Heinz Tillmann: ELTeC Ausgabe Tavel, Rudolf von (1866-1934) ELTeC conversion Automatic Script 423 87950

2021-12-14

Transcription UB Basel Scan UB Basel Heinz Tillmann Tavel, Rudolf von Verlag A. Frande Bern 1920

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Mir ist mitten in dieser öden Winterszeit, da bleigraue Wolken das Land überwölben, als sähe ich ihn noch, den kleinen Heini Tillmann mit den ja, auch bleigrauen, aber in warmer Treuherzigkeit leuchtenden Augensternen und dem immer verstrubelten braunen Lockenschopf, wie er im Riedgras liegt und mit einem dürren Ästchen winzige feine Bächlein auf die „heiße Platte“ leitet. Die „heiße Platte“ nannten sie im Werlental einen anderthalb Ruten großen Gletscherschliff, der abgeschürft in der Berghalde lag. Im Frühsommer heizten die Sonnenstrahlen just während der Nachmittagsschule den kahlen Stein derart an, daß die heimkehrenden Kinder ihren Spaß daran fanden, einander die Hände auf den Fels zu drücken. Der VögeliRuedi setzte seine kleinen Kolleginnen immer damit in Staunen, daß er Phosphorhölzchen an dem heißen Stein in Brand setzte angeblich ohne zu streichen.

Für den herrlichen Sommerduft, der sich über die Wiesen des Tales und die dunklen Wälder der Hügelketten legte, hatte Heini keinen Blick, nicht einmal für die Schneeberge, die zwischen Ballenbühl und Belpberg herein den durch baumreiche Schächen in die weite Welt hinausfliehenden Gletscherwellen der Aare nachstaunten.

Die große Uhr drunten am käsbissenförmigen Kirchturm von Schöchwyler hatte gut mahnen; Heinis einziges Augenmerk galt den schillernden Dämpflein, die wie Elfenschleier von der „heißen Platte“ in die lachende Tichtflut des Himmels entschwanden.

Plötzlich aber spürte der träumende Knabe etwas mächtig Schattendes herankommen, und noch bevor ihm klar zum Bewußtsein gekommen, was das zu bedeuten hatte, stand schwer und groß der Vater hinter dem aufgeschreckten Büblein. Jäh durchzuckte den Kleinen die Erinnerung an den neben ihm im Gras versunkenen Henkelkorb, an den Gang zum Krämer, die Schule, die längst verlaufene Kinderschar, die fernen Glockenschläge von Schöchwyler, die Heimkehr und an die Mutter. Potz Kuckuckt Der Vater schon da und ich noch nicht daheim! Heini beachtete auch jetzt noch nicht, daß ja die Schatten des abendwärts liegenden Amselberges noch gar nicht über die Werlen herangeschlichen waren, daß also der Vater früher als sonst heimgekommen sein mußte. Er schnellte auf, zupfte sein Röcklein herunter, wunderte sich, daß er noch keinen Bretsch auf seinem Sitzlederchen fühlte und noch mehr,daß der Vater das Sumpfgemälde auf seinen Zwilchkleidern nicht einmal zu bemerken schien, während Heini doch die Nässe bis aufs Bäuchlein herein verspürte.

Diese Empfindungen waren sich blitzschnell gefolgt und wurden alle miteinander ausgewischt durch des VDaters Frage: „Was treibst du da?“

Nun tat Heinis Herz einen Hupf aus der Angst.„Schau, wie das dampft,“ sagte er schnell und wollte den Vater für sein Spiel interessieren. Aber der sah nicht einmal hin, hieß vielmehr durch eine Handbewegung sein Söhnchen den Korb aufnehmen und schritt ihm voran dem Wege zu. Der Weg schlängelte sich auf halber Höhe dem weiten Graben entlang, der die große Tallehne durchschneidet, kreuzte beim Kehrhüsi die Straße,die in groß hingezeichneten Serpentinen das Werlental mit dem östlichen Hochplateau verbindet und über dessen waldige Hügelzüge ins Emmental sich verliert.Vom Kehrhüsi schlüpft der Fußsteig durch eine Verengerung des Grabens in die Känelmatt hinauf, eine weltabgeschiedene, flachgründige Mulde, die vor Zeiten ein Bergseelein geborgen haben mag. Jetzt standen da sonnenhalb ein ansehnliches Bauernhaus und etwa hundert Schritte herwärts ein Stöcklein. Hier wohnten Tillmanns. Das Heimet war anzuschauen wie der leibhaftige Friede auf Erden, in Sonderheit das Stöcklein.Dor seiner weißgetünchten, durch dunkelbraune Balken in drei und viereckige Felder geteilten und von einem gewalmten Bernerdach gekrönten Fassade lag ein mit niedrigen Buchshecken ebenso ordentlich abgeteiltes Gemüsegärtlein, aus dessen Zierbeeten schlanke Rosenstämmchen ihre duftstrsmenden Maien emporhielten.Zu beiden Seiten bauschte sich das dunkelgrüne und elfenbeinfarbene Gescheck üppiger Hollunderbüsche, und etwas abseits standen in einem offenen Häuschen zwei

Reihen altmodischer Bienenkörbe, umschwärmt von honigschweren Völkern. Gegen Morgen rankten sich blühende Bohnenstauden in einem stattlichen Wälochen von hochragenden Sticheln empor, und daneben grinste in farbenfreudiger Zugskolonne eine Kompagnie Kohlköpfe zu der silberig flimmernden Pappel hinauf, die wie ein Kampanile das Stöcklein behütete.

Wenn trotz alledem den Bewohnern des Stöckleins in diesem Paradies nicht ganz so wohl war, wie man meinen sollte, so waren daran nicht etwa die kleinen Verhältnisse oder die Einsamkeit schuld, auch nicht die harte Pflicht, welche den arbeitsamen Vater Tillmann an jedem Werktag in die brausende Welt hinausrief,sondern etwas, worüber jeder Weltweise hellauf lachen müßte. Da guckte nämlich über den schön abgerundeten Hügelwalm, der wie ein mütterlicher Arm die Känelmatt von der übrigen Welt abschloß, etwas wie eine versteinerte Riesenknospe, und das war der stilvolle Firstknauf des Schlosses Prankenau. Ja, dieser seit mehr als hundert Jahren an den mächtigen Firstbalken geschmiedete guirlandengeschmückte Topf drohte, weiß Gott,zur Aschenurne von Hans Tillmanns Seelenruhe zu werden. So oft er morgens aus dem obern Stock auf die Laube hinaustrat, warf ihm der Knauf den ersten Sonnenstrahl entgegen, und abends, wenn er noch sein Pfeifchen auf der Laube schmauchen wollte, um den letzten Sonnenhauch auszutkosten, saß ihm der kokette Schattenriß mit seinem ganzen hohlköpfigen Rokoko 9 AÜbermut mitten im schönsten Abenorot. „Hans,“ hatte Frau Cillmann schon oft gesagt, wenn sie ihn von Kanonen, Herunterschießen und dergleichen Dingen tnurren hörte, „ich wollte, mir täte niemand mehr zu leid, als der taubstumme Knopf da drüben.“ „Frau,“pflegte dann Tillmann zu poltern: „Red' nicht von Dingen, die du nicht verstehst. Taubstumm! Der Hallunke ist so wenig taubstumm als ich. Der redet von seinem Dach herunter wie ein geschliffener Advokat.Wenn er sich noch begnügte mit dem, was er wider Willen aus seinem dicken Bauch herausgluckst von vergangenem Wohlleben und gottlosem Übermut!? Dann könnte unsereiner noch lachen, wenn eine Krähe sich auf seinen Hut setzt und triumphiert: 8 war, s war.Aber der hält sa ganze Reden zur Verteidigung derer,die ihn auf diese Warte gestellt haben, ein Geflunker von berechtigter Lebenslust und besänftigender Anmut.“Ja, von seidenen Stsöckelschuhen und wunderlichen Frisuren, von betäubendem Parfum und schnörkeligen Komplimenten surrte die Blechurne, wenn Hans Cillmann in redlichem Schweißdunst seine kotbeschwerten Schuhe müde von sich warf.

Heini hatte schon hin und wieder seinen Vater etwas wider den Knauf brummen gehört. Was es damit für eine Bewandtnis hatte, war ihm unklar. Einmal hatte er danach gefragt; aber er tat's nie wieder. Das war sicher. Ärgerte sich die Mutter über das Gepolter, so tröstete sie Heini: „Wart nur, wenn ich einmal groß bin!“Heute war Heini hingegen mit Trost nicht so schnell bei der Hand, als er abends, auf der LCaube spielend,die Mutter aufbegehren hörte.

„Was ist jetzt das wieder ?“ schalt sie in der Küche.„Heini, wo bist?“ Der Kleine wollte sich treppab stehlen; aber der Mutter Befehl, hereinzukommen,kreuzte seinen Schleichweg. Da half nichts. Hinein mußte JungHeinrich, in die Küche, wo 0 Schreck das Körblein ausgepackt auf dem Tische stand.

„Wo bist mit dem Korbli gewesen 7*

Dda war weder Stimme noch Antwort. Bange Ahnung erstickte jeden Entschuldigungsversuch. Es hätte auch der väterlichen Aufklärung nicht bedurft, als die Mütter den mit Zuckerwasser getränkten Boden des Korbes zeigte und schimpfte, auch das Mehlsäcklein sei „drecknaß“ bis halb hinauf.

„Dir will ich das Koseln austreiben,“ sagte der Vater, und auf einmal schwebte Heini Cillmann in des Vaters linker Hand, wie weiland Ganymed in den Alauen des Adlers, auf die Laube hinaus, und tat vor Angst genau dasselbe wie der kleine Ganymed, der vor Heini nur den Vorzug genoß, keine netzbaren Höslein anzuhaben. Der Vater das war Erfahrungstatsache kriegte den herzförmig geflochtenen Möbelklopfer immer verkehrt zu fassen, wenn's an lebende Wesen ging. Seiner im Garten arbeitenden Schwester Röseli vermochte Heini mit Aufbietung aller Energie das Wehegeschrei vorzuenthalten; aber das wupp 11 wupp wupp der Meerrohrgerte hörte sie doch, und sie schwankte zwischen Mitleid und Schadenfreude, da der Knirps eben noch unartig mit ihr gewesen. So war nun natürlich bei der Schwester auch kein „Heile, heile Segen ...“ zu erwarten. Heini verkroch sich deshalb mit einem furchtbaren Groll wider die Menschheit im Kaninchenstall. War auch aus den runden Achataugen seiner Insaßen kein eigentliches Mitleid zu lesen, so tat's doch dem Büblein unsäglich wohl, daß so ein harmloses flaumiges Wesen seine Liebkosungen sich bedingungslos gefallen ließ.

II.Ein Sinnbild jugendlicher Lebenslust schoß der große Springbrunnen von Prankenau in das dämmernde Gewölbe der Roßkastanienbäume, welche soweit über den runden Teich hereinragten, daß nur noch ein kleines Stück blauen Himmels über der Mitte frei blieb. Seit Jahren schon hatte keines Gärtners Messer mehr dem Wachstum gewehrt. Und kaum öfter als einmal des Jahres befreite jemand den Spiegel des kristallhellen Wassers von den grünen Schlamminseln, durch deren Risse und Lücken man die rotgoldenen Fische herumschwänzeln sah. Wenn ein dürrer Ast in den dichten Kranz schöner Schilfgewächse gefallen war, so konnte es Monate dauern, bis semand das Holz herauszog 12 und die geknickten Halme abschnitt. Und der spärliche Kiesbelag ließ allerlei aus den Wegen sprießen, was nicht hingehörte. Durch die Lücken des tiefhängenden Geästes aber sah man draußen auf dem Gebreite des sanften Berghanges, wo der pflug immer zur rechten Zeit das Unterste zu oberst kehrte, das goldene Gewoge reifenden Kornes. Und fern, im rosigen Dufte des Sommertages, ragten über die den Fleiß preisenden Gefilde die gewaltigen Zeugen der Freiheit, die unberührten Eiszinnen der Alpen.

Auf der entgegengesetzten Seite ließen die zur Erde nieder hängenden Aste einen schmalen Ausgang frei.Da sah man einen schnurgeraden, mehrere Terrassen in Treppen überwindenden Gartenweg zum Mittelportal des Schlosses hinaufführen. über eine dieser Treppen herunter nahten eine schlank gewachsene jüngere Dame, ein großer, eingetrockneter Herr mit weißem Schnurrbart und ein ungefähr siebenjähriges Mädchen.Am Fuß der nächsten Creppe blieb der Herr stehen und wies unter lebhafter Bewegung nach den Treppenstufen und der Terrassenmauer, in deren Ritzen ein kleiner Urwald von Farnkräutern wucherte. Das Funkeln seiner blutunterlaufenen Augen konnte man des verwaschenen Panamahutes wegen nicht sehen. Aber das energisch vorgestreckte Kinn und die nervösen Bewegungen seiner Hände ließen von weitem erkennen,daß der vereinsamte Schloßbesitzer seinem schönen Besuch eine Vorlesung über den unerschwinglichen Unterhalt des einst nach fürstlichen Vorbildern angelegten Landsitzes hielt. Er mußte stark aufgetragen haben, denn die Dame lachte hellauf und bewegte dabei ihren Kopf mit einer Anmut, welche den alten Herrn reizen mußte,durch neue Lamentos die nämliche Wirkung zu erzielen.

Die kleine Antoinette war an den Teich vorausgeeilt, was die Dame bewog, einen rascheren Schritt anzuschlagen. Leicht, vornehm und entschlossen ging sie,den trippelnden Herrn hinter sich lassend. Der nahm den Hut ab, zog aus seiner zwilchenen Gartenjacke das Taschentuch und wischte sich das bronzefarbene Grenadiergesicht ab. Herr Scipio von GuldwangPrankenau hatte als junger Offizier des 4. Schweizerregiments Catania erstürmen helfen und vor Palermo eine ehrenvolle Narbe davongetragen. Trotz dem Einsiedlerleben der letzten Jahre hatte er jene sorgsame Selbstachtung noch nicht eingebüßt, die dem jungen Offizier anerzogen wirod. Jetzt trug sie ihm neben dem Respekt auch schon ein gewisses spöttisches Lächeln seiner bäurischen Nachbarn ein. Sie wußten zu gut, daß der Alte keine Gewalt über sie hatte. Der Frau seines Neffen Fernand hingegen sagte das ergraut Kavaliermäßige sehr zu.Sie weilte gerne in Prankenau. Bis vor kurzem noch hatte das Bewußtsein, die Sonne des Martinssommers um den Onkel zu verbreiten, für sie einen Hauptreiz der Aufenthalte im Schloß ausgemacht, und deshalb wollte sie sich durchaus nicht in den Gedanken finden,s14 daß es dem alten Herrn ernst sei mit der Absicht eines Vertaufes. Gerne hätte der alte Offizier das herrschaftliche Gut seinem Neffen zu ganz besonderen Vorzugsbedingungen abgetreten, nur um es dem Hause Guldwang zu erhalten. Aber Herr Fernand, der, ursprünglich Jurist, nun ganz den Bankgeschäften lebte und einen vielverheißenden Weg vor sich sah, würde zum Leidwesen seiner Frau den abgelegenen und kostspieligen Familiensitz auch als reines Geschenk nicht angenommen haben. Frau von Guldwang wußte, daß es daran nichts mehr zu rütteln gab, und da sie ihrem Mann von Herzen ergeben und zudem von der Richtigkeit seiner nüchternen Berechnungen vollkommen überzeugt war,beschränkte sie sich darauf, alles zu tun, um den drohenden Verkauf hinauszuschieben. Wo immer sich eine Gelegenheit bot, trat die kluge Frau zwischen den vergrämten Oheim und seine Tandleute. Mit ihrer Herzensgüte entwaffnete sie die von beiden Seiten geführten Stöße. Wer in der Umgegend etwas zu bedeuten hatte,stand der Dame mißtrauisch gegenüber. Die kleinen Teute aber suchten keinen Grund, ihre Güte abzulehnen.

Dem alten Herrn wurde die Taktik seiner Nichte von Jahr zu Jahr unbequemer. Im Laufe des Winters festigte er seinen Entschluß, Prankenau zu verkaufen. Und hatte ihn das Neusahrsdiner bei seinen VDerwandten in der Stadt ins Wanken gebracht, so verhärtete er sich hernach desto mehr in seinen Absichten.Zog aber mit Frühlingserwachen auch die Anmut der jungen Frau wieder in Prankenau ein, so schmolz in seinem Entschluß alles Mark, und der Bär vergaß über dem Krauen der rosigen Finger in seinem Balge das Brummen. Dorothea führte ihn, wie heute, am Seidenband ihrer Artigkeit spazieren. Und so kam's denn,daß er ihr auch artige Dinge sagte. Als sie ihr Kind eingeholt und aus der gefährlichen Nähe des Teiches weggeschickt hatte, sagte der alte Racker zu seiner Begleiterin: „Elle sera belle, très belle, votre fille.“Zu diesem Kompliment war er durchaus berechtigt.Antoinette war nicht ein besonders hübsches Kind, aber dem welt und menschenkundigen Offizier konnte nicht entgehen, daß die verhältnismäßig groben Züge des Mädchens sich einst zu großer Vollkommenheit auswachsen würden. Besonders edle Linien zeigten ihre starken Augenbrauen und der verhältnismäßig große Mund, in dessen Winkeln ein Lachen beständig auf Erlösung lauerte. Dazu saß ihr ein bestechender Schalt in den blauen Augen. Das reiche schwarze Haar, die volle Gesichtsmuskulatur und der aufstrebende Wuchs,der sich schon jetzt kundgab, waren das Erbe der PrankenauerLinie, von der die staotbernische Familie erst seit drei Generationen abgezweigt war. Gedankenlose Teute hatten Antoinettes Mutter oft weh getan mit der Bemerkung: „Schade, daß es nicht ein Knabe ist!“ Von dem alten Prankenauer hatte Frau von Guldwang schon deshalb nichts derartiges zu befürchten,weil er der bestimmten Meinung war, es sei höchste Zeit, daß das Geschlecht erlössche. „Wir waren für eine andere Zeit geschaffen,“ pflegte er zu sagen. Zu dieser Behauptung fand er auch heute Gelegenheit. „O,“protestierte die junge Frau, „wir haben doch noch schöne,große Aufgaben.“ Aber der Letzte von Prankenau blieb dabei: „Sören wir nicht auf zu eristieren, so müssen wir aufhören, die zu sein, die wir bisher in Ehren gewesen sind; also finis Poloniae! In einer andern Haut kann unsereiner nicht leben.“

„Wir müssen eben von neuem geboren werden.. *

Über diesen aus dem Schatz ihrer religiösen Reflerionen geschöpften Einwand seiner Nichte geriet der alte Herr in lebhafte Erregung. „Paperlappapp u rief er und fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum,was die Dame in tiefe Verlegenheit brachte, denn in der Stille ihres Herzens fühlte sie sich berufen und verpflichtet, Onkel Scip sachte, sachte einem seligen Heimgang entgegenzuführen.

Schweigsam träppelten sie wieder den Garten hinan,er innerlich polternd, sie meditierend, ja eigentlich betend. Da zuckte in ihre Gedankengänge ein eigentümliches Geräusch. Pägg! hatte es hoch oben, auf dem Dach des Mittelbaues, gemacht. Das nahezu siebzigjährige Ohr des Offiziers ließ sich nicht täuschen. Er blieb wie angewurzelt stehen, blickte ringsherum in die Felder und sagte: „Je parie que c'était le projectile d'un fusil. Die verfluchten Bauern!“ Und den ungläubigen Blick seines Gastes erwidernd, fuhr er fort:

„Froh sein dürfen wir, wenn's nur in die Häuser schlägt und nicht in unsre Köpfe. Canaille!“J

Je 49 Zweimal schon hatten seit jenem Besuch der Frau Dorothea die Pflüge ringsum die Grasnarbe gewendet,und zum zweitenmal odroschen die Bauern ihre Garben,während die Nebel zwischen den roten Waldsäumen das Werlental überspannen; aber niemand merkte etwas von einer Veränderung in Prankenau. Und doch mußte da etwas Besonderes vor sich gegangen sein. Eines Abenös nämlich nahm Mutter Tillmann ihre beiden Kinder bei der Hand, schloß hinter sich die Haustüre und wanderte mit ihnen dem Schlosse zu. Ihr Mann war seit mehreren Wochen als Bauführer bei einer großen Entsumpfung im Oberland beschäftigt und verwöhnte seine Familie nicht mit Briefen. Sonntagsbesuche machte er daheim nur, wenn er damit einen geschäftlichen Zweck verbinden konnte. Er gehörte zu den Leuten, denen der Erwerbssinn zur Religion geworden,die aus jeder der Beschaulichkeit geopferten Stunde eine Sünde machen. Jeder arbeitsfähige Mann, der nicht in Arbeit sein Leben hinbrachte, war in seinen Augen ein gemeinschädliches Subjekt, dem in einer Zwangsanstalt der Müßiggang abgewöhnt werden sollte. Frau Tillmann achtete den Fleiß ihres Mannes, aber sie litt unter seiner Verachtung aller Feiertagsbedürfnisse.Frau Verena war sich genau bewußt, daß sie mit dem von Tavel, Seinz Tillmann. 2 *c*1

Gang ins Schloß in ihres Mannes Herzen einen gewaltigen Zorn entfesseln würde. Aber, sagte sie sich,läßt er mich so lange allein krebsen mit den Kindern,so will jetzt einmal ich sagen, was gehen soll, und für das Seelenheil meiner Kinder bin ich halt doch einem Andern verantwortlich. Endlich einmal ein erquickender Ton aus einer andern Welt, wo nicht die Hetzpeitsche den Takt schlägt, ist für unsereins nicht zuviel verlangt.Ist Hans wieder daheim, so haben wir Sachariä zum Längsten gehört.

Röseli ging seelenvergnügt neben der Mutter her.Heini dagegen hätte seinen ganzen Kaninchenstall drum gegeben, hätte er einen schicklichen Vorwand entdeckt,seiner Mutter die Gefolgschaft ins Schloß zu versagen.Hätte er nicht eine unerbittliche dreitägige Diät mit Kamillenschwemmung zu gewärtigen gehabt, er würde noch vor dem großen Hoftor alle ihm bekannten Symptome des wütendsten Bauchgrimmens vorgetäuscht haben.Schon zu groß, um hinter den Röcken der Mutter Deckung zu suchen, schlich er scheu und „chlüpfig“ zwischen ihr und der Schwester her. „Du bist jetzt auch ein dummer Bub,“ schalt Frau Cillmann, „tu doch nicht,als ob man dich denen vom Schloß wollte zu fressen geben.“

Durch den mit Hirschgeweihen reich geschmückten Kreuzgang, der den Schloßbau in vier Teile schnitt,gelangten Tillmanns mit andern Leuten in einen getäferten Saal, von dessen Wänden große dunkle Bilder herniederschauten. Das flackernde Licht silberner Kerzenstöcke ließ erst nach längerem Beschauen Gesichter, weiße Halskrausen und Harnische der alten Herren von Prankenau erkennen. Es hingen wohl Teuchter an der Kassettendecke; aber es hatte sie niemand angezündet.In feierlicher Stille saßen viele Leute auf den in Reihen zusammengeschobenen Stühlen und Stabellen. An der Stirnwand des Saales lag auf einem eichenen Tisch zwischen zwei funkelnden Armleuchtern eine mächtige Bibel. Die im Dunkel liegenden Sitzplätze waren alle schon besetzt, so daß Frau Tillmann mit ihren Kindern beinah zu vorderst Platz nehmen mußte und hell beschienen war. Heini senkte den Kopf, als müßte er ihn dem Schwertstreich des Henkers hinhalten. Aber seine Blicke stahlen sich immer wieder hinauf zu einem alten,geschwärzten Jagobilde, und das flackernde Licht der Armleuchter spielte lustig in seinen hellbraunen Locken.

So war Heini Tillmann unter den Dachknauf von Prankenau gekommen. Wie war denn das moglich geworden? Des alten Herrn Wunderlichkeit und Eigensinn hatten sozusagen mit jedem Monat zugenommen, zugleich aber auch seine Wehrlosigkeit gegen den Charme seiner Frau Nichte, die nach und nach alles durchsetzte, was ihr gut schien. Freilich, als sie dem Oheim zum erstenmal mit der Zumutung kam,den sehr erholungsbedürftigen Pastor Sachariae aus Barmen auf einige Tage ins Schloß zu nehmen, da hatte sich der Grimmbär mit wütender Gebärde erhoben, als wollte er mit einem einzigen Catzenhieb jeden Versuch weiterer Eroberungen auf Kosten seiner Selbständigkeit niederschlagen. Dorothea aber blieb, des Sieges ihrer Anmut sicher, vor dem Zürnenden stehn und trotzte ihm mit ihren lachenden Augen so lange,bis der aufrecht stehende Bär unter wildem Gebrumm zu hopsen und zu tanzen begann. Acht Tage später erschien der Prophet aus dem Wupperthal in der Bärenhöhle und ward nicht gefressen. Immerhin war es um die Gastfreundschaft seltsam bestellt. Der ancien officier au service de sa Majesté le Roi des deux Siciles undo der noch ältere verbi divini minister sahen sich nur bei den Mahlzeiten, und sehr bald fing es den Herrn von Guldwang zu verodrießen an, daß er sich mit dem Mann Gottes in das erquickende Geleite der schönen Frau Dorothea teilen sollte. Es hatte dies zur Folge, daß Herr Scipio entschlossener denn je vom Verkauf der Schloßdomäne brummte. Für Frau von Guldwang wurde das Problem mit jedem Tage interessanter, aber sie sah den Augenblick kommen, da sie buchstäblich entzwei gehen mußte, wobei ihre Seele dem Oheim, ihr Geist dem Herrn Sachariae anheimgefallen wäre. Solcher Katastrophe zuvorzukommen, faßte sie einen heroischen Entschluß. Sie wollte das Schloß aufs Spiel setzen, um ihres Oheims Seelenheil zu retten,wobei sie ganz zu unterst in der verborgensten, nur noch in ahnungsvollem Purpur webenden Tiefe ihres weit voraus blickenden Herzens dachte, wenn sie des Oheims unsterbliches Teil herumgebracht hätte, so würde er in neuer Bewertung aller Dinge auch weniger Gewicht legen auf einen Verkauf von Prankenau. So ging sie denn gegen den Schloßherrn an, um ihn unter den Einfluß des geistlichen Herrn zu bringen. Dreimal erstickten ihre schleichend vorgetragenen Angriffe im Donnergepolter des grauborstigen Grenadiers. Aber ihre Wachsamkeit erhaschte endlich doch eine schwache Stunde ihres verehrten Gegners.

An einem trostlosen Regentag war's, der nicht einmal einen Gang durch den Park, geschweige denn eine Hasenpirsch gestattete. Von Einwintern war noch lange nicht die Rede. Und so klimperte die Langeweile mit den Cropfen der rostzerfressenen Dachrinnen auf allem,was Klang geben wollte. Da huschten zwei lieblich federnde Füße durch die grämlich träumenden Korridore, und bald darauf klirrte, von den mit höchster Kunst gepflegten Händen getragen, ein silbernes Plateau auf den Schreibtisch des Herrn von Prankenau. Ein sehr ungleiches Paar, standen auf dem Plateau ein lustig kicherndes Kelchglas und eine in Staub und Spinnweben erblindete Flasche. Kein Mensch hätte die Etikette zu lesen vermocht. Aber „man“ wußte, wo der dunkelgoldene Vittorio vom Hause Hirzel in Palermo in Bereitschaft lag. Daneben stand eine Schale mit Bretzeln, Bretzeln, wie sie nur von den Köchinnen der alten Landsitze gebacken wurden. Welche wunderliebliche Energie spielte in den herrlichen Händen Doro theas, als sie die Flasche entkorkted Eine Tust müßte es sein, von diesen Patschchen so eine leicht fliegende Ohrfeige zu bekommen.

Der alte Herr lachte: „Jetzt sehe ich doch, daß diese Hände auch noch was anderes können als im Betbuch blät .....“

Sie hatte sich mit graziösser Drohgeberde vor ihn hingepflanzt und schob die Flasche hinter sich.

„Was soll das?“ schalt sie. „Onkel Scipio, jetzt muß ich einmal ein sehr ernstes Wort mit Ihnen reden.“

„Sacre double! Wenn Sie mir den Tropfen nicht vergällen wollen, so sparen Sie Ihre Tiraden! Fir!Geben Sie her!“

Er tat, als wollte er seine Nichte wegschieben. Sie aber legte ihm den ausholenden Arm mit kräftigem Druck auf die Lehne des Fauteuils uno setzte sich, die Flasche noch weiter schiebend, halb auf den Schreibtisch. „Spaß beiseite, Onkelchen,“ sagte sie, „Sie ahnen gar nicht, was für einen ausgezeichneten Mann Sie im Hause haben. Tausende kämen stundenweit gelaufen,wenn sie diese Gelegenheit hätten ...“

„Wuäh wuäh!“ krächzte belustigt der Hartgesottene.

„Es wäre wirklich nicht zu verantworten, wenn Sie nicht wenigstens einmal den Versuch machten, ihn anzuhsören. Sehn Sie, ich weiß schon, warum Sie nie in eine Predigt gehen. Das kommt nur daher, daß

Sie niemals einen wirklich guten Prediger gehört haben.“

„Was? Gelbschnabel Sie! Unsere Feldprediger ...“

„Eben, gerade die! Das müssen so eine Art von Profoßen ...“

„Bitte?“„Also, fertigl Sie haben überhaupt noch nie eine rechte Predigt gehört, und hier handelt es sich zudem um etwas ganz anderes. Ihr Gast ist kein zudringlicher Bußprediger, sondern ein Mann, der mit besonderer Erleuchtung Blicke in die Herrlichkeit des Jenseits getan hat. Hie und da einmal sich auf das ewige Leben besinnen, kann nichts schaden. Onkelchen, tun Sie mir den Gefallen, ihn nur ein einziges Mal anzuhören.“

„Ach was! Eben gerade das mag ich nicht leiden.Was sollte denn so einer mehr sehen vom Jenseits als andere Menschen. Was unsereiner nötig hat, wäre so alle paar Jahre einmal eine verflucht gesalzene Schweize, die den Sündendreck abfrißt wie Ätzwasser.Aber dazu müßte ein anderer her, sapristit Und überhaupt, mir ist's noch gar nicht um den Abmarsch zur großen Armee.“

„Onkel Scipio, um Ihre Sünden ist's ja gar nicht zu tun. Ich meine bloß, man sollte doch die prächtige Gelegenheit nicht versäumen. Sie brauchen ja nicht einmal dabei zu sein. Aber ich möchte es nicht verantworten, daß man den vielen Leuten hier herum den großen Segen vorenthält, den ...“

„Wa... wawawaß!“ Des alten Herrn Augen sprühten Feuer. „Was gehn mich diese Leute an?“

„Ich meine nur... Sie brauchen sich in keiner Weise zu derangieren. Sie sollen mir nur erlauben, daß ich irgendwo unter Ihrem Dach einen Raum herrichte, wo.. *

„Wohl gar noch in meinem Salon, daß es drei Cage lang nach Halblein und Kuhmist duftet! Nein, meine Liebe. Und daß man hernach im Lande herum die Kopfe zusammensteckt und sich zuwispert: der alte Scip ist unter die mömiers gegangen. Er will wohl himmeln, he? Non non, ma chère!“

Er wollte sich erheben; aber Dorothea schob ihn sanft in den Lehnstuhl zurück und sagte: „Also, ich will Sie nicht länger quälen.“ Nun schenkte sie ein Glas voll des herrlichen Weines, nippte daran und hielt es ihm mit einem entzückenden Lächeln hin, indem fie sich auf die Armlehne seines Fauteuils setzte und den linken Arm um seinen Nacken legte, genau so, wie wenn man einem lieben Kranken einen Labetrunk reichen will. Aber sie wartete umsonst auf das gutmütige Lächeln des alten Kindes, mit dem er sonst ihre Schmeicheleien erwiderte. Und ihr Duft schien das Dunstgebräu von kaltem Knaster und Eau de Cologne,das seine Kleider atmeten, diesmal nicht überwinden zu können.

„Onkelchen, nicht wahr!“ schmeichelte sie ganz nahe an seinem Ohr. Das Glas in der Hand, fragte er barsch, als ob er nicht verstünde, was sie wolle: „Was ?“

„Onkelchen! Den süßesten Kuß bekommen Sie von Dorothea, wenn Sie ihr erlauben, ein paar Teute ins

Schloß zu laden...“ Ganz nahe fühlte der alte Herr ihren Hauch. Da raunte in ihm etwas: Wenn du etwa glaubst, dein Onkel sei ramollo, so irrst du dich, Kleine.Mit einem Schluck war das Glas leer. Er machte sich von ihr los, stand auf und ging zur Cüre. Dort wandte er sich noch einmal um und rief: „Geht ins Ofenhaus oder in die Remise!“ Und hinter ihm fiel die eichene Türe ins Schloß.

Einen Augenblick war Frau Dorothea betroffen und ärgerlich. Sie schämte sich der verschwendeten Zärtlichkeit, empfand einen stillen Zorn über die Ablehnung seitens des alten Kavaliers und überlegte, ob sie nicht stracks nach Bern verreisen wolle. Dann aber meldete sich in ihr das bescheidene Criümphlein. Es roch ein klein wenig nach Romantik und Glaubensverfolgung. So eine Versammlung im rauchgeschwärzten Ofenhaus! Das wurde ungeheuer stimmungsvoll. Und was den verschmähten Kuß betraf ... der alte Herr war ja doch so ein bißchen ... na! Weg damit!Und Frau Dorothea flog, ein wenig parfümierte Puritanerin, zu dem Propheten.

Herr Guldwang von Prankenau war übler dran als seine Nichte. Der Schimpf, den er ihr angetan,wurmte ihn, denn im Grunde seines Herzens war sie ihm lieb. Es war ihm, als hätte er mit eigener Hand den Sonnenschein aus seinem Hause verscheucht. Gar zu sehr wollte er doch auch nicht das alte Kind spielen,sonst würde er den Schaden durch verdoppelte Artig keit wieder gut gemacht haben. Als er unbemerkt seine Stube wieder gewonnen hatte, schob er sich einen tiefgründigen Lehnstuhl ans Feuer, wobei er nicht vergaß,die angestochene Flasche und das Glas auf das Kamingesimse zu retten. Aufgeregt paffte er aus seiner Meerschaumpfeife und spuckte von Zeit zu Zeit sehr wenig chie in die zischende Glut. Er ließ in seiner Erinnerung alles Revue passieren, was an Frauen je sein Herz berührt hatte. Zum Teufelholen war's eigentlich. In Neapel, ja da konnte man sich eine zeitlang köstlich amüsieren. Gemütlich lebte sich's und verdammt sorglos,bis auf einmal Seine Majestät jenen deutlichen Wink ergehen ließ: entweder sollen die Herren heiraten oder ...Und da stand man vor einer ganz verzwickten Situation. So eine Napolitanerin. Glutäugig, melodiös und weiß der Kuckuck was alles. Aber Hausfrau ... nein,das nicht. Also ward der Dienst quittiert, denn eine Schweizerin in die Garnison zu bringen, ging auch nicht. Daheim konnte er sich jahrelang nicht mehr zurechtfinden, und endlich kam ein mariage de raison zustande mit unendlich viel haushälterischem Sinn und Verstand, aber eigentlich erbärmlich wenig Poesie. Es dauerte nur wenige Jahre, gerade lange genug, um aus dem tollen Seip einen Spießbürger zu machen,dem der Mut zu einer neuen Heirat fehlte. Er hätte auch weit und breit kein weibliches Wesen gekannt,mit dem er sein Leben gerne geteilt hätte. Jetzt endlich schien ihm die Sonne sozusagen noch in den

Sarg hinein. Hätte er gewußt, daß es solche Weiber auf der Welt gibt, die Füße würde er sich danach wundgelaufen haben. O sie war charmant, die Dorothea mit all ihren lebenslustigen und selbst mit ihren frommen Faren, denen er sich auf die Dauer wohl kaum ganz entziehen konnte.

Als sich Herr von Guldwang von seinem Nachmittagsschläfchen erhob, trommelten die Dachrinnen immer noch. Gähnend warf er einen Blick in den Hof und erwachte darob vollends. Was trieben denn die da unten? Die Köchin, die Kammerjungfer der jungen Frau, die alte Christine und wohl noch andere Weibsleute schleppten alles mögliche aus dem Wasch und Ofenhaus, ja sie rollten sogar die großen Bauchbütten in den Hof hinaus. Ei, das ging ja kreuzfidel zu, eine wahre Gugelfuhr. Wurde da nicht das NeßlerenMädi,das Faktotum, welches seit des letzten Gärtners Entlassung das Regiment in Hof und Garten führte, mit des Lehenmanns Kobi hanogemein! Und der Trappi mußte ihr handlangern wie im CTaglohn. Ja, ja hm hm, gelt Kobeli, so sind sie. Sogar die Hunde hatten ihren Spaß daran, wedelten uno bellten wie besessen vor Freude, daß endlich etwas los sei.

Herr Scipio ahnte etwas und ergrimmte in seinem Herzen. Stracks nach dem Ofenhaus lief er. Da stand,ein befehlender major domus, den Kopf in ein rotes Tuch gebunden und in eine Ärmelschürze gehüllt, Frau Dorothea auf den Steinfliesen des ausgeräumten Waschhauses. Der Schloßherr zerkrümelte auf seinen tabakbraunen Zähnen einen einbalsamierten Kasernenfluch.Ein triumphierender Blick aus den hellen Augen seiner Nichte traf den von seinen Hunden Umwedelten.

„Was gibt's denn da?“

„Ich habe mir erlaubt, von Ihrer gütigen Erlaubnis Gebrauch zu machen, Onkel.“

Da rang sich ein knurrender Taut aus des alten Herrn Kehle. Er schleuderte einen grimmigen Blick auf Frau Dorothea und wanöte sich unwirsch zum Gehen,fühlte aber alsbald die zarte Hand seiner Nichte am Äürmel.

„Onkelchen!“ bat sie.

Nun kehrte er sich wieder ihr zu: „Nu ja, Himmelsakerment. Ich will das nicht!“ Und mit einem ganz besonders vorwurfsvollen Blick fügte er bei: „So bin ich doch nicht. Das könnten Sie nun nachgerade wissen.“

„Und ich weiß es auch,“ sagte sie begütigend. „Ich wollte nur wirklich nicht etwas durchsetzen, was Ihnen unangenehm ist.“

„Kommen Sie mit!“ befahl Herr von Guldwang und schritt ihr voran dem Schloß zu. Er führte sie in den großen Speisesaal und erklärte ihr, wie der schöne Raum am zweckmäßigsten in eine Kapelle umgewandelt würde. „So können Sie's dann auch einmal machen,wenn ich die Augen schl.....“ Er brach ab. Frau Dorothea aber hatte genug gehört und zog ihre Schlüsse inbezug auf den Verkauf von Prankenau. Aber sie wollte es dem Oheim nicht antun, ihn empfinden zu lassen, daß er sich verschnappt habe. Ein klein wenig tat's ihr leid um die Romantik des Ofenhauses; aber nun war es doch am Platz, sich ihres Sieges zu freuen,und sie dankte für denselben, das Kopftuch abnehmend,unter den Augen der gesamten, höchst korrekten Ahnengalerie derer von Prankenau mit einem zarten Kuß auf die schmunzelnden Runzeln des Herrn Seipio.

So war die Abendversammlung zustande gekommen.Niemand von den erwartungsvoll harrenden Teilnehmern wußte etwas von diesem Vorspiel. Desto feierlicher war's.

Jetzt hörte man Stimmen im Korridor, die sich rasch der Türe näherten. Die Türfalle knackste. Warum nur Heini sich wieder an die Mutter hängte, als fürchtete er, ein Gespenst eintreten zu sehen? Ja, wer mit seinen Ohren gehört hätte. wie das machte: Pigg!Pägg! Pägg!

Statt eines Gespenstes trat die junge Frau ein,wie man allgemein Dorothea benannte, und hinter ihr her der „Profässer aus dem Deutschen“. Er trat zwischen die schönen Leuchter an den Tisch, schlug aber die große Bibel nicht auf, sondern zog ein Testamentchen aus der Tasche, neigte sich seitlich gegen den einen Leuchter und blätterte kurzsichtig in dem Büchelchen. Die junge Frau setzte sich an das Klavier, zündete die Kerzen an und schlug ein Gesangbuch auf.

Das alles hatte Heinis Aufmerksamkeit derart in Anspruch genommen, daß er wie aus dem Traum er*30 schrak, als plötzlich ein wunderfeines Mägölein dicht neben ihm saß und tat, als hätten sie immer zusammengehört. Antoinette lächelte ob des Buben scheuen Blicken und betrachtete ihn mit Wohlgefallen, denn Heini war ein Knabe, um den Frau Verena Tillmann von mancher Mutter beneidet wurde.

Nun las der Pastor einen Liedervers vor und Frau Dorothea schlug ein paar Akkorde an. Da hielt Antoinette ihrem Nachbarn ganz zutraulich das aufgeschlagene Gesangbuch hin. Heini überlief es heiß und kalt. Jetzt sollte er gar noch mit dem Schloßfräulein aus einem Buche singen. Unwillkürlich lehnte er sich wieder gegen die Mutter, erhielt aber durch einen ziemlich spitzen Ellbogen mehr als deutliche Verhaltungsmaßregeln. Mit dem Singen war's freilich sonderbar bestellt. Heini, der kaum einen Con herausbrachte, hörte nur Antoinette; alle andern vergaßen das Singen über den kräftigen Stimmen der Frau von Gulowang und des Pastors. Einzig Frau Schraner, in der Umgegend bekannt unter dem Namen Neßlerenmädi, hatte sich mitreißen lassen und setzte ungefähr in der dritten Zeile ein. Aber schon nach der ersten Strophe erhielt sie von der Köchin einen Bor: „Hör' lieber zu, Mädi!“ Mädis Augen sprühten Nesselhärchen; aber in der Dunkelheit verfehlten sie ihr Ziel, und da der Bor die Sangesfreudigkeit des weiblichen Gartenvogts erstickt hatte,blieb die Stimmung ungestört.

Hätte Heini Tillmann zwischen seinen Schulkame raden gesessen, so wäre ihn in einemfort das Lachen angekommen. Der Mann da vorne machte ja gar nicht wie die Pfarrer sonst machten. Wenn er betete, faltete er nicht einmal die Hände. Er hielt sie vor sich hin mit den innern Flächen nach oben, gerade wie wenn man etwa einen Hut hinhält, um ein Almosen aufzufangen. Und eigentlich beten, was man sonst beten heißt, tat er auch nicht. Er redete mit dem lieben Gott,als ob der leibhaftig vor ihm stünde. Zuerst lachte Heini nicht, weil ihm die Kameradschaft dazu fehlte;bald aber war ihm überhaupt nicht mehr ums Tachen.Noch warf er links und rechts einen schüchtern forschenden Blick, und als er sah, daß die Leute keinen Wank mehr taten, sondern Augen machten, als sähen sie, Gott weiß was, ergab er sich und fing auch an zu hören; aber er begriff herzwenig. Der Mann sprach von der Stadt Gottes, vom himmlischen Jerusalem.Ganz wunderliche Dinge erzählte er. Ein jedes Tor an dieser Stadt, sagte er, sei von einer einzigen Perle gemacht und die Gassen seien von lauterem Gold und durchsichtig wie Glas. Heini Tillmann versuchte, sich solch eine Riesenperle vorzustellen und dann ein Tor,das aus einer einzigen Perle bestünde. Er zwängte und zwängte an seiner Phantasie; aber immer wollte etwas nicht komplett werden, und die Perlen, welche die Schloßfrau in den Ohrläppchen trug, erleichterten ihm die Sache gar nicht. Und wollte er sich die goldenen Gassen vorstellen, so kam er nicht von den Golo stücken los, die er etwa gesehen. Einmal hatte der Vater ein ganzes Häuflein auf dem Tisch gehabt. Etwa einen Tisch oder einen Fußboden voll Goldstücke, das ließ sich noch denken, aber ein ganzes Haus oder gar eine Gasse!Heini fing an zu rechnen, wie viele Zwanzigfränkler daheim auf den Stubenboden gingen und uil was man da öraus kaufen könnte. Da müßte er flugs ein eigenes Flobertgewehr haben und brauchte nicht mehr den VogeliRuedi um das seine zu bitten. Potz Miescht Da würden die Ziegel auf dem hohen Schloß-dach stäuben. Heini hatte ganz vergessen, daß er unter diesem Dach saß. Und auf einmal schwieg der Pfarrer.Heini erschrak. Hatte der Pfarrer etwas gemerkt?

Antoinette hielt ihm wieder das Buch vor, während ihre Mutter sich ans Klavier setzte, und sagte: „Du mußt auch singen.“ Heini ward es heiß im Kopf. Er tat, als wollte er singen; aber es kam kein Con aus seiner Kehle. Wie hätte er's auch wagen dürfen! Es wäre Sünd und schade gewesen, zu stören, was sein Ohr genoß. Wie die sangen! Die Schloßfrau und der Pfarrer und das schöne Mädchen. Sie sangen ein Tied,das er so schnell nicht vergessen würde:Ich bin zufrieden,

Daß ich die Stadt gefehn,

Und ohn Ermüden

Will ich ihr näher gehn

Und ihre hellen, gold'nen Gassen Lebenslang nicht aus den Augen lassen.

Hernach stand man auf, und weil nicht alle auf einmal zur Türe hinaus konnten, blieb Heini eine ganze Weile neben dem Mädchen stehen, das so freunölich mit ihm gewesen. Da kam auch die Schloßfrau herzu,sprach ein paar Worte mit der Mutter und faßte mit ihrer feinen Hand Heini unters Kinn. „Wie heißest du, Kleiner?“ fragte sie, und als er geantwortet, fuhr sie mit einem zärtlichen Blick auf ihre Tochter fort:„Komm doch auch mal am Tag herüber mit deiner Schwester. Ihr könnt dann zusammen spielen. Willst du?“ Heini war die Einladung gar nicht willkommen.Er am hellichten Cag im Schloßgarten das wollte ihm nicht in den Sinn. Aber, was konnte er anders als ja sagen?

Als sie das große Hoftor hinter sich hatten, fingen die Frauen an, ihre Meinungen über des Pastors Ansprache auszutauschen. Einige wollten sich den schönen Eindruck, den sie empfangen hatten, nicht verschwatzen lassen und gingen raschen Schrittes ihren Heimstätten zu, um sich in der dumpfen Finsternis der niedrigen Schlafstuben noch möglichst ausgiebig dem Bild von der himmlischen Stadt, die keine Leuchte hat und doch lauter Licht ist, hinzugeben. Aber kaum lagen sie ausgestreckt, so war auch schon der Schlaf da, der tagsüber am murmelnden Bach gekauert und aus dem Schatten der Erlen dem rastlosen Schaffen der Landleute zugesehen. Der litt es nicht, daß ihr Geistesauge in die Wonne des mühelosen ewigen Lebens hinüberblicke.von Tavel, Heinz Tillmann.

Er legte seine Hand auf ihr Gesicht und hieß Leib und Seele verstummen, damit sie andern Tages neue Kraft an den Kampf um ihr Brot wenden könnten.

Auch Frau Tillmann würde ihre Einörücke schweigsam im Tabernakel ihres Herzens heimgetragen haben, hätte nicht die KänelmattBäuerin, Frau Verena Grundbacher, besser bekannt unter dem Namen MattVreni,ihren Widerspruch herausgefordert. MattVreni meinte:„Ein schönes Wort hätte er schon, dieser Pfarrer; wenn er nur die Gschrift ließe, wie sie istt Was brauchen sie auch immer daran herumzunüderen, bis niemand mehr drüber kommt, was man glauben soll! Wenn's doch einmal geschrieben steht, das ewige Jerusalem sei eine Stadt, so wird's däich wohl eine Stadt sein und nicht nur so Geistigs. Und wegen den goldenen Gassen:Gold ist einmal Gold. Gott wird wohl wissen, warum er es dem Johannes so eingegeben hat. Aber eben, es braucht nur den armen Sündern etwas Schönes verheißen zu sein, so ist's den großen Herren schon nimmer recht, und sie haben nicht Ruhe, bis sie es vernütiget haben.“„Selb ist schon so,“ wandte nun BillAÄnni vom Lindenboden ein, „aber weißt, Vreni, öppis muß doch dran sein mit dem Geistigen. Man darf sa nicht dran denken, was es gäbe, wenn os Ernstem so eine Stadt vom Himmel herunterkäme. So ein Gebäu will doch Grund und Boden haben. Wenn man's gesehen hat,wie's da die Jahre in Kilchwerlen gegangen ist, wo sie bloß ein kleines Häuslein haben um einen halben Schuh herumlüpfen wollen wegen den Kösten. Da sind auch die Pfisiguggere drum herum gestanden mit Brillen auf der Nase, und haben geraten, so und so müsse es gehen, bis auf einmal alles an einem Haufen lag. Da haben sie dann gehabt für zwänzg. Nein, was von dieser Welt ist, ist nun einmal nicht für die Ewigkeit gemacht.“

Frau Tillmann blieb auf einmal stehen und sagte zu ihren Kindern: „Seht, wie das schön ist!“ Sie deutete auf die andere Seite des Tales, wo der langgestreckte mächtige Rumpf des Amselberges sich vor der sanft am Himmel verschwimmenden Cichtflut der Stadt abzeichnete. Um so tiefer war das Dunkel, welches herwärts auf allem ruhte. Aber in unermeßlicher Tiefe und Herrlichleit flimmerte über der ganzen weiten Welt das Sternenheer des Herbsthimmels. Den Kindern kam es merkwürdig vor, daß die Mutter auf einmal eine besondere Freude an diesen Dingen bekundete. Sie, die jeden Abend noch lange aufblieb,wenn Röseli und Heini schon im tiefsten Schlafe lagen,konnte ja so etwas täglich bewundern. Mit Frau TCillmann waren auch die andern Frauen stehen geblieben,denn eigentlich hatten die erbaulichen Gespräche ihr gegolten, von der man ein sicheres Urteil über die Bibelstunde erwartete.

BillAnni, unwillig über die Ablenkung, sagte: „das ist dStadtheiteri“, worauf Frau Cillmann plötzlich ihre beiden Kinder fester bei der Hand faßte und mitten durch die andern Heimkehrenden hindurch einen sehr energischen Schritt anschlug. Daß eine der Nachbarinnen halblaut die übrigen fragte: „Was hat jetzt die?“hörte sie zwar nicht; aber der hämische Con in dem Gutenacht, das sie ihr nachriefen, entging Frau Cillmann kaum. Sie verlangsamte ihren Schritt erst, als sie um das Kehrhüsi gegen die Känelmatt eingebogen hatte.

Die Mutter blieb schweigsam. LTange noch, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren, saß sie über der Bibel und sann ungestört den zukünftigen Dingen nach.

Drüben, im Schlosse, saß der alte Herr am Kaminfeuer. Die Lampe hätte er durch einen Tichtschirm, auf dem in transparenter Malerei der Vesuv seine glühenden Lavaströme ausschüttete, abgeblendet. Er träumte in die Glut des Kamins, das ihm heute abend wie Klänge aus einer andern Welt das TLied von den goldenen Gassen, den süßesten Lippen entschwebt, aus dem Saal in seine Einsamkeit heraufgeleitet hatte. Und auch er sann darüber nach, was die goldenen Gassen bedeuten könnten.

III.Von sich aus wären Röseli und Heini niemals ins Schloß gegangen, obschon sie sich den Garten wie ein Paradies vorstellten, und noch weniger wäre es Frau Tillmann eingefallen, ihre Kinder dorthin zu schicken.

Aber sie waren durch einen Dienstboten abgeholt worden.Die Mutter hatte sie eilends in Sonntagsstaat gesteckt,dem Mädochen eine schöne Schleife ins Zöpflein geflochten und dem Buben die krausen LTocken mit einem reichen Zusatz selbstverfertigter Pomade säuberlich gescheitelt. So waren sie schüchtern und doch voll herrlicher Erwartung in Prankenau angerückt und von Antoinette sehr liebenswürdig empfangen worden, denn das Töchterchen hatte selten Besuch aus der Stadt und fand am Verkehr mit den Kindern der Nachbarschaft,denen sie immer ein wenig die gütige Fee sein durfte,ganz besonderes Vergnügen. Antoinettes Vater war an jenem Tage auch da, ein stattlicher Herr. In seinem wohlgenährten Gesicht, aus dem eine stolze Aodlernase hervortrat, stand kein einziges Bartstöppelchen. Doch gaben ihm die nur bis zum Ohrläppchen herunterreichenden, geometrisch scharf abgeschnittenen schwarzen Backenbärtchen etwas Gütiges. Heini war nicht wenig erstaunt, als bei seinem Anblick Herr und Frau von Guldwang belustigte Blicke tauschten. Frau Dorothea sagte etwas auf Französisch. Und dem Knaben kam es vor, als zöge Frau von Guldwang dabei die Nasenflügel zusammen. Er ward von der Bonne in ein oberes Zimmer geführt, wo es sehr gut duftete und alles weiß und blitzsauber war. Da kämmte und bürstete ihn die Kammerjungfer aus, als ob er Läuse hätte, schüttete ihm aus einem Fläschchen wohlriechendes Wasser auf den Kopf und bürstete wieder und wieder, bis die

Haare vor Trockenheit flogen. „So,“ sagte die Jungfer befriedigt und führte ihn zu den Mädchen in den Garten. Da meinte Antoinette: „Jetzt gefällst du mir“und gab dem Umcoiffierten einen Kuß. Heini kam das sehr kurios vor. Er hatte noch nie von einem fremden Mädochen einen Kuß bekommen, und wußte nun nicht,ob man so was erwidern müsse. Er war darüber noch nicht schlüssig, als man sich ans Croquetspiel machte,und nun war die Gelegenheit verpaßt. Den ganzen Nachmittag war er krumm örin mit seinen Gefühlen.Das schöne Mäochen war so freundlich und lustig mit ihm, und immer noch kam er nicht draus, ob ihm einen Kuß zu geben eine Pflicht wäre oder etwas, das man sich nicht herausnehmen durfte. Auf alle Fälle hatte er sich dumm benommen. Das einzig war ihm klar.Und es ward ihm noch deutlicher bewußt, nachdem er auch die Zärtlichkeit, welche Antoinette beim Adieusagen an ihn verschwendete, nicht zu erwidern gewagt hätte.

