sie je wieder kommen, werde ich dich strafen, Sami!“ „Ich werde
Euch aber nicht folgen,“ sagte Sami und blickte die Lehrerin mit trotzigem und rohem
Ausdruck an. „Doch, das wirst du,“ sagte sie bestimmt, „du wirst es müssen.“ Kaum aber
hatte sie den Rücken gedreht, so tönte hinter ihr her ein Schall von Worten, die nur dem
Munde eines geübten Fluchers entströmen. Die Lehrerin zuckte. Die Kinder stießen einen
einstimmigen Laut des Entsetzens aus. Einen Augenblick stutzte die Lehrerin. Was sollte
sie thun?Sollte sie jetzt ihr Strafamt üben? Nein, Sami war in aufgereizter Stimmung, er
würde ihr Trotz bieten bis zum Außersten, er war im Grund stärker als sie. Vor den andern
Kindern durfte sie keinen Zweikampf wagen; aber Strafe mußte sein, sonst hatte sie die
Autorität verloren und kam den ganzen Winter von einer Scene in die andere. Sami mußte
ihre Überlegenheit fühlen, aber wie? Langsam,ohne ein Wort der Erwiderung in innerm
wogendem Kampf schritt sie zum Pult. Dort drehte sie sich um und sagte:„Wir haben alle den
Namen Gottes mißbrauchen hören,heute rufen wir ihn nicht an wie gewohnt als Beistand Der
Hofbub.
In lautloser Stille saßen die Kinder und ohne Störung in ungehemmtem Arbeitseifer verflossen die zwei ersten Schulstunden. Sami saß ganz still und malte mit ungelenken Fingern seine Buchstaben auf die Tafel; die Lehrerin beachtete ihn geflissentlich nicht. Als es zehn Uhr war, ließ sie die ganze Schar hinaus auf den freien Platz zum Spiel. Nur Sami behielt sie zurück. Wie schwer war's ihr ums Herz! Nur wer es selbst erfahren, ahnt wie es in ihr kämpfte. Mußte sie körperlich strafen? Ja,ich muß, sagte es in ihr, er ist zu roh, zu ungewohnt an eine andere Behandlung. Nur der physischen Kraft wird er sich unterwerfen. „Du weißt, Sami, ich muß dich strafen; ich thue es ungern; aber du weißt, warum ich es thun muß,“ sprach sie laut zu ihm. Dann nahm sie ein festes Seil aus ihrem Pult, um den Knaben fest zu binden, denn nur so hatte sie die Obmacht über ihn. Erst dann vollzog sie ihr Strafamt.
Sami hatte in seinem Leben schon viele Prügel erhalten. Prügel am Morgen und Prügel am
Abend, das war sein täglich Brot. Dennoch sah es diesmal in seinem Gesicht anders aus als
sonst. Der trotzige Ausdruck war im Kampf mit einem weichen und die starren Augen blickten
schier wehmütig auf die Lehrerin. Dann schaute er sie voll an und sagte leise: „Lehrere,
vo jetzt a will ig Ech folge!“
Der Hofbub.Wortlos wandte sie sich ab und war froh, daß die andern Kinder bald wieder die Sitze füllten.
Als nach Schulschluß Sami heimlief in raschem Galopp, sah er den Jörg an der Haselecke stehen und erwartungsvoll ihn anrufen. Mit einem raschen Sprung rannte Sami gegen diesen und stieß ihm die Faust so kräftig gegen die Brust, daß er taumelnd über den Wiesenrand kollerte. „Wart, ich tränk dir's ein,“ knirschte er; aber Sami hörte es nicht, kümmerte ihn auch nicht. Lesen konnte er nur wie ein Unterschüler; aber eine Faust hatte er wie ein Oberschüler.
Von dem Tag an behielt die Lehrerin den Sami im Auge. Sie las auf seinem Gesicht wie in einem Buche und wußte, ob er mit fröhlichem Gemüte zur Schule kam oder ob er schon am frühen Morgen Böses erlebt hatte.Er war so fleißig als möglich. Freilich waren seine schwieligen Hände sehr ungeschickt beim Griffelhalten. Die Lesekunst ging nur langsam voran; aber was konnte sie von ihm verlangen? Jeden Augenblick neben der Schule war ausgefüllt mit harter, schwerer Arbeit, und wenn es Nacht war, ward er im Dunkeln in die Kammer geschickt,wo die Knechte schon schnarchten. Wie sollte da die Wissenschaft grünen? Er war nicht dumm, nur vollständig ungepflegt und unentwickelt.
Aber seit jenem ersten Zusammenstoß folgte er der Lehrerin wie ein Lamm. Der Wink ihrer
Augen war ihr Befehl, und als die Dezembertage kälter und kälter wur
Der Hofbub.erst dämmerte, mußte er wieder in den Stall und konnte nur mit genauer Not frei werden, um schnell in den Unterricht zum Pfarrer zu laufen, der dem Schulmorgen voranging.„Ich will dir helfen,“ sagte die Lehrerin, „konfirmiert sollst du werden. Weißt du was, du bleibst jeden Abend nach dem Schulschluß bei mir und dann lernen wir zusammen. Was meinst du?“ „Ja, ich wollte schon,“ sagte Sami etwas hoffnungsvoller, „aber der Meister?“ „Sag dem nur, er solle die Lehrerin fragen, sie wolle es so haben!“ sagte sie tröstend. Sami trollte davon. In seinem Gesicht leuchtete die Hoffnung, daß die Drohung des Pfarrers nicht in Erfüllung gehen sollte. Er hatte viel Püffe und Demütigung erlebt; aber nicht eingesegnet werden können, das wäre doch das Argste gewesen, was ihm sein dornenvolles junges Leben schon geboten hatte.
Jeden Abend nun, wenn die große Schulstube sich entleert hatte, saß dort neben dem Pult
beim Schein einer kleinen Petroleumlampe die Lehrerin neben dem Sami.Sie studierten
gemeinsam den Katechismus. Sie ließ ihn die Sprüche lesen, erklärte sie ihm in einfacher,
faßlicher Weise und wartete geduldig, bis er sie seinem denkungewohnten Kopf eingeprägt
hatte. Es war so traulich in der dumpfigen Schulstube; aber ste waren nicht allein darin.
Es war noch Einer mit ihnen darin, Er, der gesagt hatte: „Siehe, ich stehe vor der Thür
und klopfe an.“Er erfüllte dort an seinem Wort die Verheißung: Es soll
So ging es etwa drei Wochen. Da war es Samstag Nachmittag. Die Lehrerin saß in ihrem
kleinen, sauberen Stüblein und flickte ein Kleidungsstück im Licht der Wintersonne, die
durch das einzige Fenster fiel und nicht nur sie,sondern auch die gelblichen Geranien auf
der Fenstersimse streifte. Da hörte sie plötzlich einen schweren Schritt auf der hölzernen
Treppe. Der Schritt stampfte über den dämmrigen Vorraum und direkt auf die Thüre zu. Dann
folgte ein gewaltsames Pochen, das eher einem Hämmern glich und herein stolperte eine
dicke, schwere Bauernfigur in hohen Stiefeln. Breitspurig grüßte er die Lehrerin und
stellte sich vor sie hin mit der Frage: „Ich wollte nur wissen, warum die Lehrerin meinen
Hofbub immer am längsten von allen in der Schule behält, als hätt' ich ihn weniger nötig
als ein anderer. Am Anfang hat er mir gesagt, er habe nachsitzen müssen in der Schule,
dann habe ich ihn durchgeprügelt, damit er nicht mehr nachsitzen müsse,aber 's hat allemal
nichts genützt; jeden Abend kommt er zu spät heim.“ Die Lehrerin war gleich beim Eintritt
F
Der Hofbub.des Bauern aufgestanden und stellte sich nun in ihrer ganzen Würde stramm vor denselben hin: „Daß Sie den Sami durchprügeln für etwas, an dem er unschuldig ist,thut mir leid für ihn. Ich habe ihn bei mir behalten nach der Schule, um die Sprüche für die Unterweisung mit ihm zu lernen. Er findet am Abend keine Zeit dazu und der Herr Pfarrer hat gedroht, ihn nicht konfirmieren zu wollen.“ „Das ist mir alles ganz gleich,“ gab der Bauer zurück, „mögen Sie mit ihm gethan haben was Sie wollen; ich will, daß mein Bub um vier Uhr heimkommt, wie die andern; ich füttere ihn nicht ohne Gegenleistung. Er ist für die Arbeit bei mir!“ „So,“ brauste nun die Lehrerin auf und ihre braunen Augen blitzten den stolzen Bauern ordentlich an, „so, Sie wollen dem Buben keine Zeit geben zum Lernen daheim und keine Zeit bei mir. Gut, so werde ich aber den Leuten sagen, warum der Sami nicht eingesegnet werden kann. Ich werde sagen:Der Bauer Dürr ist schuld.“
Verlegen blinzelte der Mann die Lehrerin an, die so kühn und zornglühend vor ihm stand,
als nähm sie's gleich mit ihm auf im Faustkampf. Daß sie's den Leuten sagen würde scharf
und deutlich, das glaubte er ihr aufs Wort,und ach, was die Leute sagten, das war ihm
nicht gleichgültig. Hundertmal hatte er um der Lente willen schon gelassen, was er hätte
thun sollen, und gethan, was besser unterblieben wäre. Die Leute, die waren ihm sehr
fatal.Eine Weile schwieg er, dann sagte er knurrend: „Nun ja,
Die Lehrerin atmete erleichtert auf, und der Bauer trappte langsam die Treppe hinunter. „Oha, sie hat mich bekommen,“ seufzte er, „aber 's ist ja bald Frühling.“
Der Sami saß alle Abend vor seinen Sprüchen, und die Gewohnheit des Lernens half ihm nach und nach schneller fassen, so daß er immer in einer halben Stunde seine Sache konnte und fröhlich dabei ward. Als Ostern kam,war er einer der besten Schüler beim Pfarrer.
Die Kirche der großen Gemeinde war dicht gedrängt voll Leute, als am Karfreitag die Kinderschar eingesegnet werden sollte. Die Lehrerin saß ganz hinten und wartete gespannt auf das Eintreten der Kinderschar. Hinten am Zuge kamen die Knaben aus dem Günzerloch, der Jörg und der Frieder gingen stolz und hölzern im Zuge und wußten nicht recht, wozu sie gesetzt dreinschauen sollten.Zu allerletzt kam der Sami in einem abgetragenen Gewand von gelbem Halblein; aber sein Gesicht trug einen Ausdruck, der die Lehrerin freute ins tiefste Herz hinein.Sie wußte, daß ihr Zögling verstand, um was es sich heute handelte. Ob wohl für den Jörg und den Frieder auch so warm gebetet wurde im Kirchlein? Möglich! Es saß manch stolze Bauernfrau in den gefüllten Bänken.Für den Sami, den armen Hofbub aber stieg es empor heiß und inbrünstig zum Vater, der ins Verborgene sieht.
* *
„Ja, ja, ich weiß alles noch so gut, als ob's erst gestern gewesen wäre. Es waren nette Abende, nicht wahr?“ gab sie zur Antwort. Dann aber blickte sie rasch und fest in seine Augen und sagte: „Und hast du auch das Beste davon nicht vergessen? Denkst du noch zuweilen an unsre schönen Sprüche, die wir zusammen gelernt?“Da schaute Sami treuherzig drein, wie damals auf der Schulbank und sagte langsam: „Nein, vergessen hab' ich sie nicht und kann ich sie nicht; sie sind der Leitstern geworden meines Lebens, und ich hoffe, will's Gott, es soll so bleiben in Ewigkeit. Meine Buben lehre ich alles, was ich weiß!“
Das Bernerwägelein fuhr weiter, nachdem noch Rede und Gegenrede und viel Händeschütteln getauscht worden war. Der Sami war glücklich, daß er endlich einmal hatte aussprechen können an richtiger Stelle, was er längst gefühlt hatte. Die Lehrerin aber wanderte noch einige
Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 8
Ein starber Arm und ein starkes Herz.„Potz tausend, wie die Veronika ausgreift! die muß
etwas besonderes haben. Das Möädchen versteht doch die Naue zu führen wie ein Mann,“ so
sagten die Schiffleute bei Hergiswil zusammen. Sie stunden an der Lände und warteten auf
das von Luzern kommende Dampfschiff,das ihnen Arbeit und Verdienst bringen sollte. So
hatten sie Zeit, dem daherkommenden Schiffchen zuzusehen, das mit kräftigem Stoß die
Wellen schnitt, also daß die schaumigen Kämme sich demütig und beschämt duckten unterm
schneidigen Kiel. „Ein Blitzmädel, die Vrony,“ lautete es wieder von Mund zu Mund, „schaut
nur, jeder Schlag des Ruders treibt die Naue ein Gewaltsstück voran. Die hat Mark in den
Armen.“ Immer mehr Augen ruhten mit Bewunderung auf dem hohen, schlank gewachsenen,aber
kräftig gebauten Mädchen, das hoch aufgerichtet in der Naue stand und die beiden
gekreuzten Ruder führte.Ihr dunkles Auge ruhte mit Späherblick auf der Einfahrtsstelle.
Sie achtete nicht der Welle, die brausend da
„Was ist, Veronika, hat's was gegeben, daß du zu so ungewohnter Stunde kommst. Wo ist der Vater?“ so fragten die Schiffer aus einem Munde. „Verunglückt,muß den Doktor holen,“ gab das Mädchen kurz zur Antwort, und ohne auf die neugierigen und teilnehmenden Fragen zu achten, drängte sie eilfertig durch die Menge und verschwand in der Dorfgasse.
Weit und breit kannte man die Veronika am ganzen Ufer des Sees. Drüben am Fuß des Bürgenstocks wohnte sie mit Vater und Mutter im weithin sichtbaren weißgetünchten Häuschen mit dem braunen Schiffgaden davor.Der Vater war Fischer und Fährmann zugleich. Manchen Fremden aus dem deutschen Reich oder von der großen Insel, der vom Bürgenstock niederstieg, ruderte er mit sicherer Hand über den blauen, unergründlich tiefen Bergsee, in dem der Pilatus sein stolzes Haupt beschaut. Die Naue war dem Fährmann so vertraut, wie sein Stubenboden. In Wind und Wetter, in Sonnenschein und Sommerglut war er mit ihr draußen auf dem See; auf der
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Ein starker Arm und ein starkes Herz.Ruderbank war er alt geworden. Nie war ihm ein
Unfall zugestoßen; nur heute, sonderbarer Weise eben heute hatte ihn das Ungemach erfaßt.
Eben hatte er vom Schiff aus die Kette fest gemacht am Holzpflock des Strandes,eben wollte
er den Fuß ansetzen zum Hinausspringen, da glitt er aus auf dem glatten Holzboden, fiel
zurück und hatte Schaden genommen, so daß er nicht mehr aufstehen konnte. Beim hohen
Wellengang hatte das Boot Wasser gefaßt und so war das Holz glitschig geworden.Veronika
hatte dem Vater zugeschaut, wie er dahergekommen war und angelegt hatte. Mit Schrecken sah
sie ihn fallen und im Nu war sie zur Thüre hinaus und beim Schiffe, bereit, dem Vater
aufzuhelfen. Aber bald sah sie, daß ihre Arme zu schwach waren. „O, o,“ stöhnte der Vater,
„ich kann nicht stehen auf meinem Bein; hilf mir ins Haus hinein, Vrony, dort wird's
vielleicht wieder besser.“Vrony holte die jammernde Mutter herbei und von beiden gestützt,
schleppte sich der Vater auf einem Bein ins Haus und sank stöhnend auf sein Bett. Was
sollten sie thun!Die beiden Frauen wußten wenig Rat. Vronh erbot sich gleich, den Doktor
herüberzuholen von Hergiswil; aber der Vater, der sein Lebtag nie krank gewesen war,
wollte nichts davon wissen und meinte, es werde schon besser.Als aber im Lauf des
Nachmittags der Knöchel am Fuß hoch aufschwoll und rot und entzündet sich zeigte, als alle
warmen Kamillentheeüberschläge nichts nützen wollten und der Schmerz nur zunahm, da sagte
endlich der Vater: „In
Es war froh, etwas thun zu können für den Vater.Die Stunden, die es seit dem Vormittag an seinem Bett zugebracht hatte, waren ihm lang geworden. Es hatte das Bedürfnis, irgend etwas für den Leidenden zu thun,und nun gab ihm die Fahrt über den See Gelegenheit,sich zu bethätigen. Furcht kannte es keine, obschon die Wellen grünlich und gelblich aufschäumten und grimme Töne aus der Tiefe an den Boden der Naue schlugen.In einer halben Stunde strammen Ruderns kreuzte Vrony den See und erreichte Hergiswil gegen vier Uhr.