Von dem Tage an war es dem armen kleinen Kerl,als liefe er mit einer ungetilgten Schuld herum, mit einem etwas, für das er keinen Namen wußte. Am ähnlichsten war das Gefühl dem eines leeren Magens.Und es hing eigentümlich zusammen mit der Erinnerung an den Duft und die feine weiße Wäsche und die Coilettengegenstände in jenem Zimmer, wo man ihm die Känelmattpomade aus den Haaren getilgt hatte.Diese Erinnerung wiederum war unzertrennlich von der lieblichen Gestalt Antoinettens und von der seltsam *2 2

4strengen und doch wieder freundlichen Art, wie die Mama Guldwang mit den Kindern umging. Manchmal war ihm, als möchte er sich stehlen und in diese verfeinerte Zucht und Pflege versetzen lassen. Aber er fühlte ganz deutlich, daß er eben gestohlen werden müßte, um in dieses Treibhaus versetzt zu werden.Dann kamen wieder Augenblicke, in denen ihm unsäglich wohl war bei seiner Mutter und im traulichen Dämmer ihrer Stube, wo es nach praktischeren Dingen roch.Am grünodlichsten vergaß er das merkwürdige ungestillte Verlangen in der Gesellschaft seiner Schulkameraden. Es gab aber auch nichts Schöneres als die gemeinsamen Streifzüge, die gewöhnlich der Werlen entlang und etwa bis in die Steinbrüche des Kriesberges hinübergingen, mitunter jedoch bis in die Gräben des Prankenauerwaldes auf der Emmentalerseite sich erstreckten. Die Kunst bestand nur darin, mit Sicherheit festzustellen, welchen Strich jeweilen der Bannwart genommen hatte. Das gegenseitige Übertrumpfen an Schlauheit hatte einen ganz besonderen Reiz. Eines Tages war von den Ausspähern festgestellt worden,daß der „Bawi“ nach Bern gefahren sei. Also los!In den Prankenauer Schloßwald. Eichhörnchen und Herrenvsgel. Man schlenderte, nicht eben sehr zielbewußt, dem Känelgraben entlang gegen einen schmalen Waldriemen, der wie ein Gürtel den Westhang des Gummenhubels umgab, ein von den Hähern sehr bevor zugter Eichensaum. Da tauchte plötzlich der beliebte Knauf des Dachschlosses über den Stoppeln der Hügelwolbung auf. Und obgleich der Munitionsvorrat gering war, mußte der Knauf eins haben. Man stritt sich um das Gewehrlein. Der Joggeli von der Studweid erklärte, nicht mitgehen zu wollen, wenn er jetzt nicht einmal an die Reihe gelassen werde. „Nun denn, so gib ihm eins!“ entschied der glückliche Besitzer der Flobertbüchse. „Aber halt nicht zu hoch!“ Joggeli zielte und schoß. Da stäubte es ganz nah im Brachfeld.„Höi!“ brüllten sie alle im Chorus, „läßt der ihn in den Dreck!“ Und ein Kalb sollte der arme Joggeli auch noch sein. Jetzt zeigte der VögeliRuedi seine Vertrautheit mit der Waffe. Da man aber keinen Einschlag beobachtete, ward er nicht minder verhöhnt. Allen voran lachte ihn Heini aus. „So zeig du, ob du's besser kannst!“ maulte Ruedi. Heini warf sich in die Stoppeln,kroch ein wenig vor, schlug kunstgerecht an und zielte lang unter lautloser Stille. Wie ein geschulter Schütze krümmte er den Finger um den Abzug, und pägg!saß das Kügelchen in der Urne. Wo blieb der Beifall? Heini blickte zurück. Allein auf weiter Flur.O daß er allein gewesen wäre! Aber ein Geräusch wie Flügelschlagen riß ihn aus dem Staunen, und schon krallte sich etwas wie Geierfang in seinen Hosenringgen.Hilf Gott! Es war das NeßlerenMädi, das von der hintern Känelmatt heraufgekommen sein mußte. „So,Bürschli,“ triumphierte es, „jetzt wohl, jetzt haben wir einmal den Schützen. Jetzt wollen wir dich dem Herrn von Guldwang zeigen.“ Heini machte einen verzweifelten Versuch, loszutommen, haätte gern mit dem Gewehrkolben das Mädi „erledigt“; aber das Gewehrlein befand sich schon in der Häscherin linker Hand. Er mußte bald einsehen, daß er verloren war und selbst mit Beißen nichts mehr ausrichtete. Auf den ersten Versuch mit den Zähnen hatte Mädi das Gewehr fallen gelassen,rasch Hand gewechselt und dem Gefangenen ein paar um die Ohren gehauen, daß er ein halb Hundert Dachknäufe um sich herumtanzen sah. Dann ging die grausige Fahrt weiter, feldab, dem Schloß zu. Mit jedem Schritt stieg die Verzweiflung. Jetzt wäre Heini lieber in den Cod gegangen als in die verfeinerte Kultur des Schlosses.„Mädi!“ schrie er aus dem Abgrund seiner Not. Mädi,A Sie schicken mich dem Regieriger! Mädi? Um Gotts wilsen?“Wortlos schleppte Mädi seine Beute bis hinter das Ofenhaus auf die Straße, wo ihm Kobi entgegenkam.Das war Heinis Glück. Nun stimmte nämlich Kobi seinen Criumphgesang an, wollte Mädi den Widerspenstigen entreißen und damit auch das Verdienst um die Herrschaft Prankenau. „Den bringe ich flugs ins Schloß, zum Herrn,“ sagte Kobi. „Kannst dich freuen,Bürschli, das gibt einen saftigen Gunten für den Vater,all die zerbrochenen Ziegel und der Dachtnauf mit den siebenundzwanzig Löchern!“ Er riß Heini am linken Arm und langte nach dem Gewehrchen. Aber Mädi ließ nicht von Heinis rechtem Arm und noch weniger von der erbeuteten Waffe. „Nichts da!“ protestierte es, „der ist jetzt hingegen meiner. Du wärst mir schon ein kummlicher, du. Hättest weniger auf der faulen Haut gelegen, so gäb's auch noch mehr ganze Ziegel auf dem Dach.“ Bleich und zitternd fühlte sich Heini hin und her gezerrt und wagte nicht zu denken, welcher Abgrund ihn nun verschlingen würde. Woher hätte er nach so kurzer Erdenwallfahrt schon wissen sollen, daß selbst in einem NeßlerenMädi sich eine Schwäche fand für solch schönen Buben?

„Nein,“ sagte Mädi, „es ist gar nicht nötig, daß der alte Herr sedes Drecklein erfährt, das unsereins für ihn tut. In der Gschrift heißt es: TCaß deine linke Hand nicht wissen, was die rechte tut“, und selb gilt auch hie. Was hätte der alte Herr davon? Du weißt nicht, ob ihn nicht vor lauter ürger noch der Schlag rührte, und dann? Es wär' sich bei Gott nicht derwärt. Ein Unflat bist richtig, weißt, Bub,“ wandte sich die Gestrenge plötzlich gegen den Gefangenen. „Verdient hättest's, daß man dir die Hosen herunterließe.Grad du, daß du dich nicht schämst. Nichts als Gutes haben dir os Herren erwiesen, und dann gehst du und zerschießest ihnen das Dach.“ O wie es da tagte in des armen Delinquenten Herzen! Denn so viel Lebenserfahrung hatte er doch schon, auch wenn er's nicht mit klarem Bewußtsein erwog, daß, wenn eins sagt: „verdient hättest's“, die Gnade schon flüssig geworden, das Schlimmste überstanden ist. Und so brach aus seinen vor Angst blauer leuchtenden Grauaugen bereits der stumme, aufrichtige Dantk.

Mädi ließ den Kobi stehen und führte Heini, immer noch in harter Faust, ein Stück Weges gegen die Känelmatt. Von bedingtem Straferlaß hatte sie ihrer Lebtag noch nie ein Wort gelesen, aber in der Praxis war sie den Richtern weit voraus. „Dent doch auch, du dummer Bub,“ schalt es, „was du deinen Eltern für einen Kummer anemachst. Ich will jetzt der Mutter noch nichts sagen, aber viel braucht's nimmer, so geschieht's dann doch. Hast's gehört?“ Dabei hatte sie Heini am Schopf gefaßt, so fest, daß er von der Zürnenden sich tief in die Augen mußte blicken lassenm. Jetzt mach, daß dr heimkommst!“

Heini warf einen fragenden Blick nach dem Gewehrlein. Aber „nüt da,“ hieß es, „das behalte ich. Wollen dann schon sehen, wo's hingehört.“

Nun blieb ihm bloß noch eine Sorge: Wie heimkommen, ohne daß er den Kameraden begegnete. Eigentlich waren die Feiglinge ja ihm gegenüber in der Schuld,aber das wog nichts gegen das Gefühl der Zerschmetterung, in der er sich vor ihnen nicht wollte sehen lassen.Unter Anwendung der äußersten Vorsicht gelang es Heini, unbemertt seinen Kaninchenstall zu erreichen.Eine zeitlang sah er den Kraut muffelnden Lieblingen zu, ohne seine Gedanken von dem rein äußerlichen Gang seines Vormittagserlebnisses loszukriegen. Plötzlich fiel ihm ein, daß er die große flandrische Wioderhäsin mit den gebrochen niederhängenden Ohren noch nicht gesehen. Die hatte sich in den letzten Tagen stark gemausert. Er stieg auf einen Holzklotz, öffnete das Gitter und hob behutsam den Schlupfkasten. Da schoß die Häsin heraus und schlug mit den Hinterläufen mißmutig den Boden. Und richtig! Im Schlupfkasten bewegte sich's zitternd unter einem Häufchen Flaum. Drei,vier, sechs sieben waren's. Wonnige, kleine, mausgroße Häslein, die blind in dem wohligen Nestchen gramselten. Heini ließ den Kasten zufallen und war in einem Satz wieder drunten. Zur Hinter und zur Vordertüre zugleich zog es ihn. Er mußte das frohe Ereignis eilends mitteilen, gleichgültig wem. In den Gemüsegarten rannte er, wo um diese Tageszeit sonst immer jemand war. Heute fand er dort niemand. Dafür hörte er droben im Hause Stimmen der Vater war da. Der Vater! Etwas Unbehagliches durchzuckte des Knaben Herz. Aber vom Schloß konnte ja noch niemand da gewesen sein. Vor lauter Eifer stolperte er auf der CTreppe. Der Vater empfing ihn freunolich;aber, wie immer, schien er von Gedanken erfüllt zu sein, die ihm wenig Muße für die Kinder ließen. Seine Späße hatten immer etwas, das einen nicht so recht zum arglosen Lachen kommen ließ. „Bist lieb gewesen unterdessen?“ fragte der strenge Mann, „oder muß man dich gleich wieder ein wenig nachebrätschen, he?“ Er freute sich dann aber doch über Heinis eifrigen Bericht aus dem Kaninchenstall. „Trage Sorge zu der Nestete,“sagte er, „die Flandrischen gelten etwas, wenn sie schön aufgefüttert sind. Das gibt dann was in den Sparhafen.“

Da die Eltern keine Tust bekundeten, herunterzukommen, mußte Heini sich damit begnügen, wenigstens der Schwester seine Häschen zeigen zu können.Du,“sagte sie, „die sollten wir der Antoinette zeigen können,die hätte eine Freude dran!“

„Allweg,“ sagte das Brüderlein, in dessen Vorstellungswelt schon bei der Entdeckung der flaumigen Herrlichkeit das Bild Antoinettes sich eingedrängt hatte,„aber weißt, es ist vielleicht besser, wir warten noch ein wenig. Wenn die Chuneli erst sehen und dann die ganze Riglete im Ställi herumhaset, wird's noch viel lustiger.“ Das mußte Röseli zugeben, und es ahnte nicht, daß nach Heinis schmerzlicher Vermutung der Aufschub um die paar Tage sich sehr wahrscheinlich zur Ewigleit dehnen würde. Ihm war es ganz erwünscht,daß Röseli von den Eltern zu plaudern anfing und damit seine Gedanken von der grausam zerstörten Schloßherrlichkeit abbrachte. Erfreulich klang nun allerdings, was die Schwester erlauscht hatte, auch nicht.Die Mutter, sagte sie, habe geklagt, es stehe nicht gut um ihre Gesundheit, und es wäre ihr lieb, wenn der Vater nicht so weit weg wäre oder wenigstens öfter heimkäme. Ihr sei manchmal so bange. „Ich hab's schon lang gemerkt, daß ihr etwas fehlt. Sie ist immer so müde und nimmt alle Augenblicke von den weißen Pillen, die sie im Schäftli hat.“

„Was hat der Vater dazu gesagt?“

„Eben hat er gar nichts gesagt. Zuerst hat er lange vor sich hingestaunt, und dann fing er an herumzulaufen, türein, türaus und auf der Laube auf und ab. Aber jetzt komm, ich muß der Mutter beim Anrichten helfen.“

Das Mittagessen verlief still. Heini war's höchst ungemütlich, denn der Vater unterbrach sein dumpfes Schweigen fast nur, um das Söhnchen auszufragen über die Schule und sein sonstiges Cun und Treiben.Der Mutter war dabei auch nicht wohl, denn sie fürchtete, die Kinder könnten darauf verfallen, zu erzählen,was sie im Schloß erlebt hatten. Glücklicherweise geschah das nicht. Wenn Hans Tillmann nach seiner Kinder Wohlergehen fragte, so glich er nicht dem stillvergnügten Manne, der, im Garten sich feiertäglich ergehend, an den roten Backen der Pfirsiche seine Erbauung findet,sondern dem Gärtner, der ungeduldig nach dem Stand ihrer Reife sieht, bei blauem Himmel stillschweigend über die Möglichkeit von Hagelwettern flucht und auf Schutzvorrichtungen gegen Diebe sinnt. Noch ehe Heini und Röseli eine Gelegenheit erhaschen konnten,etwas von erlebten Freuden zu verraten, hatte sich der Vater seinen Zukunftssorgen von neuem ausgeliefert.Heini wurde auf die Taube geschickt. Röseli hatte den Tisch abzuräumen, wobei sie „lange Ohren“ machte,so daß sie nach Beendigung der Arbeit ihrem Bruder im Spielwinkel der Laube mitteilen konnte, was über ihn beschlossen sei. Der Vater, erzählte sie, habe gesagt,einstweilen sei es ihm noch nicht möglich, der Mutter zuliebe die Arbeit auswärts aufzugeben. Er werde zwar mit dem Gemeindepräsidenten heute noch sich besprechen, ob die geplante Entsumpfung jetzt schon in Angriff genommen werden könne. Wenn ja, so käme der Vater dann öfter heim. Trotzdem aber wolle er Heini sobald als möglich nach Bern aufs Gymnasium schicken, damit er den richtigen Rank bekäme.

Heini spitzte die Ohren. „Was sagt die Mutter dazu ?“„Nichts. Kein Sterbenswörtchen. Ich glaube, es macht ihr das Herz schwer.“

Die Aussicht, nach Bern zu kommen, überschüttete den Knaben mit einer Fülle neuer Vorstellungen, hinter denen alles zurücktrat, was ihn eben noch so stark beschäftigt hatte. Er war damit noch gar nicht zurechtgekommen, als Röseli plötzlich aufsprang und sagte:„Eh! Was wollen jetzt die? Schau, Heini, Antoinette und ihr Vater !“

Dem Brüderchen war's gar nicht geheuer. „Gehl“sagte er, „frag' siet“ Und während Röseli zaghaft und neugierig die Creppe hinunterstieg, duckte sich Heini und beobachtete die unerwarteten Gäste durch die ausgesägten Blumen und Sterne des Geländers. Von An toinette konnte er nur die unter dem Hut hervorquellenden schön gewellten Locken sehen. Sie waren so dunkel, daß ihn dünkte, das weiße Kleid müßte eigentlich davon schwarze Flecken bekommen. Aber es schien im Gegenteil alles an ihr nur um so weißer, reiner,duftiger. Da war wieder jenes merkwürdige Etwas,das ihn so seltsam anzog und ihm doch so unerreichbar fern war.

Herr von Guldwang sprach sehr freundlich zu Röseli.Er lud Heini und seine Schwester ein zu einem Spaziergang nach Rautenberg, einem beliebten Ausflugsziel der Stadtberner, das gerade dem Schloß gegenüber auf dem jenseitigen Höhenzuge lag. Heini hätte aufjubeln mögen. Das NeßlerenMädi stieg in seiner Achtung.Fast liebende Verehrung empfanod er für sie, weil sie ihn nicht verklagt hatte. Aber nun schämte er sich seines Versteckens und wußte nicht, wie sich daraus hervorstehlen, ohne zu verraten, daß er hier die Begegnung belauscht. Wenn sie nun gar die Treppe heraufkamen?!Die Situation konnte aber mit längerem Zuwarten nur noch peinlicher werden. So sprang er denn auf,zupfte das Kleid zurecht, wischte die Knie ab und ging an die Treppe, wo ihm auch schon Antoinettes freundlicher Gruß entgegenklang. Er schämte sich zwar seiner unsaubern Kleider; aber er stieg hinunter und grüßte höflich, während Röseli zu den Eltern eilte, um ihre Erlaubnis einzuholen. Der Knabe wußte nicht recht,was er reden sollte und riß verlegen an den Knöpfen seiner Weste. Hätte nicht Herr von Guldwang mit ihm zu plaudern angefangen, so wäre er wohl vor lauter Verlegenheit davongelaufen, denn Röseli verzog unenodlich lange. Die legte wohl gleich ihr Sonntagskleid an.

Noch viel größer aber als des Knaben Pein war die seiner Schwester, die jetzt schon vergeblich mit den Tränen kämpfte. Grob angeschnauzt hatte sie der Vater.„Was?“ hatte er mit einem mißtrauisch forschenden Blick auf die Mutter gefragt. „Die vom Schloß wollen euch mitnehmen? Das wäre mir nun das Allerneueste. Davon will ich nichts. Mit denen sollt ihr gar nichts zu tun haben. Verstehst mich?“

Röseli lehnte am Cürpfosten und blickte seine Eltern scheu an. Erwartete der Vater von dem Mäochen, daß es Herrn von Guldwang solchen Bescheid bringe?

„Nun? Was fehlt noch?“ fragte Tillmann ungeduldig. Seine Frau warf ihm einen bittenden Blick zu.Er verstand ihn nicht, meinte, die Mutter wolle den Kindern die Erlaubnis, mitzugehen, erwirken und brach in ein zorniges Gepolter über die aristokratischen Nachbarn aus. Als er ein wenig nachließ, wagte Frau Cillmann zu sagen: „Man sollte aber den Herrn nicht länger auf Bescheid warten lassen.“

„Der vermag's zu warten. Er weiß ohnehin nicht,mit welchem Übermut er seine Zeit totschlagen soll.“

Als aber die Mutter sich erhob, um das weinende Kind aus seiner Not zu befreien, sprang Hans Cillmann auf, vertrat ihr den Weg und ging schweren von Tavel, Heinz Tillmann.Schrittes der Treppe zu. „Laß mich!“ herrschte er sie an.

Er hatte erwartet, den alten Schloßherrn zu finden.Daß statt seiner der junge Herr dastand, dämpfte ein wenig seine Aufregung; aber es kam immer noch derb genug heraus, als er sagte: „Guten Cag.“ Er wäre eher erstickt, als daß er's über sich gebracht hätte,zu sagen: „Herr von Guldwang.“ „Sie wollten meine Kinder einladen? Das ist ja recht freundlich;aber sehen Sie, ich kann das nicht annehmen. Ich komme nur alle paar Wochen einmal einen Cag heim.Da wird niemand von mir verlangen, daß ich die Kinder dann noch mit andern Teuten spazieren schicke.“

„O das verstehe ich sehr wohl, Herr Tillmann,“sagte Herr von Guldwang. „Ich würde auch gar nicht gefragt haben, hätte ich geahnt, daß Sie heute daheim seien. Also, nichts für ungut. Ein andermal vielleicht.Adieu, Herr Cillmann.“

„Adieu,“ sagte Vater Tillmann, der die unterste Treppenstufe nicht verlassen hatte. Und er wanöte sich so rasch um, daß er gar nicht sah, wie liebenswürdig Antoinette sich von seinem Buben verabschiedete.

Herr von Guldwang ging schweigend mit seinem Töchterchen der Straße zu. Als er von dort auf das Känelmatt Stöcklein mit seinem leuchtenden Blumenschmuck, den blitzblanken Fensterscheiben zurückblickte,kam ihn ein unbehagliches Gefühl an. Halb war's Haß,halb ein Weh über die Kluft, welche immer noch

Menschen schied, die doch so gut den Kampf des Lebens gemeinsam bestehen, ja in Liebe verbunden sein könnten.Unübersehbar ist das Meer des Schmerzes all derer,die sich von den Begüterten abgestoßen fühlen; aber wer mißt die Tiefe des Leides eines wohlmeinenden Reichen, dem der kleine Mann, nach dem er die Hand ausstrecken möchte, trotzig den Rücken kehrt?

„Solch einen Papa möcht' ich aber nicht haben,“ sagte Antoinette, als sie ihren Vater so ernst nach der Känelmatt hinaufblicken sah. Sie bekam lange keine Antwort.Erst als sie schon gegen Schöchwyler hinunterkamen,sagte er, wie aus einem Traume heraus: „Es ist schade um den prächtigen Jungen.“

Bald nachdem er Antoinettes Vater seine Kinder verweigert hatte, verließ Hans Tillmann das Haus,ging nach Rafeldingen hinüber, zum Bäuertpräsidenten,und kam erst zum Nachtessen heim. Heiter gelaunt sah er auch jetzt nicht aus; aber er schien doch befriedigt von seiner Verhandlung mit den Rafeldingern, welche ihm die Ausführung eines umfangreichen Wasserfassungs und Drainierungswerkes anvertraut hatten.„Nun wirst du mich öfter daheim haben als bisher,“sagte er zu seiner Frau, „und wenn wir im Oberhasle fertig sind, so kann ich dann meinen Werlsplatz hier aufschlagen und einmal etwas auf eigene Rechnung unternehmen.“

Diese Aussicht erfüllte Frau Tillmann mit einer solchen Freude, daß sie sich mit einem lauten „Gott 8*sei Dank“ ihrem Manne flugs auf die Knie setzte, die Arme um seinen Nacken schlang und ihn auf beide Wangen küßte. So etwas nämlich daß er's geschehen ließ war lange nicht mehr vorgekommen, trotzdem Verena Tillmann noch keineswegs verblüht, sondern eine recht anmutige Frau war. Gutmütig lächelnd,schalt Hans sie einen alten Ganggel und küßte sie wahrhaftig wieder. Verena legte ihr Haupt auf seine Schulter und spielte wie ein Kind mit dem stattlichen krausen Vollbart ihres Gatten. In der Seligkeit des Augenblicks wollten ihr Tränen in die Augen kommen. Sie tämpfte dagegen, schwieg und würgte. Durch die Fenster drang ein weicher herbstlicher Abenöschein in die trauliche Stube, und es blieb lange so still, als ob kein lebendes Wesen da örin wäre.

„Was hast du?“ fragte Hans plötzlich. Er hatte ein paar Tränen auf sein Kleid tropfen verspürt.

Mit erstickter Stimme sagte sie: „Ich weiß nicht.Mir ist so eigen ...“ Und nun löste sie sich von ihm,trat ans Fenster und blickte sinnend in den herrlichen Abend hinaus.

„Laß das Flennen!“ schalt Hans ohne Härte. „Das taugt nichts. Schau, Vreneli, man muß nicht immer ans Auseinandergehen denken, wenn man sich doch enölich einmal hat. Komm, wir wollen ein paar Schritte tun.“

Sie stiegen miteinander vor das Haus hinunter,wo die Kinder ihren kleinen gärtnerischen Pflichten oblagen, saßen ein Weilchen auf der Bank unterm

Weichselspalier und spazierten dann, als die Sonne hinter dem Walm versank, wegab gegen die Straße,um dort noch einen Sonnenblick zu erhaschen. Frau Verena war jetzt wieder wohl zumute, und sie konnte sich der Freude auf kommende Tage hingeben.

Da lehnte, seine Pfeife rauchend, der Nachbar Vögeli,Bäuertgemeindeschreiber und mehr Gschäftlimacher als Bauer, über seinen Gartenzaun und wünschte den beiden einen guten Abend. Als sie weitergehen wollten, sagte Vögeli: „Ja, du, was ich noch sagen wollte: es wäre mir anständig, wenn dein Bub mir das Gwehrli bald wieder brächte.“ Hans Tillmann blickte höchst erstaunt auf, während der andere listig mit den Augen zwinkerte.„Ja ja,“ sagte er, „die Bürschlein haben scheint's Unfug getrieben und sind dann erwischt worden.“

Nach wenigen Sätzen wußte Tillmann alles. Sein heiß aufwallender Zorn trieb ihn nach Hause. Aber VDerena schlang ihren Arm enger um ihn und bat um Gnade für Heini. Sie fand sogar den Mut, ihrem Manne zu sagen: „Weißt, Hänsel, so ganz unschuldig bist du an der Geschichte nicht. Du hast dich vor dem Buben zu wenig in acht genommen, wenn du über den Dachtknauf schimpftest.“

„Eben drum. Das muß jetzt gründlich zurechtgerückt sein.“„Aber nicht hauen! Denk doch auch, was du aus den Herzen der Kinder machst, wenn du den Buben jedesmal prügelst, so oft du heimkommst.“

Das Wort traf Hans Tillmann hart, und es kostete ihn Überwindung, sich der bessern Einsicht zu fügen. Allein,er war jetzt einmal in der Laune, das Zusammensein mit seiner Frau auszukosten, und wollte sich's ersparen, ihre Stimmung aufs neue wieder herstellen zu müssen.

Heini lähmte der Schreck, als die Türe seiner Schlafkammer aufsprang und die gewaltige Gestalt des Vaters die Fußdielen vor seinem Bette ächzen machte. Sogleich ahnte er, daß seine Streiche verraten seien, und er duckte sich in Erwartung einer grausamen Züchtigung an die Wand. Den Möbelklopfer suchte er zwar umsonst in des Vaters Hand; aber er wußte, daß der Erzürnte imstande war, ohne Besinnen nach dem erstbesten Gegenstand zu greifen, um ihn damit zu schlagen.Schwarze Angst blickte Tillmann aus den weitgeöffneten Augen seines Knaben entgegen, der sich aufrecht an die Wand lehnte und das Bettzeug an sich riß, um sich zu bedecken. Heini vergaß zu atmen, als er die Frage beantworten sollte: „Bub, was hast du mit Vögelis Gewehr getrieben? Wo hast's?

Jetzt griff die unerbittliche Hand nach ihm. Sie faßte seinen Haarschopf so fest, daß ihn dünkte, die Kopfhaut müßte sich loslössen. Der Vater zog ihn zu sich heran und sagte: Weißt, Bub, du brauchst mir nicht zu versprechen, daß du's nie wieder tun willst,wie du's im Brauch hast, wenn du die Rute riechst.Es ist nicht nötig, denn ehe noch das Gewehrchen wieder in Vögelis Hand ist, bist du in Bern beim

Vetter Ernst. Der wird dich kuranzen, daß dir der Unfug vergeht. Bei uns erträgt sich's nicht, daß man Vater und Mutter Verdruß macht. Eltern, die sich nicht überarbeiten müssen, um zu ihrer Sache zu kommen,mögen's drauf ankommen lassen; aber wir .....“

Er ließ den Strubel fahren. Heini verkroch sich und atmete erst wieder auf, als der Vater, sich umwendend,sagte: „Du weißt, was du zu tun hast. Gut Nacht.“

Die Türe fiel ins Schloß. Eine Weile starrte Heini in die verdämmernde Stube, verwundert über das Ausbleiben der Züchtigung. Dann fiel ihm das Wort vom Verdrußmachen auf die Seele. „Habe ich der Mutter Verdruß gemacht?“ Heini lehnte sich auf gegen den Vorwurf; aber er war ehrlich genug, um sich einzugestehen, daß sein heutiges Tun der Mutter bitteres Leid hätte bereiten können, daß sie für ihn hätte büßen müssen.Gott sei Dank war es nicht soweit gekommen. Zum erstenmal ward dem Knaben bewußt, daß sein Vater nicht aus Laune alles so ernst nahm. Er kämpfte offenbar um etwas, das ihm sehr wichtig war. Über diesen Gedanken befiel der Schlaf den von Eindrücken erschöpften Knaben.

IV.

Ein Frühlingstag, der jeden geschlossenen Raum zur Folterkammer machte, lag über dem Lande. Dazu war es Samstagnachmittag. Wer mochte sich da wundern, wenn der noch kaum knospende Buchenwald am Amselberg von jungen Stimmen widerhallte? Es war nicht das ziel und regellose Geschrei spielender Kinder. In buntem Wechsel lösten übermütig gesungene Sätze der Marseillaise, trutzig dawider geschleuderte Vaterlandoslieder, aufdringliche Tiraden einzelner Redner und wildes Durcheinanderschreien einer ganzen Schar sich ab. Dieser Lärm fegte, gleich einer Windsbraut, die ihr Gewand an tausend Üsten zerfetzt, durch den Wald hin, als suchte er in die lichte Bläue hinauszukommen, welche zwischen den mattsilbernen Stämmen und den braunen Besen der Baumkronen zum Flug in die Weite lud.Aus dem raschelnden Laube, das den Boden bedeckte,guckten zu Tausenden die Anemonen, aufhorchend, was denn da für ein Heidenlärm das sehnsuchtsvolle Sausen der Wipfel so ungestüm störe. Und jetzt entdeckten die Blumen, daß es schon ganz waldwarm duftete. Am unzählbaren Heer der Stämme wallten die goldenen Sonnenfluten auf und nieder. Heraus, heraus, in die Luft, in die duftige Ferne! war des Cages Losung.

Die jugendliche Schar hatte eine der Waldlichtungen des Rautenberges erreicht, aus denen der Blick ungehemmt über die reichen Triften des Aaretals zu den Hochalpen hinüberschweift. Heute ließen sich die Schneeberge nur ahnen. Nur die im direkten Sonnenlicht liegenden Firnfelder vermochten den blassen Frühlingsdunst zu durchscheinen. Heini Tillmanns Klassenkameraden fragten auch gar nicht nach den himmelragenden

Zinken und Hörnern. Ja, die ganze Lenzespracht war ihnen kaum zum Bewußtsein gekommen. Das Bedürfnis,sich auszutoben, war der einzige Beweggrund ihrer Wanderung. Sie waren nämlich am Morgen in der Geschichtstunde zur französischen Revolution gekommen,und Dr. Ellenstab hatte sich in seiner Erzählung an Rouget de Lisle so erwärmt, daß sein Feuer auf die Herzen seiner Schüler übergesprungen war. Es waren etliche unter ihnen, deren erwachende Lebenssehnsucht schon einen Keim von politischem Empfinden in sich barg, allen voran Berni Bär, den sie Mirabeau nannten,ein gedrungener Kerl, der bereits wußte, auf welchen Platz er sich einst im Nationalrat setzen wollte. Auf dem ganzen Weg hatte er seine Kameraden belehrt, es müsse Seele in die schweizerische Politik kommen. Man ahnte wohl, daß Mirabeau das irgendwo aufgeschnappt habe und wahrscheinlich nicht ganz im Klaren sei über den Sinn dieser Forderung; aber er brachte sie mit solcher Überzeugung vor, daß doch entschieden etwas dran sein mußte. Da er konsequent immer der letzte im Range war, genoß Bär in der Klasse eine eigenartige demokratische Sympathie. An Anhang übertraf ihn nur Marcel Delierre, ein Tunichtgut aus dem Neuenburgischen, der mit allem ausgestattet war, was den Deutschschweizern an einem welschen Kameraden imponieren kann. Groß, schlank, geschmeidig und hübsch von Angesicht, gab er sich immer verdammt schick. Er trug eine baskische Mütze, die ihm verwegen übers Ohr

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hing, und Kniehosen mit eleganten Wadenstrümpfen,was damals noch nicht allgemein Mode war. Immer war er elegant krawattiert und ließ einen sauberen Taschentuchzipfel aus der Brusttasche gucken. Delierre,der sich je nach der Gesellschaft, die er um sich hatte,auch de Lierre nannte, war in Bern bei einem Pfarrer der französischen Gemeinde in Pension gegeben. Zum geheimen Schmerz dieses braven Mannes setzte er allen Besserungsversuchen einen stillschweigenden Widerstand entgegen. Er tat das aber mit einer gewissen Grazie,und trug eine Leichtfertigkeit zur Schau, welche die Lehrer in Verzweiflung, die Mitschüler in Bewunderung versetzte. Dabei war er frühreif und verfolgte mit leidenschaftlichem Interesse alle möglichen technischen Fragen, war tüchtig in der Mathematik und verblüffte alt und jung mit geschickten Erperimenten. Es war bei allen ausgemacht: Marcel Delierre würde ein Ingenieur ersten Ranges werden, wenn er nicht in seinem gottlosen Leichtsinn Schiffbruch litt. Seinem Pfarrherrn entronnen, riß Marcel auf dem VRautenberg all seine Kameraden in seinen Übermut hinein.

Mit ihm atmete auch Otto Tremp auf, dessen Vater mit Resignation eine Aktenmappe ins Bureau und vom Bureau wieder in die Wohnung trug und nur einen Gedanken hatte: seinem Söhnlein die große Enttäuschung des Lebens zu ersparen. Es regnete beständig Ernüchterung auf den armen Jungen, der den Eindruck einer ungeduldig aufgefingerten Knospe machte. Er litt immer unter der Befürchtung, daß jede Ausgelassenheit,jedes für sein Alter irgendwie kindische Tun bei seinem Vater stöhnende Mißbilligung finden werde. Ähnliche Leiden schleppte Franz Dengeler mit auf die Ausflüge.Dem wurde jedes mal eingeschärft, daß, wenn eingekehrt sein müsse, jedenfalls nur Milch getrunken werden dürfe.Und nun hatte der gute Franz auf jedem Ausflug die schmerzlichsten Charakterproben auszustehen. Er war immer gegen das Einkehren. Ließ es sich nicht umgehen, so trank er mit den andern Bier, verdarb sich damit die Freude, spülte unter dem Spott der Kameraden beim letzten Brunnen vor der Stadt den Mund aus und log daheim, man sei nicht eingekehrt, so daß Papa Dengeler sich weidlich über das brave Gebaren der Jugend freute.

Augenblicklich waren diese Leiden und Schatten vergessen. Als müßte das Gute von allen Bergen herabstrsmen, aus allen Tiefen aufwallen, so war ihnen zumute, und keiner fragte, in welcher Gestalt es erscheinen würde.

Mit Singen und Schreien ging's weiter durch das harzduftende Dickicht junger Cannen, die ihre schlanken Herzschoße ins Sonnengold tauchten. Wieder lichtete sich der Wald. Eine Wiesenmulde voll Schlüsselblümchen breitete sich vor den Füßen der Wanderer aus. Durch ihre Senkung glitt ein Sträßchen in den Osthang des Amselberges, aus dessen Flanke der schimmernde Giebel des Wirtshauses von Rautenberg sich erhob. Man hatte

4 sich durstig geschrien und folgte, als ob es etwas anderes nicht gäbe, dem Sträßlein in den Trichter. Franz Dengeler bremste. Er folgte ihnen von serne, aber er folgte wie das Blütenblättlein auf dem Spiegel des Brunnentroges und schwapp hatte auch ihn der gurgelnde Trichter samt all seinen Bedenken verschluckt.

Allen voran war Mirabeau die hölzerne Treppe hinaufgestürmt. Da oben gab's eine heimelige Laube,nach dem Werlental hinaus. Oft schon hatten sie dort gezecht und gesungen. Schade, daß Mirabeau nicht Flügel hatte, sonst wäre er in einem Schuß über die Caube hinausgeflogen, hoch kreisend über dem lachenden Tale. Aber o Simmel! Da hockten pfundig und brütend ein paar Männer um eine Flasche. Die machten Gesichter wie heilig gesprochene Atlasse. Mit denen ließ sich's nicht auf einem Brette sitzen. Mirabeau prallte zurück. An ihm vorbei trat Delierre auf die Laube,fuhr ebenfalls zurück, und so einer nach dem andern mit seiner Wundernase, genau als ob ein Appell hätte gehalten werden müssen. Und dann trappelte die ganze Bande mit neuem Lärm die Treppe hinunter, ums Haus herum, in die mit Rinde bedeckte Kegelbahnlaube und begann zu brüllen: „Bier her, Bier her,oder ich fall' um!“

Auf der Laube war man sehr froh über den raschen Rückzug der übermütigen Gesellschaft. Auch hier oben erwartete man das Gute von allen Bergen herunter,ganz besonders von den Hügeln, die sich jenseits der Werlen in langer mannigfach bewegter Kette hinzogen und den weiten Horizont mit grünen Kuppen und borstigen Walospitzen begrenzten. Im Gegensatz zu den fröhlichen Sängern kannten sich die Herren ziemlich genau aus über die Formen, in denen das Gute von den Bergen zu steigen pflegt das Gute, wie sie es verstanden. In ihrer Art waren sie ebenso treu auf das Wohl der nachwachsenden Generation bedacht, wie etwa der ächzende Papa Tremp. Ihnen allen war der Selbsterhaltungstrieb Religion, so sehr, daß die Sehnsucht nach dem Lande ihrer Verheißung sie Tag und Nacht quälte. Wie ernst sie's nahmen, las man auf ihren Gesichtern, sogar in den unter Fettpolstern fast zugekniffenen Äuglein des Hotelunternehmers Ueltschi,der ganz ähnliche Backenbärtchen trug wie der jüngere Herr von Guldwang. Auf seinem sehr rundlichen Bãäuchlein glänzte in zwei Festons von Gilettäschchen zu GiletD so mußte einen die Vermutung kommen, dieses Kettlein gehe ganz ringsherum, und man kam unwillkürlich ins Berechnen, wie viele solcher Festons das ausmachte.Das hatte ihm schon in Florenz, als er dort Gerant des „Grand Hotel et Cerminus“ war, den Übernamen Guirlandajo eingetragen. An Eleganz übertraf ihn beinahe noch der Finanzmann Ryter. Nur trieb dieser Wechselstubenbaron seine Vorliebe für das Schwarze soweit, daß er zu seinen pechfarbenen Haaren, den seelenvollen Tintenkleren hinter dem Golodzwicker, schwarzen

Kleidern und Krawatten auch Fingernägel mit Trauerrand bevorzugte. Vor dem Abschlußfenster der Laube,schön mitten zwischen den roten, blauen, gelben und grünen Zierscheiben, zeichnete sich die Gestalt des Architekten Bygentischer ab, dessen Gesundheit mehr Vertrauen erweckte, als seine meist auf Pfählen in die

Alpenseen hinaus gestellten Häuser. Diesen drei Männern saß Hans Tillmann gegenüber. Er lehnte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch, zupfte öfter an seinem braunen Vollbart und kehrte dem Gegenstand der Beratung,dem jenseits des Tales in der Sonne weithin leuchtenden Schloß Prankenau, hartnäckig den Rücken. Zu einer Ausschreibung war es allerdings noch nicht gekommen; aber unter der Hand hatte sich das Gerücht verbreitet, ein verlockendes Kaufsangebot würde den alten Herrn Scipio sehr wahrscheinlich zum Entschluß bringen. So stand man nun im Begriff, auf der Wirtshauslaube zu Rautenberg, von wo man die Situation des Kaufsobjektes prachtvoll überblickte, ein „Konsortium für den Ankauf der Schloßdomäne Prankenau zwecks Errichtung eines hochmodernen Sanatoriums zu gründen, ein Unternehmen, an dessen humanitärem Charakter niemand zweifeln konnte und das einem dringenden Bedürfnis entsprach. So ungefähr sollte der Oberton des Prospeltes klingen. Welcher Art Leiden dort kuriert werden sollten, würde sich noch finden.Vorläufig war man einig über die Art der Patienten:Erstklassig!

Was hatte nun Hans Tillmann, der fleißige KleinUnternehmer mit seinem rechtschaffen erworbenen Vermögen von nahezu hunderttausend Fränklein von dem seine Frau nichts wußte bei diesem Unternehmen zu tun? Hans Tillmann war nichts Geringeres als der geistige Urheber des Projektes. Er war auch der einzige, in dessen Erwägungen etwas schlummerte, was gar nichts mit dem Geldsäckel zu tun hatte. Das lebte schon in seinen heimlichen Zwiegesprächen mit dem prunksüchtigen Dachtnauf. Als nun zum erstenmal das Gerücht in die Känelmatt drang, Herrn Scipio sei das Schloßgut verleidet, da sah Tillmann den Tag heraufdämmern, an dem das Aristokratennest dem Volke nutzbar gemacht werden konnte. Und er ging hin und verriet sein Geheimnis den Teuten, die er bei seinen Geschäften im Oberland als ebenso leichtfüßig wie tatkräftig kennen gelernt. Zu den Finanzmännern in der Stadt hatte er keine Beziehungen. Die soliden unter ihnen würden die Idee durch Vorsicht und Bedenken im Keim erwürgen, die Wagemutigen würden sie ihm entreißen und ihn leer ausgehen lassen. Seine engern Landsleute Tillmanns Wiege hatte an der Lütschinen gestanden hatten schon oft gezeigt, wie man aus ozonreicher LTuft, schöner Aussicht und Bratenduft rentable Paläste bauen kann. Und wenn schon dann und wann mal solch ein Ding in sich zusammenbrach, so kam doch niemand dabei um. Sie wußten das Unglück immer auf den unbeholfensten Buckel abzulenken. 64 Ueltschi und Konsorten hatten die Ohren gespitzt,als sie Tillmanns Einfall vernahmen. Und aus reiner Dankbarkeit für seine vortreffliche Idee hatten sie ihn sofort eingeladen, sich mit seinen Ersparnissen im ersten Rang an der Sache zu beteiligen. Schon nach der ersten Besprechung in Interlaken hatte ihn eine Art Fieber ergriffen. Es war nicht kräftigende Hoffnung bloß, sondern es steckte etwas Brandiges darin, das ihm die Ruhe benahm. Er wollte sich's zwar nicht eingestehen;aber bewußt war's ihm doch, daß List vor den Wagen gespannt wurde und daß diese List auch an ihm, an seiner Seelenruhe zerrte und zog.

Aus der Kegelbahn herauf scholl Lied um Tied,und wenn's auch mehr ein Gebrüll war als Gesang,so störte das die Männer auf der Laube wenig. Im Gegenteil, die Sorglosigkeit des kommenden Geschlechtes tat ihnen wohl. Herr Ueltschi nahm sich aus guter Laune sogar vor, den jungen Herren noch ein paar Flaschen zu wiren. Aber einstweilen hatte man ernste Arbeit.

Ob irgendwer von den Initianten sich des fernen fast musikalisch korrekten Hufschlages geachtet hätte, der von der Talstraße her scholl? Wohl kaum. Aber mitten in einem tiefen Brüten zuckte Hans Cillmann zusammen.In der Kegelbahn drunten hatte einer geschrien: „SHa!Dort fährt der Heini Cillmann.“

Mit scharfem Ruck wandte sich Vater Cillmann um.Dort fuhr auf der blendenden Landstraße ein prächtig glitzerndes Spielzeug, die Guldwangsche Equipage. Bei der hellen Beleuchtung und klaren Luft ließ sich erkennen, daß auf dem Rücksitz eine Dame und ein Maochen saßen, ihnen gegenüber ein Junge mit der blauen Gymnasianermütze. Der Wagen hatte die Aufmerksamkeit auch der andern Herren auf sich gezogen, und es entstand eine Stille, in der man unten die jugendlichen Zecher disputieren hörte.

„Da hat man's. Jetzt weiß man, warum der Tilly nicht mitkommt.“

„So ein Drückeberger !“

„Ja, da tut er immer so fromm. Immer heißt's:Ich muß zu meiner Mutter. Meine Mutter ist krank.“

Ein wildes Gelächter folgte diesen Worten. Dann fuhr einer fort: „Du, Delierre, was sagst eigentlich du zu der Geschichte? Kannst du das so ruhig mit ansehen, he?“

Abermals folgte ein lachendes Gebrüll.

„Haha!“ antwortete der junge Neuenburger.Meinetwegen kann der mit ihr fahren, soweit es Straßen gibt.Ich werde ihn im Nu wieder ausstechen.“

„Übrigens,“ rief ein anderer, „prost Deli, einen Speziellen auf Antoinette.“

„Wißt ihr was, wir wollen sie aufrufen. Achtung!Silentium! Erst Tilly. Eins, zwei, drei Tilly! Alle hatten den Namen aus vollem Hals geschrien.

„Ahahaha seht! Sie haben's gehört. Sie schauen herauf. Jetzt sie! Eins, zwei, drei An ioi nette?“von Tavel, HSeinz Tillmann.

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Es war ein unbändiges Gebrüll.

„Ja ja, mein Lieber,“ sagte nun wieder einer.„Weißt du, Delierre, solange ihr euch nur in der französischen Kirche in ihre schönen Blicke teilt, hat's nichts zu sagen. Aber so in der flotten Equipage, Auge in Auge über Land Donnerwetter auch! Deli, Deli,an deiner Stelle ...“

„Es ist aber doch eigentlich schnöde, daß er sich immer drückt, der Cilly.“

„Ach, man muß ihn verstehen. Wenn man einen solchen Alten hat!“

„Der ist ja nie daheim.“

„Gerade oft genug. Er prügelt ihn ja jedesmal,wenn er heimkommt.“

Nein, das ist haarig.“

„Pereat der Schnödian!“

Das weitere ging in einem allgemeinen Durcheinander von Stimmen unter, so daß Hans Tillmann seine Ohren wieder für das Geschäftliche frei kriegte. Sich der Sache restlos hinzugeben, war ihm aber nicht mehr möglich, da sich ihm die Überlegung zwischenhinein drängte, ob er nicht besser tun würde, seinen Jungen aus dem Gymnasium wegzunehmen. Die Berührung mit der Aristokratenfamilie und anderseits diese Kameradschaft, die soff wie die Großen, und sich darin gefiel,die Eltern herunterzumachen! Schließlich gab es noch anderswo Gymnasien.

In ziemlich bärbeißiger Laune ging Vater Tillmann den Berg hinunter, um quer über das Tal in die Känelmatt hinaufzusteigen, während die Kollegen vom KonD derten. Herr Ueltschi hatte es gar nicht nötig befunden,dem jungen Volk weitere Flaschen zu spenden. Schon so war man froh, der gröhlenden Klasse auf dem Sträßchen zuvorzukommen.

Kaum eine halbe Stunde, nachdem der vielstimmige TillySchrei erschollen, hatte Heini Tillmann seine Mutter bei der Gartenarbeit überrascht. Sie sollte eigentlich das fühlte sie jetzt wieder diese Liebhaberei aufgeben. Die jedem Gesunden zuträgliche Arbeit bezahlte sie doch immer mit Rückenweh und Stichen, über deren Herd und Ursache sie sich nicht klar werden konnte.Froh zu rasten, braute sie ihrem Sohne schnell eine Casse Kaffee und setzte sich zu ihm vor das Haus in den milden Frühlingssonnenschein. Der flimmerte lustig auf den blanken Blättchen der Buchsbäume. Er entlockte dem aufgebrochenen Eröreich des Gartens einen erquickenden Atemhauch und ließ vor dem dunkeln Hintergrunde der Buchshecke die Bienen wie mattgoldene Funken spielen.

„Du bist früh heimgekommen. Bist so streng gelaufen?“ fragte Frau Tillmann.

„Ja. wenn du wüßtest!“ sagte der Junge, und seine Augen leuchteten dazu in jugendfrischem Glück. Heut hab' ich's ganz nobel gegeben. In der Equipage der Gulowangs. Das läuft freilich anders als das alte gelbe Trottelpöstli.“ Und auf der Mutter staunende Blicke antwortete er weiter: „Sie haben mich unterwegs aufgeladen. Die Frau von Guldwang war's und Antoinette. Die Frau ist mir gewogen. Weiß nicht,womit ich das verdient. Heut' hat sie mich unterwegs gefragt, ob ich nicht Lust hätte, Theologie zu studieren.“

„Heinit“ entwischte es der Mutter, so daß der Junge ohne ein Wort weiterer Erklärung aufs Sicherste der Mutter Gedankengänge erriet.

„Weißt du,“ sagte er, „ich geh' hin und wieder in die französische Predigt, zu dem Pfarrer, bei dem mein Freund Delierre wohnt. Es geschah ursprünglich mehr wegen des Franzõsischlernens. Aber nun habe ich da mehr gefunden. Er hat etwas von dem Sachariä, weißt du noch, der da einmal im Schloß gepredigt hat. Und dort hat mich die Frau gesehen. Die Guldwang sitzen immer dort, die ganze Familie, und da...“

„Aber sag' mir, was hast du ihr geantwortet ?“

„Ich hab' mich nicht lange besinnen müssen. Ja',hab' ich gesagt, von Herzen gern, am liebsten von allem.“

„Heini, mein Heini!“ sagte Frau Verena. Sie zog ihren lieben Buben an sich und strich ihm zärtlich über den Krauskopf.

Dem Jüngling war unsäglich wohl in dieser mütterlichen Freude; aber in das Wohlbehagen stach leise leise der gleiche Schmerz, der grausam an der Mutter Herz nagte. Er ahnte, warum sie ihm jetzt nicht ins *

Gesicht schaute, und wagte kaum, sich zu rühren. Starr schweiften auch seine Blicke in den Garten hinaus, als er endlich wieder zum Wort griff: „Es wird noch was kosten.“

„Jawohl,“ sagte die Mutter. „Aber bei Gott sind alle Dinge möglich. Kennst du den Pfarrer wie heißt er, der welsche?“

„Jeanmaire. Ja, ein wenig schon. Aber weißt,ich kann noch zu wenig französisch, um recht mit ihm reden zu können.

Frau Cillmann zog ihren Sohn eng an sich und nahm seine Hand in die ihre, wie man tut, wenn man einen sorgsam führen will. „Heini, Heini,“ sagte sie,„wenn das geschehen dürfte!“

„Mutter,“ wandte der Junge behutsam ein, ich fürchte, daß das nicht ohne Kampf möglich sei.“

„Ach ja, du hast recht. Zwängen wollen wir's nicht.Es muß ja auch nicht sein. Ich will schon mit Dank meine Augen schließen, wenn ich weiß, daß du deine Schritte auf die ewige Stadt gerichtet hältst.“

Nun schwiegen sie beide eine zeitlang, bis aus tiefem Sinnen heraus Heini sagte: „Wunderlich kommt's einem doch vor, daß der Ort höchster Glückseligkeit gerade eine Stadt sein soll. Warum nicht ein hoher Berg?“

„Kind, du mußt nicht am Zerrbild unserer Städte hängen bleiben. Die Stadt ist eben der Ort, wo die Menschen sich finden. Alle Herrlichkeit, welche der liebe Gott über Gerechte und Ungerechte ausgeschüttet hat, alles Schöne, Gute, Große, was je erfunden worden ist, wird sich in der ewigen Stadt zu einem Ganzen fügen, und weil weder eine Lüge, noch irgend eine Gemeinheit oder Schlechtigkeit dazwischen hineingeschleppt werden kann, so wird es dort ein unbegreiflich schönes Wohnen und Ceben sein. Es heißt, die Gassen der ewigen Stadt, will sagen Handel und Wandel, der Verkehr der Menschen, werden sein wie lauteres Gold und durchscheinend wie Glas. Was das heißen will,verstehst du jetzt noch nicht, Bub. Aber wenn zwanzig Jahre über dich hinweggegangen sein werden, dann wirst du erfahren haben, was Tauterkeit im Reden und Handeln bedeutet. Und wie Tausende, die vor dir gewesen, wirst du aufschreien und fragen: Warum sind die Menschen so unlauter gegeneinander? Und wie die Tausende, welche mit dieser Frage auf den Lippen gestorben sind, wirst du dich in Sehnsucht verzehren, nach einer Zeit, da die Menschen ihr höchstes Wohlsein darin finden, lauter zu sein, schattenlos durchscheinend gegeneinander. Siehst du, diese Sehnsucht plagt die Menschen,seitdem die Sünde in die Welt gekommen ist. Es ist ihr Heimweh.“

Schritte, die sich dem Hause näherten, ließen plötzlich Frau Tillmann verstummen und bereiteten der seligen Stunde zwischen Mutter und Sohn ein Ende.Es war nur ein Nachbar aus dem Bauernhof gewesen.Aber man kam nicht mehr dazu, den Faden weiterzuspinnen, und als die Sonne in die Tannwipfel des

Amselberges versank, kam der Vater bergan geschritten,schwer und brütend, wie immer. Ängstlich forschten der Mutter Blicke im Gesicht des Heimkehrenden, wußte sie doch, daß drüben eine Besprechung hatte stattfinden sollen, von der er sehr viel erwartete.

Heini ging dem Vater ein paar Schritte entgegen und wurde mit einem heitern, fast lächelnden Blick begrüßt. So eine Stunde einsamen Weges vermag oft viel. Hans Tillmann zupfte sogar seinen Sohn leise am Ohr das war etwas ganz Neues und fragte mit schalkhaftem Augenzwinkern: „Du bist wohl von Bern heraufgeflogen oder hast du die Schuhe schon auf den Sonntag gewichst?“ Heini errötete, als er seine schwarzen Schuhe mit dem dicken Staubbelag auf denjenigen des Vaters verglich.

Hans TCillmann hatte sich unterwegs in die Überzeugung hineingezwungen, daß die Prügelpädagogik,die man ihm offenbar nachredete, gar nicht der Herzensgüte entspreche, die er gegen seinen Sohn hegte. „Himmelsakerment!“ hatte er drunten auf der Werlenbrücke geknirscht. „Wenn der Vater eines einzigen der jungen Saufbolde von Heiners Klasse so rechtschaffen um die Zutunft seines Sohnes sich sorgt wie Hans Tillmann,so will ich mich hängen lassen. Nein, meiner Seel, so bin ich nicht. Ein wahrhafter Freund, ein treuer Freund bin ich meinem Buben. Und wenn er's so nicht begriffen hat, so kann ich's ihm ja auf andere Art zeigen.Zornrot soll er mir werden, aber nicht verlegen, wenn die Taugenichtse an seinem Alten etwas zu mäkeln haben.“

Und als er im Straßenstaub die schmalen Geleise des Guldwangschen Landauers gesehen, hatte er sogar aufzulachen versucht: „Bin ich etwa einer, der es einem jungen Blut mißgönnt, einmal zweispännig zu fahren? Wart nur, Bürschlein, wenn du's in deinem Leben nicht dazu bringst, vierspännig zu fahren freilich nicht so zwecklos und zum ürger der arbeitenden Menschen so soll die Schuld nicht an deinem Vater liegen, dem Schnödian!“

Seit den Tagen, da Heini auf seines Vaters Knien hatte reiten dürfen, war ihm solch freundlicher Familienabend wie heute nicht mehr vorgekommen. Allen war so wohl und heimelig zumute, daß Mutter und Kinder dachten, dem Vater müsse heute eine ganz besonders rosige Zukunft aufgegangen sein.