Schon warf die Abendsonne, die bleich und trüb durch die Wolkenschicht brach, schräge
Lichtstreifen in den Seearm hinein, als Veronika den Doktor in der Naue hinüberführte zum
harrenden Vater. „Laßt mich nur machen,“hatte sie gesagt, als der Doktor das zweite
Ruderpaar einhängen wollte. „Ich bin mir's gewohnt.“ „Aber du wirst müde,“ wandte er ein.
„Müde, ha, ha,“ lachte Vrony. „Ich rudere manchmal nach Luzern und zurück in einem halben
Tag.“ So querte sie denn wieder den See, der noch höher wogte, nur daß die Schaumkrönchen
jetzt hell aufglänzten im Abendlicht. „Der See ist wild heut,“ sagte der Doktor. „Ja, der
Wind kommt von
Und wäre Vrony müde geworden zum Umsinken, so hätte der Eltern freudvolles Willkommen sie
reichlich entschädigt. Es war wirklich hohe Zeit, daß Hilfe kam.Der Doktor fand das
Einrichten des gebrochenen Fersenbeins weit schwieriger durch die Entzündung, die in den
langen Stunden Platz gegriffen hatte, und der starke Fährmann fand die Behandlung höchst
ungemütlich. Endlich war die notwendige Arbeit gethan. Der Doktor ließ sich gerne ein Glas
Wein geben von Vrony, ehe er sich zur Rückfahrt rüstete. „Nun mußt noch einmal über den
See,Vrony, das ist fast zu viel,“ jammerte die Mutter, „könnt Ihr nicht da bleiben, Herr
Doktor, der See thut auch gar so wild.“ Selbst das Ohr des Kranken hatte das Pfeifen und
Heulen des wachsenden Windes gehört und er sagte ängstlich: „Hab doch acht, Vrony, 's ist
bös heut abend.“Der Doktor erklärte aber, daß er unmöglich so lang fortbleiben könne, er
habe einen Schwerkranken drüben, den er vor Mitternacht noch sehen müsse, es handle sich
um Leben und Tod. Vrony zeigte auch keine Spur von Angst.Ihr war so leicht ums Herz, seit
des Vaters Stöhnen
Die Mutter zündete die Lampe an. Ihr war so bang ums Herz. Schwarz lugte die Nacht zum Fenster hinein.Nichts sah sie. Nur das Aufschäumen der Welle tönte an ihr Ohr. „Bewahr in Gnaden meine Vrony,“ betete sie inbrünstig und setzte sich dann zum Vater, der leise schlummerte.
Der Doktor und Vrony aber suchten ihren Weg durch Sturm und Wogen. Jetzt hatte er sich's nicht wehren lassen; er ruderte emsig mit und Vronh steuerte wegbewußt den Lichtern von Hergiswil zu. Hochauf stieg die Naue auf dem brausenden Kamm und nieder giug's in die Tiefe,daß es klatschte. Und wenn einen Augenblick des Sturmes Wut stärker ward als der steuernde Arm, daß eine tückische Welle das Boot von der Seite faßte, so ward dasselbe geschüttelt und geworfen wie eine Nußschale.
Der Doktor war ein starker Mann, aber ihm graute,und sehnsüchtig blickte er gegen die
Lichter der Heimat.Schweigend arbeiteten die beiden. Des Mädchens Arme streckken sich und
bogen sich, als hätte es nicht schon zweimal den weiten Weg gemacht. Fest stand es da, von
keinem Stoß erschüttert. Schwarz dehnte sich das Wasser,schwarz wölbte sich der Himmel,
kein Stern zeigte sich.Geisterhaft still starrten die hohen Bergwände, an denen die
Lichtlein zerstreut aufblitzten.
Ein starker Arm und ein starkes Herz.Ich glaube, der Doktor dankte Gott, als er Sand unter dem Boote fühlte. Er sagte später: „Die Nacht werde ich nie vergessen.“
„Du bleibst nun aber in Hergiswil bis am Morgen,“bat der Doktor. „Das geht nicht,“ gab Vrony zurück.„Die Mutter würde sich zu Tode ängstigen. Denkt, sie ist allein mit dem Vater.“ Vergebens waren die Vorstellungen des Doktors. Das Mädchen sagte: „'s ist ja nur eine halbe Stunde für mich, und für die Mutter wär's eine ganze Nacht!“
Schon wandte Vrony die Naue. Wieder stand sie aufgerichtet an ihrem Ruderpaar. Das Licht der Hafenlaterne streifte die einfache Gestalt und den blonden Kopf.„Ein tapferes Mädchen,“ seufzte der Doktor und blickte ihm nach, bis Woge und Nacht es verhüllten. Und von den Bergen brauste der Föhn und fuhr heulend über die Seefläche.
2* **
Es ward Morgen. Wieder standen die Schiffer an der Lände von Hergiswil. Das Wetter klärte
sich auf.Nur noch vereinzelte Stöße des gestrigen Föhns rissen das falbe Laub von den
Kastanien und rüttelten an den Hüten der Stehenden. Wieder blickten sie spähend hinaus
über die Seeweite. „Was schwimmt dort? Was ist's?“ fragten sie gespannt. Näher und näher
trieb ein hellgrauer Holzkörper; die Welle brachte ihn kosend und schmeichelnd heran,
näher und näher. „Herr Gott, es ist Vronys Naue,“ riefen die Schiffer, die jedes Fahrzeug
kannten.
Der erste Stchritt.Es war ein reiner klarer Augustabend. Die Sonne stand nahe dem dunkeln
Tannwald, der den Hügel krönte,und schaute abschiednehmend ins stille grüne Wiesenthal.Ihr
Glanz brachte schon jene milde herbstliche Färbung,die so versöhnend aufs Auge wirkt nach
der grellen Lichtfülle des Juli. Verklärend schaute sie aufs große Schirmdach des einsam
stehenden Schulhauses, das die weit verstreuten Kinder der Gemeinde sammelte und auf die
hohen roten und weißen Malven, die säulenartig im kleinen umhegten Gärtchen standen. Im
Schatten des großen Daches auf trockenem Plätzchen saßen zwei Mädchen, das eine auf einem
einfachen Klappstuhl bequem ausgestreckt, das andere auf einem niederen Schemelchen, die
Hände um die Kniee geschlungen und auf dem Schoß ein Buch haltend, das jetzt geschlossen
war. Die blauen Augen, die aus einem dunkelgebräunten Gesicht lebhaft und scharf blickend
hervorsahen, ruhten träumend auf der Sonnenscheibe, die hinter die Tannwipfel tauchte. Wie
wohlthuend war die Ruhe.
Zusammen waren sie auf der Schulbank gesessen; gemeinsam hatten sie gelernt; denselben
Idealen schwärmerisch nachgestrebt und auch miteinander die Leiden des letzten Examens
getragen. Solche Zeit verbindet und webt einen Faden hinüber und herüber um die Seelen,
der nicht leicht zerreißen kann. Als die kleine Lehrerin hörte, daß ihre Freundin ihre
Kräfte erschöpft habe im Dienst an der Jugend, daß ihre Nerven übermüdet und überreizt
seien,da zögerte sie keinen Augenblick, ihr das eigene stille Heim so reizvoll und
verlockend zu schildern, daß die Kranke hoffnungsvoll den stillen Ruheort aufsuchte. Sie
hatte freilich nicht so schnell die Genesung einkehren sehen in das bleiche Gesicht der
Freundin, wie ste gehofft, konnte sie auch den Tag über nicht bewahren vor vielerlei Lärm
und Unruhe; aber die Abende lebte sie ihr, so gut sie konnte. Ein Lehrerinnenherz muß ja
besonders lernen:fühlen und empfinden, was in einem andern Herzen vorgeht; sie muß die
unleserliche Runenschrift der Augen und Gesichtszüge der Kinder entziffern und
blitzschnell lesen lernen und auf diese Weise dem keimenden Bösen vorbeugen und das leise
sich regende Gute hervorlocken.Gerade dieses Seelenlesen wird für sie zur inneren Arbeit
und diese ist es, die auch die Kraft des Körpers nach und nach untergräbt. Sie kann mit
Recht sagen:
Der erste Schritt.„Wohl dem, der mit dem Auge weint;Ich weine mit dem Herzen.“sieht sie doch oft einen Kampf voraus für die Kindesseele und Kindesnatur, von dem diese keine Ahnung hat und mehr noch, sie sieht auch schon mit ziemlicher Sicherheit den Sieg oder Untergang. Wer würde nicht sorgen und bangen,wenn er wüßte, daß nichts die kleine Seele, die jetzt noch lieblich und harmlos blüht, retten kann vor dem drohenden Untergang, weil neben der Blüte auch der Dornstrauch sproßt, der sie ersticken wird?
Diese Seelenarbeit befähigte aber auch die kleine Lehrerin, ihrer Freundin Lage zu verstehen und zu erleichtern.Eltern, freundlos stand sie da, angewiesen auf ihre Arbeit, ihren Verdienst und sah sich nun gebunden und gefesselt von körperlicher Schwäche.
„Wieder ein Tag hin,“ seufzte sie eben und schaute hinüber zum dunkeln Tannwald, der
jetzt auch seine Strahlenkrone verloren hatte und schwarz aufragte in den Abendhimmel.
„Jetzt wäre es schön dort drüben, wo man die Berge sehen kann; sie sind gewiß beleuchtet.“
„Wollen wir hingehen?“ fragte Martha lebhaft, die nur der Freundin zulieb so ruhig sitzen
blieb. O nein,“ antwortete diese schlaff, „ich bin viel zu müde zum Gehen! Ach,wenn man
gesund wäre. Nun sind es schon drei Monate,daß ich mich so hinschleppe und nie will es
besser werden und schon sehe ich den Winter kommen und dann wird's erst recht nicht
besser. Solch ein Leben ist doch eine Last!“
4*
Martha kannte diese Klagen nur zu gut; sie konnte sie auch nicht lösen und nicht
wegnehmen. Leise nur sagte sie vor sich hin:„Dulde, gedulde dich fein.Über ein Stündelein
Ist deine Kammer voll Sonne!“„Ja, du hast gut trösten, du bist gesund und hast eine
Aufgabe und ein volles reiches Leben, aber ich?“ erwiderte die Kranke fast gereizt. Martha
zuckte, fast hätte sie eine rasche Antwort gegeben; aber zur rechten Zeit hielt sie sie
zurück.Eben erschienen unten auf der Landstraße zwei Reiterinnen in langen dunkeln
Reitkleidern mit wallenden hellen Schleiern,gefolgt von einem Groom. Die Augen der beiden
Mädchen wandten sich dorthin; selbst die der Kranken blickten lebhafter auf die schönen
Gestalten, die sich prächtig machten auf den dunkeln Pferden. „Fräulein Erna und Irma vom
Schloß,“ sagte Martha. „Wie stolz Erna sich hält!“„Ja, die haben's gut,“ seufzte die
Freundin. „Ach Lina,hent bist du auch gar in den Klageliedern. Bringt dich nichts daraus?
Siehst du, Fräulein Irma hat heraufgegrüßt. Hast du's bemerkt?“ „Ja,“ gab Lina
zurück,„kennt sie dich denn, oder vielmehr, kennst du sie?“ „Ja wohl, ein wenig,“ gab
Martha zur Antwort; „wir trafen uns schon oft droben auf der Waldhöhe und auch schon da
und dort in den Häusern. Sie ist sehr nett. Nur schade, daß sie so wenig im Schloß wohnt,
es ließe sich sonst was anfangen mit ihr.“ Und ganz eroberungslustig
Der erste Schritt.glänzten die blauen Augen. „Und die andere?“ fragte Lina zurück. „Die,“ lautete verächtlich die Antwort, „weißt,die ist mir gleichgültig. Sie ist stolz und kalt und denkt,sie sei aus besserm Holz als so ein Lehrerlein im Schulhaus. Kümmert mich nicht. Wenn ich im Sppyribüchlein mit den Kindern lese von den „Artischocken, dann denke ich an diese da. Tauschen möcht' ich doch nicht mit ihr.Es ist ein leeres Mädchenleben, wenigstens hat es den Anschein. Aber ich habe einen Beruf und den liebe ich über alles.“ „Ich liebte ihn auch!“ gab Lina leise zur Antwort, „jetzt führe ich aber auch ein, leeres‘ Leben, wie du es heißt.“ „Leiden und Geduld haben, macht kein Leben leer,“ erwiderte Martha lebhaft, „das ist noch mehr als lehren und schulmeistern, und gewiß, es ist nicht für immer. Laß die Hoffnung nicht sinken. Dulde, gedulde dich fein! Denk dran! Bitte!“
So sprachen die Freundinnen mit einander, während über ihrem Haupte auf dem Dache eine Amsel ihr Abendlied flötete.
Einige Tage später saß Martha allein auf der Waldhöhe. Sie hatte einen jener Schultage
hinter sich, die einen Unstern an sich tragen. Überall hatte der Wagen geknarrt; überall
war sie auf bodenlose Vergeßlichkeit und rettungslose Zerstreutheit gestoßen, und nach und
nach hatte sich der Schulhimmel mit dichten Wolken bedeckt. Nun war es ihr Bedürfnis
gewesen, die düstere Stimmung auszulaufen. Lina war besonders ruhebedürftig heute und
konnte sie gut entbehren. Hier oben auf der einsamen
47 Höhe legten sich die Wellen, die Last löste sich vom Herzen und schon konnte sie wieder lächeln, wenn sie aufs Schuldach niederblickte. Drüben aber standen die Berge in ewiger Majestät und Schöne. So ruhvoll standen sie da,so unentwegt und gewaltig, daß auch das zappligste Menschenherz an ihre Ruhe sich anlehnen konnte und selbst stille werden. Mit Wonne nahm Martha das Bild in sich auf, und um ihren Gedanken Worte zu verleihen,summte sie leise Dichterworte vor sich hin. Da plötzlich raschelte es hinter ihr. Rasch blickte sie auf. Fräulein Irma vom Schloß stand hinter ihr. „Störe ich Sie?“sprach sie schüchtern. „Mit nichten,“ antwortete Martha,„wir haben schon oft den Platz hier oben geteilt und sind nachgerade gute Bekannte gewörden.“
Irma setzte sich auf die Erde nieder und pflückte ein Zweiglein des eben erblühenden Heidekrauts. „Wie köstlich ist es hier! Es giebt doch nichts Herrlicheres als solch einen Blick hinüber auf die Berge! Den ganzen Tag habe ich mich gesehnt auszureißen, aber es ging nicht; wir haben Besuch,“ setzte sie erläuternd hinzu. „Sie haben auch, nicht wahr, Fräulein?“
„Ja,“ gab Martha zurück; „Sie sahen uns jüngst,als Sie vorbeiritten. Es ist eine Freundin, die sich im Beruf überarbeitet hat.“
„Was fehlt ihr?“
„Nervenüberreizung, das ist ein vielbedeutendes Wort.Bei ihr äußert es sich in
Herzschwächen.“
Der erste Schritt.„Und Sie pflegen sie?“
„Es giebt nicht viel zu pflegen. Ruhe ist für sie das beste, und völliges Loslösen von allen plagenden Gedanken.“
Irma schaute fragend in die blauen Augen der Sprechenden.
„Sie verstehen das nicht? Ja, ich begreife. Nerven sind eigene Dinger. Aber wissen Sie, unsereinen plagt beim Kranksein vor allem das Gefühl, unnütz zu sein.Meine Freundin sehnt sich so sehr zurück nach der Arbeit,dem Beruf, der Ausfüllung von Zeit und Kraft.“
„Halten Sie denn die Arbeit für etwas so Großes!“
„Ja, ein unnütz Leben ist ein früher Tod, nein,schlimmer als das.“
Martha hatte in gewohnter Lebhaftigkeit gesprochen und sah nicht, daß Irma errötete.
Diese nahm nach kurzem Schweigen das Gespräch wieder auf und sagte:
„Sie berühren da ein Thema, das mich schon viel,viel beschäftigt hat. Ich kann es mit
niemanden besprechen;nun will ich es heute nicht gleich fahren lassen. Ich selbst D ich
habe Sie schon oft beneidet, wenn ich an der Schule vorbeikam und hörte Sie mit den
Kindern lernen und singen. Was soll ich aber? Was nützt es, daß ich oft das Gefühl habe,
ich vergeude mein Leben und versäume eine Pflicht. Wenn ich Erna sage, daß ich mich sehne
nach einer Arbeit, dann sagt sie: die Frau sei nicht zur Arbeit auf der Welt; sie habe,
der Blume gleich, die Auf
Irma hatte feurig gesprochen und Martha mit Interesse zugehört. So oft hatte sie selbst darüber nachgedacht;darum war sie auch gleich daheim in Irmas Denkungsweise. Ernsthaft setzte sie ein: „Ich glaube auch, daß D Erfüllung einer Aufgabe und wäre sie auch noch so klein.Wie Sie dazu gelangen, weiß ich freilich nicht. Dazu kenne ich Ihre Verhältnisse zu wenig. Aber ich denke mir immer, wenn wir den Wunsch darnach in unserer Seele tragen und die Augen offen halten, so giebt das Leben uns so manches an die Hand, das wir thun können, und vom Kleinen führt uns Gott zum Großen. Als Graf Tolstoi diese Regung in sich spürte, fing er damit an,daß er seinem alternden Diener das Fenster abnahm und es zum Brunnen trug an seiner statt, wo es gewaschen werden sollte. Ich meine, das ist ein einfacher Anfang.“
Irma sann nach. „Wissen Sie, Fräulein, was ich
Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten.