Als die Kinder zu Bett waren, konnte Frau Verena nicht länger an sich halten. „Du, Hans,“ forschte sie,„du bist wohl sehr zufrieden mit deinen Herren?“

Hans zuckte mit den Achseln und sagte nachdenklich:„Weißt, wenn die Menschen lauter wären, so wär' das Leben ein ewiger Sonntag, so dünkt's mich. Aber so hat man doch Tag und Nacht keine ganz ruhige Stunde.Gottt? Wenn man nur einmal des Jahres so ganz arglos alle viere von sich strecken und den blauen Himmel anstaunen könnte. Ich glaube, ich finge an,Psalmen zu singen.“

Der Sonntag verstrich im Frieden, wenn auch öfters die Wolken sich wieder auf des Vaters Stirne senkten.

Als Heini in der Morgenfrühe des Montags sich auf den Weg nach der Stadt machte, geleitete ihn die Mutter trotz des Regens, der die ganze kleine Welt des Werlentales herrlich erduften ließ, bis an die Straße, um ihm zu sagen: „Heini, eins mußt du mir versprechen: Gelt, du läßest dich niemehr von Gulowangs in den Wagen laden? Weißt, der Vater möchte nicht, daß du meinst, er gönne dir so was nicht, drum sagt er nichts; aber es tut ihm doch weh. Er mag's nun einmal nicht leiden, daß wir von diesen Leuten etwas annehmen, was wir ihnen nicht vergelten können.Gelt, Heini, du verstehst's ?“

Heini, voll Glück.über den Sonntag, der so ohne alle Härte und Strenge abgelaufen, drückte der Mutter herzlich die Hand und sagte ohne Besinnen: „Du kannst drauf zählen, Mutter, ich tu's nimmermehr.“ Und während der Regen weich und melodisch in die wundervolle Morgenstille rauschte, blickte Frau Verena ihrem Jungen voll süßer Hoffnung nach.

V.

In die altersgrauen Gassen von Bern fiel der erste Schnee. Und das war gut. Die weiße Decke auf dem Fahrdamm, den damals noch keine Tramgeleise zer schnitten, warf endlich nach langen trüben Tagen wieder ein helleres Licht in die Schaufenster. Ein fast wohliges Wintergefühl kam die Leute an, so daß sie ganz fröhlich dreinschauten, wenn sie stampfend unter die Laubenbogen kamen und den dichten Flockenbelag von den üÜberziehern schüttelten. Das allein war's aber durchaus nicht, was dem angeschwärmten Pfarrer Jeanmaire einen Ausdruck verlieh, als könnte er nur mit der außersten Anstrengung ein Herausplatzen verhüten.Sammlung suchend, eilte er trotz dem Schneewetter vor die Stadt hinaus, in eine der einsamen Alleen, sei es, um sich ungesehen auslachen zu können oder um sonstwie wieder in eine ernstere Stimmung zu kommen,denn so konnte er keine seelsorgerlichen Besuche machen,geschweige denn Unterweisungsstunde halten. Er kam aus der Winterwohnung des Herrn Scipio von Guldwang. Ja, erst Anfang Dezember war's, und doch hatte der alte Herr, der sonst immer erst auf Neujahr in die Stadt kam, seinen Dachsbau, wie er die behagliche Wohnung an der Kramgasse nannte, bereits bezogen.Die einen hielten das für ein sicheres Anzeichen des unmittelbar bevorstehenden Verkaufs von Prankenau,die andern glaubten, Herr Scipio bedürfe regelmäßiger Behandlung durch einen Spezialisten. Er, der ungehorsamste Patient, den es gab, der alle Arzneiflaschen mit einer boshaften Aufschrift uneröffnet in einem Schrank sammelte, ließ die Teute in diesem Glauben.Und der Verkauf? Nun ja, er war entschlossen, ein vorteilhaftes Angebot anzunehmen; aber auf das erstbeste hatte er nicht nötig, hereinzufallen. Ein kleinwenig das hatte er nun schon herausgefühlt war ihm eben der alte Familiensitz doch ans Herz gewachsen,und was fing er mit Frau Dorothea an, wenn er sie nicht mehr mit diesem Damoklesschwert bedrohen konnte?Mit dem Schloß würde er auch dieses Fleckchen Sonnenschein einbüßen. O nein, was ihn bewog, seinen Aufenthalt in der Stadt auszudehnen, war nichts anderes als die Große Sozietät, wo er täglich sein Spielchen machen konnte und allerhand Neuigkeiten zu hören bekam. Gegen diese Annehmlichkeiten nahm er schon die paar Schrullen der schönen Nichte in Kauf, um so mehr, als er das Gefühl hatte, es könne ja nichts schaden, wenn etwas für sein Seelenheil geschähe. Persönlich wollte er dabei tunlichst unbeteiligt bleiben, und er wußte nur zu gut, daß er das Heil nirgends in angenehmerer Form sich aneignen konnte als durch Vermittlung der Frau Dorothea, die fast jeden Tag bei ihm anrückte, ihn von Kopf zu Fuß musterte, ihm die Krawatte band, den Rocktragen bürstete, mit einem benzingetränkten Lappen die Spuren unachtsamen Essens auf seinen Kleidern beseitigte und dazu mit ihren rosigen Lippen so herzerquickend schmählte und bei aller Tugendhaftigkeit gar keine Wattepfropfen gegen seine saftigsten Bonmots in ihren lieblichen Ohrchen hatte. Sie wies zwar das muß man sagen die abscheulichen Geschichtchen immer mit Entrüstung zurück; aber es fiel ihr nicht ein, den alten Sünder durch irgend eine Verkürzung ihrer Tiebenswürdigkeit zu strafen. So hatte ihr ursprünglicher Plan, Onkel Scip durch ihre Bevormundung in den kleinen Dingen des Alltags so bald wie moglich wieder nach Prankenau hinauszuscheuchen und damit den Verkauf hinauszuschieben, schon nach vierzehn Tagen vollständig Fiasko gemacht. Sie konnte eben nicht Gouvernante spielen. Je mehr sie den Hausteufel herauskehren wollte, desto mehr Charme entwickelte sie wenigstens dem alten Kavalier gegenüber.

Eines Tages hielt Frau Dorothea ganz gehsörig Einkehr bei sich. Die Entdeckung, daß sie über eine Weiblichkeit verfügte, mit der sich bedeutend reizvoller hätte spielen lassen als in dem allzu leichten Gängeln ihres guten Fernand, machte sie sich selbst interessant.Sich als eine gefährliche Person zu erlennen, bereitete ihr einen süßen Schrecken. Ganz geduckt und mit listigen Äuglein schlich ein Phantom von Reue über verpaßte Flirtgelegenheiten ihr um das Herz herum. Etwas in ihr entrüstete sich über diese Reue, aber die Entrüstung wollte sich nicht so recht ihrem Herzblut mitteilen. Sie geriet in einen Konflikt, der sie hin und her zerrte,bis ihr zum Bewußtsein kam, daß es gegen die Weihnachtszeit gehe und daß vor den heiligen Zeiten der altböse Feind immer ganz besonders rührig werde. Da raffte sie sich auf und trat entschlossen dem Schlänglein der romantischen Reue auf den Kopf mit demselben

Pantöõffelchen, das sie Onkel Scip auf den runzligen Nacken setzte.

O, es war ihr sehr ernst. Sie schämte sich ihrer Schwachheit gegenüber den unheiligen Gesprächen des alten Herrn. Sie hatte sich das war ihr jetzt klar auch ihm gegenüber eines Unrechts schuldig gemacht.Das mußte ausgeglichen werden, und weil dieser Ausgleich sich sehr gut in ihre ursprünglichen Pläne fügte,so schritt sie sofort zur Ausführung uno dirigierte Herrn Pfarrer Jeanmaire dem Onkel auf den Leib.

„Aha“, dachte Herr Scipio, als man ihm Herrn Jeanmaire meldete, „um den Alten von Prankenau aus seinem Winterbau zu räuchern, braucht's ein anderes Räuchlein. Er empfing den Pfarrer, der bloß an den Schläfen ein wenig ergraut war, aufs Liebenswürdigste und komplimentierte ihn in einen ungewöhnlich tiefen FaulenzerFauteuil, so daß er die Knie nächst ans Gesicht bekam, und schob ihn dicht ans Kaminfeuer. „So“, dachte sich der alte Haudegen, „wird dich schwerlich das Beten ankommen.“ Dann schleppte er Zigarren herbei und klingelte um Dessertwein. Gegen beides blieb Herr Jeanmaire trotz seiner Versenkung unerbittlich standhaft. Aber Herr Scipio war noch nicht am Ende seiner taktischen Gewanotheit. Er hielt seinem Gast eine gewaltige Lobrede auf die Abstinenz und ging dann dazu über, Unmäßigkeit an Beispielen nachzuweisen, die er in seinem langen Leben kennen gelernt.Pfarrer Jeanmaire gab ihm zu verstehen, daß man um Beispiele von Menschen, die im Alkohol umkamen,nicht verlegen sei, jetzt wäre es aber ein Verdienst zu zeigen, daß man ohne Altohol sehr gut leben könne.Das sei ganz richtig, stimmte der Prankenauer bei.„Aber sagen Sie das der Jugend, Herr Pfarrer.Führen Sie im Offizierskorps eines flotten Regiments den Nachweis, daß die wahre Lebensfreude anderswo zu suchen sei als bei Weibern und Alkoholt Mein Gott, wenn ich denke, wie das bei uns zuging!“ Und nun schüttelte er das Füllhorn seiner Erinnerungen und Anekdoten über den wehrlos Eingesenkten mit einer solchen Würze aus, daß nicht nur jeder ernste Vorsatz in des Pfarrers Herzen erstarb, sondern der brave Mann in ein Mitlachen hineingeriet, gegen das er umsonst all seinen sittlichen Ernst in die Front peitschte. Es half nichts anderes mehr als Flucht. Und er ergriff sie, sobald die Gelegenheit sich bot.

Draußen, in der winterlichen Allee erst, erloschen die Funken des Tachens, die noch an ihm fortgeglommen, völlig, und Pfarrer Jeanmaire tat aufrichtigen Herzens Buße. Vierzehn Tage lang wich er ängstlich jeder Begegnung mit Frau von Guldwang aus.

Auch Herr Scipio war überzeugt, daß er nicht so bald wieder einen Besuch des Pfarrers zu gewärtigen habe. Das hatte er gewollt; aber froh war er seines Sieges doch nicht. Siebzig Jahre hatte er hinter sich,ein halbes Jahrhundert lag zwischen dem heutigen Tage und der letzten Stunde, die er mit seiner Mutter zugebracht; aber deutlich empfand er, daß diese nicht gebilligt hätte, was er heute mit dem Pfarrherrn getan.Wie oft schon in seinem Leben waren solche Augenblicke wiedergekehrt? Sie waren voll Wehmut, und doch hätte er sie festhalten mögen. Am liebsten hätte er seinen letzten Atemzug in solch stiller Stunde des Heimwehs nach der einzigen getan, die in wahrhaft reiner Liebe ihm zugetan gewesen. So sann er auch heute wieder in seiner Einsamkeit am verglimmenden Kaminfeuer.

In diesen Cagen ging ein eisiger Hauch über das Tand und malte den Alten aus lauterem Eis Craumlanoschaften an die Fenster, so daß sie wehmütige Blicke in Cage warfen, die jenseits der großen Enttäuschungen,weit hinter ihnen lagen. Der JZugend aber bahnte der kalte Hauch Wege über Strecken, die ihr sonst nicht zugänglich waren. Spiegelglatt und durchscheinend schwarz lag das Eis auf den Teichen. Während der Himmel sich schon leise zu färben begann und die blauen Schatten der kahlen AlleeRiesen auf dem rötlich flimmernden Schnee ans Ufer herankrochen, steuerte Heini Tillmann auf blitzenden Kielen über das Egelmoos.Das Eis sang und knackte leise, und es war, als atmete die Tiefe, der man, über sie hinschwebend, ins grausig leere Herz schaute. Heini hatte vor seinen Kameraden Vorsprung gewonnen, nicht weil er ihn gesucht, sondern ganz einfach, weil er nach der letzten Nachmittagsstunde stracks aufs Eis gegangen war, während die andern mit unendlichem Verabreden und Herumschlendern viel Zeit verloren. Unter den wenigen Menschen, welche sich der Wonne des noch ungeritzten Spiegels hingaben,erblickte der junge Tillmann sehr bald zwei schlanke Gestalten, deren graziöser Gleitschritt mit der schlichten Eleganz ihrer Coilette wohltuend übereinstimmte. In angemessenem Abstand folgte er dem Paar. Er vermutete, daß die eine der jungen Damen Antoinette von Gulodwang sei. Um sich zu überzeugen, mandte er plötzlich um, so daß er auf der andern Seite der Bahn den beiden begegnen mußte. Und er hatte sich nicht getäuscht. Sein freudig respektvoller Gruß wurde im Vorbeischweben freunoschaftlich erwidert.

Fast war er froh darüber, daß Antoinette nicht allein fuhr. Ihr allein zu begegnen, hätte ihn in Verlegenheit gebracht. Die Begleiterin hatte er schon oft mit dem Fräulein von Guldwang gesehen. Wer sie war, wußte Heini nicht. Der ungewöhnlich gute Geschmack, den sie in ihrer Kleidung zur Schau trug, ihr wohlgepflegtes und zugleich anmutiges Wesen rückte für Heini dieses Mädchen in die Linie derer, von denen er sich gesellschaftlich absolut getrennt fühlte. Da gab es keine Brücke, so wenig wie bei Antoinette. Die beiden jungen Damen gehörten für ihn zu den Erscheinungen,die man anschwärmt, ohne zu leiden.

Im Weiterfahren ließ Tilly seine Gedanken zurückschweifen, zu allerhand Begegnungen mit Antoinette,die ihm bei den Neckereien unter den Kameraden immer einen gewissen Vorrang verliehen hatten. Die Gunst der Familie Guldwang gab ihm Ansehen, brachte ihn aber in Verlegenheit seinen Eltern gegenüber. In den Wagen stieg er nie mehr, das war festgelegt. Wenn er nun aber hier auf dem Eise von dem Recht eines angehenden Studenten Gebrauch machen und Antoinette seine Begleitung antragen würde vertrug sich das mit dem der Mutter gegebenen Versprechen?

Sie kreuzten sich zum zweitenmal. Heini erntete die nämlichen freundlichen Blicke wie vorhin. Ihm schien, es liege eine Einladung darin. Weiter sinnend,glitt er dem Ufer entlang. Da sah er einige seiner Kameraden auf den Bänken ihre Schlittschuhe anschnallen.Das trieb ihn an. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Er wanöte sich um und folgte nun wieder,in gleicher Richtung fahrend, den beiden Mäochen.

Jetzt glitt in verwegenen holländischen Bogenzügen,mit vollendetem Gleichgewicht der schwarzäugige Delierre mitten durch die Bahn. Wie ein Sperber umkreiste er die beiden Damen. Triumph und Hohn lag in seinen Kurven, die er, im Bewußtsein, daß ihm die Beute nicht entgehen könne, kühn dehnte, um Tilly damit zu quälen. Der war ein gutherziger Mensch; wenn aber in diesem Augenblick irgend eine „Tücke des Obfekts“den ästhetischen Sieg von Delierres Figuren zunichte gemacht hätte, so würde er das dem Schicksal gar nicht übel genommen haben. Auf einmal standen die vier jungen Menschen dicht beisammen, so daß die Eisdecke von Tavel, Heinz Tillmann.krachte. Lachend stoben sie auseinander, um sich gleich wieder zusammenzuschließen. Doch blieben sie nun in Bewegung und fuhren paarweise weiter, voraus Antoinette mit Delierre, der sich bemühte, die etwas Unsichere mit in seine Holländerbogen zu bringen. Heini fuhr in freier Bewegung neben Lilian Merle einher. Wie ein Flug Schmetterlinge schwebten sie weiter. Heini Tillmann wußte nichts von seiner Partnerin. Er mußte sich vorerst damit begnügen, zu vermuten, daß sie eine Freundin Antoinettes sei. Sie aber wußte offenbar alles über ihn, was etwa Antoinette bekannt sein konnte. Das tat dem JZüngling wohl und befreite ihn von der schlimmsten Schüchternheit, so daß er es nach einigen Schritten fertig brachte, die rechte Hand nach ihr auszustrecken und zu sagen: „Darf ich mit Ihnen fahren, Fräulein?“ Und nun geschah etwas, das Heini beinahe den Atem nahm. Sie bot ihm beide Hände zum Verschränktfahren, so daß er seine Rechte mit der ihrigen in dem seidegefütterten Muff bergen durfte. Sie griff fest zu, und wenn schon Heinis stattliche Gestalt den Halt des hübschen Paares auszumachen schien, so fühlte doch eher er sich geführt. Ein Erfahrener hätte es gleich heraus gehabt: Lilian wollte von einem Starken geführt sein, aber wie und wohin, das sagten ihre Hände.„Sie sind auch ein fleißiger Hörer von Pfarrer Jeanmaire?“ sagte die junge Dame. „Ich sah Sie oft in seinen Predigten.“Heini errötete: „Ja,“ sagte er. „Ich höre ihn sehr gern.“

„Werden Sie auch geneckt deshalb 7

„Geneckt ?

»Nun, Sie wissen doch, daß man uns jungen Leuten vorhält, wir gehen nur deshalb dort zur Kirche,weil die späte Stunde des Gottesdienstes ein langes Ausschlafen gestatte.“

„Ach so! Nun, offen gestanden, gegen das Ausschlafen habe ich gar nichts. Aber es ist doch wirklich noch etwas anderes, was mich dorthin zieht.“

„Das habe ich schon durch Antoinette erfahren. Sie werden Cheologie studieren?“

„Ich möchte wohl gerne; aber ich fürchte, daß mein Vater es nicht haben will.“

„Was wünschte denn Ihr Vater aus Ihnen zu machen ?

„Jedenfalls etwas Prattischeres, das mehr Gelegenheit bietet, sich in der Welt eine Stellung zu machen.“

„O, Ihr Vater sollte einmal Herrn Jeanmaire hören.Es gibt noch größeres als eine einträgliche Stellung. Moöchten Sie gerne Lanopfarrer werden oder Professor?“

„Ich möchte vor allem einen Beruf wählen, der mir Gelegenheit gibt, meine Ideale zu verfolgen. Das Schönste muß es doch eigentlich sein, „wenn man die Sehnsucht der Menschen stillen kann.“

War es reiner Zufall, daß Lilian in diesem Augenblick Heinis Hand fester faßte? Sie vergaßen über ihrem Plaudern alles, was um sie her war, hatten das Gefühl, sich vortrefflich zu verstehen und waren darüber sehr glücklich. Bald aber begannen in der Allee die Gaslaternen zu flimmern, und auf einmal war es Zeit, sich zu trennen.

„Ich bin eine schlechte Hüterin,“ sagte Lilian. „Wo ist Antoinette ?“ Endlich sahen sie das bogenfahrende Paar das Gewimmel durchkreuzen, steuerten darauf zu und gingen mit ihm ans Ufer, wo Delierre sich sofort auf ein Knie niederließ, um Antoinette die Riemen aufzulssen. Heini Cillmann machte es ihm sogleich nach,wobei er noch einmal Gelegenheit fand, in die großen graugrün schillernden Augensterne seiner Begleiterin aufzuschauen. Und jetzt fielen ihm auch die zwar nicht leuchtend roten, aber sehr hübsch geschwungenen und ziemlich starken Lippen und die wohlgepflegten Zãähne Cilians auf. Hätte man ihm zugemutet, in dieser Stellung bis zum völligen Anfrieren zu verharren, es würde ihn keine Überwindung getkostet haben. Aber ebenso rasch, wie vorgestellt, fand sich Heini Tillmann verabschiedet. Er schlenderte, seine Schenkel wieder an die Alltagsbewegung gewöhnend, mit Delierre der Stadt zu.

Daß ihm der Welsche Antoinette weggelapert hatte,erschien beiden Kameraden selbstverständlich, und wenn Cilly vor dem Zusammentreffen durch Delierres siegesgewisses Einherfahren gereizt gewesen, so fühlte er sich jetzt frei von jeder Spur des Neides.

„Du,“ fragte er, als sie die beiden jungen Damen aus den Augen verloren hatten, „wer ist sie eigentlich?Ich meine, wie kommt sie zu Antoinette?“

Ein belustigter Blick Delierres streifte den Frager.„Sie hat dir wohl gefallen, he? Du meinst doch Lilian ?“

„Offen gestanden, ich hätte mir nicht träumen lassen, daß es so was gibt auf der Welt, ich meine einen Menschen... in dem ich so wiederfinde, was ich selber denke und fühle und der dazu so..... o Deli...so himmlisch lieb und schön ist. Deli, sag mir, wer sie ist t

Delierre blieb stehn und lachte aus vollem Herzen.„Tilly, Tilly, dich hat's.“

„Ja, es hat mich.“

In diesem Augenblick schon war es für Delierre ausgemachte Sache, daß er seinem Kameraden aus der Känelmatt auch diese Beute abjagen müsse. Er war aber doch gütig genug, Heini aufzuklären. „Lilian Merle,“sagte er mit einem Tönchen, als ließe ihn das alles gänzlich kalt, „ist, soviel ich weiß, die Tochter einer verstorbenen Pensionsfreundin von Frau von Guldwang. Diese hat sie in ihr Haus aufgenommen, daß sie ihr eine Gouvernante für Antoinette erspare. Das ist für Antoinette und übrigens für uns andere auch recht angenehm, denn Lilian ist nicht viel älter als Antoinette und dazu wirklich ein liebenswürdiges Geschöpf. Man weiß nicht, wo sie herkommt. Sie weiß es wohl selber kaum. Und das gibt ihr den großen Charme im Gegensatz zu den Bernoises. Die sind immer so grand Dieu, wie soll ich sagen? so in ihrem Boden festgewachsen. Man müßte sie erst umsägen, wenn man sie anderswohin bringen wollte.“

„Bodenständig nennt man das,“ warf Heini ein,„aber das ist kein Nachteil.“

„Aber langweilig ist's.“

„Du, sag das einmal Antoinette!“

So disputierten sie ein paar Gassen lang die Stadt hinauf, als hätten sie Wunder was für Erfahrungen hinter sich.

Als Heini Tillmann am Abend einsam auf seiner Büde saß, strengte er sich ganz vergeblich an zu arbeiten. So hatte ihn noch nie etwas außer Stand gesetzt, fremde Gedanken in sich aufzunehmen. Woran lag es denn? Er hatte doch oft ohne die geringste Einbuße an Arbeitslust den schönen Begegnungen mit Antoinette nachgesonnen. Wie manche Dämmerstunde hindurch hatte er sich damit vergnügt, die wunderbarsten Luftschlösser auf die Freunöschaft mit der Prinzessin von Prankenau aufzutürmen. Aber das war's eben. Er wußte bei all diesem seligen Gedankenspiel,daß die Tuftschlösser dazu bestimmt waren, sich in nichts aufzulösen. Man konnte damit spielen, so lang es einem gefiel und hatte nicht einmal zu befürchten, daß der Dunst, in den sie sich auflssten, auch nur im Geringsten die Augen beizen würde. Aber nun hatte ihn der süße

Schreck des Erreichbaren überfallen, und ob er wollte oder nicht, etwas zwang ihn, seine Phantasie auf diesem Felde der Möglichkeit zu tummeln. Lilian Merle,die Einsame, die den gleichen Idealen nachsann wie er, ihr Interesse für die Cheologie, für se in CheologieStudium, die Gunst, welche sie beide bei der Familie Guldwang genossen, die Idee der Frau Dorothea, daß er sich der Cheologie zuwenden solle. Wenn aus diesen Zufällen nicht etwas Großes sich fügen ließt Das Endergebnis dieser Cräumerei war, daß Heini sich mit Ungestüm hinter seine Bücher machte. Er vertiefte sich in eine Aufgabe der analytischen Geometrie, rechnete und zirkelte und sah sich im Lampenschein wieder auf dem durchsichtigen Eise, über der dunkeln Tiefe schwebend, zu Lilian hingleiten. Es war doch seltsam,wie er da, ohne es zu suchen, so an sie heran geführt worden war. Aber nun die Analptische! Hol's der Kuckul, schon 11 Uhr! Jetzt drauf!

Die nächsten Tage kosteten Heini Tillmann viel Überwindung. Von den Lehrern wurde seine Unachtsamkeit auf das Konto der herannahenden Weihnachtsfreuden gesetzt, und es fiel niemand ein, etwas anderes dahinter zu suchen. Nur Delierre wußte, daß die Vögelchen,welche sein Kamerad auf alles hinkritzelte, Amseln,die Blumen, die er den Vögeln bald in den Schnabel,bald in die Krallen, bald zu Kränzen gewunden um den Hals zeichnete, Lilien vorstellen sollten.

Zwei Tage vor Weihnachten überfiel Heini der X

Wonneschreck der Wirklichteit noch einmal. Er ward zu Guldwangs eingeladen. Anfangs ging es etwas géênant zu. Bei Tisch ließ man das Wort meist dem Pfarrer Jeanmaire. Hernach wurde es gemütlicher. Ein Weihnachtsbaum verbreitete im großen Salon Stimmung. Zum erstenmal seit langer Zeit bekam Heini wieder die erquickenden Stimmen Antoinettes und ihrer Mutter zu hören. Unter der Dienerschaft, die zum Gesang der Weihnachtslieder beigezogen wurde, entdeckte er ubrigens das NeßlerenMädi und andere Überbleibsel aus dem Prankenauer Hoffstaat.

Als diese Hilfstruppen aus dem Hinterhaus sich zurückgezogen hatten, löste sich die Gesellschaft in zwanglose Gruppen auf. Heini spähte nach einer Gelegenheit, sich in die Nähe der jungen Damen durchzuwinden,was auf dem dicken Teppich nicht so glatt lief wie auf dem Eise, denn es stand mancherlei vier und dreibeiniges Geräte herum, das sich aufs Ausweichen schlecht verstand. Er wollte zwischen dem Flügel und dem Weihnachtsbaum hindurchschlüpfen, als ihm Frau Dorothea den Weg zu seinem Ziele vertrat. Mit leuchtender Huld überreichte sie ihm zum Andenken an den heutigen Festtag ein Buch. Im Schimmer der Weihnachtskerzen glänzte der Aufdruck: „Heilig ist die Jugendzeit“. Kaum hatte er gedankt, so vernahm er dicht hinter sich die Stimme des Pfarrers Jeanmaire, der einen Blick voll Anerkennung auf das Buch warf und dann das Gespräch auf die Frage des Cheologiestudiums überleitete.

Der Pfarrer schien an Heinis Vorhaben warmen Anteil zu nehmen. Als der Gymnasianer auf die Möglichkeit hinwies, daß seine Pläne bei Vater Tillmann auf Wioderstand stoßen könnten, sagte Herr Jeanmaire;„Seien Sie ganz ruhig, junger Freund. Wenn es Gottes Wille ist, daß Sie sein Wort verkündigen, so wird er Ihnen den Weg dazu ebnen.“ Der Pfarrer lehnte sich bei diesem Gespräch an den Flügel, während Heini mit dem Rücken gegen den Weihnachtsbaum stand. Die Tannennadeln kitzelten ihn weniger als die fröhlichen Stimmen auf der andern Seite des Baumes. Das schien der Pfarrherr nicht zu ahnen,denn er hielt ihn mit seinem Gespräche ausdauerno fest.Erst als die jungen Damen, mit Thee und Bonbons an den Pfarrer herantraten, gelang es Heini, den Faden abzureißen und hinter dem Baume Deckung zu suchen. Heute brauchte doch mit dem TheologieStudium noch nicht begonnen zu werden. Was er aber heute in anderer Richtung versäumte, schien ihm viel schwerer wieder einzubringen. Sein Buch unter den linken Arm klemmend, nahm er von einer Dame eine Tasse Tee entgegen. Die Rechte brauchte er, um das Gebäck einzuheimsen, das Antoinette ihm anbot. Und nun kam Lilian noch mit einer silbernen Zuckerschale und dem Rahmtopf. Seine Unbeholfenheit wahrnehmend,warf sie ihm mit ihren rosigen Fingerspitzen zwei Zuckerbrocken in die Casse, goß Rahm nach, ohne auf ihre Frage: „Darf ich?“ eine Antwort abzuwarten.

Den Dank für die Erlösung aus seinen vor Freude kugelnden Augen lesend, zog sie Heini behutsam die „Heilige Jugendzeit“ von dem befrachteten Herzen weg.Er strahlte wie der Weihnachtsbaum. Daß er sonst noch etwas mit dem Lichterbaum gemein hatte, erfuhr er erst durch den erschreckten Ausruf der Hausfrau.„Mon cher ami,“ sagte Frau Dorothea. „Sie sind dem Baum zu nahe gekommen.“ Und alsbald richteten sich aller Blicke auf den armen Heini, der ob diesem allseitigen Interesse um so tiefer errötete, als er die ganze Gesellschaft lächeln sah. Noch wußte er nicht, was den Anlaß zu dieser halb bedauernden, halb spöttischen Aufmerksamkeit gegeben, als Lilian ihn ganz fest beim Arm faßte und sagte: „Kommen Sie ins Tazarett,Herr Tillmann!“ Die beiden Freundinnen führten ihn in das Vestibule. Lilian verschwand, wie sie sagte, um einen Löffel zu holen. Unterdessen schob Antoinette ihren Sommerfreund vor den Wanospiegel über dem Kamin und hielt ihm von hinten einen Toilettenspiegel hin,so daß Heini seinen eigenen Rücken betrachten konnte.Nun kam auch ihn das Lachen an, wenngleich ein gelbliches. Unter seinem linken Schulterblatt gletscherte fast fingerbreit rotes Wachs über den Konfirmationsrock hinunter. Es bedurfte keiner lebhaften Phantasie, um sich vorzustellen, Heini sei von einer Kugel ins Herz getroffen worden. „Seien Sie getrost,“ sagte Antoinette, indem sie das Wachs abkratzte, „das kriegen wir sauber weg.“ Unterdessen war Lilian wieder einge 91 treten. Sie brachte einen eisernen Löffel und Seidenpapier. „So,“ sagte sie, „die Operation kann beginnen. Aber nun müssen Sie sich in tiefer Demut beugen,Herr Cillmann.“ Heini wurde ein brodierter Hock untergeschoben, und er mußte sein Haupt bis fast auf die Knie senken, während Lilian mit dem Löffel eine glühende Kohle aus dem Kaminfeuer holte und damit auf dem von Antoinette über die, Wunde“ gebreiteten Seidenpapier, das Wachs in dieses aufsaugend, herumbügelte. Bei dem holdseligen Gekicher würde Heini stundenlang der Operation stillgehalten haben. Er sah ein Paar Herrenfüße neben sich. Dann hörte er Herrn Fernands Stimme: „Das habt ihr fein gemacht. Keine Spur mehr sieht man.“ Und als er aufstand, zog ihn der sehr gut aufgelegte Herr von Guldwang (er sich mit Heini in die Bewunderung Lilians teilte) dicht an sich und sagte leise; „Ist auch der Pfeil heraus? Tat's weh?“ Laut fügte er hinzu: „Nun aber der ritterliche Dank! Auch das müssen Sie lernen, Heini Liliant“Er winkte das mit dem Löffel davon eilende Mäochen heran und sagte zu dem glutübergossenen Gast aus der Känelmatt: „Sehn Sie, junger Freund, so macht man das“ und küßte Lilian die Hand.“ Und nun mußte Heini dasselbe tun. Lilian ließ es geschehn, warf aber aus zorngerötetem Gesicht einen Strafblick auf ihren Hausherrn, den dieser mit lustigem Lachen quittierte.

Der Rest des Abenos verlief sehr fröhlich. Das kleine Abenteuer hatte nicht wenig geholfen, Heini aus seiner Befangenheit zu befreien. Daß er in seinem strampelnden Glück das geschenkte Buch mitheimzunehmen vergaß, brachte freilich einen argen Riß in den süßen Nachtlang, der ihn bis zum Einschlafen umschwebte. Aber er tröstete sich mit dem Vorsatz, gleich andern Tags das Geschenk zu holen und der Gastgeberin Entschuldigungen zu machen.**Heini Tillmann saß inmitten der Alasse über sein mit Amseln und Lilien bekritzeltes Pult gebeugt. Man klaubte an einer schwierigen Stelle des Thukydides herum, und Tilly hatte seine liebe Not, mit dabei zu sein, denn er mußte sich immer wieder zurechtlegen,was er heute mittag bei Frau von Guldwang zu seiner Entschuldigung vorbringen wollte. Daß er auf das Glück einer Begegnung mit Lilian hoffte, versteht sich von selbst. Da klopfte es an die Zimmertüre. Dr. Ellenbogen offnete selbst. Nach einer Minute trat er wieder ein und rief mit eigentümlich ernstem Ausdruck: „Cillmann, es wünscht jemand mit Ihnen zu sprechen.“Heini ging hinaus und fand zu seinem Erstaunen Herrn Fernand von Guldwang im Korridor stehen.

„Da bringe ich Ihnen Ihr Buch,“ sagte Herr von Guldwang mit einem kaum wahrnehmbaren Anfluge von Heiterkeit. „Aber,“ fuhr er, gleich wieder ernst werdend, fort, „ich habe Sie nicht deshalb herausrufen lassen. Es ist leider etwas Wichtigeres.“ Herr von

Guldwang faßte Heini unter den Arm und ging mit ihm ein paar Schritte weiter. „Wissen Sie, daß Ihre Mutter schwer erkrankt ist? Nicht? Nun, ich vermutete es. Wir haben die Nachricht soeben aus der Känelmatt bekommen. Sie sollten gleich heimreisen,Heini. Erbitten Sie sich sofort Urlaub beim Rektor und dann kommen Sie zu meiner Stallung an der Junkerngasse. Ich lasse Sie heimführen.“

Heini ging im Kopf alles durcheinander. Er ahnte das Schlimmste und wäre am liebsten, ohne auch nur die Mütze zu holen, weggelaufen; aber der väterlichen Freundlichkeit des Herrn Fernand konnte er sich doch nicht widersetzen. Mechanisch gehorchend, lief er zum Rektor und dann stracks die Stadt hinunter. Unterwegs begann er zu überlegen. Es mußte Gefahr im Verzuge sein. Das hatte er deutlich herausgehört. Sollte er nun wirklich den Wagen annehmen? Nein, er wollte sein Versprechen halten. Er durfte es nicht darauf ankommen lassen, einen Mißtklang in das vielleicht letzte Zusammentreffen mit den Eltern zu bringen.Mit dem festen Entschluß, dankend abzulehnen, bog er in die Junkerngasse ein. Dort stand der Wagen bereit.Der Kutscher machte sich noch im Stalle zu schaffen,und bei den Pferden stand neben dem NeßlerenMädi Cilian Merle mit einem Briefe von Frau Dorothea.Beinahe verwünschte jetzt Heini das eben noch ersehnte Zusammentreffen. Aber er raffte sich auf und ging geradewegs auf sie zu: „Cun Sie mir den Gefallen und melden Sie Guldwangs meinen herzlichsten Dank,aber den Wagen dürfte ich nicht annehmen.“ Tilian staunte ihn an.

„Wissen Sie denn nicht, daß es auf Minuten ankommen kann? Ihre Mutter ist sehr krank.“

„Ich muß es allerdings befürchten, Fräulein,“ erwiderte er, „aber es bleibt dabei. Warum, werde ich Ihnen hoffentlich später einmal sagen können.“

„Heini,“ mischte sich jetzt das NeßlerenMädi ein,„du wirst doch nicht so wunderlich tun, wo du doch gar nicht weißt ...“

Heini Tillmann hatte nicht zu Ende gehört. Die Mutze lüftend, war er davongeeilt. Lilian hatte noch die ersten Cränen über des armen, kämpfenden Burschen Wangen fallen sehen. Sie befahl Mädi, einzusitzen, dem Kutscher, sachte zu fahren. Frau von Gulöwang werde am Abenod doch Bescheid wissen wollen aus der Känelmatt, und vielleicht würde der junge Herr sich doch unterwegs noch eines andern besinnen. Dann ging sie heim, fest entschlossen, vorläufig für sich zu behalten, was Heini ihr anvertraut hatte. Vielleicht ließ sich so eine unnötige Verstimmung der Familie Guldwang vermeiden.

Es war ein widerwärtiges Wetter. Am frühen Morgen war Schnee gefallen. Zu beiden Seiten der Tanöstraße griffen, Priester des Schweigens, die Alleebäume mit schwarzen Armen in den Nebel, als wollten sie ihn niederziehen. Die sonst so lockende Ferne der Allee war verhängt. Nichts regte sich als dann und wann die schwerfälligen Flügel einer Krähe. Ein träger Regen setzte ein. Die Guldwangschen Dienstboten waren schon beim Bärengraben uneins geworden. Mädi hatte zur Eile gemahnt, weil sie den GSymnasianer bald einzuholen gehofft; aber der mürrische Kutscher hatte geantwortet: Hast noch nicht gemerkt, daß wir ds halb Zyt z'tromsig fahren? Wenn sie mir ghejen, kannst dann sehen, wer sie wieder auf die Beine kriegt.“ Der Wagen war in der Tat mit den Hinterrädern bald links, bald rechts in der Rinne, und die ungespitzten Hufe der schlankbeinigen Rappen vermochten auf der verräterisch überschneiten Eisdecke des Fahrdammes nicht festzugreifen. Hinter dem Galgenhubel, wo die Straße zu fallen beginnt, fingen die Hufe erst recht zu gleiten an, und die Tiere gerieten in Schweiß. Der Kutscher verschwor sich, er fahre keinen Schritt weiter,und vor dem Friedhof bog er einfach nach links, um über das Pulverfeld heimzulenken. „So wart!“ brüllte Mädi verärgert aus dem Wagen. Als er anhielt, kroch sie heraus und schimpfte: „So fahr' in Gottes Namen heim mit deinen Sydepiggerli. Wenn das meine wären,die wüßten schon, was schaffen heißt. Du hast halt auch präzis gleichviel Herz wie Guraschi.“ Sprach's, spannte das baumwollene Regendach auf und wätschelte die Allee entlang weiter, während Christian mit listigem Schmunzeln ebenen Weges zur Schmiede bei der Kaserne fuhr, um die Eisen seiner Rappen vor der Heimkehr spitzen zu lassen.

Von Heini Tillmann war weit und breit nichts zu sehen. Er hatte den kürzesten und steilsten Anstieg aus der Stadt genommen und eilte nun schon weit draußen auf der Landstraße dem Werlentale zu. Nicht links,nicht rechts blickte er. Naß vom Regen, naß vom Schweiß,teuchte er durch die menschenleeren Dörfer und endlich den Prankenauer Berg hinan, auch hier wieder auf dem steilsten Weg. Das UNebelgewölk hing bis über das Schloß herunter, und das Tälchen der Känelmatt glich einem finstern Schlunde. Nirgends zeigte sich ein lebendes Wesen. Beinahe graute Heini vor dem Pfad in die Matt. Ohne Atem zu schöpfen, stieg er weiter. Das Stöckli stand wie ausgestorben in der Düsternis. Er keuchte die Treppe hinan. Da trat Röseli auf die Laube hinaus, totenbleich und mit rotverschwollenen Augen.Sie fiel dem Bruder um den Hals. Zu ersticken drohte sie. Erst als sie fühlte, daß auch Heini in seinen triefend nassen Kleidern heftig zu zittern begann, machte sich ihre furchtbare Herzensnot in aufschreiendem Schluchzen Luft. Heini faßte sie, so fest er konnte, in seinen Arm und ging in die Stube der Eltern. Da lag im trostlos grauen Dämmerlicht die Mutter mit gefalteten Händen auf dem Bette und schlief ihren letzten Schlaf. Wieder warf sich Röseli an Heinis Brust, und er starrte, am ganzen Leibe zitternd, über ihren verworrenen Lockenkopf hinweg auf das bleiche Gesicht der Mutter. TLange standen sie so. Da ging jemand schweren Schrittes aus der Stube. Heini hatte gar nicht bemerkt, daß der Arzt von Kilchwerlen in einer Ecke gestanden und etwas geschrieben hatte. Jetzt erst sah er den schlichten weißhaarigen Mann, mit dem geblümten Taschentuch die Augen wischend, hinausschreiten.

Es dauerte eine Weile, bis Heini sich aufraffen konnte zur Frage: „Kommt der Vater?“

„Man hat ihm Bescheid gemacht,“ sagte die Schwester,„schon gestern abend, nach Interlaken. Aber vielleicht ist er nicht einmal dort.“

„Wann ist sie gestorben ?“

„Etwa vor einer halben Stunde.“

Da zuckte es seltsam in Heinis Gesicht. Er wankte zum Ruhebettlein und ließ den Kopf zwischen die Arme auf den Tisch fallen. Röseli sank neben ihm auf die Lehne des Ruhbetts und ließ ihre ratlosen Blicke zwischen dem schluchzenden Bruder und der toten Mutter hin und her schweifen. Die schauerliche Stille legte sich schwer auf des Mäochens junges Herz. Ihr war, als könnte sie diese würgende Last nicht länger tragen.„Heini,“ sagte sie, „sag' doch etwas, um Gottes willen!“Aber Heini brachte nichts heraus.

Endlich stand er auf. Er trat von neuem an der Mutter Bett. Röseli legte ihm beide Hände auf die Schulter und schmiegte sich an den Bruder an. Wie still, wie stille war's um sie hert Auch die Wanduhr war stehen geblieben, da niemand mehr sie aufgezogen.Niemand hätte in Worte kleiden können, was auf dem feierlichen, eingefallenen und doch zufriedenen Gesichte von Tavel, Heinz Tillmann. * der Mutter lag. Mit Kummer beschwert hatte sie ihre Last durch den Erdenstaub geschleppt und nimmer war sie in ihrem Herzen von den Stufen des Chrones gewichen. In heiliger Einfalt war sie da für die eingetreten, denen sie unter Schmerzen das Leben geschenkt und denen sie das erste Gebet zum Erlsser von aller Erdensehnsucht auf die Lippen gelegt. Lärmend und achtlos war des Lebens Getrampel über die stille Blume hinweggefahren, und niemand hatte nachgerechnet, wie viel Licht sie um sich verbreitet. Nun sie erloschen war,fehlte doch allen der traute Schein, das liebe, leise Klingen.

„Und wir haben nicht ein einzig armselig Blümlein,ihr in die Hand zu stecken,“ jammerte Röseli, durch das Fenster spähend, als sollte irgend in einem Winkel des verschneiten Gärtleins sich eine vergessene Blume noch finden. Da sah sie den Dotktor in seiner altmodischen Hasenpelzmütze nach dem Bauernhaus hinüberstapfen. Das war auch nicht einer von vielen Worten, obgleich er unendlich vieles zu sagen gehabt hätte. Wie oft war der im ganzen weiten Werlental herum dem Tode begegnet!

Der Doktor trat in die dunkle Küche des Bauernhauses, wo Frau Vreni eben anrichten wollte. „Der tusig Gotts Wille, Mutter,“ sagte er mit stockendem Atem, „geht hinüber ins Stöckli und schaut nach den armen Kindern, die kann man nicht so allein lassen mit der Toten.“

Das war der Bäuerin gar nicht kommod. Sie war sehr rumpelsurrig und hätte am liebsten gesagt, lebig machen könne sie die Nachbarin nicht und plären könnten sie drüben allein. Aber nimmermehr hätte sie so etwas über die Lippen gebracht. „He, me cha de ga luege,“sagte sie, „sobald mer g'ässe hei.“

„Und wenn Ihr sie würdet heisse zuechesitze? Für die zwei werdet Ihr wohl noch genug haben,“ oder ?“

„So gang du ga luege!“ sagte die Bäuerin zu ihrem Manne, worauf dieser mit dem Doktor hinübertrottete. Es war ja nicht, daß sie nicht Erbarmen gehabt hätte. Nein, aber es grauste ihr. Sie hatte eine abergläubische Furcht vor dem Code. Und sie wußte in aller HimmelsErdenWelt nicht zu trösten. Das heißt, eigentlich wohl; aber es kam dann immer so grobhölzig heraus. Einmal hatte man sie darob ausgelacht, und seither blieb sie immer so weit weg wie möglich.

Nach einigen Minuten kam der Bauer zurück mit dem Bescheid, das UNeßlernMädi sei drüben angerückt und mache sich mit dem Meitschi in der Küche zu schaffen.

„So?“ brauste Frau Vreni auf. „Das fehlte jetzt grad noch. Jetzt lauf und schaff', daß sie herüberkommen,Für ihrere drüũ werden wir's etwa noch machen können.“

Der Mann ging zögernden Schrittes, kam aber bald zurück mit dem Bescheid, der alte Tillmann sei inzwischen heimgekommen, es sei wohl jetzt besser, die Leute drüben machen zu lassen. Da hatte er recht ge raten, denn tiefer noch hatte die Wolke der Crauer sich auf das kleine Haus gesenkt, und heilige Scheu vertrat an der Schwelle jedem den Weg, der nicht in eigenem Schmerz mit den Verlassenen litt. Furchtbar war den Kindern der Anblick der entschlafenen Mutter,aber was ihre jungen Herzen auszustehen hatten vor des Vaters haltlosem Schmerz, das weiß nur, wer seinen eigenen Vater zusammenbrechen sah. Als Heini den großen, kräftigen Mann vom Bette der Mutter hinwegwanken und unter lautem Schluchzen auf das Ruhhbett hinfallen sah, lief er hinaus ins Freie. Mit heißem Würgen in der Kehle rannte er durch den Schnee. In den Nebel hinaus hätte er schreien mögen;aber er zwang's nieder. Nachdem er den ersten Eindruck überwunden, schämte er sich, die Schwester allein gelassen zu haben, und kehrte um. Röseli hatte starr am Türpfosten gelehnt, bis sie zu Atem gekommen,dann hatte sie sich an den Vater herangewagt, ihm die Arme um den Kopf geschlungen und gesagt: „Nicht weinen, Vater!“ Heini fand das Mädchen in des Vaters Armen. Auf seinen Wink setzte er sich neben ihn auf das Ruhbett. Lange saßen sie da und hingen ihren Gedanken nach. Endlich sagte eins, der wehvollen Stille ein Ende zu machen: „Jetzt ist sie in den goldenen Gassen.“ Heini hatte es gesagt; aber es war allen so aus dem Herzen gesprochen, daß jedes meinen konnte, die Worte seien ihm über die eigenen Lippen entwichen.

Hans Tillmann legte seine Arme um die beiden Kinder und seufzte: „Gott sei Dank, habe ich doch euch noch.“ Heini ward in dieser Umarmung seltsam zu Mute. Wohl fühlte er sich da geborgen, aber er wußte, daß er sich dieses Geborgenseins nicht lange würde getrösten können. Immer wieder blickte er verstohlen zu dem Vater auf. Das war doch merkwürdig.Wie oft hatte er ihn der Mutter gegenüber wegwerfend die Achseln zucken sehen, wenn sie ihm etwa sagte, der Mensch lebe nicht vom Brot allein, Freundschaft und Tiebe seien doch auch noch etwas wert und es lohne sich wohl, der Familie auch ihr Recht zu gönnen. Nie war er auf solche Gedanken eingegangen. Jetzt sah es aus, als wollte er sich an das klammern, was ihm von der Familie noch geblieben war.

VI.

Im Hause Guldwang wurde besprochen, wie man sich zu dem Codesfall in der Känelmatt verhalten wolle.Wenn es sich gerade tun ließ, so pflegte die Familie an der Beerdigung von Nachbarn der Schloßdomäne teilzunehmen. Das war eine Tradition, die man namentlich zur Sommerszeit noch pflegte. Vater Tillmann freilich hatte das Seinige getan, um die freunölichen Nachbarschaftsgefühle der „Herrschaft“ zum Erkalten zu bringen, und schwerlich würde man ihm zuliebe die warmen Perser der Stadtwohnung gegen die in Kot übergehende Schneedecke des Werlentales vertauscht haben. Aber Frau Dorothea fühlte sich verpflichtet,Heinis Mutter die letzte Ehre zu erweisen, und als sie vernahmen, daß die Frau von Guldwang zum Teichengebet nach Schöchwyler fahren werde, baten die beiden jungen Damen, mitgehen zu dürfen. Gegen das Mitfahren ihrer Tochter hatte Frau von Guldwang schwere Bedenken, da Antoinette in den letzten Cagen ab und zu eine belegte Stimme gehabt. Lilian nahm sie gern mit. Aber Antoinette würde das würgenöste Halsweh verheimlicht haben, um Tilian das Feld nicht ganz überlassen zu müssen. Sie setzte ihren Willen durch,und so fuhren die drei Damen trotz des schlechten Wetters ab. Die geschliffenen Wagenfenster waren dicht angelaufen. Man sah nichts als die bald weiß, bald graugrün schimmernoen Scheiben, auf denen die silberfunkelnden Regentränen in schiefen Tinien herniederkugelten. Man atmete wie in einem leicht parfümierten Handschuhkasten. Dann und wann tat der dumpfe Wagen einen unsanften Ruck, oder er glitt mit den Hinterrädern seitwärts gegen den Straßenrand, so daß die Insassen unwillkürlich die Hände ausbreiteten, als suchten sie einen Halt.

Draußen, im sonst so stillen Werlental, war alles in einer sonderbaren fließenden Bewegung. Ein wilder Weststurm suchte unter Fauchen die dichten Nebel aus den kahlen Buchenwäldern zu reißen. In das Äüchzen j D der wankenden Stämme mischte sich das auf und abschwellende Rauschen der Regenfluten, und in allen Rinnen und Gräben gurgelten die schmutzigen Wogen der Schneeschmelze. Mitten in diesem heulenden Zerfließen stand grau und trutzig die alte Kirche von Schöchwyler auf ihrem Hügel, umgürtet von der mächtigen Mauer, welche den kleinen Friedhof zubräute den Schall der Glocken, welche die Gemeinde einluden, ihrer Mitbürgerin Verena Tillmann das letzte Geleite zu geben. So ging die Einladung in den Lüften verloren. Das Geleite blieb klein. Vier Männer trugen stockend und unsicher den Sarg, von dem des Sturmes wegen die Decke mit den spärlichen Kränzen hatte entfernt werden müssen, zu Tale. Die hinterher Schreitenden konnten nicht einmal nebeneinander gehen.Dem Sarg folgte Vater Tillmann, diesem das Cöchterchen, das vergeblich versuchte, neben den hinter ihm schreitenden Heini zu treten. In ungleichen Abständen folgte dann noch ein Dutzend Männer und Weiber.Nachdem der Versuch, sich mit den Regenschirmen gegen die kalten Schauer zu schützen, nur zu tragikomischen Situationen geführt, hatten ihn alle aufgegeben und bedienten sich nun der triefenden Dächlein als Stöcke.

Viel schlimmer noch als um das Wetter stand es um die Gemütsverfassung des alten Tillmann, dem der Ingrimm auf dem Gesichte lag. Die Lebensgefährtin,deren sterbliche Hülle man da vor ihm hertrug, hatte mit sich genommen, woraus sie in schweren Tagen ihm Trost zu schöpfen gesucht. Wenn er ehrlich sein wollte,so mußte Tillmann sich gestehen, daß er allerdings diesen Crost, diesen immer wiederkehrenden Hinweis auf die Bedeutungslosigkeit irdischen Erlebens und die uüberwiegende Wichtigkeit des Imreinenseins mit Gott immer abgelehnt hatte. Dieser angebliche Trost hatte ihm, weil er ihn mit den Forderungen des prattischen Lebens nicht in Einklang zu bringen gewußt, nur Unbehagen verschafft. Habe ich ihr Unrecht getan?fragte sich Cillmann. Wenn sie recht hatte, warum hat mir sie Gott denn weggenommen, bevor ich ins Klare kam? Im Weiterschreiten fiel ihm mancherlei aus der Zeit der ersten Liebe ein. Er sah wieder, was damals an seiner Frau ihm das Herz eingenommen,und dann wurden ihm die Augen naß. Das durfte nicht sein. Nein, nein. Wenn man ihm nur diese Leichenfeier erlassen hätte mit all den Menschen, die doch nur durch die Sitte gezwungen herkamen und Trauer aufsetzten. Viel lieber hätte er seine Frau in den einsamsten Bergwinkel getragen und sie dort begraben, ohne allen Beistand. Der Gedanke an solche Einsamkeit, die auch Verlassenheit wäre, trieb ihm von neuem heiße Tränen in die Augen. Dort hätte er dann ganz ungestört noch einmal mit seiner Coten gesprochen. Du sollst nicht meinen, hätte er zu ihr gesagt, ich sei der lieblose Mensch, für den du mich oft halten mußtest. Das sollen unsere Kinder erfahren.Die sollen wissen, daß sie einen Vater haben, der für sie kämpfen und mit ihren Schwachheiten und Fehlern ringen wird. Und indem er so dachte, kam eine Kraft in ihn, eine aus hartem Trotz geborene. Kraft schafft Helle, auch wenn sie nicht aus lauterer Liebe kommt.Hans Cillmann schien auf einmal eine sinnvolle Fügung im Tode seiner Frau zu liegen. Vielleicht war sie doch nicht zu früh gestorben, denn jetzt konnte der Faden,der sein Haus mit dem Schloß verbunden hatte, zerrissen werden. Von dort war immer noch etwas hereingedrungen, was ihm den unbedingten Alleinbesitz seiner Kinder gefährdet hatte. Das mußte nun aufhsren.Einen sehr schsönen Kranz hatten Gulowangs auf den Sarg seiner Frau gesandt. Den hatte er nicht ablehnen dürfen; er mußte sogar noch danken dafür. Aber nun war Schluß, und er ging an das Durchsetzen seiner Pläne, das überall zum rücksichtslosen Kampf werden sollte, wo ihm irgendwer in den Weg trat.

Wie Sturmgeheul klangen die verwehten Töne der Glocken, die jetzt deutlicher an sein Ohr schlugen. Du,riefen die Glocken, wir läuten der Seele zur Heimkehr,die nichts wissen wollte von solchem Kampf, die nur einen Kampf kannte: den gegen das Böse. Ist es dir nur um das Vermächtnis deiner Frau zu tun, nur um das Heil deiner Kinder? Ist nicht deines Herzens tiefste Regung die Vernichtung derer, die du hassest?

Drunten fuhr soeben die Equipage der X vom Kirchhügel hinweg nach dem Wirtshause von 106 Schöchwyler. Dort pflegten sie einzustellen. Wer wohl in dem Wagen gekommen war? Was hatten diese mühelos Reichgewordenen, immer sorglos Lebenden zu schaffen am Grabe einer zusammengebrochenen Dulderin? Hätte die Entschlafene den zehnten Teil eures Überflusses gehabt, sie lebte heute noch in Kraft und Schönheit ihren Kindern, denen ihr Freunöschaft heuchelt.

In der kleinen kalten Tandkirche herrschte tiefe Stille. Es saßen da ein paar Bauernweiber, ins Schiff hingesäet, und in der zweitvordersten Bank eng zusammengerückt Frau von Guldwang mit den beiden Töchtern. Jetzt verstummten auch die Glocken, und die Stille wurde zum bedrückenden Schweigen des Codes.Gut, daß die Seitentüre geschlossen blieb; denn was da draußen auf dem Friedhof vor sich ging, würde allen Insassen der Kirche die Fassung genommen haben.Wer ermißt eines Knaben Weh, der den TCotenschrein seiner Mutter in das Grab sinken sieht? Die Einsegnung dauerte aber nicht lange. Kaum zehn Minuten nach dem Eintreffen des Leichengeleites ging die Türe auf.Schwerfällig und düster blickend kam Hans Tillmann hereingeschritten, und ihm folgten die beiden Kinder,deren fast zu Schreien gesteigerte Schluchzer die Stille zerrissen.

Die Rede des Pfarrers suchte Tillmann zu überhören, um nicht in Gegenwart fremder Menschen der Rührung zu erliegen. Eine Ewigkeit dünkte ihn, habe er stanogehalten, als ihn das Aufstehen der kleinen Gemeinde zum Gebet erlöste, und jetzt beschäftigte ihn nur eins noch: wie komme ich am raschesten aus diesen Menschen weg? Schon war er entschlossen, mit dem Amen des Pfarrers durch die Seitentüre zu entfliehen.Aber er mußte ja dem Pfarrer noch danken, er mußte der Frau von Guldwang für Kranz und Teilnahme danken. Konnten das eigentlich nicht die Kinder in seinem Namen tun? Schriftlich. Acht Besser war's,die Sache jetzt gleich zu erledigen. Dann war man quitt. Aber wie sollte er's fertig bringen, sich mit der eleganten Dame in ein Gespräch einzulassen? Wenn sie ihm nach ihrer Gewohnheit mit frommen Redensarten kam ..... Hans Tillmann verlor den Kopf.

„... denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Amen. Und nun gehet hin im Frieden...“

Die letzten Worte des Pfarrers hörte Hans Tillmann nicht mehr. Mit dem Amen rannte er aus der Mitte seiner staunend aufblickenden Kinder weg. Er tastete wie in Betäubung nach dem verschnörkelten Griff des Türschlosses und taumelte, links und rechts anstoßeno,hinaus. Noch hemmte der Anblick des offenen Grabes seinen Schritt. Er mußte noch einmal hineinblicken.Aber kaum angelangt, ward er durch Schritte an der Kirchtüre aufgescheucht. Um nicht den Weg der Teute kreuzen zu müssen, sprang er über die niedrige Kirchhofmauer. In dem über dem hartgefrorenen Boden abschmelzenden Schnee glitt er aus, schlug hin, verstauchte sich die Hand. Aber rasch war er wieder auf den Füßen und stapfte, so schnell es gehen wollte, dem Berghang zu. Als er einen Fußpfad erreichte, begann er seine Schritte zu mäßigen. Sein Handgelent schmerzte ihn heftig. Er tastete daran herum und fühlte, daß es aufschwoll und steif wurde.

Kaum vom Kirchhof herunter, war Hans Tillmann zum Bewußtsein gekommen, daß er seine Kinder im Stich gelassen in Gesellschaft der Frau, deren Einfluß er sie ja gerade entreißen wollte. Er hatte erwartet,sie würden ihm folgen, und nicht überlegt, daß sie solche plötzlichen Einfälle ihres Vaters gewohnt und anderseits zu schüchtern waren, um dem Pfarrer, während er noch sprach, unter den Augen wegzulaufen. Statt daß er sich nun die eigene Torheit zum Vorwurf gemacht hätte, verdroß es ihn, daß ihm die Kinder nicht gefolgt waren. Ihnen war er nicht gram; er hätte sie jetzt nur bei sich haben wollen, und weil sie ihm fehlten, grollte er desto mehr Frau von Guldwang.Ungeduldig spähte er nach dem Kirchhof, aus dem sich die wenigen Leute so rasch verliefen, als bliese der Sturmwind sie nach allen Richtungen.

In diesem Augenblick standen Heini und Röseli noch in der Kirche unter dem Zauber ihrer schönen Gönnerin. Als Heini, etwas zaudernd, sich angeschickt,seinem Vater zu folgen, hatte ihn der Pfarrer zu sich gewinkt. Er hatte vermutet, Vater Tillmann sei an das Grab hinausgegangen und wolle den Kindern eine Verzweiflungsszene ersparen. Unterdessen waren die Damen aus den nach Art altmodischer Faßläger gebauten Kirchenstühlen herausgeklettert und hatten sich zu dem Pfarrer gesellt.

Schönheit und Güte schwebten auf dem edlen Gesicht der Frau von Guldwang, als sie Heini und seine Schwester bat, fortan ihr ein klein wenig von dem Vertrauen zu schenken, das sie ihrer Mutter entgegengebracht hätten. „Wißt, Kinder,“ sagte Frau Dorothea,„eure Mutter und ich, wir haben uns sehr gut verstanden. Gerne möchte ich euch beide bei der Hand nehmen und euch weiterführen auf dem Wege, den sie euch gewiesen. Es wäre doch zu schade, wenn ihr nun stehen bliebet, weil“ Frau von Guldwang vollendete den Satz zögernd, aber sehr überzeugt „euer Vater anders denkt.“

Diesen Worten folgte einer jener todesstillen Augenblicke, in denen, kaum in Augensternen bemerkbar,schwere Entscheidungen aufkeimen. Ob irgend einem der Dastehenden bewußt war, daß die liebenswürdige Frau dem vor Weh erschöpften Jüngling mit ihren Crostworten ein glühendes Messer ins Herz gestoßen hatte? Sie selber ahnte es am wenigsten. Ihr Gesicht verriet nur Genugtuung über eine Kundgebung frommen Wohlwollens. Wer aber den Stich mitverspürt hatte und darob erbleichte, das war Antoinette. Sie heftete einen langen Blick mißbilligenden Staunens auf ihre

Mutter. Und diesen Blick hatte Heini, dessen Tränen jählings vertrockneten, wahrgenommen.

In neuer heilloser Verwirrung verließ Heini, nachdem man sich freundlich verabschiedet hatte, mit seiner Schwester die Kirche. Umsonst hielten sie nach dem Vater Ausschau. Aber sie blieben nicht lange in Verlegenheit stehn. Dem Reden und Trostworteanhören durch Flucht sich zu entziehen, aller Höflichkeit und Sitte spottend, das sah dem Vater durchaus ähnlich.Er hatte solche Sprünge schon früher gemacht, in Situationen, die ihn viel weniger hergenommen hatten als der Cod seiner Frau. Im Gefühl, daß sie nun eben den Weg selbander und in gar manchen Dingen selbständig suchen müßten, gaben sich Heini und Röseli die Hand wie zwei kleine Kinder und wanderten stillschweigend der Känelmatt zu. Sie wurden es kaum inne, daß der Sturmwind sie von Zeit zu Zeit nötigte,mit der Hand den Hut festzuhalten, daß ihre Füße in Bächen von Schneewasser wateten. „Du,“ sagte nach einer Weile Röseli mit unmutig bewegter Stimme,„mich hat die Frau vom Schloß geärgert. Was weiß denn die von unserem Vater? Sie kennt ihn ja kaum.“

„Es hat mir auch wehgetan,“ antwortete Heini.„Sie meint's gut; aber da braucht sie uns nicht dreinzureden.“

„Ich hasse das,“ fuhr Röseli fort. „Man sieht grad, wie fromm die sich vorkommt. Aber, wer weiß,wenn man hineinschauen könnte in die Menschen ...“

Haß spürte Heini nicht. Er stand noch viel zu sehr unter dem Eindruck von Frau Dorotheas Holoseligkeit.Aber wenn die Dame etwa glaubte, sie könnte ihn auf dem Weg nach den ewigen Zielen von seinem Vater wegführen, dann sollte sie sich sehr getäuscht sehen.

„Nein,“ sagte Heini, „vom Vater lassen wir nicht.

Und wir lassen auch vom Wege der Mutter nicht.Aur Geduld! Er kommt schon noch mit uns. Wenn er einmal wieder zu Atem kommt, wird er dran zurückdenken.“

„Aber du, Heini, gelt, du bleibst auch ein wenig bei mir,“ bat Röseli. „Gott im Himmelt Was soll ich so allein da droben, wenn der Vater seinen Geschäften nachgeht ?“

„Weine nicht, Röseli. Das wird sich alles finden.“

Heini war sich klar bewußt, daß die kommenden Jahre ihn von seiner Schwester trennen würden, und er konnte sich noch gar nicht zurechtlegen, wie sie zusammen den Vater sollten umgeben können. Seine Gedanken an die Zukunft führten ihn wieder in die

Familie Guldwang. Unod da ergriff ihn die Verwirrung noch tiefer. Hatte er recht getan, Lilian so sehr ins Herz zu schließen, weil sie ihm erreichbarer schien?Der Blick, den Antoinette ihrer Mutter zugeworfen,ließ ihn im Herzen dieser Unerreichbaren ein Verstehen ahnen, das nicht ohne Eindruck auf ihn blieb.

Als die Geschwister heimtamen, fanden sie ihren Vater auf dem Ruhbett in der Wohnstube. Er gab keinen Laut von sich, so daß die Kinder von seinem Unfall nichts ahnten. Erst als Röseli, selber noch bis auf die Haut durchnäßt und frierend, den Vater aufforderte, seine nassen Kleider zu wechseln, und ihm dabei behilflich sein wollte, stieß er einen unwirschen Schmerzenslaut aus und deutete auf die geschwollene Hand. „Bin umgefallen in dem verdammten Dreck,“tnurrte er. Das Mitleid und die Hilfe der Kinder ließ er sich nun aber gerne gefallen. Von Zeit zu Zeit wischte er sich die Augen und versuchte durch Anordnungen für die Haushaltung von dem abzukommen,was ihn quälte. Ähnlich suchten die Kinder sich zu helfen. Der Anblick des verödeten Zimmers der Mutter,auf dessen Fußboden noch ein paar abgerissene Blätter aus den Kränzen herumlagen, stellte ihre Kraft immer wieder auf eine harte Probe. Dabei wurde ihnen immer deutlicher bewußt, wie sehr sie sich nun auf eigene Füße würden zu stellen haben. Was sie bis jetzt der Mutter zuliebe ehrfürchtig geglaubt hatten,das mußten sie sich als Lebensnorm selbständig zu eigen machen. Sie mußten es dem anders gerichteten Vater gegenüber zu behaupten trachten. Darin hatte Frau von Guldwang unzweifelhaft recht; aber der Vater sollte das nicht zu fühlen bekommen. Heini insbesondere fühlte sich auch darin als der Erbe der Mutter, daß er das Wohlwollen der Guldwang in Ehren zu halten hatte, ohne den Vater damit zu beleidigen. Auch in dieser Aufgabe ahnte er etwas ungewöhnlich Schwie riges; aber er wollte sich zwingen, nichts mehr für unerreichbar zu halten. Diesen männlichen Trotz im Nacken, trat er über die dunkle Schwelle des neuen Lebensabschnittes.

VII.

Tange noch lag die Stille des Codbes um das Stöcklein in der Känelmatt. Selten nur sah man Fußspuren,die das einsame Haus mit der Tanöstraße verbunden hielten, denn der Winter warf jetzt erst recht seine Schneemassen auf die Berglehnen, und der Wind war hinter den Fußstapfen her, als gälte es, ein großes Geheimnis um den Hof zu weben. Aber das Räuchlein aus dem Kamin und manchmal auch das Glitzern einer Fensterscheibe verrieten, daß unter dem schneebeschwerten Dache noch Leben glimmte. Nach der Straße hin blieb die Schneedecke wochenlang unverletzt; aber durch die Hofstatt nach dem Bauernhause der hintern Känelmatt ging jeden Abend in der Dämmerung eine vermummte Mädchengestalt. Wenn sie zurückkehrte, schritt sie behutsamer. Das war das Röseli Cillmann. Es holte die Milch für den kleinen Haushalt, und das geschah mit einer so geräuschlosen Regelmäßigkeit, daß kaum je ein Wort darüber gewechselt wurde. Jeden Tag schöpfte der Bauer dem Röseli draußen im Kuhstall seine vier Becher in den Milchhafen. Man sagte sich guten Abend und gute Nacht und punktum. Wie sollte da Mattvon Tavel, Heinz Tillmann.

J

Vreni ihren Gwunder stillen? Aus dem Meitschi war auch dann nichts herauszubringen, wenn man sich ihm mit Fragen an der Stalltüre in den Weg stellte. So entschloß sich denn die Bäuerin, einmal ganz direkt in das geheimnisvolle Stöckli einzudringen. Als sie vor das Haus kam, drang ein leiser Gesang durch das Küchenfenster. Die Haustüre war nicht eingeklinkt, die Küchentüre stand offen. Da hockte, einem Cannstrunk mit gespreizten Wurzeln ähnlich, Frau Schraner auf der Küchenbank und hielt in ihrem Schoß die Kaffeemühle. Krumm quoll aus dem korbartigen Korsett ihr Oberleib. Sie trieb mit ihrem g'äderigen Arm die leise knarrende Kurbel und sang im Takt dazu: „Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom liebsten, das man hat, muß schaiden muß schaiden.“ Bei den letzten Worten ging die Kurbel mit besonders feierlichem Schwung. Mädi kannte nur diese beiden Zeilen;aber die wiederholte es, bis das Schublädli voll war.

Erst als MattVreni unter der Türe ausrief: „Eh der tusig Gotts Wille? Bist du da?“ blickte die gute Alte aus ihren gekniffenen Äuglein verwundert auf.In diesem Blick lag die Frage: „Und du, was willst du hier?“

„Ich habe gemeint, du seiest 3z'Bern inne,“ sagte Vreni.

„Was sollte ich dort? Es gibt Leute genug in der Stadt.“

„Du bist ja sonst immer mit der Herrschaft ...“

„He ja, wenn ich nichts Gescheiteres zu tun hatte;aber nötig bin ich dort nicht. Da bin ich mit der Frau eins geworden, ich wolle dem Tillmann ein wenig zur Sache schauen. Er ist gar oft fort, und das Meitschi kann man doch nicht so mutterseelenallein lassen.“

„So so.“

„Ist das etwa nicht recht, he?“

„Bhüet'is Gott wohl. Es geht mich ja nichts an...Aber ...“

„Aber was?“

„O, ich will nichts gesagt haben; aber wenn du dann ...“ Die Bäuerin drückte hinter sich die Türe ins Schloß. „Wenn du oppe solltest ds Cüfels Dant dafür haben, so wundere dich dann nicht z'hert, Mädi.Weißt ...“

Jetzt gab Mädi der Kaffeemühle ein paar schnelle Umörehungen und stellte sie neben sich auf die Bank.

„Es gibt deren mehr als genug,“ sagte es, „wo um Dank tun, was sich gehört. Gewöhnlich sind das die Gescheiteren. Aber es stünde übel in der Welt,gäbe es nicht noch ein styfs Küppeli Leute, wo dem lieben Gott und den Nächsten zulieb sich gern unter die Dümmern stellten. Wenn die Gescheiten wüßten,wie nötig sie die Liebe der Dümmern haben ...“

„Schon recht. Aber, was hast davon?“

„Davon haben! Wann ich dir just sage, ich begehre keinen Dank! Wenn man so wollte, es wäre ja nicht mehr zum dabei sein. Hat mein Christen etwas davon gehabt, daß sie ihn im Steinbruch immer an den gefährlichsten Posten gestellt haben? Hätte er sich nicht dazu brauchen lassen, er lebte jetzt noch, und wir könnten's recht styf haben. Ich brauchte nicht andern Leuten das Wüsteste zu machen. Aber überall muß einer zueche und das Böste auf sich nehmen, sonst stünde die Welt still. Darüber brauchen wir uns nicht zu grämen. Was von solchen getan wird, ist dort aufgeschrieben, wo keines Menschen Hand drüber fahren kann. Wer in Wahrheit hienieden der Dümmere gewesen ist, wird dann droben schon an den Tag kommen.Die Rechnung ist bald gemacht. Wer auf Dank rechnet,kriegt Ärger zu schlucken, und wenn er zuguterletzt von Gott haben möchte, was ihm Danks auf Erden gemangelt. so werden sie ihm an des Himmels Türe noch dartun, daß er Gott einen großen Haufen heraus schuldig ist.“

„Ja, ich denke manchmal, wenn unsereins nicht sein Guthaben im Himmel hätte ...“

Mädi hatte eine Hand voll Bohnen nachgeschüttet,trieb mit Wucht die Kurbel herum und sagte: „Selig sind die geistlich Armen, ihrer ist das Himmelreich,ihrer wird sich Gott erbarmen..“

Aber all das begehrte die MattBäuerin gar nicht zu hören. Um weiterzukommen, fragte sie deshalb:„Fürchtest du dich nie vor ihm?“

„Vor wem?“

„Dem Tillmann.“

„Warum sollte ich den fürchten? Der ist kein schlechter Mensch. Ihm mangelt nur eine Hand, die ihn streichelt, wenn ihm die Galle überlaufen will. Er meint's gut. Nur einen Gedanken hat er: seinen Kindern Weg zu machen zum Glück. Aber zornmütig ist er. Kommt ihm einer überzwerch, so weiß er sich nicht zu halten. Da hilft nichts, als geduldig streicheln, wie seine Frau es getan hat.“

„Hast du schon so etwas mit ihm erlebt ?“

„Grad apparti nicht.“

Mädi hielt inne. Es fürchtete zu viel zu sagen.Hatte es sich doch erst vor einigen CTagen verplaudert,indem es Tillmann verriet, daß bei Guldwangs ernsthaft vom Verkauf des Schlosses an den Staat die Rede gewesen sei. Hans Cillmann war daraufhin in große Unruhe geraten und gestern verreist. Seither machte die Alte sich Vorwürfe und hütete sich, irgendwem etwas auszuplaudern. Sie stand auf und wirtschaftete in der Küche herum, nur in kurzen Worten noch Bescheid gebend, bis die Bäuerin merkte, daß sie nichts mehr herausbringen werde, und ihres Weges ging.

Mädis Ahnung, mit ihrem Plaudern vom Schloß ein Unheil heraufbeschworen zu haben, war nicht unbegründet.

Noch ein halb Dutzend Wochen schlummerte die Känelmatt unter des Winters Bann, dann war das Leben nicht länger niederzuhalten. Aus dem Schneemantel brachen grünliche Flecken hervor. Die Bäche huben zu gurgeln, der Wald zu brausen an, und die Dächer dampften im Sonnenschein. Eines Cages erschienen die Schneeberge zum Greifen nahe, sie kündeten Föhn.Eine warme Nacht legte sich auf die Hügel des Aaretals, und als der Morgen anbrach, hatte der Schnee sich schon bis auf den Kamm der Stockhornkette zurückgezogen. Da strömte es aus Cür und Tor, und die Walosäume widerhallten von Kinderstimmen. Es war Samstag, und unter denen, die den Frühling suchen gingen, befand sich Heini Cillmann, der Primaner.Der Anblick des elterlichen Hauses schnitt ihm ins Herz, weil die Mutter nicht mehr da war; aber Heini kam ja nicht mehr, um sich's unter der Mutter weicher Hand wohl sein zu lassen, sondern weil er eine Aufgabe hatte.

In der Känelmatt fand er nur seine Schwester und Mädi. „Wo ist der Vater? Wann kommt er heim ?“Niemand wußte Bescheid darauf. Die beiden Kinder empfanden es als einen Schatten auf ihrer Wiedersehensfreude, und wenn Mädi ihnen zusprach: „Seiod nur froh, er findet seinen Frieden in der Arbeit und in der Sorge um euch,“ so dachten sie: Schon recht,aber .....

Das war es ja eben, womit er sich das Leben verdarb! Und sie fühlten sich wehrlos gegen diesen Arbeitsdrang, dessen Cragik sie zu ahnen begannen.

Sie verbrachten den Rest des Tages, indem sie selbander auf altvertrauten Pfaden nach den ersten 119.

Boten des Frühlings suchten nicht weit weg, denn sie wollten die Heimkehr des Vaters nicht verpassen.Aber da und dort in den Stuben ein paar Veilchen,Anemonen, Leberblümchen konnten nicht wenig zu einer behaglichen Stimmung beitragen. Mädi hatte im Schloß zu schaffen, weil andern CTags jemand von Guldwangs kommen sollte. Die Kinder schlenderten der Alten nach durch den Hof, über die Terrassen, in den Garten, wo auf dem frisch keimenden Rasen Crocus in der Sonne leuchteten. Von denen pflückte man nicht, wiewohl es erlaubt war. Diese Blumen würden dem Vater ihre Herkunft sogleich verraten haben. Sie weckten Heini aus einer Träumerei. Er hatte liebreizende Wesen durch den erwachenden Park wandeln sehen. Fort!Weg damit! Überhaupt, was hatte er mit seiner Schwester hier zu tun, zu einer Zeit, wo der Vater jeden Augenblick die Straße heraufkommen konnte?„Wir wollen heim,“ sagte er zu Röseli. „Er soll das Haus nicht leer finden.“ Wie verscheucht eilten sie heimwärts. Aber die Schatten wuchsen, die Sonne verfing sich flammensprühend in der Walofirst des Kriesberges, und Hans Tillmanns schwere Tritte hatten die Schwelle noch nicht berührt. Der lichtblaue Himmel hatte sich verdunkelt. Kalt flimmerten die Sterne.Die Geschwister setzten sich vom kommenden Sommer plaudernd, an den grünen Kachelofen, indessen Mädi sich in der Küche zu schaffen machte. Nach einer längeren Pause des Gesprächs fragte Heini: „Warum weinst du?“ Er fühlte selbst, wie überflüssig die Frage war,und begehrte keine Auskunft, als Röseli hinausging,um einen der kleinen Blumensträuße in des Vaters Zimmer zu stellen. Der sollte dem Heimkehrenden melden, daß die Kinder seiner harrten, falls der Schlaf ihnen zuvor kam. Und er kam ihnen zuvor um Mitternacht.

Des Frühlings schwere Müdigkeit hielt jedes in seiner Kammer umfangen. als ein dumpfes Geräusch ihren Schlaf störte. Sie hörten Schritte, hörten eine Stimme, aber der Schlaf ließ sie nicht zu vollem Bewußtsein kommen, kaum daß ihnen erdämmerte, der Vater sei jetzt auch da.

Mädi hingegen in ihrer Dachkammer hatte trotz der Ermüdung nur leicht geschlummert und war aufgewacht,als sie die Schritte und das Girren der Flurbretter gehört. Es folgte ein dumpfes Gepolter in Tillmanns Stube, und was sie vollends zum klaren Wachen brachte, war das verworrene, bald polternde, balod lachende Selbstgespräch, das aus der Stube heraufdrang. Mädi hörte die schweren Schuhe in den Gang fliegen. Dann schien auch in der Stube etwas niederzufallen. Ein kollerndes Geräusch folgte, ein verhaltenes Fluchen, ein erleichtertes Aufseufzen, und dann ward es stille.

Ein Grauen überfiel die alte erfahrene Magd. Sie kannte den Hans TCillmann. In Selbstgesprächen hatte sie ihn schon ab und zu beobachtet; aber es war immer nur ein halblautes Äberlegen gewesen. Heute Nacht war etwas anderes im Spiel. Barmherziger Gott!Wenn nun das über ihn kommen sollte Tillmann war das Bild eines nüchternen Arbeiters gewesen.Mädi sann rückwärts und konnte sich keiner Gelegenheit erinnern, da sie den Mann auch nur leicht angeheitert gesehen hätte. Aber einmal konnte es anfangen.Und weil er des Trinkens so wenig gewohnt war,mußte es ihm doppelt gefährlich werden.

Mit dem Schlaf war's vorbei. Hin und wieder dünkte Mädi, sie höre Cillmanns Stimme. Sie erhob sich und legte ihr Ohr an eine Ritze des Fußbodens,nicht aus Neugier, sondern aus Sorge. Wenn er die Lampe umgeworfen hättet Oder wenn ihm sonst etwas zugestoßen war! Sie kleidete sich an und stieg hinunter. Ihr legte sich das Bangen in den Weg:Wenn er einen bösen Wein trinkt der zornmütige Mensch! Wenn er dich erschlägtt Aber das Weiblein schritt über solche Bedenken weg. An Tillmanns Cüre horchte sie einen Augenblick. Sie hörte ihn ächzen.Behutsam öffnete sie die Türe ein wenig. Das Zimmer war finster. Nach dem Geräusch seines Atems lag er im Bett. Jetzt redete er wieder von Geschäften von Alktien, Dividenden. Beruhigt zog Mädi die Türe zu und kehrte in ihre Kammer zurüuck. Geschehen war ihm also nichts. Aber ihre Angst war die Treubesorgte damit noch lange nicht los. Was jene Wörter bedeuteten, die er ausgesprochen, wußte sie zwar nicht, begehrte es auch nicht zu wissen. Aber im Munde dieses wackern Arbeitsmannes kamen ihr diese Dinge vor wie eine geladene Schußwaffe in den Händen eines Knaben. Wenn nur ..... Arme, arme Kinder!Als Hans Tillmann erwachte, war's taghell und frostig in seiner Stube. Die Fensterscheiben waren angelaufen, und im TCälchen der Känelmatt lag ein dichter Nebel; aber ein blaßblauer Schimmer im Zenith ließ erkennen, daß bald ein schöner Cag anbrechen werde. Mit wüstem Kopf überblickte Tillmann die Unordnung im Zimmer. Unweit vom Cische lag die kleine Milchglasvase, die Röseli dem Vater zum Willkomm hingestellt hatte, und die Blümlein lagen zerstreut auf der nassen Diele herum. Hans Tillmanns Blicke blieben auf den Papieren haften, die den Tisch bedeckten. Er erhob sich und holte den ganzen Plunder auf den Nachttisch. Dabei kam ihm sein Katzenjammer erst recht zum Bewußsein. Er mochte nicht lesen und hatte doch ein quälendes Bedürfnis, sich die Sachlage zu rekonstruieren. Da half wohl nichts besser als frische Luft. Nachdem er das FJenster aufgerissen,kleidete er sich an, raffte die Papiere in die Busentasche und verließ das Haus. Als er den kleinen Fußpfad gegen das Herrenvogelwäldchen hinanstieg, brachte ihn Röselis Morgengruß zum Stehen. „Guten Tag,Vaterlit“ rief es aus dem Fenster der Wohnstube.„Kommst du nicht zum Frühstück ?“„Cag!“ antwortete Tillmann zögernd, „setzt euch nur 1283 zu Tisch! Ich werde dann schon kommen, wenn's Zeit ist.“ Damit wandte er dem Haus den Rücken und ging weiter. Ohne Hut, ungekämmt, ohne Krawatte, die Weste unrichtig eingeknöpft, ging er in seinen roten Pantoffeln. Heini hatte es auch gesehen. Er überlegte sich einen Augenblick, ob er nicht dem Vater nacheilen sollte, ihn wenigstens auf das Unordentliche seines Anzuges aufmerksam zu machen, aber er getraute sich nicht recht in seine Nähe. Röseli fragte die eintretende Haushälterin: „Habt Ihr ihn heimkommen gehört? Wann kam er?“ Sie erntete dafür einen mißbilligenden Blick ihres Bruders, der als Primaner ein besonderes Verständnis für diesen Zustand des Vaters beanspruchte und noch schwankte zwischen einem mitleidigen Lächeln und schmerzlicher Enttäuschung.„Du,“ sagte er, sobald Frau Schraner das Zimmer verlassen hatte, „das Mädi in allen Ehren, es ist mir lieb und wert, aber vergiß nicht, daß es eine arme Taglöhnerswitwe ist und gern herumschwatzt. Jetzt wollen wir sehen, daß wir selber ..... des Vaters schwache Momente zudecken. Bei den letzten Worten zuckten des Jünglings Mundwinkel. Ratlos betrachtete ihn das Mädchen, nach kurzer Spanne in Tränen ausbrechend.

Unterdessen saß Hans Tillmann droben am Saum des Wälochens auf einem Eichenstrunk. Den Kopf in die Hände gestützt, glotzte er, zwischen Katzenjammer und Triumph brütend, auf das Schloß hinunter, auf dessen Knäufen die sieghafte Frühlingssonne funkelte.Durch lähmende Kopfwehstören unterbrochen, resumierte er die gestrigen Erlebnisse. Im Wintersaal des Kurhauses zu Nieseten hatte die konstituierende Sitzung der „Oberländischen Kuretablissements A.G.“ stattgefunden. Der Präsident hatte in einer glänzenden Rede einen Überblick über die bisherige Entwicklung des Unternehmens gegeben, worin er ungefähr ausführte: „Der wahrhaft humanitären Initiative unseres umsichtigen Freundes Ingenieur Cillmann verdanken wir die großartige Perspektive, die sich uns heute ersffnet. Zuhanden späterer Geschlechter soll es zu Protokoll genommen werden, daß unsre Entreprise seinem eminent demokratischen Empfinden ihren Ursprung verdankt. Wo einst übermütige Tandvögte auf Kosten des Volkes in üppigem Wohlstand ihr Leben hinbrachten,sollen nun die Nachkommen jener Entrechteten Erholung und Kräftigung finden.“

Hans Tillmann war gewiß ein nüchterner Mann der Arbeit; nie und nimmer erhob er Anspruch auf Ehren, die ihm nicht gebührten. Aber daß ihm die zu Unrecht gebrauchte Bezeichnung „Ingenieur“ angenehm klang inmitten dieser Gesellschaft, wo jeder,ob echt oder unecht, die dickstmögliche Uhrkette über den Bauch hängte was konnte er dafür? Daß die Eroberung von Prankenau seine Idee war, konnte übrigens niemanod bestreiten.

Soweit lagen die gestrigen Erlebnisse Tillmann klar vor Augen. Es folgte dann die Umwanolung des „Konsortiums für den Ankauf der Schloßdomäne Prantkenau“, das sein Wertk gewesen, in die „Oberländischen Kuretablissements“, unter dem Nachweis,daß die finanzielle Sicherung des Unternehmens ein Voranschieben der schon bestehenden oder im Bau begriffenen Etablissements nötig mache. Der Finanzplan war 3war mehr verlockend als verständlich; aber waren denn diese geriebenen Herren nicht selber alle mit ihrem eigenen Kapital daran beteiligt? Darin lag doch die beste Garantie, und warum sollte Tillmann die Gelegenheit, seine Ersparnisse in sechs und siebenprozentigen Papieren anzulegen, nicht benützen? Warum solches immer nur andern überlassen? So hatte er denn allen Vorschlägen zugestimmt, und die Vormittagssitzung hatte mit einem vollen Erfolg geendet. Es war dann ein Diner gefolgt, wie Tillmann noch nie eines erlebt hatte. Weine hatte er zu kosten bekommen, von deren Vorkommen er nicht einmal je gehört. Ganz tlein hatte er sich zwischen diesen sachkundigen Leckern gefühlt. Die Herren erschienen ihm als Lebenskünstler heute noch. Wenn der eine oder andere einmal verkrachte, so durfte er sich wenigstens sagen, daß er seine guten Cage gehabt habe. Von denen stieg keiner zu Grabe mit dem Gefühl, daß er sein Leben in nutzloser Quälerei hingebracht.In der Nachmittagssitzung Sitzung war eigentlich nicht die zutreffende Bezeichnung, es war ein ge mütliches Beieinandersein bei wundervollen Weinen folgte die definitive Bestellung des Verwaltungsrates.Über den Verlauf dieser Verhandlungen besaß heute Tillmann nicht mehr restlose Klarheit. Er sollte ja alles noch schriftlich bekommen. Daß er Aktien gezeichnet, und zwar in einem Betrage, der ihm Gewicht verschaffen mußte, das wußte er genau, das war mit voller Äberlegung geschehen. Wie er heimgekommen,das hingegen war ihm unklar. Im Bahnhofrestaurant zu Thun hatte man nach einer sehr kühlen Fahrt auf dem See noch einen letzten Crunk genommen.

Ja nun also ..... Ach, wenn nur dieser scheußliche Brummschädel nicht wäre! Wieder und wieder durchging Tillmann in Gedanken den gestrigen Tag, immer schwankend zwischen rosigen Hoffnungen und unabtreiblichen Besorgnissen. Da tauchte aus der Mulde der Känelmatt Heini auf. An jedem andern Tage würde des Vaters Herz froh geklopft haben ob dem Anblick des schlank und kräftig aufgeblühten Jünglings. Heute war ihm die Begegnung ärgerlich. Entfliehen konnte er ihr nicht. Den Jungen in die Erlebnisse einweihen? Nein, heute besser noch nicht.

Noch hatte Hans Tillmann keinen Entschluß gefaßt,da stand sein Sohn neben ihm. „Guten Cag, Vater,“sagte er mit etwas erzwungener Unbefangenheit.

„Guten Tag,“ brummte der Vater, ohne den Kopf heben.

Verlegen blieb Heini eine Weile stehen. Dann ver suchte er's wieder: „Vater, fehlt dir etwas oder hast du Verdruß ?“

Er erhielt keine Antwort.

„Vater!“

„Laß mich in Ruh, Bub! Wenn's mir darum zu tun ist, komm ich schon von selber wieder hinunter.“

„Aber Vater, so solltest du nicht in der Gegend herumlaufen. Schau doch, wie du aussiehst !

„Ach geh doch! Vor wem sollte ich mich genieren?Etwa vor dem Alten da drunten im Schloß? Der hat jetzt ausgespielt.“

Heini ließ noch einen fragenden Blick auf der Gestalt seines Vaters ruhen, als wollte er sich überzeugen,ob denn das sein letztes Wort sei. Dann ging er langsam weiter, dem Wälochen entlang, und als sein Vater sich immer noch nicht rührte, stieg er verdrossen zur Känelmatt hinab. Dort fand er Mädi im Sonntagsstaat. ZPredigt wollte sie und riet den Geschwistern,sie sollten mitkommen. „Geh du!“ sagte Heini zu Röseli,„ich bleibe auf dem Posten. Es ist doch moöglich, daß der Vater bald heim kommt.“ „Ich will aber bei dir bleiben,“ erklärte Röseli, und so zog Frau Schraner allein ihres Weges.

An solchem Lenztag in der Stube zu bleiben, war einfach unmöglich. Heini und Röseli machten sich vor dem Hause die Bank zurecht, wo man so oft mit der Mutter gesessen, ihr das Herz ausgeschüttet hatte. Sie strichen dem Gartenhag, dem Bächlein entlang, hielten am Rain Ausschau nach Blumen; aber überall hin schleppten sie ihre Enttäuschung mit. Das ist nun der ersehnte Sonntag mit dem Vater, dachte jedes.

Gegen Mittag kam der Vater heim. Ordentlich gekleidet setzte er sich mit zu Tisch. Häufig den Kopf in die eine Hand stützend, sprach er mit sichtlicher Überwindung. Um selber möglichst wenig reden zu müssen,stellte er Fragen an die Kinder. Dabei schien ihm an den Antworten wenig zu liegen. Er wollte wissen,wann Röseli in die Haushaltungsschule zu Kilchwerlen eintreten könne. Seine Pläne für das Mädchen zielten über diesen Kurs ins Welschland und in die Hotelbranche. Welsch und englisch vor allem

Nach dem Mittagessen nahm Tillmann seinen Schwarzen mit gehörigem Zusatz von Kirsch. Dann ging er in sein Zimmer und kramte in den Papieren.Als Röseli nach ihm sah, um ihn zu einem Spaziergang zu bewegen, lag er wie hingeworfen auf dem Sopha und schnarchte. Die Haushälterin riet den Kindern: „Heut ist nun einmal nichts zu wollen. Geht lieber ein wenig spazieren. Man muß ihn in Ruhe lassen.“ Was blieb ihnen anderes übrig? Um ja keinem

Bekannten Auskunft über des Vaters Befinden geben zu mülssen, schlichen die beiden durch das KänelmattTälchen hinauf in die entlegenen Wälder, die sich längs des Lindentals nach dem Emmental hinüberziehen.Eine Stunde mochte verstrichen sein, da erwachte Mädi, die sich vor dem Haus in den Sonnenschein ge setzt hatte, aus einem leichten Schlummer. Schleppenden Schrittes kam Hans Tillmann um die Hausecke und fragte verdrossen nach den Kindern, Das bitterböse Gesicht der Alten reizte ihn zum Lachen. Aber dieser Anflug von Heiterkeit schwand, sobald Mädi den Mund öffnete.

„Wo sollten sie sein ?“* antwortete sie. „Es ist heute kein Schleck, in Eurer Nähe zu bleiben.“

Tillmann warf einen langen, verwunderten Blick auf Mädi. Sollte er ihre Bemerkung von der komischen Seite nehmen, oder galt es, eine unverschämte Einmischung rechtzeitig abzulehnen? Mädi mochte fühlen,was er überlegte. „He ja!“ fuhr sie fort. „S'ist emel wahr. Da kommt der Junge heim und freut sich,mit Euch den Sonntag zu verbringen, und erst das Röseli! Wenn Ihr wüßtet, wie die Kinder sich auf einen solchen Cag freuen! Seitdem die Mutter nicht mehr da ist, haben sie ein doppelt Anrecht auf Euch. Und nun seid Ihr so zu ihnent“

„Was?“ knurrte Hans Cillmann. „Wie bin ich zu meinen Kindern?“ Er war nahe an die Alte heran getreten und blickte ihr drohend in das Gesicht.

„Jedenfalls nicht, wie Ihr sein solltet,“ antwortete sie. „Was sollen die Kinder denken, wenn sie merken,daß ihr Vater einen bösen Wein trinkt? Das kommt nicht gut.“

„Habt Ihr mich vielleicht ein einzigmal betrunken gesehen, he?“von Tavel, Seinz Tillmann.

9

„Weiß nicht, wie Ihr gestern heimgekommen seid. Aber das weiß ich: So fängt's an.“

„Was fängt an?“

„Das unordentliche Wesen. Leugnet's nur nicht, Herr Tillmann! Gestern habt Ihr über den Durst getrunken.Und es ist grad genug an einemmal, wenn's ein Unglück geben soll. Grad just weil Ihr ein braver Mann seid, ist's schon zuviel an einem Mal. Es ist immer so. Bei einem Hudel kommt's nicht drauf an,ob er sich einmal oder hundertmal betrinkt. Aber ein solider Mann muß schwer büßen, wenn er e in mal nicht auf der Hut gewesen ist.“

Tillmann hatte sich abgewendet, stand mit den Händen in den Hosentaschen da und ließ durch ein eigenartiges Verziehen der Mundwinkel erkennen, daß er die Strafpredigt von der komischen Seite zu nehmen suchte.

Mädi sah das und ereiferte sich nur desto mehr.„Es gibt da gar nichts zu lachen.“

NAun tat er, als schüttelte es ihn nur so vor Lustigteit. Mädi aber merkte wohl, daß es nur jenes gezwungene Belustigtseinwollen war, das oft einem Wutausbruch vorausging. „Wo sollen die Kinder hin, wenn sie kein Heim mehr finden, da wo ihr Heim gewesen?Ihr dürft Euch nicht wundern, wenn sie dann anderswo Rats suchen und ihr Vertrauen Leuten schenken, die auf festerem Grunde stehen, auf dem Grunde, da Eure selige Frau drauf gestanden Herr Tillmann!“

Damit war Tillmanns Heiterkeit abgewürgt. Ein unheimlich forschender Blick über die Achsel traf das tapfere Weiblein.

„Ja,“ bekräftigte es, „was Ihr Eurer Frau zulieb lassen konntet, solltet Ihr erst recht den Kindern zulieb meiden.“

Ein rollender Fluch glitt Tillmann über die Lippen.„Saufe ich etwa zu meinem Vergnügen? Was wißt doch Ihr, was ich tue! Grad um der Kinder willen muß ich dabei sein. Was wißt Ihr davon, wie's in der Welt zu und her geht! Schön und recht mit dem gottselig abseits stehen; aber wer nicht mit dabei ist,wo der Braten geteilt wird, der soll sich dann auch nicht wundern, wenn er nebenab kommt, Frau Schraner.Und ich bin nicht einer von denen, die ihren Kindern allerhand frommen Trost mit auf den Weg geben und sie am Bettelstab zurücklassen. Darüber, wie man im Leben zu etwas kommt, braucht mich niemand zu brichten,am wenigstens eins, das selber über nichts gekommen ist, Überhaupt Himmelherrgottsd .....10 Tillmann hatte die Fäuste geballt und wandte sich zum Davonlaufen; aber es war, als hielten die Sanosteinfliesen,auf denen seine Frau ihre Sohlen sich abgelaufen, seine Füße fest, so daß er der Haushälterin einfältige und doch treffsichere Hiebe noch weiter auffangen mußte. Er wollte den Platz behaupten. Am liebsten hätte er sie fortgejagt; aber eben... Daran hinderte ihn etwas und dann mußte der Streit mit Mädi zum Schweigen gebracht sein, ehe die Kinder heimkamen.

„Nur geflucht!“ sagte die Alte. „Aber die verachtete Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses Herr Tillmann dieses Lebens und auch des zukünftigen. Es wäre besser, Ihr ließet die Hand vom Spelulieren. Ihr werdet dem Zeug doch auf die cänge nicht Meister. Solches kann zum Reichtum führen,aber in braver Leute Händen kann's doch zum Unglück ausschlagen. Und was haben dann die Kinder davon?Spitzbuben vermögen den Teufel vor ihren Wagen zu spannen; aber wenn ein Rechtschaffener ihn am Schwanz faßt, so muß er mit davon, weil er nicht weiß, wann man mit dem geringsten Schaden loslassen kann.“

Was war nun das? Wie kam Mädi auf den Gedanken, ihn vor Spekulation zu warnen, sie, der er nie ein Wort von seinen Geschäften gesagt? Cillmann war das fast unheimlich, und weil ihm, nicht minder als zdiesem dummen Weiblein da, das Gefährliche seiner Pläne bewußt war, wollte er sich auf weiteres nicht mehr einlassen. Er nahm Hut und Stock und lief der

Straße zu. Ob und wann die Kinder heimkamen,danach fragte er nicht mehr. Er lief talwärts und wälzte in einer ewig wiederkehrenden Reihenfolge seine Sorgen im Kopf herum. Bald ärgerte er sich darüber,daß er vor Mädi das Feld geräumt hatte. Mit den Kindern hätte er freilich gerne den Abend zugebracht. Vielleicht hatte die Alte doch den Takt, in ihrer Gegenwart zu schweigen. Aber nun fiel ihm ein, daß auch Heini ihm Vorwürfe gemacht. Er hatte keine Lust, sich von dem Jungen noch einmal derlei Dinge sagen zu lassen. Über all dem quälte ihn der auf den Katzenjammer folgende Durst, und der trieb ihn dem Wirtshaus im Gränk zu. Das lag ziemlich weit abseits von den Dörfern an der Bernstraße. Wenn nicht gerade eine politische Versammlung oder ein Fest stattfand,so konnte man dort recht ungestört in der Gaststube sitzen. Er fand es, wie er gewünscht. Die Stube war leer. Die Kellnerin empfing ihn als einen Erlöser aus der Langeweile und blieb, als sie den bestellten Schoppen vor ihn hingestellt, in der Nähe stehen. Aber bald merkte sie, daß der Mann da, der den Kopf in die beiden Hände stützte und mit stieren Blicken an ihr vorbei sah, kein Verlangen nach Unterhaltung trug.Sie ließ ihn allein. Eigentlich zog es Tillmann mächtig zu seinen Kindern, und die Stimmung, die ihn daran hinderte, machte ihn weich, fast weinerlich. Solche GSemütszustände waren dem Manne, der sich selber soviel Härte und NAüchternheit anerzogen, verhaßt. Dem drohenden Zwiespalt in der Familie mußte energisch vorgebeugt werden. Er, Tillmann, ließ sich die väterliche Autorität nicht rauben. Und da half nun einmal nichts anderes: Die Alte mußte weg! Irgendwo mußte die Gelegenheit fortbestehen, die Kinder zu sehen ungestsrt. Und wo gab sie sich natürlicher als in der Känelmatt? Das abgelegene Heim war Cillmann sehr lieb, eben weil er da so recht fern von allen Geschäften und allem unerwünschten Verkehr mit den Kindern zu sammensein konnte. Es war da etwas, in dem stillen Häuschen, das er sich sonst nirgendwo erschaffen konnte.Er selber vermochte es überhaupt nicht zu schaffen. In der Känelmatt aber besaß er es als nun, warum sollte er sich das nicht eingestehen? als das Erbe seiner Frau. Also Mädi mußte weg! Aber irgendwer mußte doch des heimischen Herdes warten, sonst erlosch er. Als ob er mit jemandem sich stritte, schlug Tillmann plötzlich mit der Faust auf den Tisch, so daß die Kellnerin erschreckt aufsah. Der einsame Mann schien selbst wie aus einem schweren Traum erwacht.Hatte er's nur gedacht oder laut gesagt: „Wohl, warum auch nicht, zum Donnerwetter?“ Was denn? Aun das, was sich in dieser Situation ihm gebieterisch aufdrängte, eine neue Priesterin an den Herd führen.Er brauchte ja nur die Hand auszustrecken. Schon lange hatte es ihm die Wirtin zum „Wilhelm Tell“ in Elsigen am Chunersee angetan. Wie manchen schönen Abend hatte er mit der jungen Witwe verhöcklet. Sie plauderte so leichtflüssig wie ein Bergbächlein, besaß die Anmut der Oberländerinnen. Und aus den dunkeln Augen der Anna Elisabeth Chönen sprach eine Herzensgüte, die er seinen Kindern so sehr gegönnt hätte.Plötzlich kam sich Tillmann wieder schwach vor.Hatte er nicht schon hundertmal diesen Kampf durchgefochten? Nein und abermals nein! Sein Ziel war ein anderes. Sollte er es schließlich doch noch in einer schwachen Stunde preisgeben um schöner Augen willen?

Nicht doch! Aber vielleicht um des Heims willen, dessen die Kinder bedurften? Ach was! Alter Esel, weißt du noch nicht, daß solchen Cräumen doch immer die Enttäuschung folgt? Sollte er's darauf ankommen lassen, daß Kinder aus einer zweiten Ehe seine Pläne zunichte machten?

Tillmann erhob sich und wollte seinen Schoppen bezahlen. Er wollte hinauf, in die Känelmatt, war er doch Manns genug, um heute noch mit seinen Kindern ins Reine zu kommen. Sie mußten wissen, daß er auf festern Füßen stand, als es heute morgen den Anschein hatte.

Da näherte sich draußen Pferdegeschell. Statt Tillmann Bescheid zu geben, lief die Kellnerin hinaus. Unmutig warf der mißachtete Gast sein Gelostück auf den Tisch, drückte den Hut in die Stirn und verließ die Gaststube, um nach der Bergseite zu entkommen. Kaum hatte er sich im Hausgang der hintern Türe zugewandt,so hielt ihn eine ihm wohlbekannte Stimme zurück.„So, so, der Herr Tillmann will auf und davon, wenn man just mit ihm zu reden hätte?“ Es war der Gemeindepräsident von Rafeldingen, der trotz der Dunkelheit des Ganges die mächtige Gestalt Tillmanns erkannt hatte.Zu den Männern, die ihm folgten, sagte er: „Das trifft sich jetzt aber gut! Jetzt können wir mit dem Inschenör grad noch zBode reden wegen der Entsumpfung droben auf der Prankenauzelg.“ Geärgert über die sein Vorhaben durchkreuzende Begegnung, stierte Tillmann, die

Hände in den Rocktaschen, einen Augenblick vor sich hin.Aber bald fügte er sich dem Zufall. In Geschäftssachen durfte nichts versäumt werden. Und Hans Tillmann kehrte mit den Gemeinderäten in die Gaststube zurück.

4 *Auf der Bernstraße rollte der elegante Tandauer der Guldwang. Zur Linken lag alles in tiefem Schatten,während die Strahlen der Abendsonne über den Kamm des Amselberges hinweg ihren goldenen Schein droben in die Fenster des Schlosses und der an den Hängen zerstreuten Bauernhäuser warf. Es war empfindlich kühl, so daß man beidseitig die „Glacen“ des Wagens heraufgezogen hatte. Auf dem Rücksitz saßen Frau Dorothea und Antoinette. Dieser gegenüber kauerte träumend neben Lilian Merle Heini Tillmann. Er saß wider Willen da. Schon hatte er, als der Wagen ihn drunten auf der Talstraße einholte, sich eine Lüge zurechtgelegt, um eine Einladung zum Mitfahren abzulehnen. Aber im Handumorehen hatte die kategorische Güte der schönen Frau Heinis Ausreden zunichte gemacht.

„Machen Sie keine Flausen, Heini! Fir! Herein!Wir haben nicht umsonst anhalten lassen.“

Und weiter rollten die blinkenden Räder. Der Jüngling kam sich mit seinem zerbrochenen Trotz, seinem Gram über den verfehlten Sonntag und all den trüben Aussichten ganz am unrechten Ort vor. Wenn er sich ausmalte, was nun moglicherweise seine arme Schwester diesen Abend noch erleben würde, so schalt er sich einen Feigling, daß er nicht ohne Rücksicht auf die Philistersleute, die ihn heute abend in Bern erwarteten, droben in der Känelmatt ausgehalten hatte. Dann war's ihm wieder, als sollte er dem Schicksal dankbar sein, das ihm zwischen Cag und Nacht noch einen freunodlichen Blick gönnte. Er nahm sich zusammen und antwortete artig auf jede Frage. Aber es bedurfte bei den Mitreisenden keiner besondern Feinfühligkeit, um zu merken,daß Heini an irgend etwas würgte. Lilian konnte er nicht beobachten; aber in Antoinettes blauen Augen lag unzweifelhaft teilnehmende Neugierde.Der Sonnenschein war über die obersten Waldspitzen entflohen, und es begann zu dämmern.Plötzlich kriegten die Reisenden einen Ruck. Der

Wagen machte eine jähe Bewegung seitwärts und fuhr ganz langsam. Man horte die Hufe unruhig trappeln.Dem Kutscher war ein Ruf des Unmuts entfahren.Dann zogen die Pferde heftig an und gingen eine kurze Strecke im Galopp. Im ersten Schreck hatten die Insassen des Wagens nach der Ursache der Störung geblickt, leise Ausrufe auf den Lippen. Dann aber, während die Pferde wieder in ruhigen Trab übergingen,richteten sich Aller Augen auf Heini. Niemand ließ ein

Wort laut werden. Frau von Guldwang, Antoinette und Heini wußten, warum die Pferde gescheut hatten.Es waren Schimpfworte durch die geschlossenen Fenster hereingedrungen. Und Heini hatte einen großen bärtigen Mann vom Wagen hinweg nach dem Straßenbord hintorkeln sehen. Die beiden ihm gegenübersitzenden Damen das las er deutlich in ihren Mienen waren so wenig wie er im Zweifel über die Identität des Betrunkenen, der offenbar dem Gespann in die Quere gekommen war.

Heini lehnte sich unwillkürlich zurück, um sich dem einfallenden Licht zu entziehen. Dann reckte er sich wie in körperlichem Schmerz und barg sein Gesicht an der Wand des Wagens. Gott! Wenn er nur aus diesem Kasten hätte entfliehen können! Er fühlte, wie eine schlanke Hand in Glackhandschuh seine Linke ergriff und zärtlich preßte. Es war Frau Dorothea. Niemand antwortete auf Lilians Frage nach der Ursache des Zwischenfalls.

Auf der ganzen Fahrt sprach niemand mehr davon.Heini brachte überhaupt kein Wort mehr über die Lippen. Er schämte sich. Seines eigenen Vaters mußte er sich vor diesen Leuten schämen, die Hans Tillmann so sehr verachtete, weil er in ihnen nur Schmarotzer sah. Warum schwiegen sie jetzt alle drei? Wenn sie nur nicht hochfahrend und selbstgerecht über seinen armen Vater richteten, sonst mußte er sie hassen die ganze Sippe, denn der Vater verdiente noch lange nicht Verachtung, er war kein Säufer, kein Schwächling, der aus Genußsucht trank, er war nur das Opfer seines Erwerbseifers geworden, nur dies eine Mal.O, Heini kannte die Energie seines Vaters. Wenn der erst wieder zu sich kam, ging er mit sich selbst hart um.

Der Wagen ratterte auf hartem Steinpflaster. Links und rechts flimmerten viele Lichter durch die leicht angelaufenen Scheiben. Schatten von Pfeilern und Bogen huschten vorüber. Dazwischen leuchteten die hellen Schaufenster von Kaufläden.

Vor dem Guldwangschen Hause hielt die Kutsche.Heini verließ sie zuerst und wartete mit Ungeduld auf die andern, um sich zu verabschieden. Er bot Frau Dorothea die Hand und dankte. Da überraschte sie ihn mit der Frage: „Heini, werden Sie in Ihrer Wohnung zum Nachtessen erwartet?“ Sollte er lügen und ja sagen? Sein Zögern war Antwort genug für Frau von Guldwang. „Kommen Sie mit hinauf! Sie essen bei uns!“ befahl sie mit senem Zauber, der den Jüngling immer zu Boden warf.

Heini mußte voran die Creppe hinaufsteigen, und er ging wie einer, den man in den Turm abführt,während hinterher Antoinette mit vorwurfsvollen Augen ihrer Mutter zuflüsterte: „Er wäre gewiß lieber heimgegangen.“ Sie bekam keine Antwort. In diesem Augenblick machte die verwöhnte, ihrer von Ontel Scip geweissagten Schoönheit entgegenreifende Antoinette von Guldowang in ihrem Herzen mit dem kleinbürgerlich biedern Heini Tillmann einen Bund. Heini war nicht umsonst ein schöner Junge. Schlank war er und hübsch von Angesicht, und in seinen treuherzigen Augen hatte e

4*sich das Leiden eines Knaben hingelagert, das nach einem verstehenden Herzen schrie. Aber Prankenau Känelmatt! Ahnherren, die den Königen von Frankreich mit Crotz in die Augen geblickt Vorfahren,die als Bäuerchen ihre Garben den Herren von Prankenau zu Füßen gelegt! Wie sollten diese beiden Linien sich je vereinigen? Können Steine sich erweichen? Pah, wo Liebe gottgeborenes Verlangen des Leidenden zum Leidenden das Gold erwärmt, da springen die Perlen aus der Fassung und rollen mit ihrem milden Licht in den Staub der Werkstatt.

Heini Tillmann wurde in das Coilettezimmer des Herrn Fernand geschoben, vor einen elegant ausgestatteten Waschtisch. Ein Kammermädchen mit weißem Häubchen goß ihm Wasser in die Waschschüssel und reichte ihm eine frische Serviette. Als es die Türe geräuschlos hinter sich geschlossen, ließ Heini seine verwirrten Blicke in dem eleganten Raum herumschweifen.Das Aufheulen hatte er zuvorderst. Was hätte er um die Einsamkeit seiner Studentenbude gegeben Kaum wagte er seine Hände an dem tadellosen Handtuch abzutrocknen. Nun mußte er einen ganzen langen Abend noch an sich halten. Er wußte nicht, sollte er diese in sonderbarer Weise bändigende Kultur verwünschen oder hatte sie vielleicht doch noch ihr Gutes? War all diese verfeinerte Lebensart eines der Mittelchen zur Überlegenheit der höhern Gesellschaftsktlassen? Diskussionen mit den Kameraden fielen ihm ein. Aber durch alles hindurch drang immer wieder der Jammer um den Vater und das Verlangen, allein zu sein. Ob er's nicht doch noch versuchte, sich wegzustehlen? Leise schlich er sich hinaus. Aber noch ehe er den Kleiderständer erreicht, wo Hut und Mantel hingen, vertrat im Herr Fernand den Weg. Herzlicher und gütiger als sonst ward Heini von ihm begrüßt. Herr von Gulowang mußte schon etwas vernommen haben von der fatalen Begegnung auf der Straße. Heini fühlte sich immer verwirrter, und in diesem Wirrsal von Empfindungen ergab er sich dem Mitleid, das ihm von allen Seiten begegnete.