Der erste Schritt.dachte, als ich Sie und Ihre Freundin sah? Ich dachte,vielleicht könnte ich dieser zuweilen Gesellschaft leisten, während Sie Schule halten. Ich könnte ihr vorlesen, dann würde ihr die Zeit gewiß weniger lang.“
„Gewiß, das wäre herrlich; gleich will ich das Lina erzählen,“ erwiderte Martha lebhaft.
„Das wäre ein Anfang,“ seufzte Irma, „aber ein so kleiner. O, ich möchte so gerne einmal etwas thun für andere; aber etwas Rechtes.“
„Es wird schon kommen,“ tröstete Martha und erhob sich.Sie schüttelte Irma die Hand, und beide schieden von einander wie treue Kameraden. Nichts verbindet so sehr wie gemeinsame Ansichten und Interessen und gleiches Streben. Beide hatten sich im gegenseitigen Austausch gestärkt. Martha war sich der Herrlichkeit eines festen Berufs neu bewußt geworden, und Irma befestigte in sich den Wunsch, ihr Leben nützlich zu machen für andere.Das ist die Handreichung, die wir bewußt oder unbewußt einander leisten.
Von da an kam Irma fast täglich hinüber ins Schulhaus, und nie kam sie mit leeren Händen.
Bald brachte sie eine duftige Theerose, bald einen flaumigen, frisch gepflückten Pfirsich,
bald eine neue Photographie eines bedeutenden Kunstwerks, immer auch eine anregende und
gehaltvolle Lektüre, so daß die Kranke bald sehnsüchtig wartete von einem Kommen des
liebevollen Mädchens zum andern,
Auch für Irma hatte das Leben Reiz und Inhalt gewonnen. Sie beschäftigte sich in Gedanken mit der Kranken und dem, was ihr wohl thun könnte und Erquickung brachte,und die Lektüre bot so manchen Anlaß zu ernstem Gespräch, daß ihr eine neue Welt aufging und ihre Anschauung davon sich wesentlich veränderte. Erna spottete zwar sehr fühlbar. „Irma hat eine neue Flamme aufgefischt im Schulhause. Sie schwärmt immer noch wie ein Kind von sechzehn Jahren.“ Auch suchte sie sie zurückzuhalten, so oft sie konnte und führte alle möglichen Gründe an, sie zu hindern. Aber selbst das schwere Geschütz:„Heute kannst du doch wirklich nicht ins Schulhaus laufen,Leutenant v. S. kommt ja heraus,“ verfing nicht, sondern lockte nur die lächelnde Antwort auf Irmas Lippen: „Der ist zufrieden, wenn er dich hat zur Gesellschaft.“
Irma lernte neben dem kranken Mädchen Last und Sorge des Lebens kennen, ein Gebiet, das
bis dahin von ihr fern gehalten worden war, und mit der neuen Erkenntnis wuchs auch das
Verlangen, diese Last zu mindern und tragen zu helfen. Dies thun wir aber nie ohne inneren
Gewinn. Wochen waren verstrichen. Der Oktober neigte sich seinem Ende zu. Schon hatte der
Klappstuhl an die Sonne gerückt werden müssen; denn herbstliche Nebel krochen des Morgens
schon durch das Thal und um die Hügel.Am Nachmittag war es um so köstlicher, wenn der
zart
Gut, so will ich denn auf Deine dringenden Vorstellungen hin auf Deinen Plan eingehen und Deine neue Freundin an Deiner Statt mitnehmen nach dem Süden.Ich hoffe, Deine Wünsche gehen beiderseits in Erfüllung.Was in meiner Macht steht, will ich thun. Aber wird sie auch in acht Tagen reisefertig sein können? Berichte mir bald darüber, damit ich den Tag der Abreise festsetzen kann!
Lebe wohl, liebe Irma und denke zuweilen an Deine Tante,die Du im Stich lassen willst.“
„Was bedeutet das?“ fragte Martha forschend, während Lina mit einem sinnenden Lächeln den Brief anschaute.
„Ach, Sie verstehen nicht? So muß ich doch noch alles erklären, und ich hoffte doch, der
Brief würde Ihnen alles sagen. Das ist meine Tante Ida, die das schreibt,ein liebes,
herzensgutes Tantchen. Sie bringt fast jeden Winter in Bordighera zu und wollte dies Jahr
mich mitnehmen als Gesellschafterin. Und da bin ich auf die köst
Der erste Schritt.liche Idee gekommen, das wäre etwas für Sie! Sie sehnen sich so nach Wärme und Sonne, und fürchten sich vor dem Winter. O, Sie würden gewiß gesund werden, nicht?Ich habe schon so oft gehört, daß Kranke im Süden gesund werden!“
Schweigend hatte Lina zugehört. Verlockend genug stieg der Gedanke vor ihr auf. Irma
fürchtete ein Nein,und schaute flehend auf Martha: „Sagen Sie ihr, daß es gut für sie ist.
Sie glauben es gewiß auch!“ „O,gewiß glaube ich's, und ich wäre zu glücklich für Lina,wenn
sich das machen ließe. Sie haben einen herzigen Plan ausgeheckt, Fräulein Irma,“ sagte
Martha mit Wärme. „Ja, nur zu herzig,“ wandte nun Lina ein, deren körperliche Schwäche
ihre Hoffnungsfähigkeit geknickt hatte.„Ich kann mir nicht denken, daß Ihre Tante mich
wildfremden Menschen mitnehmen will. Und dann ist das Opfer, das Sie mir bringen, zu
groß!“ „Mein Opfer?“ rief Irma, „mein Opfer ist nicht großl Wozu sollte ich in den Süden?
Sehen Sie nur meine Backen an, Erna sagt so wie so, ich sehe so schrecklich gesund
aus,viel zu wenig interessant. Wenn ich nun noch zu den linden Lüftlein zöge, würde ich ja
noch strotzender und röter! Können Sie sich das denken? Nein, sehen Sie,bei mir wär's
Wasser in den Rhein tragen. Aber Sie haben's nötig. Stellen Sie sich's nur vor, wie's
wäre,wenn Sie im Frühjahr gesund wiederkehrten zu Ihrem Beruf!“
„Und Erna?“ fragte dann Martha. „Sie ginge gewiß selbst gern!“
„Erst sah sie etwas scheel zu meinem Plan,“ gestand Irma ehrlich, „sie meinte, sie ginge sehr gern an meiner Stelle, als ich ihr aber sagte, daß Leutnant v. S. sie sehr vermissen würde während der Saison im Winter, war sie bald zufrieden. Sie findet es geratener, keine so lange Trennung zu riskieren. Und dann amüsiert sie sich köstlich in der Stadt; viel besser als in Bordighera. Meine Tante mag die großen Gesellschaften nicht leiden. Sie lebt gern für sich, lesend und arbeitend. Zudem ist sie eine leidenschaftliche Naturfreundin und meint immer, in unsrer toten, erstorbenen Winterwelt sterbe ihr auch das Herz. Ich bin gewiß, Fräulein Lina wird sehr gut mit ihr auskommen.“
„Daran zweifle ich nicht! O, ich wollte ja schon schrecklich gerne den Traum für wahr halten; aber ich fürchte, er könnte verfliegen. Dann wäre das Üübel größer als vorher!“
„Nein, nein,“ rief Irma freudig, „das wird bald wirkliche Wahrheit. In acht Tagen sind Sie fort, weit fort von hier im Lande der Palmen!“
Mit kräftigem Händedruck trennte sie sich von den Freundinnen und eilte heimwärts nach
dem weißen Schlosse am Hügelrand. Wie froh klopfte ihr Herz! „Ein erster
Der erste Schritt.Schritt, lieber Gott, ich danke dir! Ich bin so glücklich,so frohl Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich einem Mitmenschen nützen können! Nun gieb du zum ersten Schritt deinen Segen!“
Noch lange plauderten die beiden Freundinnen von Reisehoffnung und Reiseplänen, Lina sah mit neuem Lebensmut in die Zukunft.
*
**
Schon war der erste Reif über die Äste der Bäume gestreut und hart und braun lag die festgefrorene Scholle,als Irma wieder den Weg zum Schulhaus betrat. Sie wollte bei der eifrigen Lehrerin Erkundigung einziehen über das Ergehen der Freundin und zugleich Lebewohl sagen,da der Umzug zur Stadt nun beschlossene Sache war.
Sie fand Martha in der geräumigen Schulstube, die sich eben entleert hatte und noch das Odium der vielen Menschenkinder an sich trug, die sie gefüllt hatten. Martha erblickte die Eintretende nicht gleich, war sie doch vertieft in ein Häufchen blauer Hefte, die heute beschrieben worden waren.„Wie sonderbar, daß Sie so allein sind,“ sagte da eine Stimme. „Ihre Freundin mangelt Ihnen gewiß,und ich habe sie Ihnen entführt.“
„O, ich bin sehr froh darüber, d. h. nicht übers Alleinsein, sondern über die Entführung.
Jeder Gedanke an Lina ist ein Freudenjauchzer und ein Luftsprung. Ich bin Ihnen unsäglich
dankbar.“
„Wenn Sie erlauben, lese ich grad.“ Irma setzte sich auf den Schultisch dem Pult gegenüber und las:
„Liebes Fräulein!
Nachdem mein Körper sich von der Reiseermüdung und meine Sinne sich von den überwältigend
neuen Eindrücken erholt haben, treibt es mich, Ihnen in erster Linie zu sagen, wie
glücklich Sie mich gemacht haben. Jetzt schon weiß ich wieder, was Leben ist. Ich atme und
atme die reine, milde, kostbare Luft, und mit jedem Atemzug löst sich die Bangigkeit vom
Herzen und füllen sich meine Adern mit neuer Kraft! Schon ein einziger Blick aus dem
Fenster ist genug, mich für einen ganzen Tag glücklich zu machen.über die Kronen der
immergrünen Bäume und der wehenden Palmwipfel sehe ich einen Streifen blauen Meeres,auf
dem die weißen Segel ziehen und das Abendgold sich wiegt. Dorthin schaue ich mit
entzücktem Auge und von dort her weht mir neue Lebenskraft. Ihre verehrte Tante ist die
Güte selbst für mich, und Ihnen, liebes teures Fräulein, verdanke ich den Genuß und mehr
als das, diesen Gewinn fürs Leben. Sie haben einem verschmachtenden Pflänzlein Tau
gebracht, Gott lohne es Ihnen tausendfach.Sagen Sie Martha, daß es jetzt wahr geworden:
‚über ein Stündelein ist deine Kammer voll Sonne.“ Wenn ich vernünftiger bin, werde ich
mehr und ausführlicher schreiben,
Der erste Schritt.damit Sie in der kalten Schweiz mitleben können an unsrer rühlingsschönheit.Sehaiigeschönb Immer werde ich bleiben Ihre von Herzen dankbare Lina.“
Leise war eine Thräne über Irmas Wange geschlichen,eine Thräne der Freude, daß der liebe Gott sie gewürdigt hatte, einem Herzen wohlzuthun. Wie reich fühlte sie sich.Hatte sie nicht den größten Gewinn?
„Ich bin so froh über diesen Brief, noch nie war ich so froh in meinem Leben. Wie wenig braucht es doch,um andern zu dienen, wenigstens für mich war's leicht,solche Freude zu ernten.“
Martha verstand sie; sie ehrte ihre Gefühle und sprach nicht weiter davon. Fest legten sich ihre Hände ineinander.Es that Martha schmerzlich leid, Irma für so lange fortziehen zu lassen, wußte sie doch, daß sie ihr sympathisches Wesen sehr entbehren würde.
„Ich werde den Abend auf der Waldhöhe nie vergessen.Dort haben Sie mich etwas gelehrt,“ sagte sie scheidend.
„O nein, nicht gelehrt,“ erwiderte Martha, „nur etwas befestigt, was schon in Ihnen war!“
Mit ernstem Lebewohl trennten sie sich. Sie wußten,daß sie für immer verbunden bleiben
würden, fühlten sie sich doch beide als Gefreite im Dienst der Liebe.“
Ein Heckenröslein.Das kleine Häuschen des Drechslers Wangemann liegt im ewigen Schatten.
Das hohe steinerne Haus mit den antik sein sollenden Steinsäulen vor der Hausthür und den
ausgehauenen jonischen Schnecken steht breit und behäbig davor und verdeckt ihm nicht nur
den gleichgültigen Ausblick auf die Straße, wo die Leute auf und ab fluten,sondern vor
allem hindert es den Weg der goldnen, hellen Sonnenstrahlen. Nur im Sommer, da kommen sie
für ein kurzes Weilchen hoch übers Dach geklettert und schauen senkrecht nieder auf das
kleine, verborgene, ungesehene Häuschen. So oft sie es aber sehen, schauen sie auch gar
freundlich drein. Drinnen in der niederen Werkstatt des Erdgeschosses dreht der
unermüdliche Meister die schnurrende Drehbank. Die Füße treten auf und ab, auf und ab,und
die fleißige Hand hält sicher und fest das scharfe Eisen am drehenden Holz. Kommodenfüße
sind es, die da entstehen, ein Dutzend ums andre; auch schlanke Stuhlbeine mengen sich
dazwischen und wohl auch mal als Seltenheit eine glattpolierte Strumpfkugel. In der
saubern Oberstube waltet die Mutter und hält in Liebe und Treue zusammen, was die Hand des
Vaters erschafft. Vor dem Haus aber auf dem schmalen, gepflasterten Streifen Boden spielt
der einzige Knabe, der fünfjährige Martin. Er sammelt große und kleine Holzabfälle in der
Werkstatt zu
Die junge Malerin kennt den friedlichen Knabenkopf am Fenster gegenüber sehr wohl. Sie
weiß gut, daß er auftaucht sobald sie sich ans Fenster setzt mit ihrer lautlosen
Beschäftigung, und daß die guten braunen Augen jeden Strich begleiten. Es ist ihr sogar
fast lieb, daß sie es thun. Sie ist sonst so allein. Niemand kümmert sich um sie und ihre
künstlerischen Versuche. Der Vater entbehrt sie nicht zu dieser Zeit, eine Mutter hat sie
lange nicht mehr, Freunde sieht sie selten; da sind die Blumen ihre Freunde, mit deren
lichter, farbiger Gestalt sie genaue Bekanntschaft gemacht hat und deren Eigenart und
Schönheit wiederzugeben ihre Herzensfreude ist. Ihr etwas hartes Gesicht wird lind und
weich, so oft es sich vor den Blumen befindet, und mit scharfem Blick faßt sie jedes
einzelne Individuum auf, damit ihre Lieblinge von heute sich unterscheiden von denen von
gestern.
Nach und nach sammelt Martin ein ganzes Päckchen von heraus versandten, von der Malerin
verstoßenen Blumenbildern, und zärtlich umschließt er sie mit einem festen,grauen
Packpapier. Es sind innig geliebte Schätze und er kann die Mutter nicht begreifen, die an
langen Wintertagen sie ihn hervorholen heißt, um mit einer dicken Stecknadel Loch um Loch
um die Ränder der Blumen und Blätter zu stechen. Dazu braucht er ein großes Kissen vom
alten Kanapee, und bei jedem Stich geht es ihm wehmütig durchs Herz. Aber die Mutter will
es und findet es schön, wenn man die Blätter ans Fenster halten und durch die Löcher
Zwanzig Jahre zogen vorüber am Hinterhäuschen.Noch kletterten die Sonnenstrahlen am Dach
des Vorderhauses herauf und schauten in den gepflasterten Hofraum;aber sie sahen nur
geschlossene Läden, stille schweigende Geschäftsräume. Der Drechsler war schon lange
fortgezogen; das Häuschen war anders vermietet worden, und was aus dem kleinen Martin
geworden, das wußte niemand mehr. Nur eins war sich gleich geblieben. Dort am hohen
Fenster des Vorderhauses in der stillen Hinterstube saß immer noch die Malerin am
schlichten Holztisch bei ihren Blumen. Viel hatte sich auch in ihrem Leben geändert. Der
alte Vater, der ihr zugehört hatte mit voller Liebe, war gestorben und hatte sie ganz
allein gelassen im großen steinernen Hause. Alleingelassen sein will aber etwas heißen für
ein weibliches weiches Herz, und es ist leicht möglich, daß dieses sich mit einer
scheinbar harten Kruste umschnürt, um das Wort „Alleinsein“ besser ertragen zu können. Der
Umgang mit dem eigenartigen Vater hatte die junge Natur nicht gerade gefüge gemacht zum
Ein Heckenröslein.Verkehr mit andern. Sie war nicht von gewöhnlicher Art und durch das Stillleben für sich zu gewohnt, den Menschen und Dingen auf den Grund zu sehen. So ließ sie sich denn eher suchen, als daß sie suchte, so daß das Haus auch weiter ein stilles blieb. Wohl kam man zu ihr,wenn man Hilfe bedurfte und Beiträge für alle möglichen guten Zwecke; man fand auch Interesse für alle Zweige von künstlerischen Bestrebungen; aber im ganzen lebte die Einsame doch allein in der wuselnden, beweglichen Menschen familie.