Während Herr von Guldwang sich die Hände wusch,ertönte eine Glocke, und bald darauf saß man am wohlgedeckten Cisch. Von des Gymnasianers Riesenappetit,der sonst den stillen Spaß der herrschaftlichen Familie ausgemacht, war heute gar nichts zu merken. Herr Fernand suchte seinem jungen Gast die Zunge zu lösen durch Erkundigung nach den Aussichten der unmittelbar bevorstehenden Maturitätsprüfung, nach dem Schulund Vereinsleben. Der Frage, ob er seinem Entschluß,CTheologie zu studieren, treu bleiben werde, ließ Herr von Guldwang, ohne die Antwort abzuwarten, gleich eine eindringliche Ermunterung folgen. „Das wäre nicht nur eine schöne Laufbahn für Sie, Heini,“ sagte er, „es wäre geradezu ein Verdienst um das Volk,denn es gibt nie genug Pfarrer, die aus wahrem Herzensorang ihrem Beruf leben. Der Segen Ihrer

Mutter würde Sie Ihr Leben lang als das tostbarste Zehrgeld begleiten.“ Herr Fernand redete fürbas, indes seine Frau und Antoinette auf Gesicht und Händen des armen Jungen Weh und Wirrnis zucken sahen.Den dankbarsten Zuhörer fand der Hausherr an Lilian Merle, die mit leuchtenden Augen an dem Gespräche teilnahm und sich aus der Lobpreisung des Pfarrerstandes ein Verdienst zu machen schien. Ihr war es beschieden, Heini Cillmann wenigstens auf Augenblicke seiner Qual zu entreißen. Die naive Wärme, mit der das liebliche Geschöpf von dem hohen Berufe sprach,löste die Schwingen von Heinis Phantasie. Fürwahr,es war ein sonniger Ausblick mitten durch das schwarze Gewölk, das ihn umgab.

Frau Dorothea hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Als ob die Unterhaltung außerhalb ihrer Hausfrauenpflicht läge, hatte sie sich nur mit ihrer Teemaschine und dem übrigen silberglänzenden Geräte der Cafel abgegeben. Im Salon flackerte zwischen den Fenstern ein Kaminfeuer. Herr Fernand hielt Heini sein Zigarrenetui hin und lehnte sich, von Zeitungsnachrichten plaudernd, an das Marmorgesims der behaglichen Feuerstätte, während die jungen Damen sich am Flügel zu schaffen machten. Aus der Musik wurde jedoch zunächst nicht viel, denn sobald Frau Dorothea,die inzwischen ihre hauswirtschaftlichen Ordres ausgegeben hatte, im Salon erschien, lenkte sich die Aufmerksamkeit wieder auf Heini. Frau von Guldwang wies ihn neben sich in einen Fauteuil. Herr Fernand versenkte sich in eine Zeitung und schien an dem Gespräch keinerlei Anteil nehmen zu wollen.

„Sagen Sie mir, lieber Heini,“ begann Frau Dorothea leise und vertraulich, „wie geht es denn Ihrem Vater, seitdem Frau Tillmann gestorben ist? Er ist wohl meist bei seinen Arbeiten im Oberland?“

„Ja. ich bekomme ihn sehr selten zu Gesicht. Und wenn er heimkommt, so ist er mit seinen Gedanken doch immer bei den Geschäften. Ich fürchte, er wird immer mehr darin aufgehen.“

„Was baut er denn eigentlich?“

„Jetzt arbeitet er noch an der Bahnlinie im Schieferbachtal. Hernach wird ihn die Unternehmung der oberländischen Kuretablissements vollauf in Anspruch nehmen.“Heini sagte das mit einem gewissen Stolz. Den Blick, welchen Herr Fernand mit zugekniffenen Augen über die Zeitung hinweg auf ihn warf, verstand der JZüngling ganz falsch. Er dachte, Herr von Guldwang hielte seinen Vater nicht für finanzkräftig genug, um bei einem so bedeutenden Unternehmen aktiv beteiligt zu sein. Darum versicherte er: „Mein Vater ist Teilhaber des Konsortiums.“

Während nun der Bankier im Kaminfeuer herumstocherte, fuhr seine Frau fort noch leiser als vorhin:

„Sagen Sie mir: kommt es oft vor, daß Ihr Vater über den Durst trinkt ?“

Heini zuckte zusammen. Sollte er den Beleidigten spielen? Er konnte nicht. Frau von Guldwang hatte ihre Hand auf die seine gelegt und sprach in sehr teilnehmendem Tone. „Denken Sie nicht, daß ich mich in etwas mischen wollte, was mich nichts angeht oder daß ich über Ihren Vater richten möchte. Im Gegenteil.Sehen Sie, lieber Heini, ich möchte nur Ihnen beistehen. Ich weiß ja wohl, sein Beruf bringt das vielleicht mit sich. Wenn man so oft bei schlechtem Wetter im Freien arbeiten muß. Aber solche Sachen wie heute sind doch sehr, sehr fatal und könnten Ihrem Vater furchtbar schaden. Zu Lebzeiten Ihrer Mutter ist das sicher nie vorgekommen.“

Antoinette und Tilian lauschten gespannt auf die allmählich etwas lauter werdenden Worte der Frau von Guldwang.

„Ist Ihnen nicht bange dabei?“ fragte sie.

„Entsetzlich ist es mir. Ich kann Ihnen zwar versichern, daß es meines Wissens bis jetzt nie in dem Maße vorgetommen ist, und vielleicht bin ich ein wenig mitschuldig, weil ich heute nicht zuhause blieb. Aber was ich tun soll, wenn es wieder geschieht ...“?

„Sie selber werden nicht viel tun können. Hat Ihr Vater nicht einen Freund, der auf ihn einwirken könnte ?

„Ich weiß keinen.“

„So müssen wir jemanden suchen, der bereit wäre,mit ihm ein Abstinenzgelübde einzugehen.“

„Mama, das wirst du nicht tun“

Aufs Höchste erstaunt, wandten sich alle nach Antoinette um, die in aufwallendem Zorn nahe an die Sprechenden herangetreten war.

„Was werde ich nicht tun?“ fragte Frau Dorothea gereizt.

„Was du eben Heini vorgeschlagen hast.“

Frau von Guldwang lachte gezwungen. „Ich werde tun, was ich für meine Pflicht halte, und daran wird mich Mademoiselle Antoinette nicht hindern. Im übrigen gehört die Sache allerdings nicht hierher, wenn ihr beiden lange Ohren machen wollt. Nun,“ wandte sie sich jetzt zu Heini, „wir werden noch darüber reden.Bis dahin überlegen Sie sich, ob nicht jemand zu finden wäre ... Und ihr beiden spielt uns lieber noch etwas!Oder wart, Lilian, nehmen wir nochmals unsre liebe Ouvertüre vor!“

Frau von Guldwang setzte sich mit Lilian an den Flügel. Heini stand hinter ihnen. Aber er hörte kaum,was gespielt wurde. Die leidenschaftlich zürnenden Blicke,mit denen Antoinette aus dem dunkeln Winkel, in den sie sich zurückgezogen, ihn verfolgte, verwirrten ihn von neuem. Wie reimte sich ihr Auftreten mit der gütigen Teilnahme ihrer Mutter? Wem sollte er recht geben?

Heini sann über all das nach, bis ihn schließlich doch die Musik und der Anblick der Spielenden davon ablenkten. Erst waren es die wohlgepflegten Hände der Hausfrau, die seine Blicke auf sich zogen. So eben, wie von Tavel,. Seinz Tillmann.

710 sie mit den Tasten spielten, tat es die Frau mit den Menschen. Ein leises rosiges Antippen, und man tonnte nicht anders sein und handeln, als sie es wollte. Zuletzt fingen sich des Jünglings Blicke in den krausen Stirnlocken Lilians, in denen der Lichtschein der Kerzen wunderlieblich schillerte. Er sah ihren zierlich gebildeten Nacken und den entzückenden Bau ihrer Schultern und Arme. Darin störte ihn nicht das Spiel all der vielen bald glitzernden, bald gedämpft schimmernden Lichter auf den glatten Tasten, auf der polierten Fläche des Flügels, auf den darauf hingelegten Ringen Dorotheas und auf den im Widerschein des Kaminfeuers unruhig atmenden Olbildern. Es störten ihn auch nicht die unablässig auf ihm haftenden Blinkfeuer in Antoinettes Augen. So sehr hatte Heini Cillmann den Jammer des erloschenen Sonntags vergessen. „Ach, so spielen können! Wenn ich einmal freier sein werde! Welche Lust wird es schon sein, hinwegzuräumen, niederzukämpfen, was mich noch von ihr scheidet! Wenn meine Lippen einst diesen Nacken werden berühren dürfen!“Derlei Torheiten spukten in des jungen Menschen Kopf herum, der nicht ahnte, was unterdessen in Antoinettes Herzen vor sich ging.

Viel tiefer als Heini Tillmann selbst hatte die Erbin von Prankenau das Weh über den Fall des alten Tillmann ergriffen. Schrecklich, unerträglich schien ihr Heinis Schicksal zu sein. Seinen eigenen Vater betrunken auf der Landstraße zu treffen? Am hellichten Cage. Von des Mannes roher Härte hatte sie schon genug gehört.Das Mitleid mit seinem Sohne hatte ihr den Entschluß aufgezwungen, sich für diesen einzusetzen. In Augenblicken der Ernüchterung freilich hatte die Einrede der Vernunft sie aus der süßen Qual ihrer Gedanken erlöst, doch nur um sie hernach um so deutlicher empfinden zu lassen, daß sie im wohlbehüteten, warmen Aest ihres Elternhauses niemals Raum finden werde für die flugkräftigen Schwingen ihrer großen Seele.Antoinette von Guldwang die Gattin eines Tillmann aus der Känelmatt, der, fast gleichaltrig, erst noch seine vermutlich dürftigen Lebensbedingungen schaffen mußte!Ein Wahn, nicht würdig, eine Stunde lang gelitten zu werden. Ach, daß es so unmöglich wäre! Aber da war der Fels geborsten, das Unmögliche möglich geworden. Durch Heinis Entschluß, Cheologie zu studieren, war es geschehen. Seit Jahrhunderten hatte aus der ehernen Mauer der Standesordnung ein Pförtlein in den geistlichen Stand geflihrt. Das stand ihr offen, und solange es offen blieb, durfte und mußte sie ihrem Herzen folgen. Den ganzen Abend hindurch wano sich Antoinette, durch die Pforte blickend, Dornenkronen. Und es war ihr, als wüchse ihr der Mut von Minute zu Minute. Darum fand sie ihn auch, um gegen ihrer Mutter Absichten aufzutreten. Wenn jemand einen Schritt wagen sollte, um dem Verderben zu wehren,das den alten Cillmann bedrohte, so mußte es Heini sein. Jeder Fremde, der da hinein redete, verdarb die Sache. Und daß Heini der Mut nicht entfiel, dafür wollte sie sorgen.

In einer Pause des Spiels erhob sich Frau von Guldwang, um andere Notenhefte zu suchen. Heini blieb sinnend an der Wand stehen. Tilian, welche glaubte, ihr Zuhörer hänge seinen trüben Gedanken nach, lehnte sich zurück und flüsterte ihm zu: „Wenn Sie jemanden brauchen, der bereit ist, mit Ihnen das Abstinenzgelübde zu teilen, so zählen Sie auf mich.Ich würde Ihnen so gerne beistehen.“ Heini war das Törichte dieses Anerbietens klar; aber er war hingenommen von der Freundschaft, die ihm das Mädchen damit bezeugte.

Antoinette, nun lässest auch du dich vielleicht gütigst herbei, uns deine Kunst zu zeigen. Hier wäre das vermißte Schumannheft.“ Mitten im Salon stehend, hatte Frau Dorothea das Antoinette zugerufen, in der selbstverständlichen Erwartung, daß ihr Wunsch sofort erfüllt werde. Es war kein rosiges Antippen gewesen. Trotzdem oder vielleicht deshalb versagte ihre Autorität.„Ich mag heute nicht spielen und singen erst recht nicht.“Das war alles, was die Mama zu hören bekam.

„Sehr artig!“ sagte sie spitz und setzte sich ans Feuer.

Der Rest des Abenss verlief still. Die Laune der Hausherrin war verdorben, und die Gemütlichkeit machte leise hinter sich die Salontüre zu. Heini Tillmann, der keine Tust verspürte, angetippt zu werden, lauerte auf den nächsten Augenblick, der ihm gestattete, sich zu empfehlen. Viel schneller noch, als er vermutet, stellte er sich ein, indem Frau von Guldwang wiederholte: „Also,lieber Heini, wir werden über die Sache noch reden.“

Aus Rand und Band vor Jugendoseligkeit trotz des trüben Tages, der hinter ihm lag wäre Heini mit den sonnigen Blicken, die ihm Lilian mit auf den Weg gab, die Treppe hinuntergesprungen; aber der Abschied von Antoinette hatte ihn vor ein Rätsel gestellt. „Sie muß sehr schlechter Laune sein,“ sagte sich der Jüngling, und bald hatte er sich zurechtgelegt, daß neben der Verstimmung über ihre Mutter Eifersucht gegen Lilian ihr Herz ergriffen habe. Es war also eine Mädchenlaune, die er nicht tragisch zu nehmen brauchte.Und was sollte er sich damit beschweren, jetzt, wo er in Lilian einen Engel gefunden, der ihn durch die unheimlich düstere Zukunft geleitete und der nicht als ein unfaßbares Phantom vor ihm her schwebte, sondern in Fleisch und Blut an seiner Seite ging? Er konnte sich nur nicht erklären, warum trotzdem der zürnende Blick der Unerreichbaren ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.VIII.Im Pfrundgarten zu Dentenried saß, in die Medea des Euripides vertieft, Pfarrer Dengeler. Ein Wust von Papieren und Büchern bedeckte den Tisch, von dem 4 das mit einem angegrauten rötlichen Kranzbart umrahmte Gesicht des gelehrten Männchens sich nur erhob, wenn etwa eine Biene surr in kühnem Bogen aus einem Blütenbaum unter seiner Stumpf nase hindurch zum nächsten hinauf flog. Das war jeweilen, als wollte solch frohgemute Honigsammlerin ihm zurufen: „He, du! Merkst du eigentlich gar nichts 2*O nein, er merkte nichts von all der Herrlichkeit,die ihn umgab. Und doch saß er wie mitten in der Märchenwelt. In zarter Dämpfung fiel das Sonnenlicht durch die weißrosigen Blütengewölbe auf das in allen Winkeln sprießende, schwellende Gärtlein, während ringsherum die Löwenzahnwiesen in gelber Glut sprühten und am tiefblauen Himmelsdom ein silbernes Wolkengefetz majestätvoll dahinfloß. Dazu das tausendfältige Summen und das Aufjauchzen der Vögel!

Herr Dengeler feilte am Schlußchor seiner MedeaÜbersetzung, da ... was war das? Durch das Summen und Cirilieren klang ein Con aus lang entschwundener seliger Jugendzeit. Deutlich hörte er: post jucundam juventutem, post molestam senectutem. ..“Pfarrer Dengeler blickte in die summenden Baumkronen und lauschte.

„Herr, mein Gott!“ entglitt es leise seinen Lippen.Da sprangen am Pfarrhaus auch schon die Fenster und Türen auf, und aus allen Löchern stürzte die Freude heraus. „Der Franz! Der Franz!“ scholl es uberall hervor. Die ganze Pfarrfamilie versammelte sich vor dem Haus auf der Straße, wo man eben ein Cruüpplein singender Studenten aus dem Hohlweg auftauchen sah. Allen voran kam Franz Dengeler auf seine Eltern zugerannt. Die übrigen, Marcel Delierre, Heini Tillmann und Berni Bär, genannt Mirabeau, kamen eben noch zeitig genug an, um die Freudentränen in den Augen von Franzens Eltern blinken zu sehen. Das war ihnen durchaus nichts Befremöliches; denn was sie hinter sich hatten, war ein Kampf gewesen, um dessen Ausgang Eltern und Söhnen bange geworden.Zu jener Zeit nämlich lagen die Anhänger der klassischen Bildung und die auf das praktische Teben gerichteten Realisten einander arg in den Haaren, und die Kriegskosten trugen die armen Maturanden. Nie waren diese des Ehrentitels „Maulesel“ würdiger gewesen als damals; denn ohne Rücksicht auf ihre geistige und physische Tragkraft wurde den jungen Leuten von beiden Seiten ein Unmaß von Teistungen zugemutet.Dafür nahmen sie aus ihrer Gymnasialzeit aber auch den Segen eines ersten harten Kampfes mit ins Leben hinaus. Der freiheithungrige Mirabeau hatte sich mit Ach und Krach durch die Prüfung geschlagen und sah heute gar nicht mehr bahnbrecherisch aus. Otto Tremp war des Lebens Ernst bereits dermaßen zum Bewußtsein gekommen, daß man ihn einem frohgemuten Waadtländer in Pension gab, der ihm in einemfort zureden mußte: „Ach nein, mein lieber jsunger Freund, so schlimm ist ja das Leben gar nicht.“

Als das Freudenglöcklein nicht mehr Gefahr lief sich zu überschlagen, zog man in den Garten, wo Euripides den tannenen TCisch bald einem blinkendem Kollegium von Bierflaschen überlassen mußte. Marcel Delierre entwischte ob dem Anblick der griechischen Lettern ein für Pfarrgärten durchaus unpassender Ausruf.Papa Dengeler lachte hellauf, spielte aber im Namen des klassischen Altertums den Beleidigten und hob den Fehdehanoschuh kampfeslustig auf: „Ei ei, Herr Delierre,das ist ein Sakrilegium.“

Marcel, auf dessen hübschen Zügen die freudige Erwartung des freien akademischen Lebens das Übernächtige bereits verdrängt hatte, wies mit wegwerfender Gebärde auf die alten Bücher und sagte: „Diese Schiffe haben wir hinter uns verbrannt, die Quälerei hat ein Ende.“

Während sich, nur durch gelegentliches Zutrinken unterbrochen, ein Geplänkel zwischen dem Pfarrer und den Freunden seines Sohnes entspann, hatte der versonnene Heini Tillmann seine Nase in die „Medea“gesteckt.

Da klappte ihm Mirabeau, der sich schon unterwegs an seiner Träumerei gestoßen, das Buch zu, gab ihm einen Bor und rief unter dem zustimmenden Gelächter der kleinen Tafelrunde: „Du!“

Tillmann mußte selbst mitlachen, warf den Kopf in den Nacken und gönnte seinen müden Augen nun auch wieder die Herrlichkeit des Frühlings.

„Und Sie?“ wandte sich Pfarrer Dengeler an Heini,der die Frage nicht begriff und darob erst merkte, wie weit ab er mit seinen Gedanken gewesen. Auf ein erneutes Gelächter wiederholte der Pfarrer: „Es heißt,Sie werden sich der Cheologie zuwenden ?“

„Und er weiß schon eine Pfarrfrau,“ platzte Delierre heraus. Blutrot übergossen, antwortete Tillmann:„Ich hätte Lust dazu, aber ich weiß noch nicht ...“Man wartete nicht auf die Vollendung von Heinis Antwort. Das Gespräch sprudelte weiter, und Papa Dengeler machte sich einen Spaß aus dem entbrannten Streit zwischen Humanisten und Realisten. Wie ein gepolsterter Fechtmeister fing er spielend die Hiebe und Stiche es waren ja eigentlich mehr Huftritte von Mauleseln auf. Und wenn er einmal selbst ausfiel,so wußten die Jungen nur schlecht zu parieren. „Praktisch wollt ihr sein,“ sagte er. „Ihr meint, das bedeute Geld zusammenraffen; viel konsumieren heiße viel genießen. Ich aber sage euch: Stark lebt, wer wenig braucht. In vollen Zügen genießt, wer nichts hat.“

„Vide exemplum!“ rief der übermütige Mirabeau dazwischen, indem er dem Pfarrer das leere Bierglas hinhielt.

„Ganz recht,“ antwortete der alte Herr. Er erhob sich, in der Rechten eine Bierflasche. Mit dem Zeigefinger der Linken suchte er seinen Worten Nachdruck zu verschaffen. Er sah aus wie Einer, der seinem Hündlein den Zuckerbrocken hochhält, um ihm das Männchen*

24 machen beizubringen. Und während der Schaum aus der Flasche quoll und in großen Flocken auf den Tisch tropfte, fuhr er fort: „Sehr richtig, Mirabeau, aber was verschafft Ihnen den größern Genuß, der Besitz des Getränkes oder das gelassene Vertrauen, daß Ihnen von dem köstlichen Nektar, der hier zu Ihrer Augenweide überquillt, das bekösmmliche Maß zufließen werde?Geben Sie mir zu: die Erwartung die vertrauensvolle erquickt, während das unvermeioliche Zerfließen des Besitzes unter Ihren Händen Sie mit Bedauern und Sorgen erfüllen muß. Das eben ist die Tragik des materiellen Lebens, daß es seine Befriedigung nur im Verzehren, also eigentlich im Vernichten findet und immer das Ende nahen sieht. Unsere große Täuschung besteht eben darin, daß wir dieses verzehrende Genießen für das Leben halten, während das reale Leben in der Unabhängigkeit vom verzehrenden Genuß besteht,im Suchen und Schaffen unvergänglicher Werte.“

Die sungen Leute fühlten gar kein Bedürfnis über den Sinn des Lebens nachzudenken. „Was nützt,“sagte Mireabau, „das vertrauensselige Erwarten, wenn darob der köstliche Trunk sich in Schaum auflöst und zur Erde sickert ?“

„Bravo,“ rief Delierre. „Ich meine, was das Leben lebenswert mache, sei nicht das müßige Warten, sondern der Kampf um die Güter der Schöpfung.“

Franz Dengeler wurde bange um die Autorität seines Vaters. Er schlug vor, die Zeit bis zum Mittagessen zu einem Bummel auf die Walmegg zu benützen, von wo man die kleinen Seen, die den Hauptreiz der Gegend ausmachten, sehe. Sowohl sein Vater, wie die Kameraden errieten Franzens Bedenken und lachten darüber, gingen aber auf seinen Vorschlag ein. Die Maienpracht war wirklich zu groß, als daß man auch nur den kürzesten Augenblick des Ausgeruhtseins unbenützt gelassen hätte.

In wenigen Minuten hatten sie den herrlichen Aussichtspunkt erreicht, auf dem der Schatten einer Linde zur Rast einlud. Hier blieb Heini Tillmann bei dem Pfarrer stehn, während die übrigen sich nicht enthalten konnten, an das Ufer des nächsten Sees hinunterzulaufen.

„Sie scheinen noch nicht so ganz entschlossen zu sein wegen der Cheologie?“ fragte Pfarrer Dengeler.

„Soweit es auf mich ankommt, doch, Herr Pfarrer.“

„Ist Ihr Vater nicht einverstanden damit ?“

„Ich habe es bis jetzt noch gar nicht gewagt mit ihm zu reden.“

„Oho!“ Sie vermuten also, daß Ihr Vater den Plan geradezu mißbilligen würde?“

„Ich fürchte, er würde für das, was Sie uns drunten im Pfarrgarten sagten, gar kein Verständnis haben.“

Der Pfarrer überlegte ein Weilchen, ob er Heini seine Hilfe anbieten solle. Dann sagte er: „Setzen Sie sich zu mir her, junger Freund. Sehn Sie, es ist ein gar zartes Ding um die Pietät gegenüber dem 130

Willen der Eltern. Aber in der Berufswahl kann nur eines entscheidend sein: der Zug des Herzens. Wer diesem Triebe Gewalt antut es geschehe in frommen oder genußsüchtigen Absichten der wird sein Leben lang nimmer zur Ruhe kommen. Darin, daß ein jeder bei dem Ausbau der Schöpfung an seine besondere Arbeitsstelle komme, besteht das Reich Gottes. Sie verstehn nun wohl auch, was es bedeutet, wenn Leute in frommer Aufwallung Sense und Hobel, Pinsel und Feder wegwerfen, um predigen zu gehen. Das ist Desertion, denn Gott braucht zur Offenbarung seiner Herrlichteit Bauern und Handwerker, Künstler, Gelehrte und Staatsmänner.“

Heini CTillmann kam es vor, als wollte ihn der Pfarrer vom Theologiestudium ablenken. Erstaunt warf er deshalb die Frage in seiner Rede Fluß: „Demnach wären wir im Irrtum, wenn wir mit Bewunderung lesen: Und sie verließen alles und folgten Ihm nach?“

„Durchaus nicht,“ antwortete der alte Herr schlagfertig. „„Sie verließen alles‘ will nur sagen: es galt ihnen nichts mehr. Dessen können Sie ganz gewiß sein,mein lieber Freund. Im Maßstab des Wachsens Ihrer Gotteserkenntnis verblaßt Ihr Interesse für das Vergängliche. Sie werden Ihren Beruf als Pfarrer oder als Ingenieur nur noch im Hinblick auf die Vollendung des Gottesreiches daher aber auch in vollendeter Zweckmäßigkeit ausüben. Also, mein Lieber,überlegen Sie sich die Berufswahl in aller Gelassenheit. Aber lautern Herzens müssen Sie dabei zu Werke gehen. Nur die reinen Herzens sind, werden Gott schauen.“

Der Nachmittag wurde mit Herumstreifen und Schwimmen zugebracht, und noch ehe sich am andern Morgen das unabsehbare Heer der Blütenkelche dem Frühlicht geöffnet, wanderten die vier muli singend und disputierend zwischen dem auf der höchsten Zinne sanft erglühenden Stockhorn und den schlummernden Wäldern des Zwieselberges dem Oberlande zu. Keiner von ihnen wog seine Worte, und mancher Hieb wurde mit arglosem Lachen hingenommen. Keinen quälte auf dieser seligen Morgenwanderung die Sorge der Berufswahl,trotzodem ein jeder von großen Dingen träumte. Heini nahm es als selbstverständlich, ja sogar recht willlommen hin, wenn bald dieser, bald jener ihn aufzog: „Du,Tilly, Ingenieur werden darfft du nicht, sonst verlierst du dich in der Kanalisation der Wolken oder du wirfst uns ganze Kiesfuder von der Milchstraße herab.“ Immer fröhlicher wurde die Wanderung unter der Mischung von Wohlbehagen nach überstandener Eramennot und himmelstürmender Zutunftsfreudigkeit. Man steigerte die Wonne des Entronnenseins durch unermüdliches Auffrischen der schlimmsten Schulerlebnisse. Man tauchte in die Nacht jener Widerwärtigkeiten, die den Brävsten die Jugend vergällen, um desto bewußter aufzufliegen in den rosigen Morgenhimmel der akademischen Freiheit. „Thalatta! Thalatta!“ jubelten die vier Wanderer,

X als zu ihren Füßen die in tausend Sternen flimmernde Blaufläche des Chunersees sich enthüllte. Er war ihnen das liebliche Symbol des Meeres, das nun eines jeden Kiel in eine neue weite Welt tragen sollte. Sie sehnten sich nach freier Fahrt, aber auch nach Sturmgeheul und Wogenprall.

Und hier trennten sich ihre Wege.

Auf freier Höhe sangen sie im Morgenwind ihr letztes gemeinsames Lied. Beifällig bestätigte das Echo des Bergwaldes ...... et habeat bonam pacem qui sedet post fornacem.“

Marcel Delierre wanderte Interlaken zu, Franz Dengeler und Mirabeau kehrten heimwärts und Heini Tillmann wanote sich nach Westen, um über die nächste Anhshe nach Elsigen zu marschieren. Die langersehnte Freude, seinen Vater mit dem Maturitätszeugnis überraschen zu können, beflügelte seinen Schritt. Heini hatte ihn absichtlich im Glauben gelassen, daß das Eramen eine Woche später stattfinde.

Das Geräusch plumper Schritte schreckte den einsamen Wanderer auf. Es war ein Trupp von Arbeitern,die rasch den Berg herunter kamen. Sie trugen ihr ärmliches Handgepäck und blickten finster.

Jawohl vermöchten sie's,“ hörte Heini den ältesten unter ihnen sagen, „aber sie meinen, sie verdienen nicht genug an unsereinem. Jüngere brauchten sie, heißt es.

Aber der Wit ist, daß ihnen die CTschinggen halb umsonst schaffen ...“ Das Weitere verstand Heini nicht mehr. Er konnte sich indes den Zusammenhang schon erklären. Die Begegnung deutete auf die Nähe des Werkplatzes seines Vaters. Bald verriet ein dünner Cokomotivpfiff dem Studenten, wo er die Hauptarbeitsstätte zu suchen habe. Ein Karrweg bog ab und führte ihn durch eine Mulde auf einen kleinen Vorsprung,um dessen Fuß eben ein Schotterzug sich wand. Weithin dehnte sich im hellen Sonnenlicht die Kiesaufschüttung,und ein hundertfältiges rastloses Pickeln und Schaufeln, Rollen und Rasseln mischte sich mit dem majestätvollen Rauschen des Flusses, der längs dem erstehenden Bahndamm seine gelbgrünen Schaumwogen durch das Wirrsal von Felsblöcken und Büschen wälzte. Emsig liefen Italiener in braunen Samthosen und leuchtend roten Leibbinden hin und her. Und dort drüben ja das mußte er sein stand die martialische Gestalt Hans Tillmanns am Theodolit. Er trug einen mächtigen Kalabreserhut, der im Verein mit dem großen Vollbart und den unsorgfältig gewickelten Wadenbinden dem Manne etwas fast Räuberhaftes gab. All seine Gebärden verrieten, daß er des raschen Gehorsams seiner Leute gewohnt war, und vergeblich hätte Heini auf der ganzen weiten Strecke einen rastenden Mann gesucht. Er stieg vollends auf den Damm hinunter und lief, mit wachsender Hast alle Hindernisse gewandt überkletternd, der Rampe entlang auf den Gesuchten zu.Wohl odreißig Schritte noch hatte er zurückzulegen, als seine Hand schon das gewichtige Zeugnis in der Busen tasche lockerte. Die Überraschung noch zu steigern, wollte Heini von hinten an den in seine Arbeit Vertieften herantreten. Noch drei Schritte. Das Papier flog heraus.„Vater! grüß dich Gott, Vater!“ Da wanote sich der mächtige Mann um. Ein Blick unwilligen Staunens traf den Sohn und dann die knurrende Frage: „Was willst hier?“ Heini war, als hätte man ihm eine Schaufel voll Erde ins Gesicht geworfen. Mit einem jähen Schatten auf dem freudeverklärten Antlitz streckte er seinem Vater das Zeugnis dar. Der entfaltete es,Gutes ahnend und doch mit der Gebärde des Tanodjägers, der eines Walzgesellen Schriften prüft. Dann kam ein verhaltenes Schmunzeln in das bärtige Gesicht.Mehrmals durchging Hans Cillmann das Dokument,ehe er es Heini zurückgab und sagte: „Brav. Ich gratuliere. Wart' einen Augenblick, dann komm'ich mit dir.“

Heini trat einige Schritte zurück, während sein Vater über den Meßtisch gebeugt, seine Kontrollarbeit fortsetzte. Aber das Warten gestaltete sich hier recht unbehaglich. Einen Schritt nach links kam er dem Meß-gehilfen in den Weg, zu seiner Rechten liefen auf knarrenden Brettern die mit Schubkarren hastenden Teute. Zu sinnendem Betrachten gab's hier keinen Raum. Handanlegen als erakt eingeschaltetes Glied in der rasselnden Kette oder fort! Daß Hans Cillmann sich nicht die Freiheit gönnte, seine Arbeit zu unterbrechen, war von weitem zu erkennen. So trat sein Sohn zögernden Schrittes von dem Damm herunter. Er setzte sich auf einen in den Fluß vorspringenden Felsblock und ließ seine Blicke in das lichtfunkelnde Spiel der Woge tauchen, die wild aufschäumend um die Rundung des Blockes in einen grün quirlenden Trichter hinunterschoß. Das melodische Tosen übertönte das Knirschen des Werkplatzes und wirkte beruhigend auf des jungen Mannes Gemüt.

Der gewaltige Schatten des Niesen hatte den Fluß überschritten, und ein scharfer Abendwind umfing den Träumenden, als ein Stein dicht an ihm vorbei in die Wellen schlug. Des Vaters derbe Hand hatte ihn geschleudert, weil Heini alle Zurufe überhört hatte. Vater Tillmann winkte, und nun stiegen sie über Kieshaufen und schwankende Bretter zur Tanöstraße hinüber, die das Dörflein Elsigen streifte. Auf dem Wege dorthin merkte Heini, daß sein Vater während der Arbeit doch noch einige Gedanken für ihn erübrigt hatte. Sobald die Straße das Nebeneinandergehen gestattete, hub Hans Tillmann an: „Es trifft sich gut. Morgen kommt der Oberingenieur, da können wir gleich erfahren, wie man's anstellen muß, um im Polytechnikum das richtige Trom zu erfassen. Es ist lang gegangen mit dem Examen.“

Heini schwieg.

„Hast du dich erkundigt, wo man sich anschreiben muß ?“„Man braucht sich nur auf der Kanzlei einzutragen,“brachte der Junge mühsam heraus.von CTavel, Seinz Tillmann.

Nach einer Weile sagte Vater Tillmann mehr zu sich selber als zu Heini: „Man muß bloß sehen, was zu machen ist, daß du mit dem Militärdienst mõglichst wenig Zeit verlierst.“

Erquickend fiel dann in das mit immer gleichartigen Erwägungen fortgesetzte, fast nur einseitig geführte Gespräch das liebenswürdige Geplauder der Wirtin zum „Wilhelm Tell“, für die Heini aus seiner Crübsal heraus sofort eine dankbare Neigung erfaßte. Fast glaubte er, der Abend werde sich noch zum Bessern wenden, als sein Vater der lustigen Oberländerin erklärte, heute gelte es, einen guten Cag zu feiern, man wolle das Examen seines Sohnes ein wenig begießen. Der Vater freute sich also doch. Aber ... war nun diese Freude nicht anders kundzugeben? Ein verstohlener Blick auf das wetterbraune Gesicht und die eigentümlich geröteten Augen des Unternehmers machten Heini bange. Im guünstigsten Fall wurde nach dem Abendessen der Vater etwas gemütlicher, und vielleicht fand sich dann auch ein Augenblick des Alleinseins, in welchem es sich wagen ließ, von Neigung und Begabung zu reden.

Die Wirtin ließ sich's Mühe kosten. Gut und reichlich ward aufgetragen, und Heini würde es mit Genugtuung erfüllt haben, daß seinethalb so vergnügte Gesichter auf den Tisch blickten. Es waren noch Angestellte der Unternehmung da: Zeichner und Buchhalter.Man trank dem jungen Herrn Tillmann zu, und die le3 Wirtin ging mit ihm um, als wäre er ein Sohn des Hauses. Sie hatte in ihrem Wesen auch wirklich, was Heini lange und schmerzlich entbehrt: etwas mütterlich Zärtliches. Und das fand bei dem Jüngling um so leichter Eingang, als er es nicht wie Konfitüre aufgeschmiert bekam, sondern in ganz natürlich gewachsener Scherzrede. Frau Chönen war trotz des gewöhnlichen Werktags geschmackvoll gekleidet, sehr einfach, schwarz.Von geschmeidiger Gestalt, bewegte sie sich wie ein Wiesel, vermied im Auftragen alles unnötige Klirren und Klappern. Man wußte nicht, was einen an ihren Antworten mehr einnahm, der lustig sprudelnde Oberländerdialekt oder die gutmütige Schalkhaftigkeit.

Nachdem das Essen abgetragen war, ließ Hans Tillmann sich behaglich in eine Sofaecke plumpsen, hieß Heini neben ihn kommen und bat die andern Herren noch zu einer Flasche. Es sah alles höchst gemütlich aus, von den ausgestopften Vögeln und alpinen Nagern an den rohtannengetäferten Wänden bis zum zufrieden leuchtenden Gesicht Hans Tillmanns, der ohne Zweifel über den Tisch weg seine Zukunftspläne spann.

„Bub, du machst mir Freude,“ sagte er einmal und schlug mit seiner schweren Hand Heini auf den Oberschenkel, daß es knallte.

„Wenn doch diese Laune anhielte, bis ich ihn allein habe!“ dachte Heini. Aber dazu war wenig Aussicht,denn der Vater fuhr fort: „Trink aus, Heini, es langt noch zu einer Flasche!“

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Vater Tillmann war von gewaltiger Kraft, und das Leben an der frischen Bergluft machte ihn ohne Zweifel noch widerstandsfähiger. Aber in der Erinnerung an jenen traurigen Sonntag in der Känelmatt wurde Heini doch bange, und er beobachtete mit Sorge,wie die geröteten Augen zusehendos glasiger wurden.Er merkte, daß die Wirtin seine Befürchtung teilte,und hätte ihr um den Hals fallen mögen, als sie in später Stunde, nachdem die andern Gäste sich verzogen hatten, wieder hereinkam und mit einem Blick auf die Wanduhr mahnte: „Herr Tillmann, morgen ist auch ein Cag und die Herren von Bern kommen wohl schon früh. Stören will ich nicht, aber .....“

„Cja!“ rief Cillmann und schnellte auf. Und nun sah Heini deutlich, daß seines Vaters mächtige Gestalt nicht mehr fest auf den Füßen war.

Wild klopfte dem Züngling das Herz, als er dem Vater auf der schmalen Treppe in den obern Stock folgte. Er würgte an seinem Geständnis. Nun trat der Vater in sein Schlafgemach. „Gut Nacht, Bub!“ sagte er und zündete die Kerze auf dem Nachttisch an. Als er, des Winozugs wegen, die Cüre zuwerfen wollte,stieß diese an Heinis vorgeschobenen Fuß. „Vater,“würgte der Junge heraus, „ich wollte dir noch etwas sagen. Ich ... was würdest du dazu sagen, wenn ich statt Ingenieur Pfarrer studierte?“ Es war heraus. Heini staunte selber. Er fühlte sich nur noch halb vor Aufregung. Seine Hand zitterte an der à/

Türfalle. Unheimlich blinkte das Kerzenlicht in des Vaters Augen.

„Mach', daß d ins Bett kommst, Bub! Gelt!“

Ein glucksendes Lachen erscholl aus dem Weindunst hauchenden Munde. „Gelt, so viel ‚Glacier' hast noch nie getrunken, Bub. Gut Nachtt“ Damit drückte Vater Tillmann die Türe ins Schloß. Heini wankte seinem Zimmer zu. Ja, soviel Wein hatte er noch nie getrunken, sonst würde er heute Nacht nimmermehr dem Schlaf in die Arme gefallen sein.

Als' der Mulus am andern Morgen nicht mit dem allerfrischesten Kopf erwachte, war sein Vater längst fort. Während des Frühstücks, bei dem ihn Frau Thönen mit rührender Fürsorge bediente, hörte man schon wieder die dünne Pfeife der Feldlokomotive und das Rollen der Schotterzüge. Die Wirtin zog ihren jungen Gast in ein Gespräch, wobei sie mit sichtlicher Anteilnahme nach der Familie, nach der Känelmatt und namentlich nach der Krankheit und dem Code der Mutter Tillmann sich erkundigte. Sie wollte auch wissen,was Heini nun vorhabe. Er werde jedenfalls in des Vaters Fußstapfen treten, meinte sie. Und das sei auch recht. Wenn er, Heini, wüßte, wie stolz der Vater auf ihn sei und was alles er von ihm erwarte,so könnte er sich wohl was darauf zugute tun. Potz tausenod!

Heini überlegte sich seine Antwort wohl. Sollte er der Frau, die offenbar einen gewissen Einfluß auf den

Vater ausübte, seine Sorgen anvertrauen? Nun,etwas mußte gewagt sein, und so platzte er heraus:„Ob mein Vater auch in Zukunft mit mir zufrieden sein wird, ist eine andere Frage. Ich will nämlich Pfarrer werden.“ Da wußte sich die Wirtin nicht zu fassen vor Erstaunen. „Ja nun,“ sagte sie, „das ist schließlich auch ein schöner Beruf. Hab' doch manchmal gedacht, wenn ich Söhne hätte, es müßte mir einer Pfarrer studieren. Aber Herr Tillmann wird sich wundern über Ihren Entschluß.“

Frau Chönen lud Heini ein, doch ja im Sommer mit seiner Schwester nach Elsigen heraufzukommen.Und heute sollte er jedenfalls sein Mittagessen hier einnehmen, es solle ihn nicht gereuen, sie könnten dann noch eins brichten miteinander. Mittags komme gewöhnlich Herr Tillmann nicht herauf. Wahrscheinlich esse er drunten mit den Ingenieuren.

Heini versprach wiederzukehren. Dann wanderte er langsam dem Werlplatz zu. Es war kein leichter Gang,denn heute noch mußte er mit der Sprache herausrücken.Er wollte den Arbeitsplatz umkreisen und den richtigen Augenblick erspähen und sollte es bis zum Abend gehen. Der Vormittag verstrich, ohne die erwünschte Pause zu bieten. Als aber mittags das Signal „Ende Arbeit“ erscholl, schritt Heini behende jener Stelle zu,wo sein Vater vom Damm herunterkommen mußte.Er fand ihn auch richtig dort.

„Kommst endlich auch zum Vorschein, Sieben schläfer?“ begrüßte ihn der Alte lachend. Heini brachte nun vor, daß Frau Chönen ihn zu Tisch geladen habe,und fragte nach des Vaters Absichten. „Dummheiten!“sagte der. „Jetzt gehn wir zum Reichensteinwehr. Von dort fährt in einer Viertelstunde ein Dienstzug nach Spissendorf hinauf. Dort können wir dann mit den Ingenieuren von deinen Plänen reden.“ Wußte er denn nichts mehr von gestern Abend?

Kleinlaut schritt Heini an des Vaters Seite, der ihn fragte, was er den lieben langen Morgen hindurch getrieben habe. Nun rühmte der Jüngling die Liebenswürdigkeit der Wirtin.

„Jawohl ist sie liebenswürdig,“ lachte Hans Tillmann derb heraus. „Das hat seinen guten Grund.Donner auch! Du darfsft es eigentlich auch wissen,Heini. Weißt, Frau Thönen hat nur einen Gedanken:Heini Tillmanns Stiefmutter zu werden. Und ich sag's dir grad frei heraus: Sie gefiele mir nicht schlecht. Ist eine tüchtige Wirtschafterin, wohldenkend, und daß sie eine gefreute Lebensgefährtin sein würde, hast du wohl selber gemerkt, was? Aber weißt, warum ich mir's versage und allein meines Weges weitergehe, trotzdem es mir manchmal verdammt schwer wird?“ Tillmanns Stimme hatte einen ganz besonders ernsten Klang bei diesen Worten. „Deinetwegen und deiner Schwester wegen. Ihr sollt nicht eine Stiefmutter ertragen müssen, nur weil ich es nicht fertig brächte,meinen Weg allein zu gehen.“

„Aber, Vater,“ versuchte Heini einzuwenden, „so schlimm würde es uns wohl dabei nicht gehen.“

„Der Mensch hat nur eine Mutter, und die ist nimmermehr zu ersetzen. Die Stiefmutter nähme euch auch noch den Vater weg. Und dann ..... Nein, es bleibt dabei. Viel vermag ich euch nicht zu hinterlassen.Aber daß ihr wenigstens einen Vater, einen ganzen,treuen Vater gehabt habt, sollt ihr einst wenn es uberhaupt ein Wiedersehn gibt der Mutter bezeugen müssen. Will's Gott, wird mein Wagen, Sorgen und Schaffen nicht umsonst sein. Dir, Heini, will ich einen guten Weg ebnen. Du wirst mir's einmal noch danken.Jetzt verlange ich von dir nichts als ein bißchen Vertrauen. Schau, ich kenne Welt und Menschen und will dir's gut einrenken. Vorderhand schenk mir nur Vertrauen und werk' mir nichts in die Quere. Mein Lebenswerk ist darauf zugerichtet, daß du kraft deiner besseren Ausrüstung es vollendest. Versagst du, so habe ich umsonst gelebt. So, da sind wir. Maattei, stellen Sie uns auf dem Wagen eine Kiste zurecht! Wir fahren mit.“

Auf einem leeren Bahnwägelchen wurde ein Sitz hergerichtet. Dann stiegen sie auf und fuhren mit einer Schar bestaubter Arbeiter auf der holperigen Dienstbahn Spissendorf zu, wo Heini Tillmann von den npeieen wertvolle Winke für „seinen“ Studienplan erhielt.kéß0

IX.Nacht war's, eine dunkle laue Maiennacht. Unverhüllt glitzerte das Heer der Sterne. Kaum ließen sich die riesigen Walme der uralten Alleen unterscheiden,mit deren geheimnistiefem Rauschen sich stoßweise,fernem Donner ähnlich, die Brandung am nahen Ufer mischte.

Auf einem Außenposten der Kaserne von Colombier schritt ein junger Füsilier mit geschultertem Gewehr auf und nieder. Warum Heinrich Cillmann seine militärische Lehrzeit just hier absolvierte? Es war seines Vaters Wille. Zur Infanterie! hatte sein Entscheid gelautet, weil sich in dieser Waffe der Dienst in der kürzesten Zeit ableisten ließ. Nach Colombier! Weil sich dort Gelegenheit bot, durch die Üübung im Franzs-sischen praktischen Autzen aus der unvermeidlichen, Zeitvergeudung“ zu ziehen. Heini selbst hatte sich nicht widersetzt, dachte er doch, daß der längere Dienst in einer Spezialwaffe, in die ihn die Caufbahn des Technikers gewiesen hätte, erst recht verlorene Zeit geworden wäre, falls es ihm doch noch gelang, zur Cheologie einzulenken. Er war ein schöner und braver Soldat,ein gutes zuverlässiges Element in der Gesellschaft der WelschJurassier. Aber die Instruktoren glaubten, er habe Heimweh, weil er oft nicht bei der Sache war.Der Dienst bot Heini nur zu viel Gelegenheit, seinen

Gedanken nachzuhängen. Nächtliche Wachen wurden zu Stunden des Leidens. Seine Pläne waren über den Haufen geworfen; aber vernichtet waren sie nicht.Hätten sie nur in seinem Kopf gelegen, gestützt durch das Verlangen nach den Außerlichkeiten des Pfarramtes, so hätte der junge Mann den Verzicht darauf sicher zustande gebracht. Aber jetzt fühlte er, wie tief das Sehnen nach einer Lebensarbeit in ihm wurzelte,die das, was seine Seele ausfüllte, sich fruchtbar auswirken ließe. Statt dessen mußte er nun mit auf dem Rücken gebundenen Händen gehen, die Last eines aufgezwungenen Berufes tragen. Nicht einmal aufsehen durfte er unter dieser Last. Warum? Weil ein Durchsetzen seines Willens heute schon ihn von seinem Vater getrennt hätte. Heini wollte und mußte an des Vaters Seite bleiben, weil in ihm die Mutter mit ihren gottwärts gerichteten Blicken fortlebte und weil der Vater am Rande eines Abgrundes schritt.

Im schwarzen Schlunde der Allee kollerten Kieselsteinchen, menschliche Tritte verratend.

Heinis Gewehr flog in die Fertigstellung. „Halte,qui vive?“ scholl kräftig sein Ruf in das Föhnsausen.

„Ronde!“ antwortete es zwischen den Stämmen.

„Mot d'ordre!“

„Persévérance.“

„Passezl!“

Bald hatte das Windesrauschen die Schritte verschlungen. Heini durchlief ein seltsamer Schauer. Blitz 171 schnell reihten sich seine Gedanken. Er trat tiefer in die Allee, wollte sich ũberzeugen, ob ein leibhafter Mensch vorübergegangen, ihm das Paßwort zugerufen habe. War es ein Erlebnis, war es ein Traum, was seine Reflerionen unterbrochen hatte? „Persévéran-ce et sincérité.“ Standen nicht diese Worte über dem Schloßtor zu Prankenau? Deutlich sah Heini Tillmann wieder die zürnenden Blicke Antoinettes. Er hörte ihren Protest wider Frau Dorotheas Vorhaben.Kein Zweifel, Antoinette nahm Anteil an seinen Sorgen. Vielleicht tieferen Anteil als ihre Freundin, die so rasch zu allem Guten bereit war. Aber ..... da gähnte ja doch die tiefe Kluft. Ein Mensch, der sich durch Pietätsgefühle die Hände auf den Rücken binden ließ, wie sollte der die Türen der altersgrauen Standesordnung einrennen! Lebhafter schritt der Wehrmann aus. Ob seinem endlosen Hin und Hergehen klärte sich immer mehr die Überzeugung, daß er verurteilt sei, sich mit dem Erreichbaren abzufinden.So nur konnte er ohne Zwiespalt an der Seite seines ringenden Vaters bleiben.

*Unter dem wunderlichen Barokgiebel eben jenes Cores mit dem schönen Wahlspruch standen an einem Samstag abend zwei Gestalten, die sehr ungleich in den feudalen, moosbewachsenen Rahmen paßten. Der Humor des Zufalls hatte die schlanke Frau Dorothea von Guldwang unter die Überschrift Persevésrance gelockt, den schwerfälligen Doktor Muffler unter das Wort Sincéritée. Herr Scipio, der das bemerkt hatte, lächelte still in sich hinein, als er, heimkehrend, zu den beiden stieß.

„Der Herr Hauptmann scheint ja sehr vergnügt zu sein,“ sagte der Arzt, der sich die heitere Miene des alten Herrn ganz anders erklärte. Frau von Guldwang hatte nämlich den Arzt für ihren von schlaflosen Nächten gequälten Onkel rufen lassen und war sehr aufgebracht gewesen, als Onkel Scip sich dem Besuch durch einen Streifzug in den Wald entzogen hatte. Statt auf des Arztes komische Drohgeberde zu antworten, deutete der Herr von Prankenau mit seinem Spazierstock auf die Inschrift und sagte: „Da trägt jedes von euch beiden die richtige Überschrift. Es fehlt bloß noch die gemeinsame reservatio mentalis: Soweit es mir konveniert.“

Frau von Guldwang und der Arzt blickten sich etwas verblüfft an, als wollte jedes das andre fragen: „Willst du ihm herausgeben?“ Über das schlecht rasierte, gedunsene Gesicht des Arztes glitt eine schalkhafte Neugier. Sein schmallippiger Mund zog sich in die Breite.Falten legten sich in rundem Schwung um die Mundwinkel, und die Äuglein zwinkerten unter den wulstigen Deckeln. Er freute sich auf die Antwort seiner schönen Partnerin. Was die betraf, so gab er Herrn Scipio in seinem Herzen recht. Ob er sich zugestand, daß auf ihn selbst die boshafte Bemerkung ebenso sicher zutraf?

„Onkel Scip, Sie sind sehr unartig mit uns,“schmählte Frau Dorothea. „Ich gebe mir so viel Mühe mit Ihnen, und der Dolktor, der doch auch kein Jüngling mehr ist, kommt von Kilchwehrlen heraufgelaufen..“

„Ist ja auch gar nicht umsonst gekommen. So unhöflich bin ich nicht, daß ich ihm das zumutete. Da,Doktor, kontrollieren Sie das alte Pumpwerk!“ Herr Scipio hielt dem Arzt seine hagere Hand hin. „Und wenn meine Zunge Sie interessiert...“ Damit sperrte der alte Herr seinen Mund weit auf und schnitt dem Doktor eine Grimasse, deren Wirkung er vor fünfzig Jahren im übermütigen Kreise der jungen Diensttameraden ausprobiert hatte.

„Wenn Sie nun aber wieder nicht schlafen, Onkel,so mag ich dann keine Klage hören.“

„Klagen? Haben Sie mich je jammern gehört,Dorothea ?“

„Nun, wie Sie eben zu jammern pflegen. Richtiger wäre es schon zu sagen: aufbegehren und sogar ...“

„Doktor,“ unterbrach sie Herr Scipio, „lassen Sie sich auch von meiner Nichte die Zunge zeigen, aber schnellt Übrigens, damit Sie nicht umsonst gekommen sind, sollen Sie meine Diät genehmigen. Das Rezept gegen Schlaflosigkeit weiß ich noch aus früheren Jahren auswendig: Bewegung in frischer Luft und vor dem Zubettgehen ein Glas Vittorio oder zwei,kredenzt von schöner Hand. Kommen Sie, Doktor,es wäre mir doch lieb, wenn Sie die Mirtur zu aller

Sicherheit noch selber kosteten.“ Der Spaßvogel bot dem Doktor den linken, seiner Nichte den rechten Arm und wollte sie ins Schloß führen; aber beide wichen ihm aus.

„Ich danke, Herr Hauptmann,“ sagte der Arzt.„Da Sie meiner überhaupt nicht bedürfen, will ich wenigstens die nicht warten lassen, die sich weniger gut aufs Doktern verstehen. Und da ich ohnehin grundsätzlich .....“

„Aha ja ja. Natürlich! Sie sollen ja noch meinen lieben Nachbar, den Saufbold in der Känelmatt,retten. Also viel Vergnügen, lieber Doktor! Hahaha hahaha ...“

Der alte Herr zog einen Zweig des üppig blühenden Fliederbusches von der Umfassungsmauer an die Nase und spazierte dann dem Schloß zu. „Mille tonnerres?‘,sagte er halblaut vor sich hin, „die Welt ist doch gar nicht so, wie die meinen. Da läßt der liebe Gott solche herrliche Sachen wachsen, und nun gehn sie und gründen Vereine, um sich einzureden, daß man so was meiden soll! Hahaha. Statt solche canailleuse Kerls ruhig ihrem Schicksal entgegenreifen zu lassen! So was korrigiert sich von selbst.“

Frau Dorothea war verstimmt. Sie hatte freilich den Arzt um ihres Oheims willen rufen lassen; aber die Hauptsache war ihr gewesen, daß er ihr über seinen Besuch bei Hans Tillmann berichten sollte. Nach längerer Beratung mit Herrn Fernand war sie nämlich zum

Entschluß gekommen, den alten Arzt in die Känelmatt zu senden, um, wenn moglich, den gefährdeten Nachbar zu einem Abstinenzgelübde zu bewegen. Sie hatte es damit sehr ernst genommen, war es doch ihr Vorsatz,durch ein gutes Werk an Heini ihrem Leben einen Inhalt zu geben. Sie wollte gewissermaßen diesen gut veranlagten Menschen dem lieben Gott erhalten. Und selber wollte sie das tun. Darum mied sie den Rat der erfahrenen Blaukreuzleute, die ihr vermutlich das Werk und damit auch Verdienst und Genugtuung aus der Hand gewunden hätten. Nun hatte ihr der Arzt eben erzählt, wie er vorgegangen. Vorsichtig tastend und freunöschaftlich ratend hatte er sich einmal auf dem Weg von der entfernten Bahnstation nach dem Dorf Kilchwehrlen an Tillmann herangemacht, von dem hohen Nutzen des Blauen Kreuzes gesprochen und dann versucht, den Gefährdeten zum Anschluß zu bewegen. Hans Cillmann, der den Arzt sehr schätzte, war zu dessen Verwunderung mit vollem Verständonis auf die Sache eingegangen. Er bestätigte, daß die Abstinenzbewegung namentlich für die Arbeiterschaft von unschätzbarem Wert sei. Er gab sogar zu, daß das gute

Beispiel der leitenden Personlichkeiten Wunder wirken müßte, ermangelte dann aber nicht beizufügen, daß er selber vorderhand sich zu nichts verpflichten könnte,weil ihm die Enthaltsamkeit in seinen geschäftlichen Connerionen sehr hinderlich wäre.Aber wahr bleibt es,“sagte er, bevor sie auseinandergingen, wobei er dem Arzt mit einem listigen Augenzwinkern die Hand auf die Schulter legte, „das gute Beispiel der obern Zehntausend könnte sehr viel ausrichten. Sagen Sie doch das gelegentlich Ihren Freunden im Schloß Prankenau.Ich ließe sie grüßen und ihnen versichern, daß ich ihnen nie mehr Gelegenheit bieten werde, mich zu überfahren; dafür sollen sie sich aber nicht noch einmal unterstehen, Hans Tillmann retten zu wollen. Die uübermütigscheinheilige Sippschaft soll vor der eigenen Türe kehren. Dort sollen sie sich den Himmel verdienen.“

Doktor Muffler beschränkte sich darauf, Frau Dorothea von den vernünftigen Anschauungen Tillmanns zu erzählen. „Aber ich muß Sie bitten, mir das weitere ganz zu überlassen. Wir dürfen eins nicht vergessen:Ein freier Mensch läßt sich nicht gern von einem leiten,der nicht unter den gleichen Lebensbedingungen steht.Und ehe wir einen Mann gefunden haben, der wenigstens einigermaßen die Verhältnisse Tillmanns teilt, werden wir kaum zum Ziele kommen.“

Damit verabschiedete sich der Arzt, und Frau Dorothea kehrte mißvergnügt in den Schloßhof zurück.**

*

Herr Scipio von Guldwang saß an seinem Frühstückstisch auf der Terrasse des Schlosses. Die gelb gestreifte Marquise dämpfte das Geglitzer des kostbaren Geschirrs. Draußen aber flutete das Sonnenlicht, durch keine Wolke gehemmt, über das Taugeschmeide des Gartens. Im Schattengewölbe der in tausend weißen und roten Kerzen blühenden Kastanienriesen blinkte verstohlen der Teich. Aus dem in Sommeroduft schwimmenden Tale herauf, riefen voll frommer Melodie die Kirchenglocken von Schöchwiler.

Frau Dorothea hatte ihr Gesangbuch auf den Tisch gelegt, stand am Rande des Perrons und knüpfte sich die Handschuhe ein, während Antoinette ihrem Großonkel auf dem Glutbecken der „Servante“ Brotschnitten bähte.„Also!“ sagte Frau von Guldwang mit einem letzten prüfenden Blick auf die beiden zurückbleibenden TCischgenossen. Diese verstanden, was in dem Worte zusammengefaßt war, nämlich: „Ich verlasse mich darauf,daß ihr beiden schön brav seid.“ Eine laute Antwort bekam Frau Dorothea nicht; aber vier gesenkte Augendeckel schrieen ihr ein sehr gedehntes „Ja“ zu. Und weil nunmal selbst eine Siegerin kein Behagen daran findet, wenn ihre rauschende Schleppe mit dem Groll ihrer Lieben beschwert ist, so trat die Gestrenge nochmals dicht an ihren Oheim heran uno blickte ihn mit dem ganzen Spielzauber ihrer dunklen Augen an, als wollte sie sagen: „Willst du wohl wieder artig sein,Brummbär?“ Aber Herr Scipio zuckte mit keiner Wimper, worauf Frau Dorothea ihren Sonnenschirm mit einem dumpfen Knällchen spannte und dem Ruf der Glocken folgte.von Tavel, Heinz Tillmann.

12 Eine Weile blieb es sehr still unter der Marquise.Jedes der beiden Zurückgebliebenen sah vor sich hin.Unversehens aber fanden sich ihre Blicke. Ein erlösendes Lächeln schmiegte sich um die Mundwinkel, dann erhob sich Antoinette, ging zu dem alten Herrn hin und küßte ihn zärtlich auf beide Wangen. Herr Scipio blickte ihr tief in die blauen Augen. Unod da ergriff ihn etwas. Nicht das berechnende Spiel ihrer Mutter fand er darin, das sich jetzt damit vergnügt hätte, ein kurzatmiges Komplott mit dem ältern Leidensgenossen zu schmieden, sondern ein schmerzliches Sehnen. Es dauerte auch gar nicht lange, so löste der verwunderte Ausdruck des alten Herrn dieses verhaltene Weh, und es fielen ein paar glitzernde Tropfen auf Herrn Scipios Rockärmel. Antoinette wischte sie mit dem Taschentuch ab. Dann neigte sie, in die Kniee sinkend, ihr Haupt auf die Lehne des Fauteuils. Hilflos starrte der alte Offizier auf die prachtvolle Last der schwarzen Locken,die da über seinem rechten Arme zitterte. Solche Geschichten waren ihm fürchterlich unangenehm. Und hier war es ihm umso peinlicher, als er, die Ursache dieses Jammers ahnend, eine Pflicht zu tröstendem Beistand fühlte. Bekam er selber schon dann und wann die Kehrseite jenes Zaubers empfindlich zu fühlen, der mit graziösem Gegaukel und religiöser Würze seine einsamen Tage belebte, so mußte dies Wesen dem vollends zum Leiden werden, den Kindespflicht wehrlos machte. Seine ganze Unbeholfenheit kam ihm zum Bewußtsein, als er mit der Linken den schönen Kopf zu heben suchte,um seinen rechten Arm davon zu befreien. „Was fehlt dir, mein Kind?“ fragte er in verlegener Zärtlichkeit.Daß er keine Antwort erhalten würde, war ihm klar.Solches Leid konnte nur stilles Mitgefühl lindern. So ergab er sich denn, lehnte sich zurück und streichelte die dunklen Locken, bis Antoinette enodlich aufblickte und, ihre Augen trocknend, sagte: „Ach, ich bin ein törichtes Geschöpf, Sie mit meinem Kummer zu plagen,Onkel. Verzeihen Sie mir, aber... glauben Sie nicht auch, daß im Grunde genommen der liebe Gott an der großen, sehr großen Frömmigkeit meiner Mama nur ein halbes Wohlgefallen haben kann? Ich meine,wir könnten mit dem zehnten Teil unserer religiösen Nahrung recht brave Menschen werden, wenn wir dann auch mit dem ganzen Herzen dabei wären?“

Um Gottes willen! sagte sich Onkel Scip. Wie recht hat sie! Aber soll ich nun gar noch Beichtvater spielen? Seine Blicke streiften den in der Sonne liegenden Jagohund, seinen täglichen Gefährten. Mit dem mußte man nie über Dinge reden, die einem so schlecht lagen.

„Ach,“ sagte er, „deine Mama meint es herzlich gut. Vielleicht ist es besser, wir fügen uns in ihre Cau... in ihre ... in ihre Wünsche. Sie will ja unser Bestes.“

Enttäuscht erhob sich Antoinette und begab sich an das andere Ende des Tisches, wo ihre Mutter die Morgenandachten von Sachariã aufgeschlagen hingelegt hatte. Tassen und Celler zurückschiebend, fragte sie:„Soll ich lesen ?“

„Ja, bitte,“ sagte der alte Herr, der mit seinem Blick den Hund zu sich heran gelockt hatte. Während Antoinette den Tagestert las, kriegte das bettelnde Tier einen Klaps auf die Schnauze und legte sich wieder in die Sonne.

Nach einigen Minuten bemerkte die Leserin, daß ihr Zuhörer das Haupt auf die Brust sinken ließ.

Unwillkürlich dämpfte sie ihre Stimme, und als nach ein paar weiteren Sätzen ein leises Schnarchen verriet, daß der mitleidige Cag dem Greise spenden wollte, was ihm an Erquickung die laue Sommernacht vorenthalten, ließ Antoinette den Schall ihrer Stimme vollends erlöschen. Dann stand sie geräuschlos auf und schlich sich in ihr Zimmer hinauf. Noch nie hatte das junge Mädchen so deutlich das Gefühl des Gefangenseins empfunden wie in diesem Augenblick, da der Morgenglanz des duftenden Frühsommers ihr vornehm ausgestattetes und zugleich so trauliches Gemach erfüllte, worin so zu sagen jeder Span des weißen Getäfers von der schrankenlosen Selbstherrlichkeit vergangener Tage sprach. Es fehlte nicht viel, so hätte das Heimweh nach einem ganz schlichten Menschen sie verführt, dem Mäochen, welches eben das Zimmer aufräumte, etwas von der Not ihres Herzens anzuvertrauen. Aber noch ehe sie ein Wort dafür fand, war das Mädchen verschwunden. Von Neugier und Mitleid getrieben, war es mit seiner unverhofften Beute ins Revier der dienstbaren Wesen geflohen. Diese Beute bestand in der Wahrnehmung des Leides auf dem Angesichte der jungen Herrin. Also auch da, in diesem so begehrenswert erscheinenden Nest, wohnte das Weh!

Antoinette trat an das weitgesffnete Fenster. Herrlich lag der blühende, duftende, in Springbrunnengewisper und Vogelsang jubilierende Garten vor ihr,herrlich das blaßgrün verschwimmende Hügelland. Wie Ahnung reiner Gottesfreude leuchteten durch den rosigen Dunstschleier die Hochfirne der Alpen. Und über allem dehnte sich, vom goldenen Fernschein des Horizontes ins unergründliche Blau des Zeniths sich vertiefend,der woltenlose Himmel.

Plötzlich glitzerte in der Ciefe, wo am Waldrand ein steiler Abkürzungspfad von der Straße abzweigte,etwas in der Sonne. Ein Mann bewegte sich, energisch ansteigend, unter den Buchenzweigen. Auf hellblauem Kaput blinkten Metalltnöpfe. Rote Kragenpatten leuchteten.Antoinette eilte durch den Garten hinunter. Durch die Dämmerung des Kastanienhains flog sie, und wie aus den Wolken geworfen stand ihre leuchtende Gestalt auf dem Pfad zwischen dem bläulich wogenden Roggenfeld und den breitfächernden Ästen der Parkbäume.Heini stand verblüfft. Antoinette durchzuckte eine 182 ihr unangenehme Empfindung: „Ein Rekrut! Ein flaumiger Bub in dem alle Individualität vernichtenden blauen Mantel, kurzgeschoren, in einer Wolke von Kommisduft, auf grobgenagelten, an Ackergaulhufen gemahnenden Schuhen!“ Und vor diesem Herdenmensch par ercellence stand. unvergleichlich an adeligem Wuchs und Wesen, die Erbin von Prankenau. Aber der Glaube sagte: „Der Tarve dieses wollenen, mit Kontrollnummern bedruckten, nach der Herde duftenden Kittels kann eines Tages ein werdender Held entschlüpfen.“

Mit der Frage, woher und wohin begrüßte Antoinette den aus seinen Träumen Gerissenen. Er las aber sogleich in ihren Augen, daß ihr die Auskunft über seinen Urlaub und den Besuch bei der Schwester durchaus Nebensache war. Die unerwartete Begegnung, die sich ebenbürtig an das Erlebnis auf der Mütternachtswache reihte, gab ihm zu denken. Fast gebieterisch winkte sie dem jungen Wehrmann, ihr in das Dunkel der Bäume zu folgen, wo sie ihm ebenso bestimmt den Platz auf einer Steinbank neben sich anwies.

„Ich will Sie nicht um das Zusammensein mit Ihren Angehörigen bringen,“ sagte sie. „Nur das eine möchte ich wissen, Heinz: Wie steht es nun um Ihre Zukunftspläne? Hat Ihr Vater sich entschließen können,Ihrem Wunsche zu willfahren?“

Heini ward verlegen. Nach kurzem Besinnen sagte er:„Er weiß noch nichts davon.“

„So ist die Entscheidung noch nicht gefallen?“

„Doch.“

„Wieso? Werden Sie bei Ihrem Entschluß bleiben ?“

„Ich bitte Sie, Fräulein Antoinette,“ bat Heini nach abermaligem Zögern fast unwillig, „machen Sie mir's nicht noch schwerer, den Weg zu gehen, den ich gehen muß.“

„Sie haben also Ihr Ideal preisgegeben? Ohne auch nur einen Versuch gemacht zu haben?“

„Es hätte nichts genützt. Ich fand aber auch nicht einmal die Gelegenheit dazu.“

Da faßte Antoinette des Soldaten Hand überm Gelent und sagte mit eindringlichem Ernst: „Heinz Tillmann, das ist Feigheit.“

Heini schoß auf: „Sie tun mir unrecht. Am Mute hat's mir nicht gefehlt; aber ich weiß, warum ich an meines Vaters Seite bleiben muß.“

Noch einmal faßte sie Heinzens Rechte, diesmal mit beiden Händen. Und mit einem fast ängstlich flehenden Blick fragte sie: „Und Sie verzichten enogültig auf Ihre hohen Ziele? Wollen Sie über ihrem Vater alle andern leidenden Menschen vergessen?“

Schmerzlich zuckte es um des jungen Mannes Mund,als er antwortete: „Es gilt meines Vaters Wohlergehen.“

Ein weher Blick aus den herrlichen blauen Augen traf ihn. Dann wanöte sich Antoinette ab und ging,das Haupt in den Nacken geworfen, langsam weg.

Tange noch verfolgte Heinz starren Blickes die weiße Gestalt. Als das Laub des Parks sie völlig verschlungen hatte, trat er in den Fußpfad hinaus und wanderte,seine Verwirrung niederkämpfend, der Känelmatt zu.Immer wieder hemmte etwas seinen Schritt, immer wieder wollten seine Augen die Entschwundene suchen.Aber Heinz Tillmann machte seinen Nacken steif und zwang seine Schritte heimwärts.

Lautlos war Frau Dorothea auf die Freitreppe des Schlosses hinausgetreten. Der Frühstückstisch stand mit all seinem blinkenden Durcheinander da, genau wie sie ihn verlassen hatte. Ihr aufflackernder Unwille verflog indessen ob dem Anblick des schlafenden Greises. Ein banger Gedanke durchzuckte sie. Behutsam tat sie ein paar Schritte gegen den in sich Zusammengesunkenen.Er atmete, aber nicht erquicklich. Etwas Beengendes zuckte auf seinen Zügen, und es sah aus, als ränge er nach Atem zum Reden. Ihn zu befreien, trat sie näher und rief: „Onkelchen!“ Da war die Angst weg. Aber Herrn Scipios Augen blickten stier nach dem Garten,aus dessen äußerster Baumgruppe eine weiße Gestalt dem Hause zustrebte.

„Onkelchen, ist Ihnen nicht wohl?“ „Wollen Sie etwas trinken?“ fragte Frau von Guldwang, und ohne eine Antwort abzuwarten, goß sie von dem kalten Kaffee in des alten Herrn Tasse. Nur um ihre Besorgtheit zu heben, tat er einen Schluck. Er bewegte sich frei und sicher, aber sein Blick blieb düster.

5*Als Frau Dorothea sich umwandte, bemerkte sie Antoinette, die sich von der andern Seite der Freitreppe näherte. Auf ihrer Mutter Frage nach Aufschluß über den seltsamen Zustand des alten Herrn,erwiderte Antoinette mit erzwungener Gelassenheit:„Er ist mir über dem Lesen eingeschlafen. Da dachte ich ...“„Man darf ihn nie allein lassen,“ tadelte Frau von Guldwang.

Mit einem Ächzen, das nicht ernst genommen sein wollte, erhob sich Herr Scipio und trippelte, von seinem Hunod umkreist, in den Partk hinunter. Der Traum, der ihn um des Schlafes Erquickung gebracht, hatte etwas mit dem großen gelben Kuvert zu tun, das droben auf seinem Schreibtisch lag. Es enthielt neben dem Begleitschreiben seines Sachwalters zwei Kaufsangebote für die Schloßdomäne. Das eine kam von der Finanzdirektion des Staates Bern, das andere von den „Oberländischen Kuretablissements.“ Beide hatten Herrn von Guldwang in Entrüstung gebracht, und er wußte schon ziemlich genau, wie seine Antwort an den Sachwalter zuhanden der Käufer lauten sollte. Nette Auswahlt! Pprankenau ein staatlicher Unterschlupf für schiffbrüchige Exristenzen oder dann Batzenfalle für ein Konsortium oberländischer Fremdenmarder! Da würde man sich denn doch noch besinnen.

180

Hrüben im kleinen Gemüsegärtchen der Känelmatt saßen zur selben Stunde die Geschwister Tillmann auf der alten Bank, wo sie oft mit der Mutter geplaudert hatten. „Ist die Freundin von Antoinette nicht mehr bei Guldwangs?“ fragte Heini seine Schwester, und Röseli wußte zu berichten: „Sie haben sich, wie es scheint, gar nicht mehr vertragen, Antoinette und Lilian Merle. Lilian ist nach Genf verreist.“

Der harmlos weiterplaudernden Schwester fiel auf,daß Heini ihr nur noch halb zuhörte. Den ganzen Cag blieb er zerstreut. Und als er gegen Abend wegging,lehnte er Röselis Begleitung ab. Er müsse eilen, sagte er, und schlug den Fußpfad über die Prankenauer Zelg ein. Aber gar so eilig schien er's doch nicht zu haben,als sie ihm von der Taube aus nachblickte.

X.

Er stand wieder da, auf dem vom Schlunde des Tunnels ausgespienen Kiesdamm, der sich südwärts in den Schleier der unaufhörlich niedergehenden Regenschauer verlor der bärtige Mann mit dem triefenden Kalabreser. Heute machte er den Einoruck, nicht so recht bei der Sache zu sein. Der Höhepunkt der Bauarbeit war überschritten. Sie ging mit dem erlöschenden Sommer ihrer Vollendung entgegen. Alles, was für die Aufnahme des Bahnbetriebes unerläßlich, war nahezu fertig; es galt nur noch Nebenarbeiten nachzuholen.Nun hatte es schon eine Woche lang fast ununterbrochen geregnet. Dumpf brüllten die braunen Wogen des Flusses im Sturze von Wehr zu Wehr. Und immer noch schienen die in unübersehbarer Front von den Berghängen niederwallenden Nebelmassen sich zu erneuern.Man ahnte: wenn der graue Vorhang sich hob, enthüllte er frisch überschneite Alpweiden, von denen, nach seiner Weise malend, der Herbst zu Tale stieg. Die Arbeiter hatten keinen trockenen Faden mehr auf dem Leibe und gaben es schon auf, noch irgendwelchen Schutz zu suchen. Sie bemerkten es auch nicht, als Hans Tillmann nicht mehr über die Arbeit wachte.Er war verschwunden.

In einen mißfarbenen Kautschukmantel gehüllt stieg er über den Bergrücken nach dem an den Seehalden gelegenen Nieseten hinab. Mit den Herren vom Konsortium mußte er reden. Er trug einen Brief in der Tasche, den zu schreiben Herrn Fernand von Guldwang sehr viel Überwindung gekostet hatte. Wohl drei Monate lang hatte Frau Dorothea ihre gelegentlichen,wohlberechneten Anläufe auf das Gewissen ihres Mannes wiederholt und allmählich verschärft. Je mißtrauischer der Nachbar in der Känelmatt sich geberdete, desto unwiderlegbarer sollte ihm das Wohlwollen der Prankenauer nachgewiesen werden. Um Heinis und seiner Schwester willen sollte nichts unterbleiben, was der kleinen Familie drohendes Unglück vom Leibe halten konnte.

„Wenn es dir so sehr zuwider ist, dem Tillmann zu schreiben, so könnte ich es ja selber tun.“ Und schon lag ein schiker Briefbogen auf dem Schreibtisch der Frau von Guldwang.

„Um Gottes willen! Nein, also, da muß ich nun bitten. Wenn irgendwo, so muß hier dem Herzensdrang ein vorsichtiger Zügel ...“

„Nun denn! Wenn's überhaupt nur noch rechtzeitig geschieht!“

Und so würgte sich Herr Fernand den Brief an den „werten Herrn Nachbar“ ab, eine einöringliche Empfehlung, doch ja um der Kinder willen vorsichtig zu sein und nicht allzuviel von dem in bewundernswertem Fleiß und klugem Haushalt sauer genug erworbenen Vermögen auf eine Karte zu setzen. Die Hotelindustrie hätte ja gewiß ihre gewinnbringenden Perioden, aber kein Gebiet des Geldmarktes erfordere soviel fachmännische Feinfühligkeit, wie gerade dieses.

Frau Dorothea fiel es nicht leicht, den Brief zu genehmigen. Sie wünschte einen deutlichen Hinweis auf das spezielle Unternehmen, das hier in Frage stand.Auf den Einwand, Tillmann werde am besten wissen,wo er sein Geld angelegt habe, und je allgemeiner die Warnung, desto weiter reiche sie, wußte sie nichts zu erwidern. Dagegen hätte sie es doch sehr schön gefunden,wenn zur Begründung des Schreibens neben dem Pflichtgefühl des erfahrenen Finanzmannes auch ein diskreter Hinweis auf die christliche Liebe angebracht worden wäre. Herr Fernand war entschieden der Ansicht,Mammon und Christenheit schrieben jedes netter auf seinem besonderen Briefformat. Die zweiköpfige Redaktionskommission einigte sich dann auf die Formel: „meine Christenpflicht und meine langjährige Erfahrung in Geldsachen drücken mir die Feder in die Hand ...“Nun knisterte also der Brief bereits in Hans Tillmanns Brusttasche. Er konnte dort den Wioerstreit belauschen, den er in des Aoressaten Herz entfesselte.Die „Christenpflicht“ regte diesen nicht mehr auf, als die Zehnermarke auf dem Kuvert. So was schwamm in dem Cintenbächlein mit, wie ein Stück Rinde im Bergbach. Ärgerlicher war Tillmann die unerbetene Einmischung und die Warnung just weil sie ihren guten Grund haben konnte. Mochte Mißgunst drin stecken oder nicht, aufzupassen lohnte sich unter allen Umständen. Die Frage „was geschieht mit meinem Gelde?“ jagte Hans Tillmann durch die immer tiefer streichenden Nebel und drückte ihm schon ein wenig die Augen aus den Hohlen, als er zu Nieseten in das

Bureau des Herrn Ueltschi trat. Nach sehr kurzer, seine

Unruhe erst recht verratender Einleitung rückte Tillmann gleich mit dem Wunsche heraus, sein Geld aus den oberländischen Kuretablissements zurückzuziehen.

Daß einer plötzlich Geld haben mußte, war dem Chef des Unternehmens durchaus geläufig, weshalb er seine Seelenruhe nicht einen Augenblick verlor.

„Wenn Sie Geld brauchen,“ sagte er, die Hände faltend, „so schreiben Sie Herrn Ryter ein paar Zeilen.Er wird sich ein Vergnügen daraus machen .. .“

„Ich brauche weiter kein Geld,“ unterbrach Tillmann den Behäbigen, „aber mein Geld möchte ich zurückziehen.“

Das freilich wird so leicht nicht zu machen sein,es wäre denn, daß jemand Lust hätte, seine Partiale durch Auskauf der Ihrigen zu vergrößern. Aber warum wollen Sie denn Ihr Geld herausnehmen?Das wäre doch unklug.“

„Ich habe das Vertrauen in die Sache ein wenig verloren, und sehen Sie, wenn man wie ich .....wenn ..... kurz, ich fürchte zu viel auf eine Karte gesetzt zu haben.“

„Da kann ich Sie beruhigen. Wenn nicht alles täuscht, werden wir gut schaffen. Und überdies, Herr Tillmann, sind Sie als Ingenieur bei der Sache ganz speziell interessiert. Es versteht sich doch von selbst, daß wir bei der Begebung der Arbeiten in erster Linie diejenigen berücksichtigen, die das Risiko tragen helfen.Den Vorteil haben Sie uns andern gegenüber voraus.Aber, wie gesagt, ich verstehe Ihr Mißtrauen durchaus nicht.“„Es ist ja auch nicht eigentlich Mißtrauen. Mir ist nur nicht mehr so recht behaglich dabei, seitdem das zusammengelegte Kapital nicht mehr dem ursprünglichen Zweck dienen soll. Sie wissen ja, daß es sich seinerzeit nur um den Ankauf von Prankenau handelte.

Da hätten wir doch etwas in Händen gehabt, das seinen Wert niemals ganz einbüßen würde.

„Ganz richtig, Herr Tillmann! Aber Sie haben ja der Aktionärversammlung beigewohnt, in welcher beschlossen wurde, dieses Projekt in zweite Linie zu stellen. Und wie richtig diese Vorkehr war, das zeigt sich heute erst recht. Das wird Sie interessieren. Vorige Woche waren wir in Bern bei dem Notar des Herrn von Guldwang. Der alte Herr war auch da. Zuerst hatte es den Anschein, als wollte die Sache glücken.Es lag ein Angebot der Finanzdirektion vor. Das gefiel dem alten Herrn gar nicht, besonders als es hieß,der Staat würde eine Armenanstalt in dem Schloß unterbringen. Das kann man ja verstehen. Der Notar wollte uns Gelegenheit geben zu einem höhern Angebot, und wir legten zehntausend zu. Da ließ sich der alte Herr unsere Papiere vorlegen. Auf einmal sieht er verwundert auf. „Was ist das für ein Tillmann?“fragt er den Notar. Und Freund Ryter antwortet statt des Notars: Den müussen Sie kennen, Herr äh von Guldwang. Der wohnt ganz nahe bei Ihnen.“

Jetzt schaut er verwundert von einem zum andern,als ob wir Hörner hätten. Der Tillmann in der Känelmatt, der ..“ Ich will nicht wiederholen, was er Ihnen für einen Titel zudachte. So? Der? Dann will ich Sie nicht länger hinhalten, Messieurs,“sagt er, steht auf und geht ins andere Zimmer. Auf der Schwelle dreht er sich nochmals um und sagt:s1322

Prankenau ist mir überhaupt noch nicht feil. Und bumps! war die Türe zu. Wir mit hängenden Ohren ab. So liegen die Sachen, Herr Tillmann. Nun heißt's vorwärts machen. Das Geld muß schaffen.“

„Nun also,“ antwortete Hans Tillmann, „wenn euch mein Name hinderlich ist, so ...“

„So ist uns Ihr Geld doch nicht hinderlich. Nur ruhig Blut! Wir werden auch ohne das Schloß Prankenau zu einer schönen Rendite kommen.“

Tillmann hatte das Gefühl, bei diesem Manne werde er nichts erreichen, und empfahl sich. Die Einladung zu einer Flasche lehnte er ab. Ingrimms voll stapfte er langsam durch den Nebel nach Elsigen hinauf. Sein Geld lag in einer schlimmen Rinne, sein ganzes mühsam erarbeitetes und erspartes Vermögen, mit dem er einst Prankenau auf den Kopf hatte stellen wollen!Und wollte er nicht Gefahr laufen, es ganz zu verlieren und zuletzt seinen Kindern einen Bettelstab zu hinterlassen, so blieb ihm nur die Wahl, entweder mit diesen geriebenen Schelmen von den „Kuretablissements“ unter die gleiche Decke zu schlüpfen und sich mit ihnen strupellos um die zweifelhafte Beute zu balgen oder sein Geld wieder heraus zu bringen. Zu letzterem entschloß er sich, selbst auf die Gefahr schwerer Einbuße hin, als er abends im „Wilhelm Tell“ vor sich hinbrütete. Durchfroren, hatte er eine Flasche starken Weines mit sich auf sein Zimmer genommen. Immerfort plätscherte draußen die Dachrinne, und die

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Fensterscheiben liefen an. Der Schnee konnte nicht mehr weit sein. Nein, das sollten die Kinder Hans Cillmann nie vorhalten können, daß er ihnen das Leben durch zweifelhafte Spekulationen verdorben habe. Es war ihm, ohne daß der Junge ein Wort davon gesagt, klar bewußt, daß er Heini das Opfer seines Sehnens durch die väterliche Autorität abgezwungen und damit auch den Herzenswunsch seiner verstorbenen Frau totgeschwiegen hatte. Solche Opfer vermochte nur die erfolgreiche Durchsetzung seiner Pläne zu rechtfertigen.Aber nun schien sich alles wider diese Pläne zu verschwören. Wieder und wieder durchging er die Erlebnisse des heutigen Tages. „Meine Christenpflicht und meine langjährige Erfahrung in Geldsachen...“Hans Tillmans Hände ballten sich zu drohenden Fäusten.Ein grimmiger Fluch entrann seinen Lippen. „Das ist's eben,“ knurrte er, „wo unsereiner die Hand ausstreckt nach . ..“ Durch das Dunkel seiner Gedanken flitzte sternschnuppengleich die Erinnerung an Frau Schraners Warnungen: „In braver Leute Händen kann's zum Unglück ausschlagen.“ Warum aber gelang es denn immer denen, die ohnehin herrlich und in Freuden lebten einem dicht vor der Nase?

Der einsame Mann schüttete hastig ein Glas des feurigen Wallisers in einem Zug hinunter, als könnte er damit die Glut seines Grolles dämpfen. Statt dessen schlug in seinem Herzen hoch auf die Lohe des glimmenden Hasses gegen seine glücklichen Nachbarn, bevon Tavel, Heinz Tillmann. sonders gegen den alten Aristokraten, der spielend seinen stolzen Besitz gegen Hans Tillmanns eitle Minierarbeit verteidigte.

CTillmann hatte Briefpapier zurechtgelegt, um an den Bankier Ryter zu schreiben. Weg damit! Auge in Auge mußte mit dem geredet werden. Es koste, was es wolle. Sein Geld wollte er heraus haben, und dann wollte er noch einmal alle Kräfte einsetzen.

In einen Klubsessel versenkt hockte Hans Tillmann andern Tages in der Wechselstube von Ryter K Co. Kalt und klar leuchtete draußen der erste richtige Herbsttag. Der Schnee reichte, wie erwartet, bis tief in die Maiensäße herunter. Nur auf den Hochfirnen noch besannen sich zu Wolken geballte Nebel. Tillmann fühlte sich in dem allzu behaglichen Fauteuil entkräftet.Seines Mangels an geschäftlicher Gewandtheit bewußt und von dem gestrigen Wein aller frischen Stimmung beraubt, hatte er sich vorgenommen, den Harthölzernen zu spielen. Und zu dem Zweck hätte er heute früh sich mit mehreren Schnäpsen versteift. Aber der Erfolg war das Gegenteil von dem, was er gewollt. Hatte es ihm schon gar nicht gelingen wollen, sein Begehren mit der Wucht vorzubringen, die auf dem Werkplatz aus jedem seiner Worte einen ehernen Befehl machte, so ärgerte er sich jetzt über die Impotenz, mit der er dem Geldmenschen zuhörte, der da vor ihm mit einem silbernen Crayon spielte und mit beleidigender Gelassenheit uber den schief auf der dicken Nasenspitze reitenden Gold zwicker hinweg äugte. Zu allem und jedem Entgegenkommen war Herr Ryter bereit; nur begriff Tillmann nicht, worin dieses Entgegenkommen bestand, jedenfalls nicht in seiner Entlassung aus dem Konzern der Kuretablissements. Das einzige, was er mit aller Deutlichkeit zu erfassen vermochte, war, daß nur ein Dummkopf von einer derartigen Unternehmung nicht profitieren möchte. Als er das Fehlschlagen des Ankaufs von Prankenau erwähnte, verzog Herr Ryter den Mund zu einem geringschätzigen Lächeln und machte mit der Hand eine wegwerfende Geste. Da wäre doch nie was „Gefreutes“ draus geworden, meinte er. Schade wäre es gewesen, das Geldo dort hineinzuwerfen, das in den Kuretablissements seine zehn Prozent netto abwerfen könne. Mit der Einladung, sich die Sache doch noch sehr zu überlegen, versicherte der Wechselstubenmann seinen Interpellanten der gewissenhaftesten Leitung des Unternehmens, und Cillmann brachte nichts anderes heim als den Vorsatz, die Truhe, welche ihm sein Geld vorenthielt, an einer andern Stelle anzubohren.

Seines Laubschmuckes zum größten Teil beraubt,zeichnete das niemals verstümmelte Geäst der Kastanienbäume von Prankenau eine fein ziselierte Riesenurne vor den blutroten NovemberAbendhimmel, und auf dem sanft glühenden Spiegel des Teiches schwammen,leblos treibend, Hunderte von dürren Blättern. Schon blinkte am blassen Firmament hie und da ein Sternlein,und aus dem Tal hoben sich, berganschleichend, kühle Schleier. Wo sie die breiten Abenöschatten überflossen,fingen auch sie das wehmütige Farbenspiel der mächtig großen Sonnenscheibe auf, während sie die Baumgerippe zu gespenstischen Schemen umwandelten.

Auf der Zelg unterhalb des Parkes von Prankenau waren Gräben gezogen. Ab und zu erhob sich daraus der flickenbedeckte Rücken eines Arbeiters. Gesenkten Hauptes stand, den einen Fuß auf einen Erdhaufen stemmend, Hans Tillmann daneben. Seine Bewegungen verrieten Ungeduld. Schon mehrere Tage hatte er nun verloren mit dem Aufsuchen der Wasseradern, welche die Zelgwiesen versumpften und deshalb abgeleitet werden sollten. Ein Auslassen der baufälligen Schloßteiche, welches die Feststellung erleichtert hätte, war,wie zu erwarten stand, nicht gestattet worden.

Zudem trug Tillmann einen Brief von Ryter in der Tasche, der ihm klipp und klar meldete, daß eine Zurückziehung seines Geldes aus den Kuretablissements zurzeit unmöglich sei. Trübe Aussichten!

Ein heller Punkt bewegte sich dem Waldrand entlang. Ein Hund. Niemand achtete sich seiner und ebensowenig des Mannes, der ihm langsam folgte. Die Arbeiter ächzten im Graben. Als der Wanderer den kleinen Fußpfad längs des Parkes über der Zelg hinschritt,erkannte man ihn. Der dicke Pelzrock über den dünnen Beinchen gab dem Schloßherrn ein fast komisches Aus sehen. Er trug die Doppelflinte unterm Arm und hatte die Hände in den bequemen Taschen stecken.

Auf einmal wedelte „Diana“ um den Graben herum.Das schöne Tier schnupperte an der auf dem Erdhaufen liegenden Provianttasche eines Arbeiters und stieß mit der Schnauze das Ding über den Erdhaufen. Da beugte sich Hans Cillmann zur Erde. Er hob eine harte Scholle und warf sie mit einem Fluch nach dem Hund, der aufwaißend davonhinkte.

Kaum war das geschehen, so stand Herr Scipio von Guldwang dicht neben Tillmann. Unwillkürlich hatte er das Gewehr gelockert, als er rief: „Was hast du meinen Hund zu schlagen, du verdammter Rüpel?“

Hans Cillmann rührte sich nicht. Er maß nur den Jäger mit Blicken der Verachtung. Aber sein Blut wallte in Haß, während all die bösen Empfindungen der letzten Zeit in tollem Flug durch seinen Kopf jagten.

„He?“ keuchte Herr Scipio. Nimm dir noch einmal so was heraus!“ Unglücklicherweise hatte er in seinem Zorn das Gewehr so gefaßt, als wollte er mit dem Kolben nach Tillmann stoßen.

Da schoß Tillmann etwas in die Glieder. Er wußte plötzlich nichts mehr von sich, nicht, was seine Hände taten.Herr Sceipio von Guldwang lag stöhnend im Gras.Hans Tillmann gewahrte in seinen eigenen Händen die Flinte und warf sie weg. Wie zu Stein geworden stand er vor dem hingestreckten Gegner.

Unbeholfen kamen die Arbeiter, einer um den andern, aus dem Graben gekrochen. Scheu betrachteten sie den am Boden Liegenden, dessen Glieder sich in Zuckungen dehnten. Ihre verstohlenen Blicke streiften die zitternde Gestalt ihres Meisters. Lange dauerte es,bis er ihnen befehlen konnte, im Schloß Hilfe zu holen.Einer trottete davon. Die beiden andern folgten. Noch hörte Tillmann, wie sie, vom Grausen gepeitscht, den Part hinaufrannten. Er selber wollte warten, bis die Leute wiederkamen; aber auf einmal packte ihn eine gräßliche Angst. Er lief davon, kaum wissend, wohin.Der UNebel, der aus dem KänelmattTälchen herabhing,verschlang seine wankende Gestalt. Nun war niemand mehr bei dem Herrn von Prankenau als die treue Hündin. Die streckte sich ins Gras, legte den Kopf auf die schlanken Vorderfüße und blickte unverwandt auf ihren Herrn.

Die Sonnenscheibe berührte den Horizont. Eine letzte rötliche Lichtwelle rieselte über die Zelg. Die breite Front des Schlosses rötete sich. Die Fenster leuchteten matt durch das nebelumflorte Gezweige des Gartens. Dann erlosch alles in einem schaurigen Nachthauch. Ein langgezogenes Heulen des Hundes zerriß die Stille. Bald darauf raschelten Schritte. Zweige knackten,Taubhaufen knisterten. Verhaltene Stimmen näherten sich. Dunkle Gestalten brachen aus dem Saum des Kastanienhaines. Sie scharten sich unter Ausrufen des Entsetzens um den regungslosen Körper, und bald be

42*wegte sich ein Knäuel von schleppenden Menschen gegen den Hain und durch den schweigenden Park hinauf.

Während sie Herrn Scipio über die Freitreppe hinauftrugen, ward in der Känelmatt eine Türe zugeworfen. Von der Laube glitt Hans Tillmanns Blick über den Hügelwalm. Da ragte, eine versteinerte Anklage, vor dem dunkeldämmernden Himmel der Dachknauf von Prankenau aus dem schwarzen Boden.

Eine halbe Stunde später schrillte am Doktorhause zu Kilchwerlen die Glocke. Als der Arzt heraustrat,rief eine heisere Stimme: „Kommen Sie schnell nach Prankenau hinauf! Ein Unglück. Ich habe den alten Herrn erschlagen.“ Im trüben Licht des Hausgangs erkannte Doktor Muffler das entstellte Gesicht Cillmanns. Blitzschnell fügten sich des Arztes Gedanken in einen Zusammenhang. Ohne Worte zu verlieren, packte er seine Instrumente zusammen und eilte, von Tillmann gefolgt, bergan.

Fast atemlos erreichte der Arzt das Schloß. In der Gegend der Känelmatt hatten sich hinter ihm die Schritte seines unheimlichen Begleiters verloren. Allein betrat er das Haus. Ohne von den herumstehenden Leuten Notiz zu nehmen, eilte er in das Schlafzimmer seines alten Patienten. Es war in arger Unorönung. Am Bette machten sich Dienstboten zu schaffen, unter ihnen Frau Schraner.

Der Arzt winkte die Leute weg und befahl einem Mäochen, ihm mit der Lampe zu leuchten. Aber Mädi,die mit dem Knecht an dem Lager stand, sagte: „Wir dürfen ihn nicht loslassen. Er will aufstehen. Er ist nicht bei Sinnen.“

LCaßt sehen!“ Der Arzt begann den Kopf des wild um sich blickenden Patienten zu betasten. Er fand nur eine starke Beule, aber aus einem Ohre sickerte Blut.Der Puls, bei der Unruhe des Patienten schwer zu fassen, war schlecht. Nach und nach nahmen die heftigen Armbewegungen ab.

„Habt ihr Bescheio gemacht in die Stadt?“ fragte der Arzt. Als man ihm berichtet, daß an Herrn Fernand Bericht abgegangen sei, setzte er eine Depesche um ärztliche Hilfe auf. „Wird zwar bei dem Alter des Patienten nichts mehr nützen,“ sagte er sich, „es sei denn, daß seine zähe Soldatennatur auch das noch überwinde. Haben überhaupt keine Wahl. Trepanation oder Tod!“Nachdem ein junger Bursche mit der Depesche nach Kilchwerlen abgesandt war, schickte der Arzt alles weg,was sich aus Neugier im Schloß eingefunden hatte.Einzig Frau Schraner, die als alte Vertraute für den Winter wieder in des Herrn Dienste gezogen worden,behielt er bei sich. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er im gedämpften Licht der Lampe an dem runden Tisch, der mit Papieren, Rauchmaterial und allerhand Gegenständen übersäet war, deren der alte Herr sich im täglichen Leben bedient. Dann und wann lockte ein Blick auf die im Halbdunkel nur schwer erkennbaren Bilder an der Wand des Doktors Gedanken in längst vergangene Jahre zurück. Da hingen neben großen und kleinen Olporträts liebliche Aquarellbilonisse von Dietler,Lanöschaften aus Sizilien und der Campagna, Steindrucke mit den Reiterbildnissen von Radetzky und Jellachich, alles Dinge, die den Lebensweg des Herrn Seipio zeichneten. Dr. Muffler kannte diesen Weg seines Patienten ziemlich genau. Ihm war bewußt, welch ein origineller Mensch hier seiner letzten Stunde entgegenging, und eine tiefe Wehmut ergriff den Mann, der,selber ein Original, schon lange sich einsam gefühlt in der so anders werdenden Welt.

Stunden flossen dahin. Ab und zu verfiel der Verwundete in Krämpfe und schlug um sich, so daß der Arzt und die alte Hüterin alle Kraft anwenden mußten,um den Ungebärdigen auf seinem Lager zu halten. Endlich hörte man einen Wagen rollen. Cautlos traten bald darauf Herr Fernand und Frau Dorothea ein.Es geschah gerade in einem Augenblick der Konvulsion.Das Schreckhafte des Anblicks drohte Frau von Guldwang zu überwältigen. Man mußte sie hinausführen.Als der Patient in Erschlaffung fiel, wurde sie wieder gerufen. In Angst und Mitleid bebend, setzte sie sich dicht an das Bett und ergriff des Kranken Hand. Sein Blick ruhte auf ihr, aber er schien sie nicht zu kennen.Zärtlich streichelte sie die hagere Hand, um ihm, wenn msöglich, zum Bewußtsein zu bringen, wer da sei. Bald schien ihr, die Augen des alten Herrn belebten sich 3

3wieder. Da verspürte sie in seiner Hand ein Zucken.Ein kurzes Röcheln folgte, ein Zusammenziehen des Gesichtes, ein angstvolles Aufsperren der Augen, ein hauchendes Geräusch aus dem sich öffnenden Munde.Dann lösten sich die Züge aus dem Krampf zu feierlicher Ruhe. Augen und Mund waren offen geblieben.Herr Scipio von Guldwang, der letzte Herr auf Prankenau, hatte seine irdische Behausung verlassen. Während die Freundin, unter dem furchtbaren Einöruck des Todes aufschluchzend, in den Lehnstuhl sank, auf dessen Lehne sie so oft mit dem Einsamen in erheiternder Anmut gespielt, trat der alte Arzt an das Sterbelager und schloß der in Schönheit erstarrenden Leiche Mund und Augen.XI.

Wiederum jagten schimmernde Frühlingswolken über das Land hin. In dem weitläufigen Schloß Prankenau warf bald da, bald dort der Wind einen Fensterladen oder einen Türflügel unsanft in den Rahmen. Man war's gewohnt, und so erschrak auch jetzt niemand, als die Haustüre hinter den leichten Schritten von Frau Dorothea so schwer ins Schloß fiel, daß es wie ein Kanonenschuß in dem hochgewölbten Gang öröhnte.Wenn sie nur gut abschloß! Was sie eben gesehen,trieb die zarte Frau in den nächstbesten stillen Winkel.Der Mann, dem man die schöne „Diana“ geschenkt, hatte nun schon zum drittenmal das Tier geholt. Und wieder mußte es zum Cor hinausgeschleift werden. Mit den gespreizten Pfoten schürfte es vier häßliche Furchen in den Kiesbelag. Das Halsband lag hinter den Ohren wie ein Galgenstrick, und den Schweif hatte die Hündin ganz straff eingezogen. So was wäre nicht nach dem Geschmack Onkel Scipios gewesen. Und überhaupt! Was hatte der ganze Sonnenschein, der durch jede Ritze hereinsprühte, hier zu schaffen? Wollte er das Geflimmer uralten Staubes in seinen schrägen Bahnen sehen?

Frau von Guldwang setzte sich in einem der obern Zimmer, wo niemand sie suchen würde, hinter geschlossenen Läden auf ein altmodisches Kastensofa mit geblumten Kissen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Endlich Besitzerin, war sie doch nicht und wurde es nie Eigentümerin des Schlosses. Die Erbin trieb sich drunten, am erwachenden Waldsaum herum und gab sich dem kindischen Vergnügen hin, Veilchen zu suchen, während in den geschützten Rabatten der Cerrassen Hyazinthen und Krokus in allen Farben glühten.So kindisch war sie, ja. Aber wo man bei ihr auf kindisches Begehren rechnete, da versagte sie. Von ihrem Großonkel zur alleinigen Erbin eingesetzt, hatte sie sich dem Verkauf der Schloßdomäne nicht einen Augenblick widersetzt. Ein wunderliches Geschöpf! Wäre es etwa Frau Dorotheas Sache gewesen, ihrem Mann in die Quere zu kommen, als er die Rentabilität des

Schloßgutes und die Reparaturbedürftigkeit der Gebäude in kühler Berechnung dem Ertrag gegenüberstellte, der sich mit dem Verkaufspreis erzielen ließ?„Ich könnte es nicht verantworten, Prankenau zu behalten.“ Das war sein Schlußergebnis. Und Antoinette als wären all die herrlichen CTage ihrer Jugendzeit vergessen fügte sich ... ein Schaf! Frau Dorothea warf ein Kissen, an dem sie herumgezupft, auf das gegenüberstehende Himmelbett, so daß sich die grünseidenen Umhänge blähten. Freilich, für sie selbst war der Charme dieses Lanositzes dahin, seitdem da drunten hinter den großen Maronniers die ruchlose Tat geschehen. Aber welch ein Königreich würde sie sich trotzdem aus Prankenau gemacht haben! Auch ohne die vielen Hunderttausende zur freien Verfügung zu haben, die nach Herrn Fernands Meinung nötig wären,um das Schloß den modernen Ansprüchen auf Komfort anzupassen. Man könnte sich auch mit dem alten Apparat behelfen. Gerade das hätte seinen Reiz.

Frau Dorothea dachte das, indem sie an dem mit Glasperlen bunt bestickten Klingelband riß. Sie tat es mit spöttischer Neugier, und wunderte sich, als auf das altmodische Geklirre hin wirklich ein Mädchen erschien. Nachts freilich hätte sie vergeblich gewartet, denn da hätte die Dienerschaft auf einen Spuk geschworen,und eher das Haus verlassen, als einen Gang in das obere Stockwerk zu wagen.

„Rufen Sie Fräulein Antoinette herauf!“ befahl Frau von Guldwang. „Ich erwarte sie in der Lingerie.“Als Antoinette nach zehn Minuten eintrat und ein ganz kleines Büschel Veilchen auf den nächsten Turm von Teintüchern legte, las sie in ihrer Mutter Gesicht die hämische Frage: „Ist das nun alles?“ Eine Antwort gab sie darauf nicht. Hätte sie etwa gestehen sollen, daß die Blümlein ihr durchaus Nebensache waren?Der Fußpfad zwischen Zelg und Wald, der letzte, den Herr Seipio gegangen, führte zu den Arbeitern, welche unter anderer Leitung die Drainierung wieder aufgenommen hatten. Die sagten oft so treuherzige Sachen zu dem schönen Schloßfräulein manchmal auch Flegeleien; aber das machte Antoinette Spaß und bot ihr Gelegenheit, in Herzen hineinzuspähen, welche in einer ganz andern Welt lebten. Das war eins. Und das andere war: der Pfad bildete die Abkürzung zwischen der Straßenkreuzung im Tale drunten und der Känelmatt. Er führte freilich an einer Stelle vorbei,über welcher das Grauen nicht weichen wollte, selbst im Mittagsglast nicht. Aber die erbarmende Liebe späht auch durch die Pforten der Hölle. Bis jetzt hatte sich zwar Antoinettes Sehnsucht vergeblich über den kleinen Fußweg gelagert. Dafür grüßte sie dort von den fernen Hängen des Hürnberges der mächtige Turm, hinter dessen Mauern Heinis Vater seinem Urteilsspruch entgegensah. Auch das hatte das Schloßfräulein von den Arbeitern vernommen, deren Ge spräche hin und wieder das Ereignis des Werlentales streiften.

„Wirst du dich endlich herbeilassen, mit mir deine Schätze zu durchgehen?“ fragte Frau von Guldwang.„Eine dankbare Erbin bist du eigentlich nicht, das muß ich schon sagen. Aber vielleicht wirst du später, wenn du selbst einen Haushalt führst, anders denken lernen.“

Antoinette wußte in der Tat diese Leinenvorräte nicht zu würdigen, die, schon bei der dritten Generation im Gebrauch, noch fast keine Schäden zeigten. Aur der funkelnde Silberschrank machte ihre Augen aufleuchten, und dann und wann ein besonders stilvolles Moöbelstück oder ein liebes Bild. Aber ganz weg brachte dieser Dinge keines den wehmütigen Schimmer aus den blauen Augen.

„Du hast recht, liebe Mama,“ antwortete Antoinette, „ich fühle mich sehr unwürdig. Causend andere würden mich beneiden. Aber das ist es ja gerade, was mir einen Schatten .....“

„zweiundzwanzig, oreiundzwanzig, vierund ... 3wei ganze Dutzend und noch keine spröde Stelle drin. Bitte,zähle mal diese Überzüge!“

Antoinette zählte ein Dutzend Kissenbezüge ab,spannte sogar einen gegen die Sonne, als suchte sie schadhafte Stellen. Dann redete sie hinter dem aufgespannten Tuch weiter: „Und bei alledem wird es mir nicht leicht werden, zu erkennen, was man mehr liebt,meinen Reichtum oder mich selbst. Ich wäre sicher glücklicher in einem bescheidenen kleinen Heim mit einem Mann, von dem ich auch ganz sicher wüßte, daß er mich liebt. Das elegante Leben verscheucht so leicht die lieben kleinen Menschen, in deren Freundschaft einem wohl ist.“

„Du weißt etwas von der Welt, du!“ höhnte Frau Dorothea. „Man sollte dich wirklich eine zeitlang zu armen Leuten in Pension geben. Ich wollte doch sehen,wie lange es ginge, bis dich das Heimweh nach der Gesellschaft, in der du aufgewachsen bist, ankäme. Du würdest dann wohl einsehen lernen, wie schön es ist,wenn man die Mittel hat, Gutes zu tun.“

„Ach ja, gewiß ist das schön für den, der geben darf; aber wenn man sich in die Haut der Empfangenden denkt, so erlischt all die Freude.“

„Antoinette, ich kann nicht sagen, wie sehr du mich heute enervierst. Geh lieber wieder Veilchen suchen,wenn du so fortfahren willst!“

Frau von Guldwang wollte eben ihrer Tochter neue Arbeit zuschieben, als man ihr meldete, es wären wieder Herren da, die das Schloß zu sehen wünschten, Baumeister oder dergleichen. Sie hätten Pläne und Meß-stäbe mit. Ein ärgerlicher Laut entfuhr den Tippen der Gereizten.

„Ich will die Leute empfangen,“ erbot sich Antoinette, und sie entwischte, bevor ihre Mutter sich widersetzen konnte.

So verstrichen die Frühlingstage, kaum einer, der nicht Frau von Guldwang schmerzlich zum Bewußtsein gebracht hätte, daß sie auf Prankenau nur noch die geduldete sei. Neben all den kleinen Verorießlichkeiten,welche das Lösen der Dienstverhältnisse und das Vorbereiten der Räumung mit sich brachten, gab Antoinettes träumerischer Eigensinn der Geplagten häufig Anlaß zu Klagen. Als ob der ganze herrschaftliche Plunder sie gar nichts anginge, so wenig beteiligte sich das Mäöchen an der „Erleserei“. Daß sie selber der glücklichen Erbin alle Freude an dem Besitz verdarb,indem sie mit ihren Mutterhänden bis zum letzten Siegellackstengel im tintenverklerten Schreibtischschublädlein alles, aber auch alles meinte oronen zu müssen,das ahnte Frau Dorothea nicht. Wenn sie überhaupt Ahnungen zugänglich war, so waren es solche, die sich an Antoinettes Streifereien in der Umgegend knüpften.Dieses stundenlange Herumstreichen am Rande der Zelg verdiente schon bald den Namen Manie. Übrigens hatte das Imhausherumwerken der Frau von Guldwang einen besonderen Grund, den sie sich nicht eingestand.Sie betäubte sich damit. Das Hinsterben der Schönheit von Prankenau konnte sie nicht kalten Auges mitansehen, geschweige denn den Gedanken an das ertragen,was hernach hier einziehen sollte. Wie konnte ein junges fühlendes Herz, ein denkender Mensch und das war Antoinette sich draußen diesen Einörücken in der stärksten Form aussetzen!

Eines Tages es war in der Zeit des jungen

Buchenlaubes schürfte der Pflug seine Furchen in die Zelg. Der dunkelbraune Grund dampfte im hellen Sonnenlicht. Auf dem blanken Fell der schwer stapfenden Schimmel lag der goldgrüne Widerschein des Waldrandes, wo die mächtigen silbergrauen Stämme sich aufreckten in einen fächelnden Dom von grünschillernden Wöõölbungen. Unter diesen schwamm alles in sanften Tönen wie unter einem Seespiegel und doch freiatmend,sonnig und licht. Und wenn abends der Golostrom der sinkenden Sonne in die smaragdenen Hallen brach und Rosenblut über das Geäst sprengte welch ein Schweben ward da aus dem Gehen in der Abendmüde!

Antoinette wußte: das erneuerte sich XX geschah draußen in der weiten Freiheit, das gehörte allen mochte der Park mit seinen altersgrauen Künsten im Moder zusammensinken! Und sie wußte,wollte wissen, daß sie da in der wunderbaren freien Weite das liebende Herz fand, das im Sehnen nach den ewigen Zielen mit ihr für die draußen Wohnenden schlug.

Auf der vom Tal ansteigenden Straße schlugen Hufe auf leichte, spielende. Geschliffene Scheiben blitzten zu beiden Seiten eines Kutschbockes. Im offenen Wagen saßen zwei Herren. Papa und wie war das möglicht Marcel Delierre.