Mit ihren Blumen aber war sie in Gemeinschaft geblieben, und zwar war diese immer mehr
gewachsen, hatte sich vertieft und verklärt. Wie lebensvoll und duftend füllten die Rosen
die reichen Schalen; wie schwankten die reich beladenen Zweige der Fuchsien; wie streckte
die Iris ihr märchenhaftes Haupt; wie gewissenhaft und klar fügte sich ein Blütchen der
Aster zum andern, bis das rot und blaue Körbchen gefüllt war, und wie farbenreich und
vieltönig schlang sich das Laub der wilden Rebe um die weißen Beeren des Geißblatts. Immer
mehr hatte sie sich hineingelebt in die Formen und Farben der stillen Blumenwelt.
„Sprachlos und still seid ihr wie ich, gebunden im Ausdruck nach außen, dennoch voll Seele
und meine Freunde und Freude,“ sprach sie oft zu ihnen. „Niemand weiß,wie ich die Wonnen
der Jahreszeiten und die Freuden der intimen Natur erlebe und durchkoste in meiner
Hinterstube.Wenn ich still und langsam eine Apfelblüte um die andere
Warum legt aber heute die stille Malerin den Pinsel mitten aufs weiße Blatt, daß ein großer Tropfen Karmin niederfällt darauf und birgt das Gesicht in die schmale Hand? Ach, sie sieht einen Feind an der Thüre stehen,er ist noch nicht da, erst ganz leise klopft er an; sie sieht aber mit erschreckender Deutlichkeit die ganze Tragweite seines Nahens und seines Kommens. Sie sieht die feinen Blättchen der Herbstaster dort im Glase nicht mehr deutlich, sie reibt erst die Augen aus, rückt dann das Glas näher, beugt sich wieder übers Papier, malt eifrig weiter und dann kommen die Thränen. Ja, die Jahre sind hingezogen, aber nicht ohne Spuren. In ihre schwarzen Haare,die schlicht gescheitelt am Kopfe liegen, ziehen sich weiße Fäden; über die breite starke Stirne kriechen tiefe Furchen,und über den Stern der Augen schleicht ein Schleier.Wenn sie aber nicht mehr mit den Blumen verkehren, nicht mehr mit ihnen fortleben kann, dann ist sie nicht mehr „nur allein,“ dann ist sie mehr als allein. Sie darf nicht daran denken. „Es ist meine einz'ge Freude; ich habe kein Herz, dem ich zu eigen gehöre als liebsten Schatz,
Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 5
Ein Heckenröslein.keine Menschen, denen ich notwendig unentbehrlich bin;wer mich liebt, der liebt nicht eigentlich mich, er liebt meine freie, unabhängige, mitteilsfähige Stellung, der Schmuck meines Lebens sind meine Blumen, und sie hüllen sich in Nebel. Der Tropfen auf dem Blatt vertrocknet; sonst bleibt es leer.“
*Der graue Gast ist lange an der Thüre gestanden und hat mit dem Finger gedroht. Endlich ist er hereingekommen und hat seinen grauen Schleier über den Tisch in der Hinterstube gelegt. Die Malschachtel ist zugeklappt, die Mappen ruhen im Schrank, die Vasen und Töpfe stehen leer, und nie mehr sähe der kleine Martin, wenn er noch das Fenster bewachte, die malende Hand. Jetzt sitzt sie vorne am Fenster und strickt. Es ist dort sonniger und lebhafter; man sieht Menschen vorbeiwandeln und fühlt sich weniger allein. Die Blumen haben die Hinterstube belebt:ohne sie ist's dort nicht zum Aushalten.
So stille Strickstunden sind aber rechte Arbeitsstunden.Wie viel Zeit und Raum durchwandeln die Gedanken,während die Hände Masche um Masche mechanisch heben und senken. Oft sind die Nadeln langsam und schneckenhaft hin und her gegangen, oft flogen sie klirrend auf und ab, je nachdem drinnen im Herzeusstübchen die Gedanken zogen oder flogen.
Ja, viel stilles Murren und Knurren hat sich hineingestrickt. Es geht so lang, bis ein
Menschenherz sagen kann:
Auch heute wieder sitzt sie im warmen Sonnenstrahl des Frühsommers und läßt die Nadeln klappern und die Gedanken auf und ab gehen. „Ich hab' eigentlich blutwenig genützt in meinem Leben,“ seufzt sie, „ja, da ein wenig Geld gegeben und dort ein wenig; gute Werke unterstützt, so viel man wollte, aber so wirklich genützt, ich möchte sagen, Spuren meines eigensten innern Wesens hinterlassen, habe ich doch sehr wenige. Dort meine Mappen sind das einzige, was von meinem Gedankenleben zeugt,und schließlich sieht es niemand als ich.“ Da geht die Thüre auf. Das Mädchen bringt eine weiße Visitenkarte herein. „Es ist ein junger Herr draußen, der Sie durchaus sprechen will. Soll ich ihn hier herein führen?“ Das Fräulein ist keine Freundin von fremden Besuchern, deshalb mustert das Mädchen fragend deren Gesicht.
5 *
Der junge Mann öffnet seine Mappe, die er unterm Arme trägt.
Da taucht es empor, das steife rote Heckenrsslein,das der jungen Malerin so viel Seufzer
entlockt hatte,und als es dem Ideale so fern geblieben war, zum Flug
Die Einsame lachte, lachte so hell, wie seit Jahren nie: „Und das nennen Sie Ihre Kunstanregung?“ „Es ist so,“ erwiderte der Jüngling ernsthaft, „ohne dies Röslein wäre ich nicht, was ich bin.“ „Und was sind Sie denn?“ forschte sie weiter, und lud den Fremdling endlich zu sich auf den bequemen Sitz.
Nun hatte Martin zu erzählen, wie ihm seit jenem Rosenblatt ein Sehnen geblieben sei nach dem Ausdruck des Schönen, das er nicht in seines Vaters Werkstatt noch in seiner Mutter Küche finden konnte. „Erst schleppte ich Blumen heim und zeichnete und malte ste, um meinem von Ihnen gesteckten Ideal ganz nachzukommen, dann zeichnete ich alles, was mir vor Augen kam, Schönes und Häßliches. Malen und malen war meiner Seele Begier.Sie können sich denken, daß es nicht nach meiner Eltern Wunsch war, aber so sehr sie sich Mühe gaben, mir andere Gedanken beizubringen, es gelang nicht. Mein Vater starb und hinterließ so viel, daß meine Mutter leben und ich hinausziehen konnte, um einen bescheidenen Studiengang machen zu können. Ich war lang nicht mehr hier,aber diesmal wollte ich die alte Stadt nicht heimsuchen,ohne Sie gesehen und Ihnen gedankt zu haben.“
Von Dank wollte das Fräulein nun wohl nichts anerkennen; dennoch zuckte es leise um ihre
Lippen. Wie
Ein Heckenröslein.schön war's, zurückzudenken an die alte goldene Zeit. Der junge Mann öffnete seine Mappe und führte Skizze um Skizze der Freundin vor, und trotz des Schleiers empfanden die trüben Augen den Reiz des stillen Wiesenthals mit den einsamen silbergrauen Weiden, oder der sonnigen zitternden Sommerluft überm Kornfeldchen im stillen Rahmen der blauen Berge, oder der tiefllaren Spiegelung des Waldbaches, der einsam durchs Tannengebüsch sich windet. Mit Spannung verfolgten sie gemeinsam die warm empfundene Naturauffassung und erklärend und fragend erschloß sich beiden immer tiefer, immer gründlicher deren verborgener Zauber. Es war, als klänge ein Glockenton aus längst verschollener Zeit ins alternde Herz, als fände dieses ein Werk der Jugend, was es selbst gesucht,ersehnt, erstrebt, ohne es je zu erreichen. Als die Mappe zu Ende war, da seufzte sie auf: „Sie haben gefunden,was ich gesucht, Sie singen, was ich gestammelt habe.“„O nicht doch,“ gab er zurück, indem er zärtlich das fahle Röslein streichelte. „Sie gaben die Anregung. Eine Anregung ist goldeswert, mehr wert als zehn Ausführungen.Sie haben den Blick fürs Schöne in mir aufgethan und damit war der Weg offen. Ich werde Ihnen danken, so lange ich lebe.“
Als der junge Mann die Thüre hinter sich geschlossen hatte, da saß die Einsame noch lange still sinnend ohne Strickstrumpf.
Die Lippen bewegten sich leise, und nach und nach
Die silberne Reise.Die dichten Vorhänge waren fest verschlossen: kein Lichtstrahl durfte
hereindringen in den dämmrigen Raum.Kaum erkennbar saßen da einige Männergestalten und
unterhielten sich in langsamem Gesprächston. Abseits von ihnen saß ein einzelner kleiner
Mann, der selbst eine feste Binde auf einem Auge trug, neben einem Bett, in dem sein
Kamerad ruhte. Dieser hatte ein ganz besonders schlimmes Auge und die Ärzte fürchteten, es
nicht retten zu können, und verordneten vollkommene Ruhe. Die Tage der Krankheit sind
immer lang und die in einem Augen
Die silberne Reise.spital noch besonders. Es ist die Wucht des Leibes, die den Lauf der
Minuten und Stunden hemmt und der Seele das Gefühl giebt, als flöge sie weit weit voran
dem schleichenden Gang der Zeit. „Ist es erst zwei Uhr?“ fragte der Liegende. „Ach, mir
scheint, es sei schon so lang seit dem Mittagessen. Wann kommt deine Frau?“ „Vor halb drei
Uhr kann sie nicht da sein.“ Der Kranke legte sich zurück aufs Kissen, um ergebungsvoll
weiter zu warien.Die Uhr tickte fort und fort. Die Flüsterworte der andern könten herüber,
der Kranke achtete nicht darauf. Als eine Weile verstrichen war, drehte er sich wieder
gegen den Kameraden und fragte: „Ist's jetzt halb drei?“ „Nein,noch nicht, erst ein
Viertel nach zwei,“ lautete die Antwort. Der Frager seufzte: „Wenn sie nur bald kommt!“Da
lachte der Genosse ganz lustig auf, und es klang verwunderlich durch den düster
schweigenden Raum und sagte:„Wahrhaftig, man würde meinen, es wäre deine Frau und nicht
meine, so sehnsüchtig erwartest du sie!“ Eifrig erwiderte der andre: „Ja, du kannst
lachen, meinethalb;eifersüchtig brauchst nicht zu werden; aber das ist gewiß,daß ich
verzweifelt wäre in den letzten Tagen, wenn deine Frau nicht gewesen wäre. Ihr Kommen war
für mich stets eine Freude, und wenn sie zur Thür hereinkam und ich ihre fröhliche Stimme
hörte, war's mir immer, als ginge ein Stern auf.“ Erstaunt blickte der kleine Kamerad auf
den Sprechenden. Ihm war's ganz natürlich vorgekommen, daß seine Frau ihn besuchte, und
daß sie einem
73 Stern verglichen werden könnte, war ihm auch nie eingefallen. Sie hatte ein fröhliches Gemüt, seine Sophie,das ist wahr; aber ihm war's selbstverständlich vorgekommen, daß ihr Lachen ihn umgab; er hatte den SonnenV Mann mit dem verunglückten Auge solch ein Wesen daraus.War „er“ etwa ein Phantast? Ach nein, bewahre, er war ein schlichter armer Taglöhner aus dem Oberland, der in der sauren Arbeit ums tägliche Brot alt und schwielig gegeworden war. Gespannt blickte er nun auch nach der Thür, ob sie nicht bald sich öffnen werde für seine Frau!
Endlich kam sie! Der Kranke richtete sich rasch nach der Thüre, hatte er doch schnell den
Schritt gekannt. Ja,da kam der Stern! Es war eine ganz einfache Frau,hoch und schlank
gewachsen; aber schon der freundliche Gruß, mit dem sie ihren Mann begrüßte und auch den
andern bedachte, war wie ein Lichtstrahl im dunkeln Raum.Sie setzte sich nun neben den
Mann ans Bett des Armen,so daß dieser jedes Wort hören konnte, und nachdem sie sich nach
dem Befinden der leidenden Angen erkundigt hatte,erzählte sie harmlos und fröhlich, was
sich im kleinen Haushalt ereignet habe, daß der kleine Theodor von einem Hunde umgeworfen
worden sei auf der Straße, daß die Frau im unteren Stock ein Kleines bekommen habe in der
Nacht, und daß sie morgen ins Doktorhaus gehe zum Waschen, lauter kleine Dinge, die alle
Tage auf der Welt sich ereignen; aber sie erzählte alles so lustig und lebendig,
Die silberne Reise.daß die Männer mit ins Lachen kamen, das sie so austeckend anstimmte. Wie lebendig schilderte sie ihre beiden Mädchen und deren Not in der Strickschule und wie sie gestern abend gejammert, daß der Vater ihnen nicht helfe die Rechnung zu lösen auf der Schreibtafel, weil sie weniger gewußt als die Kinder, natürlich und wie fröhlich berichtete sie, daß sie noch dann Karls Geburtstag gefeiert haben mit einem Krug süßem Most. „Das Einzige, was uns fehlte, warst du; er hätte dir am besten geschmeckt von uns allen,“ sagte sie lachend zu ihrem Mann.
Kein Wort der Klage tönte durch, daß sie den Verdienst des Mannes entbehre, allein die Last der Haushaltung trage. Es war, als hätte sie vor ihrem Eintritt in das Krankenhaus bei Konrad Meyer Lebensweisheit geschöpft und sich auf dessen Frage:
Wie heilt sich ein verlassen Herz,
Der dunkeln Schwermut Beute?die Antwort gemerkt:
Mit nur ein bißchen Freude!Die Uhr an der Wand schlug vier helle Schläge: „Vier Uhr,“
rief der Kranke laut aus, wie ist's möglich, das ist ganz sonderbar, wie die Zeit
verstreicht, wenn Sie da sind,Frau Vogel. Wenn Sie immer da wären, wär's hier ganz nett
zum aushalten!“ „Ja, der Fluck freut sich jedesmal auf dein Kommen, fast mehr als ich,“
erläuterte ihr Mann. Als Antwort zog die Frau aus ihrer Tasche zwei prächtige Wecken,
goldbraun und knusperig; „das ist zu
Als sie fort war, war's ein Weilchen still am Bett;nur der glänzende Wecken erzählte noch, daß sie dagewesen war und ihr heiteres Lachen hinterließ einen Lichtstreifen,der den ganzen Abend die beiden aufheiterte, so daß sie sich erzählten von allem, was sie je erlebt hatten in ihrem einfachen Leben.
Sieben Jahre waren dahingezogen seit jenen Tagen.Herr Vogel war längst aus dem
Krankenhause heimgekehrt. Leider erinnerte ihn eine bleibende Augenschwäche immer noch an
jene Zeit. Den Kameraden Fluck hatte er auch nicht vergessen. Von Zeit zu Zeit schrieb
dieser einen Brief voll Anhänglichkeit und Dankbarkeit. Frau Vogel war eben heimgekehrt
von ihrer Tagesarbeit, aus ihrem Korb lugte noch die Flasche hervor, die sie im Kundenhaus
bekommen hatte zum Tagesgebrauch und deren größern Inhalt sie heimgebracht hatte für die
Familie.Sie band die große Hausschürze um, und wollte in die Küche verschwinden, als der
Briefträger einen Brief an sie brachte. Mit zitternden Händen trug sie ihn zur Lampe und
studierte den Poststempel über der undeutlich geschriebenen
„Liebe Frau Vogel!
Heute ergreife ich die Feder, um Ihnen noch einmal die dringende Bitte vorzutragen, daß Sie uns besuchen möchten. Ihrem Manne habe ich's schon oft geschrieben;aber es hat nichts genützt. Ich bin schon alt und weiß nicht, wie lange ich noch leben werde; aber Sie möchte ich noch einmal sehen, ehe ich sterbe. Die Tage im Spital werde ich nicht vergessen und was Sie dort für mich gethan haben. Schreiben Sie, wann Sie kommen, es würde sich unsäglich freuen Ihr J. Fluck.“
„Es nimmt mich wunder, daß er nichts vom Stern sagt,“ brummte es hinter der Lampe herbor.
„Böser, du,“gab die Lesende zur Antwort, „sei nur still, du warst auch froh genug, wenn
ich kam. Und denk nur, wie herzgut der Fluck ist, daß er uns immer und immer wieder
einlädt zum Besuch. Eigentlich ging ich noch recht gern,wenn's Reisen nicht Geld kostete.“
Der Vater sagte nichts,machte aber ein Gesicht dazu, als gefiele es ihm auch nicht übel,
den alten Kameraden nochmals zu sehen. „Weißt du, Mutter, wie ihr's machen könntet,“ fiel
da Karl ein, der nun schon ein junger Mann war, und selbst sein Brot verdiente, „ihr
sagtet ja schon oft, dies Jahr sei
An dem Abend wurde nicht weiter davon gesprochen.Dennoch hatte der Gedanke Wurzel gefaßt.
Vater und Mutter hatten im Herzen eine stille Lust, ihren silbernen Festtag gemeinsam zu
feiern; fünfundzwanzig Jahre gemeinsam getragene Lebenslast ist ein schönes Stücklein
Weges; hat man's hinter sich, darf man wohl ein wenig Rast halten, dankbar zurück sehen
und neuen Atem schöpfen für die nächsten fünfundzwanzig. Tag um Tag hatten sie gebetet:
„Gieb uns heute unser täglich Brot,“ und Tag um Tag hatte der liebe Gott es ihnen
geschenkt und dazu noch Frieden und Eintracht und Freude an den heranwachsenden Kindern.
Der Karl hatte ein geheimnisvolles Komplott erstellt. Er wollte von seinem Lohn etwas
zurücklegen für die silberne Reise, Agnes verdiente auch schon ein Weniges in der Woche
und Röseli hatte ein Sparkässeli mit einem Franken drin. Selbst Theodor wurde dazu
gezogen; er trieb einen kleinen Handel mit Papier
Die silberne Reise.schnitzeln und Knochen und steuerte ein glänzendes Fünfzigrappenstück; so gab's ein kleines Beiträgle an den Reisegedanken. Das setzte dann die Lust der beweglichen Mutter in kühnere Bewegung, und nach und nach stimmte man auch den bedächtigeren Vater zu dem Gedanken um, wirklich und gewiß die Reise zu wagen. Dem guten Fluck wurde geschrieben, daß man kommen werde, und alle schauten nun begierig dem herrlichen Augustwetter entgegen,das der hundertjährige Kalender verhieß.
Es gab indessen noch manch wechselnde Stimmung beim reisefreudigen Silberpaar. Zuweilen sagte die Mutter mit energischer Stimme: „Nein, nein, Vater, wir reisen doch nicht; ist das etwas Dummes, sich monatelang das Notwendige am Munde absparen und dann plötzlich so viel Geld verreisen.“ Aber der Karl rief dann mit drohender Stimme: „Doch Mutter, ihr reist! Ihr habt noch nie etwas zu eurem Vergnügen gethan innert fünfundzwanzig Jahren! Wir Kinder wünschen's!“
Dafür wollte man doch wenigstens noch einen guten Zweck verbinden mit dem Vergnügen. Die
Eltern wollten unterwegs nach dem Edmund sehen, der in Zürich in Arbeit stand am
Wasserwerk. Er war der zweite Sohn, und wie die Mutter sagte, das einzige Böckli in der
Herde.Er hatte den größten Verdienst von allen, hatte aber nie einen Rappen übrig für die
andern, sondern brauchte alles für sich und sein Gelüsten. Den wollten sie einmal
bebesuchen und ihm ans Herz reden.
So kam der Reisetag glücklich heran. Der freundlichste Sonnenschein bestrahlte die frohgemut Abfahrenden, die von den Kindern allen begleitet wurden. Es war ein Abschied, als gälte es eine lange Trennung. Es war Sonntag, auders hätte man ja den Edmund nicht besuchen können,und sonntäglich war die Stimmung des Silberpaares.
In Zürich wanderten sie zuerst ins Selnau hinaus zu einem Schulkameraden des Vaters, der
dort sich niedergelassen hatte und bei dem sie Quartier bestellt hatten. „Wir müssen der
Billigkeit nachgehen!“ hatte die Mutter lächelnd erklärt, „aber unwert sind wir dort
nicht, sonst gingen wir doch nicht.“ Dieser Kamerad zeigte ihnen den Weg zum Logierhaus
des Sohnes. Er war nicht dort. „Er wird in der Kirche sein,“ sagte die Hausfrau, „steigt
nur dort hinauf.“ Die Eltern stiegen hinauf. Es waren wohl viel Leute dort in der Kirche;
aber Edmund war nicht dabei. Entmutigt ging's zum Logierhaus zurück in der Hoffnung, er
sei unterdessen dort angelangt, aber nirgends war eine Spur von ihm. Da wollte dem
Mutter
Die silberne Reise.herzen schon eine kleine Thräne ins Auge steigen; es hatte sich so gefreut, den Sohn zu überraschen, und jetzt verstrich Stunde um Stunde, ohne daß sie ihn sah. „Weißt,Vater, ich geh nicht von Zürich fort, bis ich ihn habe!“erklärte sie.
Am Nachmittag durchwanderten sie wieder die Straßen.„Wir treffen ihn vielleicht plötzlich
und ungesucht,“ hatte der Kamerad getröstet. In einer Straße staute sich die Menge. Ein
Festzug kam daher. Ein Gesellenverein hält Fahnenweihe. Eine Schar jungen Volks zog voran
im Schritt der Musik, und siehe, in der vordersten Reihe zog der Edmund mit. Im Nu hatte
ihn die Mutter erkannt.Der Kamerad rannte auf ihn los, riß ihn am Arm aus den Reihen, und
als der Verblüffte sich empört erkundigen wollte, was das bedeute, stand er vor seiner
Mutter.„Das gleicht euch wieder, daß ihr plötzlich kommt, ohne eine Karte zu schreiben,“
war das erste, was er sagte.„Ich bin nicht allein, guck, der Vater ist auch da,“ gab die
Mutter zur Antwort, und nach und nach wickelte sich aus der Verblüffung die Freude des
Wiedersehens.Edmund lief nun mit ihnen und bald hatten sie ein behaglich Plätzchen
gefunden, wo sie im Schatten sitzen und plaudern konnten. Die Mutter brachte allerlei zur
Sprache,verstand auch die Lage des Sohnes, die manche Schwierigkeit brachte, besser. Als
dieser sagte: „Mich nimmt nur wunder, wie ihr das Geld zusammenbringen konntet für die
Reise,“ antwortete ihm die Mutter: „Ja, gelt, von dir
Der nächste Morgen führte die Reisenden in aller Frühe dem blauen See entlang nach Rapperswyl und von dort über Weesen nach Mühlehorn am tiefblauen Walensee.Was hatten sie nicht zu sehen und zu staunen. Noch nie hatte die Mutter die Berge so nahe geschaut, so greifbar nahe,und fast grauste es ihr, wie die Felswände sich so stotzig in den unergründlichen Seespiegel tauchten. Der Vater lebte auf in jugendlicher Erinnerung, und war auch vieles anders und er selbst fremd auf der heimatlichen Erde, die Berge und die Wasserbäche, die rauschend und jubelnd sich herniederstürzten in den tiefen Wassergrund, sie waren dieselben geblieben, ewig herrlich und schön. Es war ein Feierstündchen, das die beiden wandernd am See zubrachten.Niemand kann so reiche Feierstunden bereiten als Gott der
Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. k
Die silberne Reise.Herr, der seine Welt so schön und wunderbar aufbaut,daß auch das ärmste Menschenherz darob staunt und seine Nähe verspürt.
Es war Abend geworden, als der Bahnzug die beiden nach Mels brachte, wo sie von Fluck sehnsüchtig erwartet wurden. Er war zwar nicht selbst auf dem Bahnhof.Nicht feiern durfte der arme Mann den Gästen zu Ehren.Er war auf der Alpwiese am zweiten Schnitt und kam erst später heim; aber die jüngste Tochter war da, das lustige, gutmütige Vreneli. Schon dreimal war sie dem ankommenden Zug entgegengelaufen und stets vergeblich.Die Hoffnungsfreude war so groß gewesen, daß sie sie mit Sicherheit am Mittag schon erwartet und die Mutter schon das Festmahl bereitet hatte. So war die Spannung bis zum Abend aufs höchste gestiegen.
Wie traulich war's im niedern braunen Holzstübchen,vor dessen Fenstern die Nelken feurig
glühten im Abendstrahl. Wie eine Königin ward Frau Vogel empfangen,und was die Küche nur
irgend leisten konnte, kam auf den Tisch. Das schönste braune Birnenbrot hatte die Frau
extra gebacken. Da mußte gekostet und gerühmt werden.Als der alte Fluck kam, da gab's ein
Händedrücken und Schütteln und Freuen. „Endlich sind Sie da,“ sagte er,„nun ist mir alles
gleich, nun will ich gern sterben, da ich Sie nochmals gesehen habe. Ja, wenn ich denke,
wie mir's im Krankenhaus gegangen wär ohne Sie“ ....Thränen erstickten seine
Stimme.
Trotz des schönen Bettes kam der Schlaf aber nur spärlich zu den Reisenden, und am Morgen meinte die Mutter lachend: „Wenn den reichen Leuten das Reisen so viel Ungemach brächte wie mir, ich glaube, sie thäten's nicht so oft!“
Nun lag noch ein schöner Tag vor ihnen im traulichen Häuschen der guten Leute. Nur getrübt war die Freude dadurch, daß Fluck wieder weit hinauf mußte in Sonnenbrand und Glut zur strengen Arbeit. So war das Sehen nur sehr kurz gewesen; aber Frau und Tochter zeigten den Reisenden alles, was sehenswert war, vor allem das eigene weite Gemüseland, aus dem sie manchen Franken Erlös zogen durch Verkauf in den besuchten Orten am See. Es war aber keine rechte Ruhe mehr in der Seele der Frau Vogel. Schon klopfte das Heimweh nach den Kindern bei ihr an, und so sehr die Leute sie auf den Händen trugen und so prächtig die Bergköpfe niederblickten aufs Thal, sie war doch froh, als sie im Bahnzug saß, der sie heim brachte.
„Was bringen wir den Kindern mit?“ fragte sie den
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Die silberne Reise.Mann. „Weißt was, wir kaufen auf dem Heimweg ein halbes Pfund Käse, das giebt dann ein köstliches Nachtessen. Karl kann dann noch etwas Most holen,“ lautete die tröstliche Antwort.
Daheim aber wortete ihrer viel Besseres in Gestalt einer großen Uberraschung. Die Kinder
hatten am Abend nach der Arbeit im Wald Epheu geholt und Tannengrün,und alles festlich
geschmückt. Die Leute im Haus hatten alle sich zusammengethan zur Feier der Ankunft, denn
bei allen war das silberne Paar sehr beliebt, und alle wollten den Festtag recht
eindrücklich machen. Der Tisch war gedeckt mit einem saubern Teppich, darauf standen vier
Bierflaschen und dazwischen ein Blumenbouquet in erhabener Schönheit. Daneben fand sich
ein Bierglas von Karl,ein Korb von den Mäödchen, ein Brotkörbchen von einem Mitbewohner,
in dem mit Goldbuchstaben zu lesen war:„Willkommen, liebe Gäste!“ und erst noch glänzten
zwei silberne neue Münzen auf einem großen duftenden Kuchen!Die Mutter wußte sich nicht zu
fassen vor Rührung. Die Thränen liefen ihr über die Wangen und immer wieder rief sie:
„Nein, es ist zu viel! Zuerst die schöne Reise und nun der Empfang! Und alle die Liebe und
Güte, es ist zu viel. Der liebe Gott meint's viel zu gut mit mir!“Der Karl aber sagte:
„Mutter, fünfundzwanzig Jahre sind auch eine lange und schöne Zeit, und um uns verdient
hast du's!“ „Nein auch, nein auch, ich bin gar nicht mehr mich selber; ich glaube, die
große Liebe macht mich ganz
So schloß der Reisetag in glänzender Weise, und wenn die nächsten fünfundzwanzig Jahre
dem Silberpaar wieder Arbeit und Mühe genug bringen werden, die Leutlein werden im Glanz
des Tages weiter wandern, sich dran freuen und nie mehr vergessen, wie Liebe glücklich
macht.s Wilhelmli.Ein lachender goldener Sommertag lag über der Erde; die Kornfelder
wogten und rauschten leise im Morgenwind, und die Mohnblumen leuchteten rot und strahlend
aus dem Goldgrund hervor. Das Gelb hatte die Oberhand in der Landschaft, nicht nur auf dem
weiten Ackerland, auch auf dem frisch gemähten Wiesboden und der sonnbeschienenen Straße
zeigte es sich in verschiedenen Schattierungen. Der einzige dunkle Farbfleck war das
braune Bauernhaus im Schatten des großen Birnbaums,das „Hüfli“ genannt. Es war ein kleines
Heimwesen,aber ein gut geordnetes, und der blumige Garten mit den feuerroten Nelken
erzählte von einer sorgsam waltenden Frauenhand. Es war die Zeit zwischen Heuet und Ernte,
da gab es ein paar Ruhetage, die die Bäuerin be
Erst als die Schritte ferne verklungen waren, kroch sie aus dem laubigen Versteck hervor, um sich den Nelken zuzuwenden. Siehe, da stand ihr Mann plötzlich neben ihr. Die Neugierde hatte ihn herausgetrieben an die Hecke,um den schönen Taufzug zu schauen, und da hatte er seine Frau hinterm Hollunderbusch beobachtet. Ein Blick in ihr Gesicht, auf dem noch die letzte Thränenspur glänzte,sagte ihm, daß er wahr gesehen.
So näherte er sich ihr und sagte mit zärtlich gestimmter Stimme: „Du hast geweint, Trini?
Mißgönnst ihnen etwa den schönen Tag? Sonnenschein auf das Tauftuch bringt Glück fürs
Neugeborne.“ „Ja, das weiß ich schon und mißgönnen thu ich's ja dem Bethli auch nicht; wir
waren ja Schulfreundinnen; aber denk selbst nach: wir sind nicht weit auseinander getraut
worden und jetzt trägt man heute schon 's zweite zur Kirche.“ „Aha, und du denkst, bei uns
steht die Wiege immer noch leer,“ lachte der Mann und legte seinen Arm um die junge
Frau.„Na, deswegen brauchst nicht zu weinen; was nicht ist,tann werden. Verzagen mußt
alleweil noch nicht. Und sag, sind wir denn nicht glücklich gewesen? Kannst sagen,daß du
es nicht bist?“ „Das schon nicht,“ sagte Trini schon halb getröstet, „aber die Leut
munkeln schon, weil's ihnen zu lang geht. Meistens bin ich auch sonst zufrieden;
„'s könnt wohl bei uns eins kommen,“ fiel der Mann ein, „ja schön wär's ja schon; aber 's pressiert nicht überall gleich und wer weiß, was übers Jahr ist. Jedenfalls weinen mußt nicht. Das ist in sechs Jahren noch früh genug.“ Trini lachte und bückte sich getröstet zu ihren Nelken. Doppelt liebevoll band sie die knospenschweren Stengel an den hellen Stecken. O, sie konnte nicht anders,sie mußte oft so recht lebhaft dran denken, wie's wär,wenn sie ein hold klein rosig Kindlein zu hegen und zu pflegen hätte. Es war schon der Gedanke so süß, wie würde erst die Wirklichkeit sein!
Wieder war's ein Sommertag. Drunten im Dorf öffnete sich die Thür des Pfarrhauses, das
traulich im Schutz der Kirche und der Kirchhofsmauer lag. Die Pfarrfrau kam heraus, eine
mittelgroße Gestalt mit schmalem Gesicht,das den Ausdruck jener duldenden Ergebung trug,
der so oft sich auf schwächlichen, im Kampf mit dem Leben ermüdeten Frauengesichtern
festsetzt. An der Hand führte sie ein sechsiähriges Büblein, das ihrer Führung sehr zu
bedürfen schien, denn die Füße streiften unsicher und schleppend über das Kies des
Gartenweges. Die Augen des Knaben blickten unstät, fast schielend und wie ziellos aus dem
eigentümlichen Gesicht. In den Händen trug er
Wie froh war sie auch heute, als die verheißene Wartestunde vorüber war und sie den
ungebrochenen Trotzkopf,der finster starrend am gleichen Fleck sitzen geblieben war,holen
und ihm deuten konnte, jetzt dürfe er essen. Wie lachte er plötzlich mit breitem Gesicht,
wie rannte er zu den beladenen Ästchen, und nun schmauste er sehr sachverständig und
brachte es dabei so weit wie ein Vollsinniger.Dazu stieß er Töne aus, die zwischen Grunzen
und Jauchzen die Mitte hielten. Die Mutter lächelte mit und freute sich mit; aber tief
unten im Herzen that etwas weh.