„Ha, komm nur, Freund! Aber du wirst umsonst nach meinem Herzschlage horchen.“ Antoinette eilte dem Acker entlang gegen den Bühl hin, um den die Straße sich wand und von dessen Kuppe man ankommenden von Tavel, HSeinz Tillmann. 14 Gästen zu winken pflegte. Ihr Winken war auch im Schloß bemerkt worden, so daß Frau Dorothea die Einfahrenden an der Haustüre empfangen konnte.Dankbare Freude über die hochwillkommene Unterbrechung ihres „InventurSommeraufenthaltes“ beseelte ihre Zunge, so daß dem zielbewußten Studenten bald zumute war, als läge er in den Mutterarmen der reinen Lebensfreude. Frau von Guldwang war auch schon im ersten Augenblick aufgefallen, daß ihr Gemahl heute auf ganz besonders gut federnden Gelenken schritt. Was er ihr beim ersehnten nächsten Alleinsein offenbarte,erklärte ihr nicht nur den wackern Blick ihres sonst so behutsam durch das Leben tastenden Ehemännchens, es rettete auch ihr Daseinsbehagen vor dem Erstickungstod im Staube von Prankenau. Noch war Herr von Guldwang in seinem Bericht nicht weit gekommen, als er die schlanke Hand seiner Frau auf dem Ärmel fühlte.Zwei Schritte vom Fenster des gemeinsamen Schlafzimmers, etwas seitwärts, lenkte sie mit ihren Augen Herrn Fernands Aufmerksamkeit in den Garten hinunter, wo sich Marcel und Antoinette auf einer Cerrassentreppe begegneten. Mit reizender Natürlichkeit nahm das Mädchen den gut geübten Handkuß des Studenten entgegen. Einen kurzen Augenblick kam angesichts des schönen Paares Frau Dorothea das Weh darüber an, daß die Tage des herrschaftlichen Landlebens gezählt waren. Aber die Neugier ließ ihren wachsamen Augen nicht Zeit, eine Träne zu sammeln. Unbefangen näherten sich die jungen Leute dem Schloß. Wahrhaftig! Antoinette schien ihre sonderbaren Launen vergessen zu haben. Die Einsamkeit mußte sie empfänglich gemacht haben.

Wie man dem Spiel eines Wiesels zuschaut mit verhaltenem Atem so blickten die Eltern, jedes hinter einem offenen Fensterflügel stehend, den Heraufsteigenden zu. Und als diese so nahe an das Haus gekommen waren, daß das Fenstergesimse sie verdeckte,fingen sich die freudvoll verstehenden Blicke des Elternpaares. Unwillkürlich traten sie aufeinander zu und tauschten zärtliche Küsse. Dann erzählte Herr Fernand seiner Frau von den klugen Ansichten, die der junge Mann auf der Fahrt geäußert habe. „Dem ist die große Perspektive über die Verbindung zwischen Technit und Kapital aufgegangen. Der Mann hat eine verheißungsvolle Zukunft. Ich bin überzeugt, Liebste,daß er würdig wäre, deinen heroischen Verzicht auf diese alte Herrlichkeit hier, mit seinem Genie zu befruchten. Er wäre der Mann dazu, uns aller Reue zu entheben.“

Frau Dorothea leuchtete auf. Dann glitt wieder ein leiser Schatten über ihr Gesicht. Ein Bedenken schien sie zu beschäftigen. Plötzlich aber erhob sie ihr Haupt wieder frohgemut und sagte: „Ach, ich glaube eigentlich auch, daß er nicht so ganz ohne Verständnis wäre für die religissen Bedürfnisse Antoinettes.Meinst du nicht ?“

„Unter allen Umständen wird er sie respektieren,und wenn Antoinette klug ist, so wird sie ihn zu führen wissen.“

Bald darauf war die kleine Gesellschaft an der Mittagstafel vereinigt, wo Marcel neuerdings Gelegenheit fand, seine Gastgeber durch kluge Reden in Staunen zu setzen. Dabei half ihm Antoinette selber in den Sattel, indem sie ihn fragte, ob er nichts von Heinz Tillmann wisse. Ohne diese Frage würde es Delierre nicht gewagt haben, den Namen Tillmann zu nennen. „O ja,“ sagte er, „der arme Mensch dauert mich unsäglich. Man versteht wirklich nicht, warum ein so guter Kerl so viel Widerwärtigkeiten ertragen muß.Ich frage mich, wie er durch das hindurch kommen wird, was seiner noch wartet. Der alte Tillmann ist wirklich solcher Treue nicht wert. Erst zwingt er seinen Sohn in einen Beruf hinein, in dem er ganz sicher zeitlebens unglücklich sein wird ...“

„Glauben Sie das wirklich? fragte Frau Dorothea.„Kein Zweifel,“ fuhr Marcel fort. „Nie und nimmer wird er auf einen grünen Zweig kommen. An Intelligenz fehlt es ihm nicht; aber an rücksichtsloser Energie.Er ist zu wie soll ich sagen? zu lieb. Mir kommt er immer vor wie ein Wagen. der quer auf dem Geleise steht.

Herr Fernand schien tief nachzudenten. Dann sagte er: „Und zu allem andern wird der arme Zunge mittellos dastehen, denn die Spekulationen des Alten werden das kleine Vermsögen vollständig verschlingen.“

„Er ist tief, tief zu bedauern,“ meinte Delierre.„Schade, daß er sich nicht von dem Alten losmachen kann.“

„Aber das wird er nun doch vielleicht, wenn sein Vater ins Zuchthaus kommt,“ antwortete Frau Dorothea.

Mit schlecht versteckter Erregung fragte Antoinette:„Papa, glaubst du wirklich, daß er ins Zuchthaus kommt ?

Herr Fernand zog die Schultern hoch. „Etwas anderes hat er doch wohl nicht verdient.“

„Man sollte aber doch einen Versuch machen, dem Heinz zu helfen.“ Mit diesem Vorschlag wanöte sich Frau von Guldwang an ihren jungen Gast. „Wollen Sie nicht versuchen, mit dem armen Menschen zu reden,Herr Delierre? Man muß den richtigen Augenblick erfassen. Etwa nach der Gerichtsverhandlung. Da stößt er doch vielleicht eine rettende Hand nicht zurück. Nicht wahr, Papa, für die theologischen Studien kommen wir auf? Und damit es ihm nicht zu schwer fällt, es anzunehmen, bringen Sie es ihm bei, Herr Delierre. Von einem Freund läßt man sich so etwas eher gefallen.Und Sie brauchen ihm gar nicht einmal zu sagen. daß wir dahinter stecken.“

„Das wäre mir lieber,“ sagte Herr Fernand. „Ich möchte nicht, daß uns die Sache noch falsch ausgelegt würoe.“

„Wollen Sie es übernehmen, Herr Delierre?“wiederholte Frau Dorothen.

„Von Herzen gern,“ versicherte Marcel.

„Aber Sie müssen ihm ernstlich zusetzen.“

„Ich werde nichts unterlassen, was zum Ziele führen kann; denn es läge auch mir sehr daran, den guten Kerl in einem Beruf zu sehen, den er ersehnt hat und der ihn auch glücklich machen wird.“

Antoinette hatte an diesem Gespräch gar nicht teilgenommen; aber sie benützte hernach einen Gang durch den Park, um darauf zurückzukommen.

„Herr Delierre ...“

„Ach bitte!“ unterbrach er sie, „warum nicht mehr Marcel“, wie ehedem ?“

„Also, meinetwegen Marcel. Wenn Ihnen gelingt, was Sie übernommen haben, so werden Sie es nicht bereuen. Nur soviel sage ich Ihnen.“ Und als sie in des jungen Mannes Augen eine lächelnde Verwunderung bemerkte, fügte sie hinzu: „Einer solchen Heimsuchung kann ich nicht kalten Blutes zuschauen.“

„Sie haben recht, es ist furchtbar traurig.“

Ohne viel zu reden, wandelten sie weiter bis an eine Tücke des Parkgeheges. Da bemerkte Marcel den herrlichen Saum des Buchenwaldes. „Welche Pracht!“rief er aus.

„Das ist mein besonderer Spaziergang,“ sagte Antoinette, „meine Studierstube, mein Heiligtum.“

„Gehen wir hinüber!“ Delierre wollte auf den e

Zelgpfad hinaustreten; aber Antoinette wandte sich lächelnd gegen den Garten und ließ sich entwischen:„Nicht mit Ihnen.“

Kopfschüttelnd folgte er ihr zum Schloß hinauf.

XII.

Ein schwüler Maientag neigte sich seinem Ende zu.Hoch lag seine öde Helle über brütenden Gassen und ließ ohne Uhr die Stunde nicht erraten. Aus der Türe des alten Rathauses vom Äußern Stand traten ab und zu Leute, die es in der Stickluft des überfüllten Schwurgerichtssaales nicht mehr ausgehalten hatten. Andere standen schon lange auf den gegenüberliegenden Crottoirs herum. Sie erwarteten mit wachsender Ungeduld das Urteil in der TotschlagsVerhandlung Tillmann,welche den ganzen letzten Winter hindurch an allen Wirtshaustischen und auf zahllosen Ofentritten des Werlentales erörtert worden war. In den Gesellschaftsschichten, denen die Familie Gulowang angehörte, verfolgten nur wenige Leute den Prozeß mit Spannung.Sie hatten sich aufgeregt an den Einzelheiten des Verbrechens. Heute gab schon der Verkauf des Schlosses an den Staat mehr zu reden.

Kopf an Kopf drängten sich hinten im Zuhörerraum die Neugierigen. Wie eine Schulklasse im Examen saßen die Geschworenen da. Ihre Augen hingen an der

Gestalt des Verteidigers, der von seinem Pult aus über den Angeklagten hinweg an das Mitgefühl der zum Klumpen zusammengedrängten Volksmenge appellierte.Aus diesem hundertköpfigen Ungetüm wollte er die Schwingungen herauslocken, denen die Geschworenen erliegen mußten. Die Richter lehnten, scheinbar gleichgültig, in ihren Fauteuils. Niemand kam ihnen nahe genug, um in ihren Augen die Belustigung über die Trapezkünste des Anwaltes zu bemerken. Ab und zu,wenn ein Murren oder ein beifälliges Gemurmel jenseits der Schranke vernehmbar wurde, wandte der Präsident sein Haupt mit abmahnendem Blick dem Volke zu.

Hans TCillmann hatte den Gerichtssaal als gebrochener Mann betreten. Mehr noch als alles, was hier zu seinen Gunsten in berechneten Worten vorgebracht wurde, hatte sein Mitleid erweckendes Aussehen bei Volk und Geschworenen ausgerichtet. Er war sich dessen nicht bewußt. In den qualvollen Tagen und Nächten seiner Untersuchungshaft hatte die Reue vollständig die Oberhand gewonnen über alles, was er sich zu seiner Rechtfertigung mit Hilfe des Advokaten zurechtgelegt. Dieser hatte ihm vieles von seinem Schuldbewußtsein hinweggeredet; aber die Erinnerung an gewisse Worte seiner verstorbenen Frau, an Warnungen von Frau Schraner und den Gedanken an die Zukunft der Kinder vermochte niemand und nichts zum Schweigen zu bringen. Und auch jetzt wieder war es ihm, als 217 stünde seine Frau irgendwo im Saal und verhüllte weinend ihr Haupt. Wenn nur um Gottes willen keines seiner Kinder zugegen war! Die Anklagen des Staatsanwaltes hatten ihn verbittert, weil sie so grausam über alle Gründe des Verstehens seiner Tat hinweg den ungeheuerlichen Hergang des Totschlages ans grelle Licht stellten und Zweifel aufkommen ließen, ob nicht sogar Mord vorliege. Da schon hatte das Bedauern mit sich selbst die Bußfertigkeit auf die Seite gedrängt.Und nun donnerten vom Pult des Verteidigers Worte über seinen gesentten Scheitel hinweg, die ihm erlaubten,die Hände vom Gesicht wegzunehmen uno fragende Blicke in das Publikum zu werfen. Wie ein Baum nach dem Abschmelzen der Schneelast, so richtete Hans Tillmanns Herz sich langsam wieder auf, als Dr. Bär ausführte:„Wenn der Herr Staatsanwalt als mutmaßliches Motiv zu der übereilten Tat eine gewisse feindselige Stimmung des Angeklagten gegen den Herrn von Prantkenau erwähnte, so deutet das nur auf ein Schulobewußtsein der Familie von Guldwang. Wohl hätte mein Klient Grund gehabt zur Erbitterung gegenüber diesen Leuten, die den Stolz auf ihre Abstammung herausfordernd zur Schau tragen, auf die Abstammung von grausamen Volksbedrückern. Von dieser Provokation ist bisher nicht gesprochen worden. Versetzen Sie sich in die Lage des Angetlagten, meine Herren Geschworenen! Hans Cillmann hat zwei liebe Kinder,ein Mädchen, das sein Haus mit Sonnenschein zu er

8 füllen trachtete, und einen Jüngling, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, um so mehr, als der Vater jedes Opfer auf sich nimmt, um die glänzenden Gaben seines Sohnes durch entsprechende Bildung zur Entfaltung zu bringen. Ein grausames Schicksal entreißt dem Angeklagten die Gattin in dem Augenblick, da die Erziehung der Kinder einer Mutter am allerwenigsten entbehren kann. Der seiner Lebensgefährtin beraubte Mann arbeitet unverdrossen weiter. Gerne würde er eine zweite Ehe eingehen, um sich und seinen Kindern ein trauliches Heim zu erhalten wahrlich ein Lebensanspruch, den ein in so harter Arbeit stehender Mann wohl hegen darf, um so mehr, als ihn seine Berufspflichten wochen, ja monatelang vom Hause fernhalten.Eine junge Witwe von trefflichem Charatter findet sich bereit, ihm die Hand zu reichen, seinen Kindern eine Mutter zu sein. Er versagt sich dieses Glück, weil er um der Kinder willen seine Familienverhältnisse nicht komplizieren will. Er verzichtet darauf, weil seine Kinder ihn zur Hoffnung berechtigen, daß sie bald mit ihrer eigenen Arbeitskraft ihm zur Seite treten und das Werk mit Erfolg krönen werden, das er ihnen zulieb auf sich genommen.

Was tun nun seine vornehmen Nachbarn? In heuchlerischem Erbarmen für die Halbwaisen benützen sie die häufige Abwesenheit des Vaters, um sich in die Familienangelegenheiten einzumischen und den Sohn im Augenblick, da er die Fachstudien beginnen soll, die ihn an des Vaters Seite führen würden, hiervon abwendig zu machen. Beinahe wäre ihnen dieser Eingriff gelungen.

Und mehr noch! Die pietistisch selbstgerechte Herrschaftsfamilie findet es auch notwendig, ihr Seelenheil zu erkaufen mit einem ‚guten Werk an Vater Tillmann selber. Sie hält ihn für einen Trunkenboid und will ihn retten. Sie schickt ihm einen Arzt auf den Teib. um ihm ein Abstinenzgelübde abzuringen.

Der in allen Sätteln der Finanzwelt gerechte Neffe des Schloßherrn von Prankenau weiß die Projekte des mühsam um sein Vorwärtskommen ringenden Mannes zu hintertreiben. Nicht genug daran, daß er den Schloßbesitz von Prankenau, der ohnehin veräußert werden soll, in eines andern Käufers Hände spielt, um den Angeklagten eines mõöglichen Gewinnes zu berauben,warnt er diesen hinterdrein noch vor gewagten Spekulationen. Aus Christenpflicht will er gehandelt haben.Hören Sie, meine Herren Geschworenen, was man in diesen frommen Kreisen unter Christenpflicht versteht!

Nachdem der Advokat dem glotzenden Saal jenen Brief des Herrn Fernand vorgelesen, fuhr er fort:

„Glauben Sie aber nicht, der alte Herr auf Prankenau sei an diesen Herausforderungen unbeteiligt geblieben. Nicht imstande, sich auf dem Rechtswege der Drainierung der Zelg zu widersetzen, deren Versumpfung er durch den mangelhaften Unterhalt seiner hochherrschaftlichen Wasserkünste verschuldet, macht sich der eigensinnige alte Mann ein Vergnügen daraus, dem Angeklagten die Arbeit zu erschweren, indem er sich hartnäckig weigert, seine Ceiche entleeren zu lassen.

Hat auch der Angeklagte durch all diese Schikanen,die geeignet waren, ihm das Leben zu verbittern, sich zu keiner feindseligen Handlung bestimmen lassen, so erklären sie doch zur Genüge die Gemütsverfassung,welche die Voraussetzung zu der übereilten Tat eines so rechtschaffenen ruhig seinem Beruf lebenden Mannes bildet.

In dieser überreizten Stimmung sehen wir ihn am verhängnisvollen 10. November seine Arbeit antreten.Sie war hart und unerfreulich, diese Arbeit, das Wetter kalt und feucht. Dies veranlaßte ihn, wie die Zeugen übereinstimmend aussagen, seiner Feloflasche öfter zuzusprechen, als ihm beksmmlich war. Meine Herren Geschworenen, ich bitte Sie, das nicht außer acht zu lassen.Wäre der Angeklagte der rettungsbedürftige Alkoholiker gewesen, um den die Familie Guldwang sich bemühen zu müssen glaubte, so würden ihn die paar Schlücke gebrannten Wassers nie und nimmer in jenen Zustand verminderter Selbstbeherrschung versetzt haben.

Man hätte selbst bei raffiniert ausgesonnener Provokation eines Raufhandels nicht erfolgreicher gegen TCillmann vorgehen können. Als der Tag sich neigte, ohne ein befriedigendes Resultat der Arbeit gezeitigt zu haben, muß es sich der Angeklagte gefallen lassen, daß das überflüssigste Geschöpf der ganzen Umgegend, der zu keinem rechten Dienst mehr fähige, zum Schoßhund degradierte, verwöhnte und, wie es scheint, doch hungrige Jagdhund des Schloßherrn die Provianttaschen der Arbeiter nach Resten ihres kärglichen Mahles durchschnuppert.

Wer von Ihnen, meine Herren, würde sich da enthalten haben, dem herrschaftlichen Hundevieh einen Fußtritt zu versetzen? Und nun erfolgte die letzte Provokation, die allein schon schwer genug nur noch den Tropfen darstellt, der das Maß voll machen mußte.Darf sich ein rechtschaffener Mann in leitender Stellung vor seinen Untergebenen um eines überflüssigen Hundes willen von einem notorischen Nichtstuer beschimpfen lassen, unter dessen Launen die ganze Gemeinde zu leiden hat? Ich glaube, wir alle würden uns zur Wehr gesetzt und vielleicht nicht einmal, wie Hans Tillmann es tat, die tätliche Bedrohung mit der geladenen Schießwaffe abgewartet haben. Erst auf diese hin, entreißt der Angeklagte seinem Gegner die Waffe, nicht um sich zu rächen, wozu er Grund genug gehabt hätte,nicht um einen lästigen Störer und Feind seiner nützlichen Arbeit zu beseitigen das alles nicht, trotz seines erregten Zustandes und der durch Alkoholgenuß verminderten Selbstbeherrschung sondern nur, um sich gegen den Angriff eines ganz unberechenbaren ehemaligen Troupiers und aristokratischen Abenteurers zu schützen, um seinen Kindern den Vater zu erhalten.Zugunsten Tillmanns spricht auch sein ganzes Ver halten nach dem Unglück. Er läßt den Verwundeten heimschaffen, er holt selbst den Arzt. Die Landjäger finden ihn auf dem Gottesacker zu Schöchwyler, hingestreckt neben dem Grabe seiner Frau, der er sein furchtbares Unglück klagen wollte. Ergreifend ist der Ausbruch seiner Reue im Gefängnis.“

Während dergestalt Berni Bärs Vater Hans TCillmanns Bußfertigkeit erfolgreicher niederkämpfte als die Gegenargumente des Staatsanwaltes, bemühte sich Mirabeau, seinen düster blickenden Freund Heini durch die Versicherung aufzuheitern, daß es seinem Vater gelingen werde, eine Freisprechung zu erwirken. Beide warteten in der Schreibstube des Anwalts auf den Bureaudiener, der ihnen Bericht bringen sollte. Entweder würde der Freigesprochene selbst Heini abholen kommen oder dann wollte Dr. Bär ein kurzes Zusammentreffen zwischen Vater und Sohn auswirken. Die Qual des Nachmittags wollte kein Ende nehmen. Als es vom nahen Turme sieben Uhr schlug, trat Heinz Tillmann wieder einmal an das offene Fenster, um nach dem Gerichtsgebäude zu spähen. Ihn dünkte, es stünden etwas mehr Leute herum als vor einer halben Stunde es waren erst zehn Minuten verstrichen, seitdem er das letztemal hinausgeschaut. Aber es mochten nur solche sein, die zum Nachtessen heim sollten, und im Weggehen lauschten, ob nicht vielleicht jetzt gerade die Beratung zu Ende ging. Nun wollte Heinz nicht mehr vom Fenster weg. Er setzte sich auf das Gesimse und ließ seine Blicke gaßauf und gaßab schweifen. Plötzlich schien ihn etwas da drunten zu fesseln. Berni trat ans Fenster und fragte: „Kommt er ?“

Heinz überhörte die Frage. Seine fieberigen Blicke folgten drei Gestalten, die sich die Straße hinunterbewegten: Antoinette von Guldwang zwischen ihrem Vater und ja ja, das war er Marcel Delierre.Und am Ende der Gasse wartete der Guldwangsche Wagen. Heinz kannte die Pferde und den Kutscher.Durch seine Brust wühlte etwas, das noch stärker angriff als die Spannung auf das Urteil. Nie und nimmer hätte Heinz das irgendwem zugegeben; aber es war da und brachte in seine Seele neue Gärung und Verwirrung. Er verfolgte Delierre und Antoinette mit solch gespannter Schärfe, daß ihm der Bureaudiener entging, der beflügelten Schrittes die sich mehrende Menge ourchschritt.

Berni riß seinen Freund los mit dem Ruf: „Da ist er. Komm!“ Er zog den erschreckten Heinz vom Fenster und reichte ihm den Hut. Heinz war wie betäubt. Also nicht der Vater selbst kam. Das bedeutete ...

Mit zitternden Knien stieg er hinter Berni die Treppe hinunter. Im Hausgang begegneten sie dem Diener, der Heinz meldete, Dr. Bär erwarte ihn im Vestibül des Gerichtshauses. Hinauseilend hörte er den Diener zu seinem. Freunde sagen: „Achtzehn Monate.“Heinz bohrte sich durch den summenden Menschenstrom, der auf die Gasse herausflutete. Er hörte nicht, wie da und dort einer sagte: „Der junge Tillmann!“ Er sah weder die verblüfften, noch die mitleidigen Blicke.Er stürmte durch das dunkle Gewirr, drängte wider lebende Hindernisse, schob, ohne ihn zu kennen, den Bankier Ryter auf die Seite, sah Uniformknöpfe vor sich und wußte kaum, was mit ihm geschah, als der Landjägerkorporal und Dr. Bär ihn in ein Hofzimmer mit vergitterten Fenstern schoben. Aber da da saß der Vater in sich zusammengebrochen. Er hob nicht einmal den Kopf, als Heinz auf ihn zutrat, ihn wortlos umarmte und ihm mit seinen Tränen den Scheitel benetzte.

Dr. Bär war ein gewaltiger Redner und bot, wenn es galt, einer tobenden Volksmenge die Stirne; aber wo der Schmerz aus Abgründen schrie, versagte sein Mut. Er ließ die zwei mit dem Tandjäger allein, den die Amtspflicht zwang, einem Erlebnis standzuhalten,das ihm die blinkenden Cränen über die wetterharten Wangen jagte.

Als Heinz Tillmann das Gebäude verließ, bemerkte er kaum, daß die Menge sich so ziemlich verlaufen hatte.Er war sich überhaupt nicht recht klar, was mit ihm vor sich ging. Zwei Menschen hatten ihn in ihre Mitte genommen und führten ihn langsam über die Straße.Der eine redete mit lieber Stimme auf ihn ein. Worte wie: sich nicht unterkriegen lassen, auf die treuen Freunde zählen, mit frischem Mut den Beruf ergreifen, den einzig richtigen für ihn, Theologie, aller Sorgen enthoben sein, klangen Heinz in den Ohren. Erst allmählich ward ihm bewußt, daß er zwischen Mirabeau und Delierre schritt und stand. Mit allmählich wiederkehrender Stille des Gemütes hörte er ungläubig staunenden Blickes dem eindringlichen Anerbieten Delierres zu. Und auf einmal stand dicht vor ihm mit groß aufgerissenen ängstlich drängenden Augen Antoinette von Guldowang.„Heini!“ sagte sie, als wollte sie ihn beschwören, „nicht wahr, Sie folgen dem Rat Ihres Freundes? Tun Sie das! Jetzt nur nicht verzagen! Jetzt müssen Sie ein neues Leben anfangen.“ Flüsternd fügte sie bei:„Lassen Sie mich nicht im Stich!“ Delierre warf einen staunenden Blick auf Antoinetie. Da zerriß jählings ein markerschütternder Schrei die Luft. Aller Augen richteten sich nach der Cüre des Gerichtsgebäudes, wo,von zwei Tandjägern gehalten, Vater Tillmann die Fauft freizubekommen suchte. Seine Züge waren flammendes Blut, blinkende Kiesel die Augen. Und mit dem ganzen Leibe ringend, schrie er gegen die Gruppe der jungen Leute, hinter welcher Herr Fernand von Guldwang stand: „Das nicht! Euer verfluchtes Erbarmen soll mir mein Kind nicht stehlen! Heini! Hörst du ?“

Die Tandjäger zerrten den Widerstrebenden durch den sich neu bildenden Auflauf hinweg.

Die jungen Leute standen starr, bis Heini mit erstickender Simme zu Antoinette sagte: „Ich kann nicht!“und, sich losreißend, davonstürmte.von Tavel, Seinz Tillmann.

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XIII.Auf dem Bannwartenstein, wo vor kaum einem Jahre noch Herr Scipio von Guldwang pirschend geweilt,hockte heute Hans Cillmann. Die leergelöffelte Gamelle neben sich, ließ er seine Blicke über die im AugustSonnenglast zu seinen Füßen liegende Landschaft schweifen. Westwärts zog sich das Cannenmeer des Lindentals, aus dessen Schattseite der Felshügel mit der Karthause ins helle Mittagslicht heraussprang. Nordwärts gewährte der Einschnitt über dem Dörfchen Krauchtal einen Ausblick nach den in blauer Ferne sich dehnenden Jurakämmen. Wunderherrlich wär's gewesen,das Cräumen über dem schlummernden Gewirr von Waldhügeln und den Cälchen, durch deren reizende Heimlichteit sich weiß leuchtende Wege schlängelten,hätte nur nicht die nächste Umgebung den Rastenden an die Ereignisse gemahnt, die ihn hierher geführt. Da lagen dicht hinter ihm, im Schatten des überhängenden Felsens, hingeworfenen Zementsäcken gleich, die Schicksalsgenossen, die unter seiner Leitung ein neues Fahrsträßlein anzulegen hatten. Da pfiffen keine Tokomotiven, rasselten keine Krähne. Ein Kleinbetrieb war's,darauf eingerichtet, die vorhandenen Arbeitskräfte solange wie nur möglich zu beschäftigen. Mit den Sträflingen pflegte Hans Tillmann so wenig Gemeinschaft als es irgend anging. Näher stand er dem Pro foßen, der dort an Übersicht gewährender Stelle am Waloranod, die Doppelflinte über die Knie gelegt, Wache hielt; doch ward es ihm immer bitter, wenn der ungebildete Schnauzbart ihn fühlen ließ: auch du hast dich mir zu fügen.

Wenn der helle Sonnenschein ihn umgab und man über Tal und Hügel blicken konnte, gingen Hans Cillmanns Gedanken in die Zukunft, und trotziger Mut erfüllte sein Herz. Er gab sich noch nicht verloren. NAur dort drunten in der nächtlichen Zelle kam zuweilen etwas anderes über ihn. In der Einzelhaft der ersten Tage mußte er oft die wehleidigen Anläufe niederkämpfen. Die Erinnerungen an Frau und Kinder, an die einfältige Frau Schraner, an die Wirtin vom „Wilhelm Tell“ peinigten ihn furchtbar. Er wünschte sich hundertmal in schlaflosen Nächten den Cod. Aber mit dem ersten leisen Cagesgrauen in der Fensterverschalung/ die nur ein kärglich Riemlein Himmel freigab, erwachte gleich wieder der Gedanke: Hätten sie mich nur machen lassent So wie Dr. Bär es dargestellt, so verhielt es sich in Wirklichkeit. Er gehörte von Rechts wegen nicht hierher; darum, bildete er sich ein, behandelten ihn hier alle mit Schonung, vom Direktor bis zum letzten Wärter.

Und je heller der Cag wurde, desto entschlossener wandte sich Hans CTillmann der Zukunft zu. Er mußte.Schwebte nicht sein Vermögen in Gefahr? Wenn ihm die Menschen schon übel mitgespielt und ihn wehrlos gemacht, das ließ er den Herren von den Kuretablissements nicht.

Das Glöcklein der Strafanstalt das verdammte,das ihm nachts die Stunden mit so unerbittlicher Pflichttreue vorzählte zog plötzlich die Aufmerksamkeit des Träumenden nach der Karthause. Ein Hund bellte. Und richtig, dort drunten verließ, über den schmalen Damm schreitend, der an Stelle der alten Corbrücke getreten war, der ablösende Profoß die Veste. In wilden Freudensprüngen umtreiste ihn einer der Wolfshunde, die auf Menschenfang dressiert waren. Aber mit dem Profoßen ging ein schlanker junger Mensch, und gegenüber, am Rande des Waldhanges, stand ein Paar. Nun kamen sie alle vier zusammen und redeten miteinander. Der junge Mann, der mit dem Profoßen ging, zeigte nach dem Bannwartenstein. Dann verschwanden sie alle im Wald.Hans Tillmann wurde das Herz unruhig. Wenn das nicht seine Kinder waren! Zerstreut nahm er mit seinen Gefährten die Arbeit wieder auf. Plötzlich war ihm das Peinliche auf die Seele gefallen, daß seine Kinder ihn in der Sträflingskleidung sehen sollten.

Seine scharfen Augen hatten ihn nicht getäuscht.

Tags zuvor hatte ein Jahreskurs der Haushaltungsschule zu Kilchwerlen mit einem festlichen Eramen abgeschlossen. Bei den Zuhörern hatten diesmal die Herrschaften von Prankenau gefehlt weil Roöseli Tillmann unter den Schülerinnen saß. Dafür war Heinz, ihr Bruder, der während der akademischen Ferien in der Känelmatt über den Büchern saß und sich von Frau Schraner den Haushalt führen ließ, da. Und noch einer war da Franz Dengeler, der Theologe. Was hatte den hergeführt? Zunächst einmal seine Tante, die im Komitee der Schule saß und fand, ein angehender Pfarrer dürfte sich wohl für derartige Einrichtungen interessieren. Aber auch diese personifizierte Biederkeit man nannte sie wegen des Ebenmaßes ihrer Gesichtsbildung das Nilpferd hatte ihre Hintergedanken. Im diesjährigen Flug der Schülerinnen befand sich ein niedliches Pfarrerstöchterlein aus dem Emmental, von dem sie dachte, ihr Neffe Franz sollte es doch wenigstens einmal gesehen haben. Franz Dengeler, der übrigens seine Verwandtschaft mit der Tante Hippopotamä nicht absolut verleugnete sein Kopf war ihm zudem ziemlich tief zwischen den Schultern sitzen geblieben bekam denn auch einen Platz zugewiesen, von dem er das Pfarrerstöchterlein in der vorteilhaftesten Beleuchtung beschauen konnte. Es war lieblich wie die Butterblümchen vom Emmental und seine Augen lachten wie der Himmel ob Lützelflüh. Aber Franz Dengelers schwarze Äuglein hatten etwas ganz anderes entdeckt, und das war die Schwester seines Schulkameraden Tilly, ein anspruchsloses stilles Geschöpf, das durch seine Natürlichkeit Wohlbehagen um sich verbreitete. Röseli war keine blühende Rose, aber auch kein Ankeblüemli, sondern ein ernstes bräunliches Lanokind von eher schmäch tigem Wuchs. Wenn sie im Wesen ist, wie ihr Bruder,sagte sich Franz, so weiß ich, wer einst Frau Pfarrer Dengeler heißen wird. Da helfen alle Behemothe des Mittags nichts. Junge Cheologen sind furchtbar feuersgefährlich. Als abends die besorgte Tante das auch ohne aufgeklebte Etikette in Franzens Augen las, schrie ihr ganzes Gesicht: „Gäll, bin i nid e Liebi?“ Der Neffe bestätigte das mit der Erklärung, er habe zu seiner großen Freude seinen Freund Tillmann gefunden und gehe morgen mit ihm und seiner Schwester zur Karthause.

„Franz!“

„Was denn?“

„Weißt du nicht? Ihr Vater ist ja ...“

„Wegen Totschlags im Gefängnis. Eben just drum.“

Das war es ja gerade, was in Franz Dengelers Augen einer Annäherung ganz besondern Reiz verlieh.Und als heute früh Tante Nilpferd neben den würzigsten Konfitüren aus der Haushaltungsschule einen Turm von nächtlich ausgebackenen Argumenten unter dem Teewärmer zurechtgestellt hatte, war der verliebte Neffe schon droben in der Känelmatt, ja er hatte mit dem Hammer seiner Burschenlaune bereits eine Ecke von Röselis Unnahbarkeit abgeschlagen. So wanderten die stillen Geschwister mit dem frohen Gesellen durch die Wälder dem Lindental entlang. Heinz war glücklich über das Zusammentreffen, denn ihm hatte vor dem Gang nach Torberg, den er sich vorgenommen,gegraut wegen der Schwester, die nicht von seiner Seite weichen wollte. Als Franz Dengeler immer lauter und fröhlicher wurde, und sogar anfing, Wanderlieder zu quietschen, wandte Heinz sich gegen ihn: „Du bist mir ein Engel Gottes; ich weiß nur nicht, soll ich dich umarmen oder da ins grüne Moos legen und meine Freude auf dich ausprügeln.“

„Lieber letzteres,“ sagte Franz und sang weiter.Jeden andern Sänger hätten Heinz und Röseli verwünscht; aber aus dieses Gesellen frohem Lärmen sprach so deutlich die Wonne, liebebedürftigen Menschen etwas sein zu dürfen, daß sie sich über alles freuten. Heinz Tillmann zwang auch die schmerzlichen Gefühle nieder,die der Freund mit dem Geplauder über seine Studien,Professoren und Kollegen in ihm weckte. Doch wies er ein leises Gelüsten nach Umkehr in der Berufswahl nicht von sich. Je nach der Verfassung, in der er den Vater traf ...

Als sie vor der alten Veste anlangten, beschwor Heinz die beiden Begleiter, zurückzubleiben. Ehe Röseli den BDater zu sehen bekam, wollte er selber wissen,unter welchen Umständen man ihn sprechen konnte. Der Direktor gestattete Heinz mit dem ablösenden Aufseher auf den Werkplatz zu gehen. Dorthin wollte Heinz seine Schwester nicht mithaben. Er sanöte sie mit Franz in den Wald hinauf und versprach, sie zu rufen, falls der Vater sie sehen wollte.7 4

4

Der Profoß hieß Heinz in einer Einbuchtung des Weges warten und lief voraus. Es dauerte nicht lange,so kamen zwei Männer vom Werlplatz herunter. Da faßte ein entsetzliches Weh den Harrenden. Herrgott! Nein nein nein! schrie es in ihm bei dem Anblick des Vaters, der plötzlich, kahl geschoren und glatt rasiert, in den braun und grau gestreiften Sträflingskleidern vor ihm stand. Wie einer, der des Gegners Feuer unterlaufen will, rannte er auf den Vater zu und drückte, um ihn nicht sehen zu müssen,das Gesicht an seine Brust. Der entsetzliche Anstaltsgeruch des Kittels benahm ihm erst recht den Atem.

Der Profoß, der Tillmann begleitet hatte, ging unterdessen weiter.

Hans Tillmann zitterte einen Augenblick und fühlte seine Augen brennen. Diesen Anfall von Rührung niederpolternd, schalt er: „Dummer Bub! Taß doch das Geheul. Sörst? Es nützt ja doch nichts. Warum kommst denn, wenn du's doch nicht ertragen kannst? Setz dich daher!“ Hans Tillmann drängte den Sohn sachte von sich weg an die Böschung. Als Heinz sich an diese hinlegte und sein Gesicht ins Gras drückte, glaubte der Vater, ihm auf andere Art aufhelfen zu müssen. „Wart'!“ sagte er und schlich mit plumpen Schritten das Bord hinan, gegen eine Wettertanne, deren mächtige Wurzelschlangen eine kleine Höhlung bildeten. Bald darauf stand er wieder vor Heinz und hielt ihm ein häßliches kleines Glas voll stark riechenden Branntweins hin. „Da, nimm, das klepft auf. Aber jetzt hör' mir auf zu flennen! Donnerwetter auch!“

Heinz schnellte auf. Eine zornglühende Frage lag auf seinem Gesicht. Einen Augenblick blieb es totenstill zwischen den beiden.

Dann richtete sich Heinz vollends auf, riß das Glas an sich und warf es ins Gestrüpp.

„Vater, hast du dem auch hier noch nicht abgesagt?

Du weißt doch, wie übel dir das mitgespielt hat.“

Hans Cillmann zwang sich zu lächeln. „Wenn du wüßtest, was arbeiten ist und was Gott erspar dir's Gefängniskost bedeutet ...“

„Vater, nun sollst du's wissen: bis ich sicher bin,daß du dich davon losgemacht, rühr' ich keinen Tropfen geistigen Getränks mehr an. Dat“ Er bot dem Vater seine Rechte. Aber Hans Tillmann schlug nicht ein. „Hör jetzt, Bub. Wir wollen unsre Zeit nicht mit derlei Zeug verplempern. Also, wie stehts um deine Studien?“Heinz berichtete genau und konnte seinem Vater die Gewißheit geben, daß er keinen Tag verloren gehen lasse.„Gut so,“ sagte der Vater, „es wird dich nie gereuen. Auch ich versäume nichts. Sie sollen nicht meinen,sie haben mich aus der Welt geschafft. Donnerwetter nein. Einen Mann, der auf zwei Füßen steht und einen Kopf hat wie ich, erwürgt man mit Einsperren noch lange nicht. Wart nur, wenn ich einmal wieder frei bin, dann sollen sie erfahren, wer sie anfaßt. Einstweilen hat Dr. Bär Vollmacht für meine Geschäfte im Oberland. Dadrum brauchst du dich nicht zu sorgen.Aberhaupt, du sollst jetzt gar nichts andres tun als deinen Studien leben. Taß dich ja nicht etwa zum militärlen verleiten. Das Avancieren nützt dir gar nichts und verschlingt eine Zeit hol's der Teufel! Und damit du sicher gestellt bist mit deinen Studien und auch das Röseli seinen Weg machen kann, habe ich Dr. Bär beauftragt, das Heimet in der Känelmatt zu verkaufen.“

„Vater! Das wird doch nicht dein Ernst sein!“Heinz starrte den Alten wie versteinert an. Der aber lachte kalt und fuhr fort: „Ja, Bürschli, siehst, das Leben ist kein Kinderspiel. Entweder man rührt sich und nimmt alle Kraft zusammen oder dann darf man nicht verwundert aufglotzen, wenn einem die lieben Leute ihre dreckigen Stiefelabsätze auf der Nase umdrehen. Mit dem Heulmeiern kommt man zu nichts.“

„Aber Vater, das Haus, wo wir alle unsre lieben Erinnerungen und das Andenken an die Mutter .. *

„Alles recht. Aber für des LTebens Kampf hat das keinen Wert.“

„Das fragt sich, Vater.“

„Wer's vermag, gut. Aber für mich ist das Lurus.

Überhaupt, es gibt gar nichts mehr zu brichten drüber. Das Haus ist so gut wie verkauft. Gib dich nur drein! Du kannst ohnehin auf die Länge nicht dort bleiben mit der alten Schranerin. Der Erlös ist dein.Mit dem sollst du deine Studien zahlen und deinen Weg antreten. Und das Meitschi, das Röseli, muß ins Welsche. Das ist nun mein Auftrag an dich. Such' ihr etwas Passendes. Hast Rat nötig, so geh zu Dr. Bär. Aber bei Gott, Bub! Zu denen drüben, ob der Zelg ... nimm dich in acht? Du weißt, was du mir schuldig bist.“

„Ja, Vater, das weiß ich, weiß es vielleicht besser als du. Und von nun an sollst du mich nimmer flennen sehen. Du sollst erfahren, daß nun auch ich auf 3wei festen Füßen stehe und einen Kopf habe. Du hast's so gewollt. So sei's.“

In Hans Tillmanns Augen lag etwas wie Belustigung, als er erwiderte: „Endlich! Endlicht So möcht'ich dich ja just haben.“ Aber in der Helle seines Blickes webte doch eine leise Verblüfftheit. Es war nicht durch und durch wahr mit dem: „So just möcht' ich dich haben.“ Vater und Sohn drülckten sich die Hand und schauten sich in die Augen. „Also,“ sagte Heinz noch einmal, „es bleibt dabei, Vater. Ich trinke keinen Tropfen mehr, bis ich weiß, daß du in Sicherheit bist.“

„In Sicherheitt“ murmelte der Vater vor sich hin, und als er den JZungen durch das Gebüsch bergan steigen sah, lachte er gezwungen: „Dich werd'ich schon wieder einfangen, Heinerli.“

Franz und Röseli waren erstaunt, Heinz schon wieder ptommen zu sehen. Der Schwester klopfte das Herz zum Zerspringen, denn sie glaubte nichts anderes, als Heinz tomme, sie zum Vater zu holen.

„Soll ich kommen?“ rief sie ihm entgegen.

„Nein, um Gottes willen nicht,“ keuchte er im raschen Heraufsteigen. Und auf die fragenden Blicke antwortete er kurz und hastig: „Du würdest es nicht ertragen.“

„Geht's ihm schlecht? Ist er krank?“ wollte Röseli wissen.

„Nein ..... Aber ..... Geht nur weiter. Ich muß erst wieder ein wenig zurechtkommen.“

Zögernd gingen sie weiter. Röseli verschluckte Tränen,und der Theologe blieb auch stumm. Heinzens Ausdruck verriet mehr Aufregung als Traurigkeit, und deshalb vermuteten sie, Tillmann werde Ischlecht behandelt.

Nach einer Viertelstunde erreichten sie die Bergkuppe und wanderten, leichter atmend, durch den Hochwald einer Lichtung zu. Da lag ein Stück Heideland voll Erika und Brombeerdickicht, und darüber hinweg sah man in sommerlicher Blässe die Schneeberge das weite Hügelland überragen. Die große feierliche Stille ließ es zu, daß ein jedes tiefer und tiefer in seine besondern Gedanken hineintastete. Wie in schweigender Verabredung setzten sie sich auf eine gefällte CTanne.

Nach geraumer Zeit sagte Heinz zu sich selbst:„Möchte nur wissen, was dabei herauskommen soll.

Da sondert man diese Unglücklichen ab von den übrigen Verbrechern denn nach dem Maßstab der göttlichen Gerechtigtkeit gemessen sind wir doch alle Verbrecher sondert die ab, die weniger Selbstbeherrschung, weniger Erziehung und mehr gefährlichen Mut,mehr Temperament haben und sperrt sie alle zusammen,wirft sie mit all ihren gefährlichen Anlagen an einen Haufen, daß es gären muß unter dem Druck der aufgestappelten Fäulnis. Und nun bildet man sich gar noch ein, sie sollen hernach besser herauskommen.“

„Natürlich ist es ein Unsinn,“ bestätigte Franz.„Man zerbricht sich auch redlich den Kopf über die Ziele der Gefängnis und Strafrechtsreform. Aber für uns liegt die Frage anders. Wir sagen: kein Mensch macht den andern besser, auch keine menschliche Einrichtung. Bessern kann nur Gott. Darum müssen wir uns fragen: Was kann geschehen, um Gott besser zu Wort kommen zu lassen? Es ist natürlich ein Unsinn,zu glauben, die sonntägliche Predigt richte im Gefängnis mehr aus als im freien Leben draußen. Nicht predigen,aber alltäglich aus Gottes Wort vorlesen sollte man.So käme Gott zum Wort, bald tröstend, bald strafend.Die Stunde des Zusammenbruches ist für jeden einzelnen das Entscheidende, und die schlägt wohl manchem weit außerhalb seiner sogenannten Strafzeit.

„Eben das ist's, der Zusammenbruch.“ Heinz nahm seiner Schwester Hand und sagte ihr leise: „Mit dem Vater müssen wir noch lange Geduld haben.“7.

30

Röseli vermochte lange nicht zu reden. Als sie ihre Herzensnot ein wenig niedergelämpft hatte, brachte sie,den Kopf an Heinzens Schulter legend, mühsam heraus:„Dennoch! Zum Glück sind wir unser zwei.“

Da blickte Franz Dengeler sie aus seinen dunklen AÄuglein gar bittend an und fragte: „Wirklich nur zwei? dDarf ich nicht mithalten?“ Und Röseli fühlte, daß da, im Duntel ihres Leides, einer hinzutrat, der mitzutragen bereit war. Sie konnte das nicht ausschlagen und empfand es auch gar nicht als unerwünschte Einmischung. Dankbar blickte sie ihn an und sagte: „Das ist lieb von Ihnen.“ Und als sie bald darauf wieder weiter wanderten, wie drei Menschen, die schweigsam an einer einzigen Last tragen, da ließ Röseli es geschehen, daß der häßliche Student mit dem herzguten Gesicht sie recht zärtlich an sich zog und den Arm um sie legte. Noch manches Tränlein kugelte ihr im Wandern nieder und blinkte wie ein verlorener Edelstein im grunen Moos. Die zwei trotteten in stiller Seligkeit voraus. Schon fiel die Sonne schräg in den Wald,und die Augen ermüdeten sich ob dem Hinwandern uber die unzählbaren Stammschätten, die Füße stolperten über Wurzeln, und darob stellte sich allmählich wieder ein leises, glückliches Lachen ein.

Weit hinter den beiden ging Heinz grabend,ringend, betend. Die da vorn hatten ihr Glück gefunden. Wie eine Windsbraut war es gekommen und doch nicht flüchtig. Dazu ging Franz einer Lebensauf gabe entgegen, die ihn in die tiefsten Tiefen, auf die höchsten Höhen führen konnte.

Heinz Tillmann hatte die beiden aus den Augen verloren, suchte sie auch nicht; er wollte sein Weh nicht ihrem Glück an die Fersen heften. Wo der Pfad über das Herrenvogelhölzchen gegen die Känelmatt abzweigte und der Tannwald durch das lichte wogende Meer der Buchen begrenzt ward, schreckte ihn in der Waldesdämmerung ein heller Schein auf. Und wie er hinsah, stand wenige Schritte vor ihm Antoinette von Guldwang. Jäh durchzuckte ihn des Vaters drohende Warnung vor „denen ob der Zelg“. Antoinette vertrat ihm den Weg, genau wie damals, als er aus dem Militärdienst in Urlaub kam. Sollte er sich ihr entziehen mit einer schäbigen Phrase von nicht Zeit haben oder von erwartet sein oder gar mit schroffer Zurückweisung den letzten Faden zerreißen? Nein,noch ehe sie ihn angesprochen, wußte Heinz, daß dieser nach Hilfe schreiende Blick ihn doch nie mehr zur Ruhe kommen ließ. Aber des Vaters Warnung! Heinz warf unwillkürlich die geballten Fäuste hinter sich, als zerrisse er einen Strick über das Knie. Nein, des Vaters törichter Haß fesselte ihn nicht länger. Frei und stark wollte er handeln, wie die Liebe zu dem Vater ihn handeln hieß.

Antoinette verstand die ungestüme Geberde nicht.Hastig redete sie Heinz an: „Ich habe Ihnen etwas zu sagen. Den ganzen Tag, seitdem ich Sie mit Ihrer Schwester am Morgen ausziehen sah, habe ich den Weg im Auge behalten.“

Als wollte er mit der Gequälten weiter von den Menschen abrücken, verließ er den Pfad, und sie folgte ihm in die tiefe Waldesdämmerung hinein. In einer verschwiegenen Bucht blieb er stehen.

„Heinz,“ sagte sie. „Sie ahnen nicht, wie schwer es mir fiel, Sie hier aufzusuchen.“ Scheu rückwärtsblickend und lauschend, hielt sie inne, faßte Heinzens Hand und zog ihn noch ein paar Schritte tiefer in die Buchtung hinein. „Aber wenn ich Ihnen nicht enolich anverirauen kann, was mich Tag und Nacht verfolgt, so halte ich dieses Leben nicht mehr aus. Tassen Sie mich reden. Ich weiß schon, was Sie mir entgegenhalten wollen. Es ist wahr, man trägt mich auf Händen, man umgibt mich mit unendlicher Sorge;aber das ist's eben, was ich nicht mehr ertragen kann.Ich bin nun einmal denken Sie nicht, daß ich fromme Phrasen mache ergriffen von der Liebe zu den leidenden Menschen. Verstehn Sie mich, ich will nicht Krankenpflegerin werden oder dergleichen, nur frei werden von dieser erstickenden Umsorgung. So, wie ich bin, und mit allem, was mir gehört, möchte ich denen wohltun, die einsam ihres Weges ziehen. Nein,nein, ich will nicht in ein Diakonissenhaus und auch nicht als alte fromme Jungfer die Armen um mich scharen. Aber ich weiß wohl: was ich möchte, das kann ich allein nicht, das kann ich nur durch einen A starken Arm, der das Gleiche will, der frei herausgesagt sein Leben Gott zur Verfügung stellt. Und dieser starke Arm sind Sie, Heinz.“

Plötzlich hielt sie inne. Sie hoffte auf irgend ein Zeichen der Zustimmung; aber Heinz blieb stumm. Da wandte sie sich ab, empört darüber, daß er die Preisgabe ihres Innersten, mit der sie ihm eine Brücke zu bauen gedachte, nicht würdigte. Schon wollte sie den Rückweg antreten, als Heinz endlich das Schweigen brach: „Ich muß meinen Weg gehen.“

„Welchen Weg?“ fragte sie.

„Den die Sorge um meinen Vater mich gehen heißt.“„Und die andern alle, denen Sie das Heil bringen könnten, wollen Sie warten lassen?“

„Ja,“ sagte er in plötzlicher Erleuchtung, „wie der,der die neunundneunzig in der Wüste ließ, um dem einen Verlorenen nachzugehen. Wenn ich den einen geborgen haben werde, so werde ich die Herde weiden,die Gott mir zuweist. Meinen Vater kann ich nicht verlassen.“

„So gibst du miich preis.“ hauchte eine Stimme tonlos.

Und aus dem stummen Wirrsal der Stämme antwortete es ehernen Klanges: „Will Gott, daß unsre Wege sich einen, so werden sie sich einen. Ich sehe nichts mehr um mich als Nacht, aber ich folge meinem Glauben an den kommenden Morgen.“von Tavel, Heinz Tillmann.

16

Antoinette wollte fliehen, aber sie fand keinen Weg.Strauchelnd griff sie nach dem nächsten Stamm und schürfte sich die Hand. Da fühlte sie Heinzens kräftigen Arm um sich gelegt. Er führte die Zagende, behutsam tastend, zwischen den Bäumen hindurch bis an den Waldsaum. Hier flimmerte vor ihnen über dem schlafenden Berge der Sternenhimmel. Als ihre Fuße das helle Band des Weges betraten, sagte Heinz leise:Glaube, wie ich glaube!“ und ließ sie vorangehen.

XIVV.

Es war des Staunens kein Ende, als, wiederum an einem brütenden Augusttage, Heinz Tillmann tapferen Schrittes auf das Chalet an der Spiezerbucht zugeschritten tam, wo nun die Familie Guldwang die Sommermonate zubrachte. Frau Dorothea wunderte sich des Freimutes, mit dem der junge Mann von neuem in ihren Gesichtskreis trat, nachdem der Vertauf der frühern Heimstätten die einstigen Nachbarsfamilien vollends auseinander gebracht. Blitzschnell reihten sich die AÄberlegungen, wie sie eben dem Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprangen.Hatte vielleicht der Ruin des väterlichen Vermögens den Studenten, der doch von etwas leben mußte, mürbe gemacht? Wer weiß, ob Frau von Guldwang ihn empfangen hätte, wäre sie nicht bei ihrer Handarbeit mit Antoinette auf offener Laube überrumpelt worden!Aber Heinz Cillmann machte durchaus nicht den Eindruck eines Hilfesuchenden. Er war gut gekleidet und trug sich sehr aufrecht. Es ließ sich kaum leugnen: das Gehen auf eigenen Füßen bekam dem sungen Recken nicht schlecht.

So war denn Frau von Guldwang eitel Huld und Hoflichkeit, und es kam ihr nicht bloß von der Zungenspitze, als sie nach der Begrüßung sagte: „Herr Tillmann, das lob' ich mir.“

Darüber wunderte sich Antoinette nicht. Warum hätte Mama ihren frühern Schützling nicht gut empfangen sollen! Wie aber sollte sie Heinzens Besuch in Einklang bringen mit dem, was er vor einem Jahre im Walde zu Prankenau ihr gesagt? Daß sich ihre Augen in banger Erwartung weiteten, konnte Heinz nicht entgehen. Föhnheiß leuchtete das tiefe Blau ihrer Sterne. Das war Liebe. Eine seltsame Verwirrung kam über den jungen Mann. Fast wollte es ihn reuen,daß er gekommen. Und doch! Warum sonst wäre er denn hergereist? Nur um der Familie Gulowang zu melden, daß er auf Geheiß seines Vaters nach Culebra verreise, um eine gut bezahlte Stelle am Bau des Panamakanals anzutreten? Das hätte er ja in einem Brief berichten können, wenn sie's überhaupt wissen mußten. Nein, jetzt wollte ihm keine Selbsttäuschung mehr gelingen. Heiße, tiefe, zwingende Liebe zu der „Unerreichbaren“ hatte auch ihn gezwungen.

Er mußte sie noch einmal von Angesicht sehen, mit seinen Augen ihre herrliche Gestalt messen, ihr Bild sich einpräggen. Und darum war er nicht unbefangen gekommen, sondern in der Erwartung, Frau Dorothea werde sich mit der ganzen Schärfe ihres Widerstandes vor Antoinette hinstellen. Das konnte immer noch tommen, trotz ihres „das lob' ich mir“. Heinz freute sich auf diesen Widerstand, denn sein Glaube sagte ihm,daß er ihn einst besiegen werde.

„An den Panamakanal?“ fragte Frau von Guldwang. „Ja, aber ...?“

„Sie wundern sich darüber, daß ich jetzt schon vor Beendigung meiner Studien hingehe ohne Diplom.“

„Allerdings. Werden Sie denn das nachholen?“

„Ich hoffe es. Jetzt erträgt der Entschluß keinen Aufschub. Es steht leider zu befürchten, daß mein Vater,wenn er seine Freiheit wieder erlangt, aller Mittel beraubt sein wird. Darum habe ich mich auch hierin seinem Wunsche gefügt. Ich unterlasse nichts, um ihm den Glauben zu erhalten, daß er mich immer an seiner Seite finden werde.