Es war, als betrachtete sie es als Pflicht, das Pfarrpaar, das noch nicht so lange hier
eingezogen war, bekannt zu machen mit den Personalien der Dorfkinder. Lächelnd sah die
Pflückende die Anstalten der Küstersfrau, ihre Aufmerksamkeit anzuziehen; aber erst als
das Erbarmen siegte über den lustigen Spott, streckte sie den Kopf durch die Ranken, und
entbot freundlichen Gruß über die Hecke. „Ach,Sie sind's, Frau Pfarrer, ich meinte, es sei
Ihr Vreny;nur nicht zu fleißig, 's ist heut abend noch gar heiß,“spann sie den Faden an.
„Ja wohl, etwas heiß ist's noch, aber unser einer hat sich nicht zu beklagen, der fast
immer am Schatten ist; aber die Leute draußen, die haben heiß,“ kam die freundliche
Antwort. „Ja, ich hab mich heut auch nicht überanstrengt. Ich war nur im Hüfli droben.
Wissen Sie's eigentlich schon? Die junge Frau droben ist eine Art Base zu mir. „So, so,
und was ist's denn mit dem Hüfli? Ist etwas Fröhliches passiert, oder etwas Trauriges?“
fragte die Pfarrerin, um der wichtigen Neuigkeit auf die Beine zu helfen. „O, etwas sehr
Fröhliches.
Die Küstersfrau sann ein wenig nach über die Worte,die sie hörte, dann sagte sie, teils
aus Wahrheitsgefühl,teils aus purer Freude am Plaudern: „Ob's wegen der Dankbarkeit war,
weiß ich nicht recht. Sie glauben eher,es habe sich vom lieben Gott gehört, und sei recht
und am Platz, daß er ihnen endlich ein Büblein geschenkt hat, und daß der Vater die Kuh
verschmerzt hat, ist, glaub' ich,
Als der Pfarrer heimkehrte, wurde ihm die eingekramte Botschaft erzählt und von diesem mit Teilnahme gehört.Er kannte das Hüfli und seine Bewohner und beschloß,morgen seine Freude und sein Mitleid zugleich dort auszudrücken. Er freute sich herzlich, daß den wackern Leuten ein Kindlein beschert sei, und wußte, daß er dasselbe bald in der Kirche sehen werde.
Der Winter war gekommen und hatte den Pfarrgarten mit Schnee bedeckt und den Wilhelmli
draus vertrieben.Das war immer eine mit Sorgen begrüßte Zeit für die Mutter. Es war so
viel schwerer, den unruhigen Gesellen
Im Hüfli war eitel Freuen gewesen. Jedes Lächeln des kleinen Erben ward bejubelt und bewundert, und jeden Tag maß der Vater mit Stolz die runden, strammen Arme und Beine des frei zappelnden Wesens. „Was lange währt, kommt endlich gut,“ scherzte er dann zu seiner Frau, „wirst sehen, der holt in einem Jahr ein, was dein Bethli vor drei Jahren voraus hatte. Einen schönern giebt's weit und breit nicht.“ Glückselig lächelte die Mutter;etwas Lieberes und Schöneres hatte und wußte auch sie nicht, und sie hatte kein Auge und Ohr für etwas anderes als für ihren Alfred. Sie fand es herzig, an seiner Wiege zu sitzen und zu lauschen, wie der leise Atem zum rosigen Mündchen aus- und einging; noch lieber aber träumte sie von dem Tage, da der kleine Schelm Mutter würde sagen können. Oft kostete sie im voraus die Wonne der spätern Augenblicke. So lange es sonnig und warm gewesen war, haite sie ihn täglich hinausgelegt in den Schatten des Birnbaums und ihn dort strampeln lassen in der würzigen freien Luft. Jetzt mußte sie ihn in der Stube behalten; der Ost blies oft recht rauh ums Dach des Hüflis.
Ein früher Winterabend breitete graue Dämmerung über das Pfarrhaus. Wilhelmli kniete am
Boden der Wohnstube und stellte Bauholz auf Bauholz, bis ein hoher
Der Pfarrherr hatte sich reisefertig gemacht, um durch die Winternacht hinaufzusteigen zu seinen Pfarrkindern, die der liebe Gott so schwer heimgesucht hatte.
Als er heimkehrte nach einer Stunde, war sein Gesicht noch viel ernster als vorher. „Ich
habe nichts genützt dort,“ sagte er, „die Frau weint wie verzweifelt. Sie läßt ihr Büblein
nicht einen Augenblick aus den Armen und will es nicht glauben, daß es tot sei. Reden
nützt da noch nichts. Sie hört nicht einmal, was man sagt.Da kann nur die Zeit etwas
heilen. Vielleicht könntest du einmal zu ihr gehen. Frauen finden oft das rechte
Einige Tage darauf machte sich die Pfarrerin auf nach dem Hüfli. Sie that es mit schwerem Herzen und seufzte in ihrem Herzen zu Gott um das rechte Wort und den warmen, teilnehmenden Sinn. Wie sollte sie Trost bringen in ein so zerschlagenes Mutterherz? Es soll ja herzzerreißend gewesen sein, wie sie das kleine Särglein umklammerte,als man es ihr forttragen wollte zum letzten Ruheplätzchen und dann klagend und jammernd ihm gefolgt war, bis sie es nicht mehr sah.
Mit langsamem Schritt trat sie über die Schwelle des Bauernhauses, das totenstill dalag.
In der Stube saß Frau Trini. Die Pfarrerin grüßte; aber kaum ein merkliches Erkennen glitt
über das Gesicht der trauernden Mutter. Die Augen weinten nicht mehr. Rot und trübe
starrten sie auf die gerungenen Hände, die krampfhaft sich auf dem Schoß hin und her
bewegten. „Es thut mir so leid um Sie,“ hob die Besuchende an, „und ich möchte Ihnen
selbst sagen, daß Ihr Schmerz uns tief zu Herzen geht.“ „Sie haben mir mein Bubeli
weggenommen; sie haben mir mein Bubeli fortgetragen,“ klagte sie tonlos.FV
97 ist sehr schwer für Sie, viel schwerer als für eine andre Natur.“ Die Frau horchte auf. Sie mochte es gerne hören, daß sie Schwereres erlebte als andre. Wo ist ein Herz, das nicht dächte, sein Schmerz sei der größte, der je erduldet wurde?
„Wenn man sich ein Kindlein so sehr gewünscht hat,“fuhr sie fort, „dann ist es doppelt schwer, wenn's einem so schnell wieder dahin geht, aber Sie müssen nur daran denken, daß es im Himmel ist beim lieben Gott.“ „Aber das will ich nicht denken,“ fuhr die Frau lebhaft auf,„warum nahm er's mir? Hätt' er mir's doch nie gegeben,dann hätt' ich nicht gewußt, wie schön es ist, eines zu haben; aber geben und nehmen in so kurzer Zeit, das ist grausam und an ihn denken will ich nicht. Ich will eben mein Kindlein zurück!“
Ruhig schaute die Pfarrerin in das verhärmte Gesicht.Dann sagte sie: „Liebe Frau, Sie müssen's noch lernen,dem lieben Gott zutrauen, daß er's mit Ihrem Kindlein gut meinte und mit Ihnen. Sehen Sie, Ihr Geschick erinnert mich ein wenig an das meine, obwohl das Ihre viel bitterer ist für den Augenblick. Nicht wahr, Sie hatten lange kein Kindlein und haben sich's sehr gewünscht?“Die Frau nickte. „Und Sie haben den lieben Gott angehalten darum mit Bitten und Thränen und ihm alles Gute versprochen, wenn er Ihnen ein Kindlein schenke?“Wieder nickte die Frau. „Sehen Sie, all das habe ich auch gethan. Der liebe Gott versagte uns sechs Jahre
Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 7
Trine hatte eifrig zugehört. Ein augenscheinliches Licht des Verständnisses dämmerte in
ihrem Gesicht. Leise mahnte
99 die Erinnerung an die Stündlein, da sie wie ein eigenwilliges Kind an der Thüre Gottes gestanden; ja sie hatte etwas lernen müssen, es war ihr klar. Sanftere Thränen flossen über die Wangen und ein leises Beben ging durch die gefalteten Hände. „'s ist etwas Wahres in dem, was Sie sagen, Frau Pfarrer,“ seufzte sie auf. „Und denken Sie nur,“ fuhr diese nun weiter, „Sie dürfen nun Ihr Kindlein suchen dort oben, wo die hellen, lichten Scharen sind! Sie müssen nicht mehr fürchten, daß es taub, oder stumm, oder lahm werden könnte, oder ins Verderben des Leibes und der Seele geraten möchte. Gott hat das Schäflein nun schon sicher heimgebracht in seine sonnige, selige Hürde. Nun ist's ein glückliches Kind im Reiche der Englein und wartet dort auf sein Mütterlein. Gewiß schaut es und wartet, ob es auch sicherlich nachkomme. Denken Sie weniger an Ihren Schmerz, mehr an das, was Gott Ihrem Kindlein schon geschenkt hat und dann werden Sie sagen lernen: „Der Herr machet alles wohl.“
Die weinende Frau faßte die Hand der Pfarrerin und drückte sie: „Sie haben mir wohl gethan. Alles habe ich noch nicht verstanden, aber etwas. Es geht bei mir alles langsam.“
Die Besuchende stand auf und sagte, herzlich warm Abschied nehmend: „Wenn Sie wieder verzweifeln wollen und nach Ihrem Bubeli schreien, dann denken Sie schnell an mein Wilhelmli!“ Dabei zuckte es nun verräterisch um diese Lippen.
2*
Der alte Hannes.Schneller als sie gekommen schritt sie zum Pfarrhaus zurück. „Ich muß schnell heim und sehen, was er macht.Es ist mir nie recht wohl, wenn ich den Wilhelmli allein weiß. Gott hat mir ihn geschenkt zum lieb haben, und ich will ihn noch treuer und inniger umfassen als bisher.Mutterthränen sind doch sehr schmerzlich.“
Und die Frau im Hüfli schaute der Daboneilenden nach und dachte: „Sie mag recht haben, daß Gott doch etwas Gutes mit mir im Sinn hatte und mit meinem Kindlein. Vielleicht war's ein Bewahren. Verstehen kann ich's jetzt noch nicht und glauben auch noch nicht recht,aber vielleicht lerne ich's noch.“
Der alte Hannes.Das letzte Abendgold verglomm über dem fernen Buchenwald. Der
Bilchegg-Hannes blickte hinüber nach dem goldenen Strahl, nahm den alten verwetterten
Strohhut vom Kopfe und betete laut: „Herr, bleibe bei mir, denn es will Abend werden.“ So
oft er den Abendschein sah, wie heute, dachte er an jenen einen unvergeßlichen Abend, da
die glückseligen Jünger den Auferstandenen erkannten. Ihm war's fast so zu Mute wie jenen;
er war wohl allein auf der Straße, die eben durch leichtes Gehölz führte einem in der
Tiefe rauschenden Wasser zu; aber ihm war der
101 Unsichtbare nicht ein fernes Wesen, zu dem er nur zuweilen die Hände faltend betete in stummer Ehrfurcht, er konnte sagen:„Mit meinem Heiland steh So lange Jahr' ich herzvertraut In Wonne, wie in Weh.“Und weil's ihm immer zu Mute war, als wär' der Herr ganz nahe bei ihm, fiel es ihm gar nicht ein, als thät'er etwas Lächerliches, wenn er plötzlich laut mit ihm zu reden anfing auf der stillen Landstraße oder daheim in seinem kleinen Haus auf der Bilchegg.
Seine alte, liebe Trude daheim, die verstand das auch so gut und hatte ihre Freude dran. Wie oft hatte sie gesagt: „Du, Alterchen, wir beide haben doch immer die allerbeste Gesellschaft und sind nie allein, auch wenn's schneit und stürmt.“
So wanderte der Hannes auch jetzt in trauter Gemeinschaft, und sein braunes, tiefliegendes Auge unter der sonderbar buschigen Braue leuchtete fröhlich, und über die Falten seines alten Gesichts zog zuweilen ein Lächeln, das nicht vom Abendgold herrührte. Und nun fing er gar noch zu singen an mit eigener, fast tonloser Stimme, das mehr einem melodischen Reden glich:Er ist auf der Himmelsreise Täglich meine Seelenspeise,
Und ich mag nichts andres wissen,Als sein teures Heil genießen.
Der alte Hannes.Es war dem Hannes seliger Ernst, obwohl seine jetzige Reise just nicht erschien wie ein Stück Himmelreise, sondern recht sehr nach der Erdenwanderung aussah. Die Beine machten mühsame Schritte vorwärts; die Bewegung in den Knieen sah steif und schwerfällig aus, kam er doch schon weit her vom Vetter aus der Neurüti, der ihm sein mageres Kuhlein so gern verkauft hätte, da er dringend ein paar Franken bares Geld nötig hatte. Das hellgelbe Tier wanderte gemächlich neben her an der Halfter, die Hannes fest hielt. Es schaute ganz zufrieden vor sich hin; der gemächliche Trott behagte ihm und aus der Stimme des Führers hörte es das menschliche Wohlwollen heraus und das gab ihm trostvolle Garantie für die Zukunft. Zuweilen drehte Hannes seinen Kopf nach ihm um, und wenn er des Tieres ansichtig wurde, sagte er gutmütig: „Ein wenig mager bist schon, weißt, und Staat machen kann ich keinen; aber du wirst dich schon bessern auf der Bilchegg, wart nur.“
Unterdessen waren sie dem Wasserrauschen näher gekommen. Ein klarer sprudelnder Bach
hatte sich den Weg gebahnt durchs Gestein und Gebüsch. Eine kleine steinerne Brücke führte
darüber und gerade dahinter lag ein braunes Holzhaus, das seine wenigen Fenster starr und
kalt auf die Straße richtete. Wie düster lag das Haus unterm Dach der Laubbäume, die am
Abhang standen und wie einsam mußte es da sein beim Rauschen des Baches. Das Haus sah
lotterig und alt aus. Ein paar blau und rote Wäschstücke hingen an einigen Zaunresten, um
in der Abend
103 luft völlig auszutrocknen. Hinter der Hausecke verschwanden eben zwei Buben, und ein
kleineres Mädchen zog den alten Kinderwagen, in dem ein kleines bleiches Kindlein saß,hin
und her. Der Hannes schaute nachdenklich nach der Holzbank am Hause, auf der eine Frau
saß, die gefalteten Hände im Schoß und die Augen starr auf den Boden geheftet. Sie schien
in tiefes Sinnen versunken und alles um sich her vergessen zu haben. „Da steht's bös,“
dachte der Hannes, „die Mutter sieht struppig aus und die Kinder nicht besser; dazu achtet
sie sich gar nicht, was diese machen.Muß doch einmal ein paar Worte mit ihr reden. Er
näherte sich nun vollends dem Hause, dann schlang er die Halfter um den ersten Zaunstecken
und sagte: „Guten Abend Margret, ich wollte doch nicht vorbeigehen, ohne dir guten Abend
gesagt zu haben. Sah dich ja nicht mehr seit dem Tag, da wir den Kaspar hinaustrugen. Wie
geht's denn bei dir?“ „Wie's geht bei uns?“ sagte die Frau auffahrend und mit scharfem
Ton, so als hätte sie lange auf jemanden gewartet, gegen den sie ausleeren könnte.
„Schlecht geht's! Kannst dir's übrigens selbst denken, Hannes, ohne lang zu sinnen, daß es
schlecht geht,wo kein Mann ist, der verdient, und vier Kinder, die essen wollen. Ja so ein
einzelnes Weibsbild ist schlecht dran hier auf dem Lande, wo's nichts verdienen kann.In
die Stadt zög ich, wenn ich nicht dächte, es hat dort ohne mich schon Leute genug zum
Verhungern; aber verhungern müssen wir doch noch alle miteinander.“ Der Hannes
Der alte Hannes.stand etwas überrumpelt da vom mächtigen Redestrom,den er nicht erwartet hatte. Er blickte der Frau ins ver VV tiefe Furchen abwärts, die Sorge und Bitterkeit gegraben.„Ja, nicht wahr, du weißt kaum, was ich meine,“ fuhr ste eifrig fort, du hast's immer gut gehabt; auch jetzt stellst mir noch deine Kuh vor die Augen hin, um mir zu sagen: Sieh, ich vermag's und du hast nur Geißen im Stall.“ „Margret,“ erwiderte da der Hannes schnell,„ich will dir nicht übel nehmen, was du da gesagt hast,du sprichst aus Bitterkeit und Betrübnis heraus; aber du weißt ganz gut, daß es mit dem Guthaben bescheiden ausADD uns redlich bemüht ums Durchkommen, und wenn's nicht langen wollte, haben wir auf den lieben Gott unser Vertrauen gesetzt.“ „Ja mit dem lieben Gott bist du allzeit bereit, du thust gerad immer, als wär er auf der Bilchegg daheim und sonst nirgends. 's ist auch möglich,“ lachte sie bitter, „bei mir ist er wenigstens nicht eingekehrt, nicht daß ich wüßte.“
Damit drehte sie sich um und verschwand im Hause.Hannes blieb einen Augenblick verdutzt
st ehen, dann faßte er sinnend die Halfter und schritt weiter. Das hatte er wahrhaftig
nicht beabsichtigt. Er wollte der Margret ein freundlich Wort sagen, und nun hatte sie ihn
überschüttet mit Bitterkeit. Mißverständnisse thun aber immer weh, und der Hannes wanderte
nur ganz langsam durch die sinkende
Daheim fand er seine Trude seiner wartend. Seine neue gelbe Kuh stellte er sorglich in den Stall zu ihrer Kamerädin und ging dann zu Bett. Aber lange fand er keine Ruhe. Immer sah er das harmverzehrte Gesicht der armen Wittwe und durch das Rauschen des Baches hörte er ihre herbe Stimme. „Ja, ich sollte ihr helfen, ich darf nicht an ihr vorbeigehen wie der Levit am Verwundeten;ich darf nicht vom lieben Gott reden und thun, als wüßt ich nichts von ihrer leiblichen Not; ist sie jetzt schon irre an Gott und den Menschen, so wird sie's immer noch mehr. Mich hat Gott deshalb an ihrem Hause vorbeigeführt, damit ich hinein sähe in dies Herz voll Bedrängnis und Not. Wenn ich nur einen Weg wüßte!“
Betend und sinnend verlebte Hannes die Nachtstunden,und nur langsam fand er Ruhe im Wort der Verheißung:„Ich will dich mit meinen Augen leiten.“
Einige Tage später wanderte Hannes wieder der Tobelbrücke zu; diesmal aber ohne
Begleiter. Es lag ein fester ruhiger Ausdruck in seinem Gesicht, als wollt er sagen:„Heut
soll mich die Margret nicht verblüffen.“ Wieder fand er sie auf der Bank; sie hielt eine
große Schüssel Bohnen auf den Knieen, um sie zuzurüsten für die Pfanne.
Der alte Hannes.Als sie den Herankommenden erkannte, färbten sich ihre Wangen mit einem
tiefen Rot; sie wußte nur zu gut, wie häßlich sie sich benommen hatte das letzte Mal, und
es war ihr eigentlich unangenehm, daß der Hannes sie zwang, ihn schon wieder zu grüßen.
Und nun kam er direkt auf die Bank zu, nun grüßte er sie freundlich wie vormals und setzte
sich noch gar neben sie. Ohne Umschweife begann er.„Ich habe über deine Rede nachgedacht,
Margret, und habe begriffen, wie schwer es dir fallen muß, dich und die Kinder
durchzubringen, und daß dir dabei allerlei Gedanken aufsteigen über Gott und Menschen, ist
auch verständlich. Hunger und Kummer ist der Ackerboden der Verbitterung, und ich seh
jetzt, daß ich früher hätte an dich denken sollen, das wäre nichts gewesen als
Bruderpflicht. Siehst du, an dem Abend hat der liebe Gott zu mir gesagt: ‚Hannes, sieh da
wohnt die Margret, der du helfen sollst. Ich will es auch gerne thun. Erst hab ich lang
nichts gewußt, heut nacht ist mir etwas eingefallen.“ Die Frau hatte erst eifrig die
langen Fäden von den Bohnen gezogen, daß sie sich zusammenringelten zu künstlicher
Spirale; nach und nach hatte sie aufmerksamer gelauscht und stiller ihr Werk betrieben.
„Im Sommer gehst du dahin und dorthin zum Taglohn und im Herbst zum Flachsbrechen, gelt,
das giebt immer ein paar Rappen?“fuhr der Hannes fort. „Ja wohl, und die Buben gehen
täglich in die Beeren und bringen auch zuweilen einen Batzen,“ fiel sie ein. „Gut, es
handelt sich also um den
„Ich hab da eben herausgefunden, daß du's mit dem Weben versuchen solltest.“
Die Frau blickte ihn erstaunt an. „Ich wollt schon,wenn ich könnt, aber ich hab's nie gelernt, und vor allem hab ich keinen Webstuhl, es ist dir doch nicht ernst?“
„Doch, doch, grad gestern sagte mir Gerbers Andres,er habe einen Webstuhl stehen, den er gern losschlüge um ein Billiges, den brächte ich dir herüber; einen Keller hast ja. Weben ist freilich eine strenge Arbeit und nicht immer lustig; aber der Verdienst ist doch besser als nichts,und ich meinte, es wäre einen Versuch wert. Ich thu's auch immer noch mit meinen alten Beinen, und anderes als selbst gewobenes Halblein hab ich nie getragen.“
Margret schaute auf die wackere Kleidung des Mannes,der so gutmütig in ihr Gesicht
blickte. Es gingen ihr allerlei Träume und Bilder durch den Sinn und eine leise Hoffnung
mit eigener Arbeit die Kinder durchzubringen.Endlich sagte sie: „Einen Webstuhl hätten wir
nun und Lust ihn zu brauchen auch, aber weißt du, Hannes, wo soll ich die Hauptsache
hernehmen? Ich habe nie weben gelernt?“„Das hab ich schon alles bedacht,“ lautete die
ruhige Antwort; ich will herüberkommen und dich's lehren. Mehr als glattes Leinen weben,
wirst du nicht mehr lernen, dazu sind deine Füße schon zu steif; aber mit gutem Willen
Der alte Hannes.wird die einfache Kunst schon gehen. Willst du, so mache ich heute den Kauf fertig und morgen schon fahre ich den Webstuhl herüber.“
Margret saß ganz still da. Es stieg ihr etwas in den Hals, das ihr die Stimme wegnahm.
„Ich wollte schon gern, wenn ich's nur lernen kann.Ach, siehst du, Hannes, vergiß doch die bösen Worte, die ich einst sagte, ich meinte, ich müsse die Kinder von mir und fremden Leuten an die Kost geben; jetzt ist's mir grad,als fiel mir ein Alp von der Seele. Wie will ich dir danken, wenn's gelingt. Und du glaubst, daß ich's lernen kann? Und du willst mich's selbst lehren?“ Margret wurde ganz gerührt und eifrig vor lauter Hoffnung.
Hannes stand schnell auf. „Also die Sache nimmt ihren Anfang; aber vergiß nicht, Margret, daß wir nichts thun können ohne den lieben Gott, nicht einmal weben lernen.“
Beschämt wandte sie sich ab. Er aber ging davon.
An einem Abend im Oktober lenkte Hannes wieder seine Schritte dem Tobel zu. Wie oft war
er in letzter Zeit den Weg gegangen und jedesmal hatte sein Herz fröhlich geklopft im
Gedanken an den Nutzen, den seine Gänge eintrugen. Bald war seine Webschülerin genug
geschult, um sich ohne Rat und Beistand weiter zu helfen; heut wollte er nochmals darnach
sehen, ob kein un
Unwillkürlich war er ins Summen gekommen und hatte nicht auf den Weg geblickt, bis er
hart vor dem Häuschen stand. Fast erschrak er da. Plötzlich war es ganz hell vor ihm und
um ihn. Auf dem steinernen Brückengeländer lohte eine qualmende Flamme empor. Auf einem
Blechteller brannte unter züngelnden Lichtern und fürchterlichem Gestank ein großer
Harzhaufen. „Alles dir zu Ehren,Vetter Hannes,“ schrien die Buben, die sich aus der
Dunkelheit loslösten und an seine Hände sich hingen; das Harz haben wir alles selbst
gesammelt im Wald beim Beerensuchen und nun brennen wir's ab dir zu Ehren.Die Mutter hat's
erlaubt, sie hat dich erwartet.“ Hannes wollte lachen über der Illumination, die ihn
überraschen sollte, aber der Husten erstickte sein Lachen, und kaum konnte er Worte finden
im dicken Oualm. Geisterhaft stach das qualmende Feuerchen ab vom dunkeln Waldgrund
Mit frohgemutem Sinn ließ Hannes das Tobelhäuschen zurück. Alles war glücklich und
zufrieden dort; die Mutter hatte ohne großen Unfall ihr Tagewerk gewoben, die Buben
freuten sich des Feuerwerks und alle hofften aus Not und Hunger entronnen zu sein. Lang
noch schaute der Heimkehrende den blauen Lichtschimmer aus der Tiefe
Widerschein hell in sein Herz
„Wie lange ich auf der Bilchegg bleiben werde, weiß ich jetzt noch nicht zu sagen; vielleicht komme ich bald wieder, vielleicht geht's ein paar Tage; aber ich muß zum Vetter Hannes und selbst sehen, wie es um ihn steht.Du bist alt genug, das Hauswesen zu besorgen, Marieli und der Jörg schaut sonst zum Rechten,“ so sagte die Mutter zu den Kindern, während sie ihre notwendigsten Bedürfnisse in ein Zwilchsäckli packte. Dann verließ sie eilig das Tobelhäuschen. Gestern abend hatte ihr eine vorübergehende Nachbarin gesagt, daß es schlimm stehe auf der Bilchegg und der Hannes wahrscheinlich nie mehr aufkommen werde.
Wie war sie erschrocken. Sie hatte gar nicht gewußt,daß er krank sei. Es ging immer lang, bis eine Neuigkeit das Tobelhäuschen erreichte. Den Hannes selbst hatte sie lange nicht mehr gesehen, aber vergessen hatte sie dessen Liebesdienst in jener schweren Zeit der ersten Not nicht und oft an ihn gedacht in den letzten zwei Jahren. Ihm verdankte sie's, daß sie ihre Kinder hatte um sich behalten können, und bald waren diese groß genug, der Mutter tüchtig zu helfen.
Das Gefühl ungetilgter Dankesschuld trieb Margret der Bilchegg zu! Wie sollte das alte
Fraueli, die Trude,
Der alte Hannes.die ihr Lebenlang so schwächlich gewesen war, mit der Pflege ausreichen? Gewiß war die Not groß um das Krankenlager.
Als Margret in die Küche trat, fand sie dort niemand.Wohl aber tönte ihr aus der Stube lautes, tönendes Atmen entgegen und dazwischen die schluchzende Stimme: „Armer Hannes! Wenn ich dir nur helfen könnte!“ Mit leisem Schritt trat sie an die offene Thür, da lag der Hannes im großen Bett an der Wand, abgezehrt und bleich, mühsam Atem suchend und ruhelos den Kopf hin und her bewegend, als suchte er Rast und Ruh für ihn. Schnell entschlossen ergriff Margret eins der harten Kissen, das auf dem alten Lotterbett am Fenster lag, trug es zum Bett und schob es sachte unter die Federkissen, so daß der Kopf des Kranken höher zu liegen kam. Dankbar lächelnd nickte er, doch war er zu müde, ein Wort zu sagen. Erst als der Atem etwas freier aufstieg aus der beengten Brust,schien er sie zu kennen und sagte: „Bist du auch gekommen, nach mir zu sehen? Es geht nun nicht mehr lang; ich gehe bald heim!“
Margret sah, daß ihre Hilfe hier not that. Ihre starken Arme vermochten den Kranken zu heben und ihm das Liegen leichter zu machen, und Trude sagte mit thränenerstickeer Stimme: „Ich bin so froh, daß du kamst, ich wußte mir schier nicht mehr zu helfen.“
Es war zwar der Margret zuweilen ganze bange ums Herz; es war ihr, als triebe sie etwas
fort von der Bilchegg
So standen denn die beiden Frauen bei Tag und Nacht in treuem Dienst und keine ward müde im Lieben und Dienen. Die Augenblicke der Ruhe und Erquickung wurden immer kleiner. Wenn aber Trude sagte: „Lieber Hannes, ist dir schwer ums Herz?“ Dann sagte er:„Nein, o nein, du weißt:Daß ich einen Heiland habe,
Und in seinem Heil mich labe,Und in sein Verdienst mich kleide,Das ist meines Herzens Freude!Du weißt, Trude, so hab' ich's mein Lebenlang erfahren!“
Das war sein Psalm bis zum Ende. Margaret stand daneben und lauschte ihm mit tiefer Rührung und heißer
Sehnsucht. Es war ihr, als blickte sie in eine Schatzkammer voll leuchtenden Gesteins,
von dem sie niemals Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. 9
Der alte Hannes.eine Ahnung gehabt. Machte das so sicher, so ruhig im Leiden und im Sterben, wenn man sagen konnte: „Daß ich einen Heiland habe!“
Ruhig und still ist der Hannes eingeschlafen. Margret leistete die letzten Dienste; dann ließ sie die Trude allein bei der stillen, weißen Gestalt. Sie brauchte ihren Arm nicht mehr. Sie hatte nun ausgekämpft den irdischen Kampf; die Seele war daheim im Reiche Gottes.
Margarete schritt langsam dem Tobelhäuschen zu. Der Morgenwind strich kühl durch die Zweige, und die Sonnenstrahlen schauten erst einzeln auf die Dachschindeln. Dort stand die Bank, wo der Hannes mit ihr gesessen. Wie leer kam ihr der Platz vor. Aber etwas trug sie in sich,das sie vorher nicht gehabt hatte, um eine Erfahrung war sie reicher geworden. Sie hatte gesehen, wie einer stirbt,der einen Heiland hat.
Und als sie an der Brücke stand, unter dem das Wasser laut und feierlich rauschte in der
Morgenstille, da überkam's ihre Seele mit heißem Verlangen, und betend sprachen ihre
Lippen: „Du Heiland des alten, lieben Hannes, werde auch mein Heiland und hilf mir vor dir
leben und einst mit dir sterben wie er!“
Nicht ohne Thränen.Fünf Treppen hoch in der Mansarde des alten Bürgerhauses wohnt Traugott Traber. Die Mitbewohner des Hauses wußten wenig von ihm, nur daß er ein Junggeselle sei, sehr still die Treppen auf- und absteige, alle freundlich grüße, aber mit niemandem plaudere, und irgendwo in einem Notariatsburean in der Amtshausgasse den Tag hinter Akten und Schreibpapier zubringe. Er ist wirklich eine sehr stille Existenz. Zwei Zimmer sind sein Reich.Die kleine, grün tapezierte Stube mit dem grünsammtenen alten Kanapee, den gleichfarbenen Stühlen und der roten,verschobenen Tischdecke siteht ganz traulich aus, und wenn der Feierabend gekommen ist, setzt sich Traugott auf den Tritt am Mansardenfenster, lehnt sich behaglich in seine Stuhllehne und blickt hinaus über die Dächer zu den Schwalben, die mit hörbarem Jubelgeschrei am blauen Himmel kreisen. Den Tritt hat er sich ertra machen lassen,daß er höher hinaufkomme ans Fenster, und das Gefühl der düstern Einsamkeit verliere, denn wenn man hinaussehen kann zum hellen, klaren Himmel und zu den kleinen Kreaturen, die sich darunter tummeln im Schutz des ewigen Vaters, kommt man sich nie allein vor. Dann träumt er erst ein wenig, bis er mit raschem Griff die Zeitung nimmt und sich in die Lieblingsarbeit aller Männer stürzt. Ohne Zeugen ist er aber dabei nicht. Auf der Fenstersimse
2*
Nicht ohne Thränen.stehen rotleuchtende Geranien und schneeweiße Nelken, und schauen bald nach den Sonnenstrahlen, die golden herein winken, bald nach dem stillen Leser, der ihnen den Abendtrank noch nicht gebracht hat. Und dort an der Wand blitzt es zuweilen glänzend auf; dort hängt ein Waldhorn an einem hellblauen, verblaßten Band, durch das sich ein Eichenzweig schlingt. Es ist zwar schwer zu erkennen,ob's ein Eichenzweig ist oder irgend etwas anderes, denn dürr und zusammengeschrumpft hängen die Blätter daran.Der leiseste Windhauch würde genügen, sie zu trennen vom AÄstchen. Eine Spinne hat auch ganz schlau ihre grauen Fäden darum gesponnen, und Traugott läßt sie gewähren,weil er mit ihnen die welken Zeugen der Erinnerung zerstören würde! Wie lang ist's her, seit es nicht mehr von der Wand kam das alte Horn, und doch blickt Traugott zärtlich zu ihm hinüber. Wer fühlte es nicht warm werden am Herzen beim Anblick eines Gliedes der schönen goldenen Jugendzeit!
Er war eigentlich noch nicht alt, der Mann in der Mansarde, erst in den vierzigen; aber
ein Magenleiden hatte ihn früh alt gemacht, ihn getrennt vom Kreise der Genossen, die beim
schäumenden Trunk sich freuen, und ihn gezwungen, ein sehr ruhiges Leben zu führen. Die
Frau des Tapezierers im Erdgeschoß besorgt ihm sein Frühstück aufs Zimmer und bringt ihm
den Abendthee mit DD hat er ihr alle Verrichtungen anvertraut, die einer weib
Auch jetzt, da sich Herr Traber eben vertiefen will in den sozialpolitischen Leitartikel,
klopft es an die Thüre,und sein Hausgeist tritt herein, beladen mit einem Berg weißer,
steif geplätteter Hemden. „Entschuldigen Sie,Herr Traber, wenn ich stören sollte; die
Wäsche ist eben gekommen, und ich wollte sie gleich heraufbringen.“ „So,so,“ erwidert der
Gestörte, „legen Sie sie doch auf den Tisch, ich will sie dann weiter befördern.“ Es war
ihm stets ein kleiner Schrecken, wenn seine Wäsche ging oder kam und er sich mit diesen
Sachen abgeben mußte. Auch jetzt sah er mit gemischten Gefühlen zu, wie auf seinem Tisch
die steifen Dinger sich breit machten. Frau Marti blickte unschuldig nach ihm hinüber. Ihr
gefiel die Bürde,die sie eben abgeladen. Kein Knopf fehlte und kein Bändchen; man konnte
doch sehen, wie gut sie ihren Pensionär in Ordnung hielt. Sie hielt große Stücke auf ihn,
war er doch ein guter generöser Zahler und nie unfreundlich oder grob, wie andere; aber
daß er immer so allein hockte,das ärgerte sie zuweilen. „Sie sollten auch nicht immer so
allein sein, Herr Traber,“ platzte sie los, „dazu sind Sie eigentlich noch viel zu jung.
Giebt es denn nicht genug junge Leute, die froh wären an Ihrer Gesellschaft?“„Meinen Sie?“
gab der Gefragte ruhig zurück, „ja, da müssen Sie mir nun schon meinen eigenen Geschmack
lassen,Frau Marti, sehen Sie, es ist für mich besser so. Mit
Nicht ohne Thränen.Menschen umgehen macht mich unglücklich; allein bin ich am frohsten, da thut man niemanden weh, und niemand sticht einem dahin und dorthin; allein ist am besten!“
Dabei lächelte er ganz freundlich seine gute Frau an.Diese hatte dieselbe Rede schon oft gehört, eben weil sie die gleiche Ermahnung schon oft hatte abgehen lassen.Wieber schüttelte sie den Kopf und murrte: „Ich kann's nicht recht fassen, aber eben jeder hat seinen Kopf!“ Damit ging sie zur Thür hinaus.
Traugott blickte ihr nach, dann sprach er laut vor sich hin: „Ja, ja, einmal hab' ich schon nicht geträumt, daß ich so einsam sein würde; aber 's ist besser so. Als ich es nicht war, da hatte ich immer nur Herzweh. Ich hing mich an die Menschen, und wenn sie von mir gingen,ließen sie ein schmerzend bittres Loch. Jetzt hang ich an niemand und niemand hängt an mir; nun thut's niemand weh. Zärtlich blickte er zu seinem Waldhorn hinüber und packte dann seine Wäsche unter den Arm, um sie im Schrank der Schlafkammer unterzubringen.
Frau Marti aber trabte schweren Schrittes die Treppe hinunter. „Niemand kommt draus,
warum er immer so allein sein will. Er sagt mir nichts,“ murmelte sie; „man würd' meinen,
er wär' ein versessener Egoist, der nur an sich denkt und für sich sorgen will; aber das
ist er nicht.Die Kinder vom ganzen Haus und in der ganzen Straße hangen ihm an, und jeden
Tag, wenn er vom Mittagstisch in der Herrenpension kommt, klaubt er was aus der
Traugott war nicht immer so allein gewesen. Einst war auch er ein lustiges, frohes
Bürschchen. Wie gern dachte er an jene Zeit zurück! Im entgegengesetzten Stadtteil von
dem, da er jetzt wohnt, ist sein Vaterhaus gestanden. Es lag in einer Reihe niederer
Häuser, die ihre wenigen Stockwerke gerettet hatten aus einer Zeit, da man noch keine
Mietnot kannte und gerne etwas breit und weit für sich wohnte. Jedes dieser Häuser hatte
nach hinten einen kleinen Hof, der je nach dem Geschmack der Bewohner zum Geschäftsbetrieb
oder zur abendlichen Erholung benutzt wurde. Der Vater war Uhrmacher und hatte nach hinten
seine Werkstatt verlegt, da dort mehr Licht auf die kleinen Rädchen und Schräubchen fiel,
die er mit der eingekniffenen Loupe betrachten mußte. Derselbe war ein stiller, etwas
mürrischer und unzugänglicher Mann, der mit dem kleinen Traugott wenig anzufangen wußte,
und dem die ältere Schwester Trinchen, die nichts konnte im Leben als lachen, lieber aus
dem Weg ging. Die Mutter war aber eine herzensgute Mutter für ihn gewesen, die für ihn
durchs Feuer gegangen wäre und die treulich da
Nicht ohne Thränen.für sorgte, daß seine Jugendzeit so wenig an Sonnenschein verlor als
möglich. Den holte er sich aber am liebsten im Hofe des Nachbarhauses. Dort wohnte das
einzige Töchterlein des Bankangestellten Klauser, ein herziges, rotbackiges, frisches
Ding. Dorthin zog's ihn mit unveränderlicher Anziehungskraft, und so oft er frei war von
der Schule und ihn die Mutter auch sonst nicht brauchte,war er im nachbarlichen Hofe. Der
war auch ganz besonders gestaltet. In einem viereckigen, mit Erde gefüllten Kistchen wuchs
ein Johannisbeerstrauch, der im Juli wirkliche rote Beeren trug, zu deren Schmaus er
regelmäßig von der kleinen Freundin eingeladen wurde. Der grüne Strauch war Huldas
Lebensinteresse, und von dem Augenblick an, da er im Frühling die ersten Knospen trieb,
der Gegenstand ihrer Pflege. Mit kindlicher Freude steckten sie dann zusammen die
Kapuzinersamen an seinen Fuß und bewachten deren erste Lebensregungen. Dann hatten Huldas
Eltern eine grüne Bank hinausgestellt, auf der die ganze Familie sich lagerte in der
Abendkühle, und oft,wenn die stille, schmale Mondsichel sichtbar ward in dem bescheidenen
Himmelsausschnitt über dem Hofe, sang man da gemeinsam: „Guter Mond, du gehst so stille.“
Traugott würde bis an sein Ende die verschiedenen Stimmen hören, als sängen sie jetzt noch
hart an seinem Ohr, und Huldas helles Stimmchen vor allen. Ach, diese Bankstunden waren
doch allzu schön. Als er älter wurde, ward das reine Singkonzert bereichert durch die
Begleitung seines
Eines Tages hörte er plötzlich im Vorübergehen, wie zwei Nachbarfrauen zusammen sagten: „Jetzt giebt's bald eine Brautschaft in der Nachbarschaft. Na, die Hulda wollte jeder gern, sie ist schon darnach!“ Das war für Traugott wie ein plötzliches Erdbeben. Er war so sicher auf seinem Grund gestanden, hatte so fröhlich gelebt im Genuß ihrer Nähe und nie, nie etwas anderes gedacht.War's denn möglich, daß sie nicht so gemeint hatte wie er?Ja, freilich, er hatte ihr nie gesagt, daß er sie liebe und noch weniger wie sehr ers thue, hatte ihr nie irgend wie ein Zeichen gegeben; aber sie mußte es ja wissen, es konnte nicht anders sein. Traugott stürzte in sein Stüblein! Wie viel hatte er zu verarbeiten und nachzudenken.
Richtig ja, er hatte in den letzten Tagen oft einen jungen Mann hineingehen sehen, einen
Lehrer, der Brille
Wie harrte er des Augenblicks, da Hulda kommen würde, ihre Blumen zu begießen. In ihrem
Gesicht wollte er die Wahrheit lesen. Er harrte vergebens. Die Blumen blieben ungetränkt.
Erst als die Dämmerung dicht und dichter über die Höfe sank und schon das Mondsichelchen
scharf und klar sich abzeichnete am blauschwarzen Himmel, hörte er die Hinterthüre knarren
und sah sie heraustreten, aber nicht allein, sondern hinter ihr kam eine andere Gestalt,
die zog ihren Arm in den seinen und neigte sich vertraulich zu ihr.
Es war ein dunkles Stündlein, das Traugott dori durchlebte. Es war durchzogen mit hundert: Warum?denen es keine Antwort gab, als die stille Beugung unter den Willen dessen, der für uns unerforschlich dem einen giebt und dem andern verweigert.
Dort ist er der stille Traugott geworden, der er später war. Niemand hat einen Laut gehört aus seinem Munde.Nur die treue Mutter ahnte, was in ihm vorging. Schen ist er von da an am Nachbarhaus vorübergeschlichen und hat Hulda nie mehr angesehen aus Furcht, sie könnte es ihm ansehen, wie herb es ihn ankomme.
Am Hochzeitstage, als die Kutsche die liebliche Braut für immer seiner Nähe entführt,
seinem alleinigen Besitz entrissen hatte, da nahm Traugott sein Waldhorn unter den Arm,
zog hinaus in den abendlichen Wald und lagerte sich unter den Eichen, durch die die Sonne
lichte Ringe warf auf den dunklen Waldboden. Er suchte Ruhe und Frieden für sein Herz. Es
ward ihm auch wohler in der Einsamkeit des Waldes, und das Pochen des Herzens, das
Von da an hat er sein Waldhorn nicht mehr berührt,und wenn der Eichenzweig gar so hinfällig wurde, hat er ihn mit einem neuen vertauscht.
Hulda ist auf ein naheliegendes Dorf gezogen, wo ihr Mann die Schule führte, wie sie
sagten in musterhafter Weise. Traugott aber sah sie kaum mehr.
Und um etwas tragen Schmerz ꝛc.“so meinte Traugott damals noch, und so wandte er denn noch innigere und tiefere Liebe der treuen Mutter zu.
Der Vater starb; die lustige Schwester trat in den eigenen Hausstand. So blieben die beiden allein im gewohnten Hause. Traugott wäre gerne fortgezogen in einen andern Stadtteil; aber da der Mutter Liebe und Erinnerung fest haftete an den gewohnten Räumen, brachte er gern das Opfer. Es hatte sich für ihn doch genug geändert,um ihn nicht mehr allzu lebhaft zu mahnen an die vergangene Zeit. In den unteren Räumen, da der Vater über seinen Rädchen gesessen, war jetzt ein Matratzenmacher eingezogen und vor dem Fenster seines Stübleins hatte er eine Reihe Blumenstöcke aufgepflanzt, die ihm als Vorhang dienten und den Ausblick in den kleinen Hof verdeckten. Die Jahre zogen ohne große Ereignisse an den beiden vorüber. Traugott ließ für sich sorgen wie in den Kinderjahren und fühlte sich behaglich, wenn er alle seine Bedürfnisse bereit und liebevoll beachtet fand. Dafür empfand er aber das wohlige Bewußtsein, daß seine Arbeit das alternde Mütterlein jeder Sorge enthob.
Sie hatten sich so an ihr stilles Leben gewöhnt und auch die andern Leute konnten sich's
nicht anders denken, so daß alle jäh aus ihrer Ruhe aufschreckten, als plötzlich der Tod
Nicht ohne Thränen.hineintrat ins stille Haus und die alte Mutter dem Sohne entriß. Wieder fühlte er sich völlig entwurzelt und in bielen Beziehungen noch mehr als je. „Hab ich denn ein besonders dummes Herz oder ein besonders weiches,“ fragte sich Traugott, „daß ich immer den Boden verliere, wenn mir ein geliebtes Menschenkind entrissen wird? Nun ist es aber Zeit, daß ich mein Leben anders einrichte und mich nicht mehr an einen Menschen hänge. Ich habe nur Schmerz davon! Es geht ja nun nicht allzulang mehr! So lang werd' ich nun wohl allein sein können. Es ist besser, es weint niemand um mich, wie ich um die Mutter weinen muß.“
Mit diesen Gedanken wappnete sich Traugott zum Auszug aus dem alten Hause, in dem sein Herz Blüten getrieben in Liebe und Glück. Mit ihnen hat er sich eingemietet in der Mansarde bei Frau Marti.*
Etwas mehr als ein Jahrzehnt hat er dort gewohnt.Da hat sein Magenleiden eine schnelle
und böse Wendung genommen. Mit klarem Blick hat er seinen Weg erkannt und gewußt, daß es
sich um die letzten Schritte handle.„Rufen sie eine Schwester aus dem Diakonissenhause,“
sagte er zu Frau Marti, die ihn ab und zu besorgt hatte, „jetzt kann ich mir nicht mehr
selbst helfen. Es geht nicht mehr lang.“„Um Gotteswillen, Herr Traber, Sie meinen doch
nicht,daß es schlimm gehen könnte?“ gab sie zur Antwort und wollte mit dem Taschentuch ins
Gesicht fahren. Ängstlich flehend schaute er sie an und bat: „Bitte nur keine
Thränen.
Die gute Frau trollte davon. Sie wußte, daß wenn er in dem Ton sprach, das Gespräch nicht weiter fortgesetzt werden durfte, und daß sie nichts Besseres thun konnte als seinen Wunsch erfüllen.
Die Schwester kam und leistete dem Kranken die letzten Dienste. Als sie eintrat, musterte er sie einige Sekunden,dann legte er sich beruhigt hin. Sie war eine von den linden und stillen Naturen und störte ihn nicht mit Schwatzen.Sie erinnerte ihn sogar etwas an seine Hulda, deren Gestalt er nie vergessen hatte und die er wachend und träumend an seinem Bette sah, und die er segnete mit seines Herzens letztem Zug.
Die Schwester hatte gar erstaunte Augen gemacht, als sie ihm einmal das Waldhorn von der Wand nehmen und auf die Decke legen mußte. Schon hatte sie ermahnend die Lippen zu öffnen und ihrer Angst, er möchte blasen wollen, Ausdruck zu geben versucht; aber er hatte energisch den Kopf geschüttelt. Still hatte er das alte Instrument angeschaut und gemurmelt:
„Der wird auch Wege finden,
Da dein Herz gehen kann!Ja, und bald wird es nun ganz gehen, nein, jauchzen und singen können!“ Ein dankbares Lächeln verklärte ihn.
An einem frühen, sonnigen Morgen lag Traugott still
Dora Schlatter, Im Dienst des Nächsten. q9
Nicht ohne Thränen.und bleich auf seinem weißen, letzten Lager. Wie ruhte er aus! Man sah's der langgestreckten Gestalt an, wie sie so recht von Herzen ruhte. Aus war der Lebenskampf und all das stille Herzweh. Da öffnete sich leise die Thüre und Frau Marti kam herein und hinter ihr her der Anton und das Eveli und ganz zuletzt die kleine Nelly von der Straße. Alle standen still und ehrerbietig um die ruhende Gestalt her. Dann streckte Eveli die Hand voll Blumen der Mutter ins Gesicht, daß diese sie ihm abnehme. „Ja, gieb her,“ sagte sie, „er hat's verdient,daß ich ihm meine schönsten weißen Nelken abschnitt. Er soll sie mitnehmen, war er doch immer so gut und freundlich. Gelt, Kinder, ihr habt ihn lieb gehabt!“ Da schluchzten alle: ja. „Er hat's zwar nicht leiden mögen,wenn man's ihm sagte, aber jetzt darf man's sagen, er wird uns sehr mangeln, wenn er nicht mehr die Treppe auf und absteigt; mir kommt das Leben gar nicht mehr vor wie früher. Immer hätte er einen freundlichen Gruß und ein stilles Lächeln, und für euch etwas Süßes, nicht wahr, Kinder.“ Und wieder antworteten sie: ja. Dann strich die gute Frau liebkosend über die weißen Hände und legte ehrfurchtsvoll die duftenden Nelken darein, dann wischte sie die hellen Thränen von der Wange und seufzte:„Ich wollt', er wär' nicht gegangen.“ Und die Kindlein schluchzten mit.
So hatte auch der stille Traugott Traber in der Mansarde seine Thränen gefunden, die um
ihn flossen.
Auf dem Älpli
Zehn Lichtlein
Der Hofbube.
Ein starker Arm und ein starkes Herz Der erste Schritt.
Ein Heckenröslein
Die silberne Reise s Wilhelmli.
Der alte Hannes.
Nicht ohne Thränen
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