„Es wäre aber doch schade,“ meinte Frau von Guldwang, „wenn Sie Ihre Studien nicht zum Abschluß bringen könnten.“

„Ich kann es vielleicht später nachholen, und dann * mir die praktische Erfahrung nicht zum Schaden ein.“ 245 „Nun, ich muß sagen, Herr Tillmann, Ihr Vorhaben verdient allen Respekt.“

Es blieb nicht bei dieser Anerkennung. Heinz erkannte aus der ganzen Art, wie Frau Dorothea heute mit ihm umging, daß er ihre Achtung besaß. Das hatte er auch nicht anders erwartet. Was ihn aber zu beunruhigen begann, war die Gelassenheit, mit der die Dame ihm begegnete. Er wartete von Minute zu Minute auf den Schachzug, mit dem sie ihm Antoinette entziehen würde. Statt dessen zeigte Frau Dorothea immer größeres Vertrauen in ihn. Sie war sogar freigebig mit Zeugnissen der Bewunderung für seinen Fleiß, seine Sohnestreue, seine Ansichten.

Seinen Gipfel erreichte Heinzens üÜberraschung, als Frau Dorothea ihn bat, zum Mittagessen zu bleiben und vorschlug, er solle mit Antoinette noch eine kleine Ruderfahrt unternehmen. Er mußte sich Gewalt antun,um nicht allzu naive Freude darüber an den Cag zu legen.

Aber nun gesellte sich zu diesem Rätsel ein zweites:der fast angstvolle Ausdruck in Antoinettes Blicken.Schweigend folgte er ihr ans Ufer. Und als er ihre hohe geschmeidige Gestalt, den Rhythmus ihres leichten Ganges so ganz für sich hatte, da faßte ihn ein tiefes Weh. Aber er zwang's nieder. Nichts sollte ihn in seinem Entschlusse schwankend machen.

„Ich denke, wir rudern?“ fragte Fräulein von Guldwang, auf den kleinen Mast mit dem gerollten Segel hindeutend. Heinz zog den Baum an sich und legte ihn auf die Wandhaken des Schiffscherms. Vom Segeln verstand er nichts, und sich in einem Sport zu versuchen, den er nie gelernt, sagte ihm gar nicht zu.Er bot Antoinette die Hand zum Einsteigen und folgte ihr, mit seinem schweren Tritt das Gleichgewicht des leichten Fahrzeuges auf eine harte Probe stellend. Und wie seine Hilfe beim Rüsten, so war sein Rudern:mehr Kraft und Wille als Geschicklichkeit. Hoch flogen die glitzernden Spritzer aus der durchsichtigen Flut,wenn er die Ruder eintauchte, und jeder Zug gab dem Boot einen unangenehmen Ruck.

„Warum so emsig?“ sagte Antoinette. Sie saß zuhinterst im Boot und schien über die Kraftverschwendung belustigt.

Aun mußte auch Heinz ob seinem Übereifer lachen.Er wollte sich mäßigen. Aber es gelang ihm nicht recht.Antoinette hatte den Eindruck, er wolle sich durch die Hast seiner Ruderzüge des Redens entheben.

Nehmen Sie's doch gemütlicher!“ sagte sie. Wohin wollen Sie denn noch vor Mittag?“

Sie lachten beide. Aber Heinz kraftete weiter.

„Passen Sie auf! Mehr links! Nein, nicht so! Nach dieser Seite, meine ich.“

Das Schifflein glitt aus der Bucht in den offenen See hinaus.

„Jetzt kommen wir in den Dampferkurs,“ sagte Antoinette. „Geben Sie acht! Sehn Sie, dort kommt auch schon das Mittagsschiff von Merligen her.“

„Sie müssen mich mit Ihren Augen leiten.“ Heinz hatte das gesagt, ohne sich etwas dabei zu denken. Als aber Antoinette, leicht errötend, darauf einging, ward er inne, daß er seinen zielsichern Vorsätzen untreu geworden.

Er mußte nun den Winken ihrer Augen folgen,ihrer schönen großen Augen, die ihn zugleich anklagten und bewunderten. Heinz steuerte nach links und nach rechts in wunderlichem Zickzack; er ruderte langsamer,läßiger, wurde verwirrt und konnte doch nicht loskommen von den seltsamen Blicken seiner Steuermännin.Wunderliche Gedanken schossen ihm durch den Kopf.Er hörte den hämmernden Schall der Dampferschaufeln näher kommen. War er im Bann einer Verzweifelnden? Aber es lag gar nichts von Verzweiflung in ihrem Gesichte. Eher schien sie zum Spaßen geneigt.

Antoinette bemerkte seine Unruhe. Er blickte doch ab und zu rückwärts nach dem Dampfer. „Sie trauen mir nicht recht,“ sagte sie heiter.

„Doch,“ sagte er. „Blindlings.“

„Ist's wahr ?“

„Sie dürfen mir jede Probe auferlegen.“

„So versuchen Sie's! Legen Sie die Ruder ab und schließen Sie die Augen, bis ich Ihnen erlaube,sie wieder zu öffnen.“

Da ließ Heinz die Griffe fahren, reckte den Kopf hoch und schloß die Augen fest.

Antoinette summte ein Tiedchen, als wollte sie ihn in Schlaf wiegen. Weich uno lieblich klang die Melodie in das leise Geplätscher der Wellchen, die wider den Bug glucksten. Es kostete Heinz schwere Überwindung,die Augen geschlossen zu halten; aber er zwang's. In wildem Zuge reihten sich seine Gedanken und Empfindungen. Bald dünkte ihn, das Schifflein schieße pfeilschnell durch die Wogen, bald wieder fühlte er's unbeweglich auf der Stelle schaukeln, bald schien es dem Schalle nach sich zu drehen. Die Probe wurde härter. Trieb Antoinette Unfug mit ihm? Machte sie sich,seine Verliebtheit erratend, lustig über ihn? War er ihr zum Narren geworden? Nein, er hatte zu tief in ihre Augen geblickt. Da sprach etwas anderes drin als Äbermut. Und ihre Stimme! Die klang von Bangen und Glauben. So ja, so mußte Liebe in Klang aufgehen. Er wußte es ja. Was sonst hätte ihn denn hergetrieben? Er wußte es seit jenem Zusammentreffen im Walde. Aber hatte nicht damals tiefste Seelennot aus ihr um Hilfe geschrien? War sie nicht einsam? Uno er hatte ihr nicht geholfen, hatte ihr eine unerträglich schwere Probe auferlegt. War ihm nicht damals schon der Gedanke gekommen, sie könnte darunter zusammenbrechen?

Heinz hörte den Dampfer näher und näher kommen. Was tat sie? Er versuchte zu lächeln und verriet damit seine Angst.

„Ich habe Ihnen noch nicht erlaubt, die Augen zu söffnen. Die Probe ist noch nicht bestanden.“4.12

Heinz hörte, daß Antoinette Ruder einlegte. Aber sie schwieg stille, indes er den Kopf senkte, wie einer,der den Streich des Henkers erwartet. Die Schaufeln des Dampfers hieben mit wachsender Wucht in die Wellen. Mächtig schwoll das Rauschen. Man hörte Stimmen. Ein Schatten verdunkelte den Seespiegel.Brausend und donnernd nahte etwas Ungeheuerliches.Der Nachen tanzte auf und nieder. Ein Gefühl des Schwindels ergriff den freiwillig Blinden. Stimmengewirr und Singen, Tachen und Rauschen, Brausen und Stampfen umgaben ihn. Das Schifflein schien sich in dem Getöse zu bäumen, schien Spitz voran in die Ciefe fahren zu wollen. Da flutete das Licht wieder.Der Lärm nahm ab.

„Jetzt ?“

Heinz blickte geblendet auf. Hundert Schritte hinter ihnen fuhr, durch seine Rauchfahne verschleiert, der Dampfer. Sie schaukelten im smaragögrün aufquirlenden Kielwasser. Vor allem suchte Heinz in den Zügen seiner schönen Prüferin zu lesen. Sie leuchteten.

„Sie haben's bestanden,“ sagte sie. Note eins.Aber nun müssen wir wohl wenden, sonst kommen wir zu spät. Ich will wieder mit meinen Augen steuern.“

Heinz ruderte kräftig, doch gönnte er sich ab und zu eine Kurve, als wollte er das anmutige Spiel der leitenden Blicke recht auskosten.

„Eigentlich möchte ich doch wissen,“ sagte Antoinette, „was Sie sich vorhin dachten, als wir den

Dampfer kreuzten. War Ihnen nicht unbehaglich dabei ?“

„Ich wußte doch, daß ich mich auf Sie verlassen könne.“

„Kam Ihnen auch nicht einen Augenblick der Gedanke, ich könnte Sie mit mir ins Verderben reißen ?

Heinz lachte gezwungen auf: „Dafür kenne ich Sie zu gut. Sie gehören nicht zu denen, die das Leben von sich werfen. Und hätten Sie durch Ungeschicklichkeit das Unglück heraufbeschworen, nun .... .“

Antoinette war zufrieden. Sie wußte, was ihr wichtig war. Daß sie Heinz mit jedem kleinsten Schritte weiterer Annäherung Qualen bereiten würde, las sie in seinen Zügen. Redlich versuchten beide durch harmloses Plaudern von See und Bergen und Wetter sich aus dem Geschlinge ihrer tieferen Empfindungen loszuwickeln.

Antoinette verriet sich noch einmal. Während sie das Boot ankettete und Heinz, die steif gewordenen Beine wachstampfend, sich mit derben Händen den Vock zurechtzog, sagte sie: „Also bleiben Sie dabei, die neunundneunzig in der Wüste zu lassen?“

Fast mit der Härte seines Vaters antwortete er:„Ja.“

Schweigsam stiegen sie das Bord hinan. Als sie sich dem Hause näherten, blieb Antoinette einen Augenblick stehen, spähte dem Weg entlang, als suchte sie etwas. Dann schritt sie rasch auf einen Rosenstamm zu, brach eine kaum gesöffnete Knospe und steckte sie mit nervös bewegten Händen Heinz ins Knopfloch.„Wenn aber der liebe Gott eine solche Sohnestreue nicht lohnt,“ sagte sie, „dann verstehe ich wahrlich nichts mehr.“

Frau Dorothea empfing die beiden mit unverminderter Tiebenswürdigkeit. Und die Arglosigkeit, mit der sie bis zum Abschied mit ihrem Gast und Schiüitzling über dessen Pläne und Aussichten sprach, brachte Heinz in immer tiefere Verwirrung. Allmählich ergriff ihn ein seltsames Bangen. War sein Glaube an das Schwinden der Unerreichbarkeit doch ein Wahn? Wenn ihn nicht seine Sinne betrogen, so las er beim Abschied am Gartentor in Antoinettes Augen dasselbe Bangen. Ihr Mund zuckte schmerzlich, da sie ihm die Hand reichte. Als Frau von Guldwang ihre guten Wünsche beendigt und ihr letztes „Gott behüte Sie“gesprochen nicht ohne Rührung war Antoinette schon wieder an der Creppe zur Veranda, von wo sie dem Scheidenden noch einen Blick zuwarf.

Frau Dorothea fand ihre Tochter nicht in der Veranda, wo sonst die beiden Damen ihren Nachmittag zubrachten, und sie wartete umsonst darauf, daß Antoinette kam, um, wie gewohnt, des Tages Erlebnisse mit ihr zu besprechen. Da dämmerte ihr etwas auf,und dieses Aufdämmern warf einen klärenden Schein rückwärts auf allerlei kleine Wahrnehmungen der vergangenen Jahre. Frau Dorothea entdeckte etwas RomanJ tisches, das sich in ihrer nächsten Aähe abspielte, und lächelte in sich hinein, wie man über eine gelesene Geschichte lachen kann, die einen erquickt, weil man so sicher ist vor ihrer Wirklichkeit. Sie hatte sich offenbar nicht getäuscht.

Als Antoinette kam, um den Nachmittagstee aufzugießen, hatte sie verweinte Augen. Sie fühlte, wie der Mutter neugierige Blicke sie in jeder Bewegung verfolgten, und wäre gerne geflohen. Aber das ging nicht wohl an. So setzte sie sich hin und suchte durch Vertiefung in ihre Handarbeit Mamas Wissensdrang zum Erlahmen zu bringen. Für einige Minuten hielt das vor. Dann war's mit der Geduld schon aus,und Frau Dorothea sagte mit sehr lustigen Augen:„Coinon ?“

Antoinette fühlte, wie die mütterliche Neugier ihr unter die langen Wimpern schlich und wanöte sich leicht ab.

„Voyons!“ setzte Frau Dorothea von neuem an.„Man sollte wirklich glauben, dieser départ ginge dir sehr nahe, Kind!“

Antoinette hüllte sich in Schweigen.

„Hm?“ mahnte nach einem Weilchen die Mutter.Der Trotz reizte sie. Es lag ihr schon auf den Lippen,durch einen willkürlich gesteigerten Ausbruch des Erstaunens ihre Tochter in jähe Ernüchterung zu stürzen,und wäre sie ihrem natürlichen Empfinden gefolgt, so hätte Antoinette ein für allemal erfahren, daß man nach den Begriffen ihrer Mutter in herablassender Freunoschaft sehr verschwenderisch sein durfte, daß es aber ein grausamer Wahn wäre, zu glauben, eine Guldwang dürfe über ihr Herz frei verfügen. Aber Frau Dorothea war viel zu besonnen. Das Feuer durfte nicht zum heimlich tiefer fressenden Brande werden;es sollte sich auslodern und verfliegen. Amerika ist weit, schmunzelte sie in sich hinein. Můtterlich zärtlich begann sie zu trösten: „Ach, der gute Kerl? Weißt du, Coinon, er dauert mich ja auch furchtbar. Man könnte wirklich oft irre werden, wenn man sieht, was solch ein braver Mensch durchzumachen hat. Aber glaubmir, Kind, es ist besser, er kommt nun eine zeitlang ganz von seinem Vater weg. Wenn irgendwo, so darf man doch hier sicher sein, daß denen, die Gott lieben,alle Dinge zum Besten dienen.“

Frau Dorothea ermaß nicht, wie weit diese Wahrheit über die Wurfweite ihrer Berechnung hinausreichte; daß aber ihr überlegtes Einlenken sein naheliegendes Ziel erreichte, konnte sie bald wahrnehmen.Antoinette ging auf die unerwartete Zärtlichkeit ein,und den ganzen Abend hielt eine Stimmung an, die wohltat wie ein warmer Gewitterregen.

Erst verwundert über das verständnisvolle Eingehen der Mutter auf ihre Gefühle, gewöhnte sich Antoinette bald daran und fand es schließlich ganz natürlich. Sie machte sich Vorwürfe, daß sie in den vergangenen Jahren so mißtrauisch gewesen gegen ihre Mutter, die offenbar ihrem Herzen viel näher gestanden habe, als sie geahnt.Antoinette tat Buße und suchte durch liebevolles Benehmen gut zu machen, was sie verdorben. Mutter und Tochter kam es vor, als hätten sie noch nie einen so freundlichen Sommer verlebt. Auch Herr Fernand kam unter diesen Eindruck, wenn er, müde von des Berufes Lasten, in Spiez weilte. „Siehst du,“ sagte er gelegentlich zu seiner Frau, „man fühlt eigentlich erst jetzt, wie viel Schatten der Besitz von Prankenau auf unser Leben geworfen hat.“ Dazu schlicht und offen ja zu sagen, brachte nun zwar Frau Dorothea noch nicht fertig, denn der Rückblick auf die feudale Herrlichteit tat ihr immer noch weh, aber ihre gute Laune konnte und wollte sie ihrem Manne nicht verhehlen.Eines Tages sahen sie auf der Straße eine arme Caglöhnersfamilie den Ertrag ihres ückerleins heimführen.Der Mann zog in den „Landen“ des Karrens, die Frau neben ihm an einem Strick, und auf dem Füderlein saß glückselig ihr kleines Kind. Frau Dorothea zwickte ihren Eheherrn in den Arm, um ihn auf das Bild aufmerksam zu machen. „Genau wie wir!“ raunte sie ihm zu. Der Vergleich war fast gotteslästerlich. Und doch wenn man das Inwendige der Familie Guldwang hätte in Strichen und Farben malen sollen, so wären die beiden Bilder gar so weit nicht auseinander geblieben. Antoinette saß auf ihrem Karren, und wenn sie auch nicht jauchzen mochte wie das Caglöhnerkind,so sah sie doch ihr Elternpaar einträchtig in den .

24*

„Landen“, und hätte es für Sünde gehalten, nicht dankbar dafür zu sein.

Der Winter und der Rückzug in die Stadt änderten nichts an dem erquickenden Einvernehmen. Erst die Weihnachtsferien trübten den glatten Spiegel des Stilllebens ein wenig. Mareel Delierre tauchte wieder auf und ward der tägliche Gast des Hauses. Er war ein mustergültiger Kavalier auf jedem Partkett, und Antoinette hätte sich ihm nicht leicht entziehen können,ohne ihm unrecht zu tun. Jedes Ausweichen und Ablehnen nahm er als reizende Kaprice hin. Dieses beharrliche Werben entging der jungen Welt nicht, und bald galt es als selbstverständlich, daß die zwei zusammengehorten.

Es gab freilich stille Nachtstunden, in denen Antoinette die Unwahrheiten des gesellschaftlichen Lebens deutlich vor die Seele traten. Dann flohen ihre Gedanken über den Ozean. Tiefes Weh packte sie, und sie wünschte, daß die Ferien bald zu Ende gingen,damit das Leben wieder in ruhigen Fluß käme. Sie gingen endlich auch zu Ende; aber das änderte nichts.Delierre erschien trotz dem eisernen Fleiß, mit dem er sein letztes Semester durcharbeitete, zu jedem Ball in Bern, und Antoinette erkannte, daß sie einem Entschlusse nicht lange mehr würde ausweichen können.

Der Schnellzug BernInterlaken verließ eben die dunkle Bahnhofhalle von Chun. Der Wirrwarr der ein und aussteigenden Menschen hatte sich gelegt, und man erkannte in der wiederkehrenden Helle, wer um einen her saß. In einem Coupé zweiter Klasse hatten auf der Seeseite Frau von Guldwang und ihre Tochter die Fensterplätze inne. Neben Antoinette saß ihr Vater,neben Frau Dorothea dessen Associe, Herr dOr. Die Finanzmänner benützten den strahlenden Maientag zu einer Besichtigung der Bauten im Ruhsetal, wo ein Elektrizitätswerk angelegt wurde. Am gegenüberliegenden Fenster saß ein Mann allein. Trotzdem der Zug sonst stark besetzt war, blieben die drei übrigen Plätze des Abteils leer. Ob der einsame Mann schon von Bern an dort gesessen, hatten die Mitreisenden nicht beachtet, da bis Chun der Wagen überfüllt gewesen war. Jetzt fiel er auf. Herr Fernand fühlte sich von seiner Tochter sachte getreten, und wie er sie mit den Augen fragte, was das zu bedeuten hätte, ward er ebenso stillschweigend nach dem einsam Sitzenden hingewiesen. Der saß nach dem Fenster gedreht. Aber aus der Haltung seines auf starkem Nacken und breiten Schultern sitzenden Borstenkopfes ließ sich erraten, daß er aufmerksam horchte. Sein Gesicht bekamen die Mitreisenden nicht zu sehen, kaum daß ab und zu der sproßende Vollbart ein wenig aus dem Schattenriß des Kopfes heraustrat. Herr von Guldwang hatte den Mann schon lange beobachtet, ließ sich aber auch jetzt gar nichts anmerken, nachdem ihm die beunruhigenden Blicke seiner Cochter Gewißheit verschafft, daß er sich nicht getäuscht habe.

In Spiez stiegen die Herren Ueltschi und Ryter mit qualmenden Zigarren ein. Hoflich grüßten sie nach links, wanöten sich, Platz suchend, nach rechts, wo der einsame Passagier sich umgedreht hatte und, in die Ecke rückend, die Eintretenden zum Sitzen einlud. Sein Gruß wurde durch ein flüchtiges Berühren der Hüte erwidert. Dann eilten die zwei Oberländer Herren weiter.

Die kurze Begegnung hatte Antoinette und ihrem Vater vollends Gewißheit gebracht. Die seltsame Veränderung im Gesichte Hans Cillmanns machte auf beide einen peinlichen Eindruck. Woran lag es nur? Blasser als früher sah er aus. Haupthaar und Bart waren kurz und mit vielen grauen Stoppeln durchsetzt. Wegen des kurzen Bartes erkannte man die Gesichtsbildung etwas deutlicher. Aber es war etwas Erloschenes, künstlich Gebleichtes in den Zügen. Antoinette mußte an Pflanzen denken, die lange unter einem Stein hinkümmern. Daß aber in dem ergrauten Kopf das alte Feuer noch keineswegs erloschen war, das hatte der kurze Augenblick verraten, in dem Tillmann sich nach seinen Geschäftsfreunden umgewanöt.

Die Unterhaltung der kleinen Reisegesellschaft war vollständig verstummt. Um ihr wieder aufzuhelfen, fing der Associé des Herrn von Guldwang, durch den Blick von Tavel, Heinz Tillmann.

7 auf den gegenüberliegenden Wendelinsberg angeregt,an, von den zweifelhaften Aussichten der „Oberländischen Kuretablissements“ zu reden. „Das ist auch ein Merliger Stücklein,“ sagte er mit der Seelenruhe des Unbeteiligten. „Man rollt einen Käselaib um den andern in den See, um die Untergegangenen herauszuholen,haha hahaha. Ja, sa, diese Unternehm .....Herr d'Or fühlte sich plötzlich an seinen Gichtfüßen sehr empfindlich berührt. Und da der Druck, der von der Fußspitze seines Kompagnons herrührte, tkräftig anhielt, warf er diesem einen sehr unfreunolichen Blick zu. Jetzt begriff er.

Der Bahnhof von Interlaken brachte diesmal nicht nur ungeduldigen Touristen Erlösung. Die überragende Gestalt Hans Tillmanns stand wie ein Pfahl in dem quirlenden Getümmel der Aussteigenden. Er schien nach jemandem auszuspähen und blieb in sichtlicher Enttäuschung stehen, bis sich die Menge vollständig verlaufen hatte. Dann ging er, immer um sich blickend, auf den Platz hinaus und verschwand.

Erst als der BrienzerseeDampfer die Aare verließ und die Fahrgäste sich an ihren Plätzen festgelegt hatten,erhielt Herr d' Or Aufschluß über den Zweck jenes Fußtrittes. „Ich fürchte,“ so schloß Herr Fernand seine Aufklärung, „dieser Tillmann sei noch nicht am Ende seiner schlimmen Erfahrungen. Wenn es nicht seinem wackern Sohn gelingt, ihn herauszureißen, so geht's sicher noch weiter bergab mit ihm.“XV **4 357

„Und dieser Sohn steht zu ihm?“

„Er bringt ihm jedes Opfer. Sogar das Opfer seines Berufs hat er ihm gebracht.“

„Der arme Kerl.“

„Ja, ich fürchte, daß er's nie zu was Rechtem bringen wird. Aber wer weiß! Geht's dir nicht auch so: Manchmal frag' ich mich im Stiilen, was wir denn eigentlich von unsern mũhsam errungenen Erfolgen haben. Vielleicht schließt einer, der unten durch muß undo sich zuletzt sagen darf, daß er für andere sich hingegeben, doch besser ab als wir. Tiebe eines Kindes.die so wenig verdient ist, kann nicht unbelohnt bleiben.“

„Du hast recht. Wer sich sagen darf, daß er seiner Eltern Freude gewesen...*

Herr dOr blickte in völliger Geistesabwesenheit auf Antoinette, während er diese Worte, die ihn in eine ferne Vergangenheit führten, aussprach. Antoinette wußte sich den sonderbaren Blick nicht zu erklären.Glaubte Herr d'Or, ihr eine Wegleitung geben zu müssen? Das war sonst gar nicht seine Gewohnheit.Aber gerade deshalb machte die hingeworfene Äußerung um so tiefern Eindruck auf sie. Sie ging von den Herren weg und ließ, am Heck des Dampfers stehend,das Cräumen über sich rommen. Der leise Ärger ob der hintendrein hinkenden Aufmunterung des Herrn d'Or war bald verflogen. Wenn er sich nur nicht später, nachdem sie ihr Opfer gebracht haben würde,noch einbildete, ihm verdanke Papa etwas davon!

XV.„Nicht weinen, Mandi, Mandi! Wollen wir ja klein Mandi schön machen. Denk, Onkelchen kommt aus Amerika, weit, weit her übers Meer. Onkelchen, das Mandi noch gar nie gesehen hat.“ So sprach Frau Rosa Dengeler, die Pfarrfrau von Hilbligen, zu ihrem ungeberdig strampelnden Nestbuz, während ihr kehrum der dreijährige Fränzi und das zweijährige Röseli mit allerhand Begehrlichtkeiten am Kittel hingen. Nachdem sie all die süßen Geduldsproben, die ihr Tag für Tag auferlegt waren, auch heute wieder einmal bestanden und ihre kleinen Plaggeister befriedigt hatte, begab sie sich in die Küche, um dem Herrn Pfarrer den ZehnuhrImbiß zu rüsten.

Die Gemeinde Hilbligen hatte den richtigen Namen.Ihr sanftes, mit stattlichen Bauernhöfen übersätes Hügelgelände war in weitem Umkreis von wohlgepflegten Waäldern umgeben, die als breiter Schutzgürtel die Wucht der Winde brachen und, wie man glaubte,die heranfegenden Hagelschauer in segensreiche Regengüsse verwandelten. In einer besonders lieblichen Talsenkung zu Füßen des Kirchhügels lag inmitten üppiger Obstgärten das alte Pfarrhaus, dessen Krautgarten durch einen heimelig murmelnden Bach von den dunkelerdigen Äckern geschieden war. Wie die Gemeinde innerhalb des Waldgürtels, so bildete das Pfrundgut in der Gemeinde eine Welt für sich, und wie das Land,so waren die Leute. Man hätte glauben können, der Schall der Welthändel würde von dem Fichtengürtel gebrochen und gedämpft wie die Hagelwetter, während von der Pfarre der Strom des Gottesfriedens nach allen Richtungen ganz ungestört bis an den Waldsaum sich ergießen konnte. So war's dem Hirten und der Herde recht, und sie waren des Friedens so sicher, daß der Wunsch nach Ungestörtbleiben überhaupt nie auf eines Hilbligers Lippen kam, am allerwenigsten auf die Lippen des pfarrherrlichen Paares.

Es gab im Pfarrhause gewisse Dinge, welche die junge Hausmutter an die dunklen Tage ihrer Kindheit erinnerten. So stand auf einer Kommode in der Wohnstube jene kleine Vase, die der Vater einst samt den Blumen achtlos unter den Cisch geworfen. Kam die Pfarrfrau mit diesen Dingen ins Zwiegespräch, so blickte sie allemal aufatmend nach dem Walosaum, der sogar gegen die Vergangenheit eine Schranke bildete,und dankte in ihrem Herzen Gott für die glückliche Wendung, die ihr Leben genommen. Immer mehr ward ihr die Wieseninsel zum Sonnenlano, alles aber,was jenseits des Waldes lag, zu einer Fremde, in deren dröhnendes Grauen sie nimmermehr zurückkehren wollte. Und dieses Glück des Geborgenseins strahlte auf ihren Mann über, daher denn fast alle seine Predigten von Lob und Dank gar lieblich widerhallten.

Die Hilbliger wußten das zu schätzen. Solche Dank*72

1 barkeit konnte nur aus einem kristallauteren Herzen kommen. Die guten Leute wußten nicht, daß Franz Dengeler eine Art Friedenstyrann war, der mit seinen Lobgesängen die Gewissensnöte seiner Frau luftdicht einzudecken sich bemühte. Gewissensnöte? In der Brust dieser allzeit fröhlich summenden Biene? Ja,warum hatte sie eine solche Scheu vor allem, was jenseits des Waldes lag? Der Herr Gemahl hatte über seinem Schreibtisch einen selbstgemalten Wanöspruch hingehängt: „Bene vixit qui bene latuit.“ Ei, was wußte er nicht alles über das Glück des Lebens im Verborgenen zu sagen. Verdächtig viel. Und just weil ihm das Gewissen zuraunte, das Losungswort schicke sich besser für eine Weinbergschnecke als für einen tapfern Winzer in Gottes Rebberg, so kritzelte er es erst recht auf jeden noch unbeschriebenen Fetzen Papier.

Frau Rosa duckte sich in den Hausfrieden; aber sie sah dem angekündigten Besuch ihres Bruders mit eigentümlich gemischten Gefühlen entgegen. Erlösung erwartete sie von ihm, und doch bangte ihr davor. Den ganzen Tag sann sie auf Mittel und Wege, ihren Mann auf den Augenblick der Ankunft ans Haus zu fesseln,damit sie die ersten paar Schritte von der Posthaltestelle wenigstens allein mit Heinz gehen könnte. Aber es fiel ihr nichts Vernünftiges ein. Der Pfarrer schien auch etwas nervöser zu sein als sonst. Beim Mittagessen kamen sie überein, man wolle das ganze volle

Hausglück so recht erstrahlen lassen. Wohl werden müsse es darin dem arbeitsharten Amerikaner. Er müsse in der Sonnenflut des Pfarrhausidylls untergetaucht werden. Schon bald nach dem Essen wurde unter dem alten Gallwilerbaum, der hinter dem Haus aus einem dichten Haselhag in die LTuft ragte, der Kaffeetisch gedeckt. Man schleppte die bequemsten Stühle herbei, belegte sie mit Kissen, und der Pfarrer stellte neben den mit Gebäck und Konfitüren beladenen Tisch noch seinen mit viel unnützen Ziernägeln und Kettchen geschmückten dreibeinigen Rauchtisch. Er selber warf sich in die Garnitur des Behagens, stopfte sich eine Pfeife mit meterlangem Rohr und setzte auf sein rotblondes Lockenhaupt eine gänzlich überflüssige Samtmütze. Als wollte er, der Himmel weiß wem, ein lebend Bild von anno dazumal stellen, wandelte er paffend den Kiesweg längs der Hofstatt auf und nieder.Da hörte man das Pöstlein klingeln. Fast gleichzeitig entschlüpfte die gelbe Kutsche der feierlichen Fichtenmauer des Walogürtels, um, ein leichtes Staubwölklein hinter sich herschleppend, bald wieder hinter dem Kirchhügel zu verschwinden. Die Postablage und das Wirtshaus standen am jenseitigen Abhang.

Das Ehepaar Dengeler erreichte gleichzeitig mit dem Postwagen die Haltestelle.

Man begrüßte sich voll wehmütiger Freude. Das schweizerisch Heimatliche des Ortes übernahm zugleich mit dem Wiedersehn der Geschwister den Heimkehrenden.

Frau Rosa war fast befangen ob Heinzens Erscheinung.Wie der seinem Vater zu ähneln anfing!

Das mußte sie ihm sagen. Auf dem Weg zum Pfarrhaus blieben sie einen Augenblick bei der Kirche stehen. Im weichen blauen Glanz des Sommernachmittags lag das Eiland von Hilbligen vor ihnen ausgebreitet. Franz Dengeler glaubte, Heinzens Augen folgten seinem Pfeifenrohr, mit dem er erklärend auf Höfe und Weiler zeigte. Der Amerikaner war aber mit seinen Gedanken ganz anderswo, begehrte auch gar nicht zu wissen, ob der Lorhaldenbauer ein wohlgesinnter Mann und der Besitzer des hilben Bodens eine Stütze der Gemeinde sei. Tiebevoll, glückstrahlend und doch nicht ohne Scheu betrachtete die Pfarrfrau den träumerisch blickenden Bruder. Er brütet etwas,was ihm wehtut, dachte sie und wollte ihn losreißen.

„Nein,“ schmeichelte sie, „wie du dem Vater gleichst!

Tießest du deinen Bart wachsen, man könnte dich mit ihm verwechseln.“

Ein sehr verwunderter Blick traf die Schwester.

„Ich meine, mit dem Vater, wie er in der Känelmatt aussah, als wir noch alle daheim waren.“

„Hat er sich stark verändert?“ fragte Heinz.

Frau Rosa errötete und der Pfarrer verdoppelte seinen CiceroneEifer.

„Er ist gealtert,“ sagte die Pfarrfrau. Dann drängte sie, vorangehend, zum Abstieg in den Garten. Sie brannte vor Ungeduld, die Kinder herauszuholen. Die zwei ältern trippelten denn auch heran, als man zu dem einladenden Tische trat, und Heinz erwies ihnen alle Freunolichkeit,die man von einem ledigen Onkel erwarten darf. Das Jüngste schlief noch und sollte erst später seine Aufwartung machen. Den Kindern fiel das Fremodartige in Confall und Redensart des Onkels angenehm auf,und sie schlossen ihn gleich ins Herz, erlebten aber schon nach wenigen Minuten eine Enttäuschung. Da es nämlich der mit ihrem Kaffeegeschirr hantierenden Mutter nicht einfiel, die zudringlich auf den Onkel loskrabbelnden Kleinen abzumahnen, stellte dieser sie selbst mit kräftigem Arm sachte, aber unmißverständlich abseits.Frau Rosa entschuldigte sich bei Heinz, der wieder in Schweigen verfiel. Da er, den eingeschenkten Kaffee vergessend, seine Augen auf einem Pilz ruhen ließ, der in einer Falte des Apfelbaumes üppig wucherte, begann Franz Dengeler zu erklären: „Nicht wahr, ein interessantes Gebilde!: Man sollte ihn eigentlich wegschneiden; aber es macht mir Vergnügen, sein fabelhaftes Wachstum zu beobachten. Der Baum ist ohnehin verloren, und drum .....“

Dem ahnungslos Plaudernden stockte der Atem,indes die Kinder sich aufschreiend hinter die erbleichende Mutter flüchteten. Heinz war jäh aufgesprungen, zornglühend. Wie er da wieder dem Vater glich, dem Vater Tillmann in der Kraft seiner guten Jahre!

„Eben,“ donnerte er los, „gerade so treibst du's,so treibt ihr's beide. Behaglich abseits und wohlgeö borgen hockt ihr da auf eurer Pfrund und schaut zu,wie der arme Vater zugrunde geht. Du bist mir ein Pfarrer, du!“

Franz Dengeler fühlte etwas wie eine Schlundlähmung. Mit vor Zorn zitternden Händen zupfte er an seinen Manchetten, am Rockkragen, am Tischtuch,auf dem, mit roter Baumwolle gestickt, ihn der Spruch anlächelte: Ost und West, daheim das Best'. Rascher als er hatte seine Frau sich gefaßt. Mit beiden Händen ihre Kinder streichelnd, sagte sie mit erzwungener Ruhe:Aber Heinz, du weißt doch! Nein, wie kannst du nur so was sagen; ich schrieb dir doch .. *

Ja, Röse,“ fuhr der ergrimmte Bruder fort. „Was haft du mir geschrieben? Jeder deiner Briefe war ein Klagelied über den Vater. Daß er auf nichts hören wolle, daß er sich nicht davon abbringen lasse, den aussichtslosen Prozeß gegen die Hallunkenbande zu führen,die von seiner Gefangenschaft profitierte, um seinen Vermögenseinsatz in ihren verfehlten Unternehmungen zu verlochen. Daß niemand sich an die einflußreichen Herren heranwage, hast du mir berichtet, daß es aber der arme Vater auch denen unmsglich mache, ihm beizustehen, die ihm wohlgesinnt wären, indem er sich immer mehr dem Trunk ergebe.“

Heinz Tillmanns Stimme war in Zittern gekommen.Es schien, als wollte er Atem schöpfen, um zu einem weitern Schlage auszuholen. Wild rollte er die Augen in seinem mißfarbenen Gesicht.

„Aber Heinz,“ stammelte die Pfarrfrau, „es war ja doch so, und ...“

„Es war ja doch so!“ schrie Heinz. „Das brauchst du mir nicht erst zu beteuern. Deinen Briefen zu glauben, war bei Gott keine Kunst. Wenn man den Vater kennt. Natürlich ist es so, und zwischen den Zeilen hab' ich noch viel mehr gelesen. Kann mir wohl denken, wie er zu Werke ging. Diplomat war er nie.Aber er gehört zu den Menschen, die man entwaffnet,indem man einen Faustschlag hinnimmt und mit tapferer Tiebe beantwortet. So hat's die Mutter mit ihm gemacht. Lebte sie noch ... o Gott im Simmel! Ja,lebtest du noch, Mutter! Es wäre nicht so weit gekommen.“

Nach einer Weile tiefen Schweigens wandte er sich scharf gegen seinen Schwager: „Statt ihm mutig unter die Augen zu treten, habt ihr beide reißaus genommen,habt euch des verkommenden Mannes geschämt und euch hinter der Entschuldigung verkrochen, es sei ja doch nichts zu machen.“

„Bitte!“ fuhr jetzt der Pfarrer, vor Zorn bebend,auf. „Nimm dich in acht, was du sagst? Du scheinst eben doch nicht alles zu wissen ...“

„Oder du vielleicht nicht,“ donnerte Heinz. „Davon wenigstens“ keuchend brachte er das heraus, indem er seine Blicke zwischen den Geschwistern hin und her rollen ließ „habt ihr nichts gemeldet, daß sie den Vater ins Armenhaus gebracht haben, nach Prankenau.

Ah ah!“ Heinz preßte beide Fäuste an die Schläfen.

Frau Rosa fiel auf ihren Stuhl zurück und barg unter Schluchzen ihr Gesicht in den Händen.

Wußten sie um den Aufenthalt des Vaters oder war seine Mitteilung neu für sie? Heinz erriet es noch nicht. Franz Dengeler ergriff ihn beim Arm und sagte mit mühsamer Überwindung: „Aber so kommt doch wenigstens ins Haus! Ist's denn notwendig, daß die ganze Gemeinde hört, was hier geredet wird?“ Seine Frau lief hastig voran, indes Heinz ihm zögernd ins Studierzimmer folgte. Erst suchte der Pfarrer seine Frau zu beruhigen, die sich in krampfhaftem Schluchzen auf das Sofa geworfen hatte. Er strich ihr mit weicher Hand über den Scheitel. Heinz war ans Fenster getreten.In seinen glühenden Zorn hinein tat es ihm leio, daß er seiner Schwester schon in der langersehnten Stunde des Wiedersehens so weh getan. Er wandte den beiden den Rücken und ließ seine Blicke über den Garten hinschweifen. Nun hörte er den Pfarrer im Zimmer auf und abgehen. Plötzlich stand er neben ihm. Man hörte ihm deutlich an, daß er sich zur Ruhe zwang, als er anhob:

.Darf ich nun auch sagen, was ich von der Sache weiß und denke? Für's erste hat dir ja Köse nicht alles schreiben können. Es ist eine lange Leidensgeschichte, und du weißt nicht, was alles wir in diesen letzten Jahren, die doch die schönste Zeit unsres Tebens hätten werden können, gelittenhaben um des Vaters

44 27 willen. Ist's nicht so?“ fragte er seine Frau. Die nickte bestätigend. Und der Pfarrer fuhr fort: „Ich kann dir versichern, Heinz, wir haben viel durchgemacht.Wie oft haben wir ihm zugesprochen und durch andere zureden lassen, er möge von dem Prozeß lassen. Aber du solltest gehsrt haben, was er darauf antwortete.Wir mußten es aufgeben, um ihn nicht vollends außer sich zu bringen. Denn weißt, Heinz, es war uns darum A damit er doch wenigstens noch an einem Ort eine Heimstätte finde. Wir wollten es ihm nicht unmöglich machen, unsre Liebe anzunehmen. Wie oft haben wir ihn eingeladen, ganz hierher zu ziehen und hier in der Stille ein neues Leben anzufangen. Aber er hat es schroff abgewiesen. Es war, als wollte er mit aller Gewalt in sein Verderben rennen. „Um euretwillen kämpf' ich's durch“, sagte er, dem Heinz bin ich's schuldig.“ Und als es die Advokaten längst aufgegeben hatten, da hat er immer neue Anläufe genommen, ist den Gegnern zu Leibe gerückt, hat sie bedroht und ihnen aufgelauert. Und weil er leider Gottes dazu häufig einen bösen Wein getrunken und nirgenos mehr recht daheim war, haben sie zuletzt Mittel und Wege gefunden, sich vor ihm zu schützen. Und jetzt ist er zusammengebrochen. Vor zwei Monaten noch haben wir den letzten Versuch gemacht. Die Wirtin von Elsigen hat uns geschrieben. Aber er wollte nichts von uns wissen. Und dann ist's geschehen.“

„Franz, Franz! warum hast du mir das nicht gesagt?“ unterbrach ihn die Pfarrfrau.

Heinz, der während der Rede seines Schwagers starr durch das Fenster geblickt hatte, so daß man nicht wußte, hörte er eigentlich zu oder nicht, horchte plötzlich auf und wandte sich, neuen Zorn in den fragenden Augen, den Geschwistern zu.

„Was sollte ich dir verschwiegen haben?“ fragte Franz.

„Daß sie den Vater nach Prankenau gebracht haben.“

„Das behielt ich für mich, weil ich dir's ersparen wollte und weil das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist. Ich hoffte immer noch ... ..“

„Franz! Wenn ich das geahnt hätte! Keine Stunde länger wäre ich hier geblieben. Ich wäre gelaufen .... .

„Bin ich ja auch. Aber so einfach ist die Sache nicht. Der arme Vater hat sich der Verhaftung mit Gewalt widersetzt und hat nun noch Strafe zu gewärtigen. Und damit ihr beide ja alles wißt: er liegt in Prankenau krank darnieder. Du kannst mir glauben, Heinz, ich würde nichts versäumt haben, was zu Vaters Gunsten geschehen kann.“

Heinz raunte vor sich hin: „Das glaubst wohl du selbst.“

„Heinz!“ brauste der junge Pfarrer auf.

Dem Amerikaner lief ein galliges Lächeln um die

Munodwinkel.„Cäusche dich nicht, Franz!“ sagte er kalt. „Du hast schon zuviel Wurzeln getrieben in dem Misthaufen deines Wohlbehagens.“

Franz Dengeler starrte fahlen Gesichts auf seinen Schwager. Frau Rosa wollte mit einem besänftigenden Wort dazwischen treten; aber Heinz drängte sie mit gebändigter Kraft zurück und sagte scharf und bitter zu Franz: „Du kannst dir nun weiter Zeit nehmen.Ich bin ja jetzt da und werde handeln. Unterdessen mögt ihr ruhig auf eurer Friedensinsel bleiben und um einen guten Ausgang beten. Behüt euch Gott!“

Die Bitterkeit der letzten Worte lähmte Franz und seine Frau derart, daß Heinz die Türe hinter sich ins Schloß zog, ohne eine Antwort auf seinen Abschied vernommen zu haben. Geraume Zeit blieb der Pfarrer,den Kopf auf die Ellbogen gestützt, über sein Stehpult gelehnt. Mechanisch lasen seine Augen die Golöpressungen auf den Rücken der vor ihm aufgestellten Bücher.Als er sich endlich wieder aufrichtete, schwamm die ganze Studierstube im Gold der scheidenden Sonne.Da lag neben ihm auf dem Pult das zierliche schwarze Samttäpplein, zugleich Spielzeug und Sinnbild pfarrherrlicher Wurde. Franz Dengeler ballte es zu einem kleinen Knäuel und warf es unter das Pult. Dann setzte er sich neben seine weinende Frau, zog sie fest in die Arme und sagte: „Du, vergib mir. Ich wollte dir ja nur neues Leid ersparen. Gelt, du läßt nichts zwischen uns kommen.“ Dabei glitten seine Blicke in unbewußtem Argwohn an ihr vorbei gegen die Türe,durch welche Heinz sie verlassen hatte.

Der Amerikaner folgte der Poststraße bis an den Walosaum. Dort verließ er sie. Dreifach schwer verwundet, lief er stracks durch das raschelnde Taub ins Dickicht des nächsten jungen Cannenbestandes, wo das Licht der sinkenden Sonne nur spärlich über den weichgrünen Moosboden hereinschlich. Und wo es am allereinsamsten ihm vorkam, warf er sich hin. Er konnte sich in seinen Gedanken nicht zurechtfinden. Bald kam's über ihn, er müsse zurücklaufen, wenigstens bis an den Waldrand, um das Pfarrhaus zu sehen, das er zum Schauplatz einer schlimmen Tat gemacht. Er hatte es ja nicht beabsichtigt; aber was vermag einer wider den Trieb seines Schmerzes? Jetzt hatte er seiner Schwester grausam wehgetan und vielleicht sogar ein häusliches Glück zerschlagen. Kaum aber hätte er sich erhoben,so sah er wieder Franz Dengeler in seiner pappigen Pfrunöseligkeit vor sich, mit der Kiesenpfeife in der Hand und dem albernen Käpplein auf dem rotblonden Lockenfuder. Da fühlte er wieder, wie seine Fäuste sich krampften.

Diese eine Wunde, die jüngste, mochte weiter bluten.Wenn sie sich schon nicht so schnell schloß, was tat's?Heinz lief weiter. Bald lichtete sich der Wald. In der wunderbaren Milde des verscheidenden Sommertages breiteten sich vor ihm die Torfbrüche von Nonnenbuchsee mit dem rosigen Spiegel ihres lieblichen Seeleins. Eine Kirchturmspitze glitzerte im Abendduft über dem traulichen Genist von Dächern und Baumgärten. Dort,jenseits dehnte sich der Cragik atmende Waldrücken des Grauholzes. Noch weit jenseits lag das Ziel seiner Reise. Sollte er in die Stadt zurückkehren, um die Nacht dort zuzubringen? Um alte Bekannte zu treffen,die ihm, wie heute Berni Bär, in ahnungsloser Grausamkeit, die andern Wunden reizten! Von Toinon Delierre hatte er zynisch gesprochen. Heinz ächzte ob der Erinnerung laut auf. In allen Fasern hatte es ihm gezuckt, den Keulenschlag mit einem Fausthieb zu beantworten. Er hatte sich überwunden; aber ein zweitesmal heute würde er es nicht mehr ertragen. Heinz war, als müßte er Gott danken, daß er ihm diesen einen Schmerz durch den im Augenblick noch wütender brennenden um den Vater dämpfte. Er rannte, die Stadt meidend, stracks südwärts, um Prankenau näher zu kommen. Ohne seines Weges recht zu achten, durchstreifte er Hügel und Senkungen, Wälder und Weiler.Immer länger lief sein Schatten vor ihm her. Als er endlich im Grau der Straße aufging und verschwand,gönnte sich der Wanderer einen kurzen Halt. Zu seiner Rechten murmelte in der Calmulde die Werlen. Weit jenseits tauchten aus dem Gewirr von Baumgruppen,Höfen, Alleen und Hügelwellen noch einige von der 78 von Tavel, Heinz Tillmann.

Sonne beschienene Bergkuppen. Zu ihren Füußen lag,nur durch eine Dunstschicht verraten, die Stadt.

Fort! Weiter! Als die Sterne zu flimmern begannen, durchquerte Heinz das letzte Tal. Jenseits schlummerte schon der ihm so vertraute Schloßwald von Prankenau. Er durchstieg ihn und wandte sich dann ostwärts bergan, bog über dem Herrenvogelhölzchen um die Bergkante und fand endlich das einsame Scheuerlein, das ihm von der Bubenzeit her genau bekannt war. Dort wollte er sich, weitab von allen Menschen und doch seinem unglücklichen Vater ganz nahe, zur Nachtruhe hinlegen. Eben noch hatte er, einem riesigen Katafalt ähnlich, das Schloßdach tief unterhalb des Fußpfades gesehen. Die Dachknäufe ragten ins Dunkel.Gedämpfte Lichter schimmerten aus den großen Fenstern.Jetzt lag zu seinen Füßen die schwarze Furche der Känelmatt lichtlos. Ein Hund bellte in der verschwommenen Ciefe.

Bald hatte Heinz Tillmann den Einschlupf auf den Heuboden des Scheuerleins gefunden. Codmüde ließ er sich in das frisch duftende Heu fallen. Er war so erschöpft, daß es ihm ganz einerlei gewesen wäre, in irgend eine Grube hinunterzustürzen, aus der ihn keines Menschen Hand errettet hätte. Er schlief auch alsobald ein. Aber lange konnte er nicht geschlummert haben.Denn als er wieder erwachte und zwischen den Hölzern der Bühne hinausspähte, fiel ihm sogleich der breite Lichtschein auf, die „Stadtheiteri“, vor der sich der

Amselberg scharf abzeichnete. Das erblicken und tief hinabtauchen in die Erinnerungen der Knabenjahre war eins. So hatte es an jenem Abend ausgesehen,als die Mutter, mit ihm vom Schloß heimkehrend,dem Geschwätz der Dorfbasen entrann. Die Mutter,die Mutter! Gott, warum mußte sie so früh sterben! Heinz sah sich in dem zur Kapelle umgewandelten Speisezimmer des Schlosses neben Antoinette sitzen. Er sah die dunklen Olbilder, die silbernen Leuchter,sah den alten Pfarrer. Er hörte die Stimme der Frau v. Gulowang uno suchte sich das sehnsuchtsvolle Lied zu rekonstruieren; aber er brachte es nicht zustande.In der Erinnerung an die Melodie fielen ihm bloß noch die Worte ein: „und ohn' Ermüden will ich ihr näher gehn“. Von der goldenen Stadt handelte das Lied vom Ziele der Sehnsucht aller leidenden Menschen, dessen entsann er sich noch. Indem er dem nachdachte, geriet Heinz ins Cräumen und duselte ein, bis ihn die Heuhalme wieder weckten. Wieder durchwanderte er vergangene Jahre. Seinen Verzicht zugunsten des Vaters durchlitt er von neuem. Hatte er etwas genützt? Ein dichtes, dumpfes Nebelgewoge lag die Zukunft vor ihm. Wie dem Vater geholfen werden sollte, war ihm völlig unklar. Wohin sollte er ihn bringen, da er ja sicher nicht ins Pfarrhaus zu Hilbligen wollte? Und was sollte nun er selbst beginnen?Als KleinUnternehmer in des Vaters Fußstapfen treten und ihn zu sich in die Arbeit nehmen. Es wäre das Natürlichste gewesen. Aber wer gab ihm Kredit zu einem Unternehmen? Bei tieferem Überlegen erkannte Heinz immer deutlicher in der Person und im Ruf seines Vaters das größte Hindernis. Vor allem mußte also der Vater dem bisherigen Leben entrissen werden. Etwas ganz Neues mußte geschaffen werden.Dieser Gedanke brachte Heinz eine gewisse Beruhigung.Der Schlaf übermannte ihn wieder und diesmal für längere Dauer.

Erst das durch alle Offnungen einstrsmende Frühlicht weckte ihn wieder. Nun galt es, die letzte Geduldsprobe zu bestehen, die langen Morgenstunden bis zum Einlaß in das Armenhaus. Heinz fühlte sich matt und hungrig. Aber die Nüchternheit des Morgens befreite ihn von vielen lastenden und irreführenden Gemütsregungen. Wie er's nun anfassen sollte, wußte er noch immer nicht. Er wollte sich führen lassen. Durch wen?Seinen guten Stern, einen glücklichen Zufall, einen auftauchenden Ratgeber? Dem allem traute er nimmermehr. Heinz wußte, was seiner Mutter Kraft gewesen.Und so warf er sich auf die Knie, um Gott anzurufen,nicht mit Geberden, nicht einmal mit überlegten Worten.Nein, aber was sich aus dem Dunkel seines abgetämpften Herzens in den lichten Morgen schwang, war der Schrei: „Ich bin zu Ende. Neues Leben schaffen kannst nur du, Herr, mein Gott und Schöpfer. Sprich du dein ,Werde und schaff's!“

Er trat ins Freie, streifte sich die Spuren seines

Nachtlagers vom Rock und stieg noch weiter den Berg hinan bis in jene Waldlichtung, wo er einst mit Franz Dengeler und Röseli gesessen hatte. Als sich in der Tiefe das Leben zu regen begann, raffte sich Heinz auf und schlug den Weg nach der hintern Känelmatt ein.Im obersten Hause, wo sich das NeßlernMädi nach dem Verkauf von Prankenau eingenistet hatte, trat er freimütig in die Küche, die ihn in ihrer Rußschwärze anheimelte, und bat die alte Hausfreundin um ein Kacheli Warms.

Mädi wußte sich vor Staunen nicht zu fassen und rief einmal über das andere: „Ei der Tag aucht Wo kommt jetzt Ihr her, so früh am Cag? Hab' gemeint. Ihr seid in Amerika.“

„Bin ich auch gewesen“, sagte Heinz, sich zur Geduld zwingend. Um der Neugierigen alle Fragen abzuschneiden, erzählte er ihr, auf dem Holzstock neben dem Herde sitzend, in kurzen Worten, was ihn des Weges führe. Dann schloß er: „Und nun tut den Gottslohn an mir und gebt mir Leibesstärkung auf den Gang, der mir zu tun bleibt.“

Um TCeibesstärkung bat er; aber er meinte etwas anderes. Und Mädi verstand ihn. Sie sagte nichts,dachte aber: was ich dir zu geben vermag, sollst du haben. Die Alte trug auf, was an Speis und Trank ihre Küche enthielt. Und indem er sich's schmecken ließ,mußte sie ihm erzählen, was sie von seines Vaters Schicksal wußte. Als er satt war, schob er Tasse und

Teller weg, stützte den Kopf in die Hand und sann vor sich hin. So blieben sie lange schweigsam. Endlich tat Heinz einen tiefen Seufzer und griff nach seinem Hute. Da sagte Mädi: „Lücht daß ich Euch etwas drein zu reden hätte; aber mir ist doch, als müßte ich das sagen. Es geht doch merkwürdig zu in der Welt. Eure Mutter, Heinz Tillmann, war auf der guten Fährte und hat sterben müssen, Euer Vater war auf der lätzen und findet sich nimmermehr zurecht. Aber glaubt mir,lebte die Mutter noch, so wären die beiden noch uneins geworden, und ihr hättet alle zusammen das gute Trom verloren. Aber jetzt ist die Mutter draus und weg, und was Verkehrtes der Vater angefangen, ist zerbrochen. Jetzt kann's wieder gut kommen, wenn ihr der Mutter Weg einschlagt.“

Warum ballten sich Heinzens Fäuste, als er bald darauf am alten Stöcklein in der vordern Känelmatt vorüberschritt, als er, über den Walm steigend, den Dachtnauf des Schlosses aus dem Boden auftauchen sah, als er durch den wappengeschmückten Corbogen in den ach so schauerlich nüchtern gewordenen Hof trat?

„So, zum Tillmann wollt Ihr?“ fragte in seinem vertabaktten Bureau der Verwalter, ein vierschrötiger,derber Mann, der mit einem seiner kalten, grauen Augen leicht nach außen schielte. „Es ist nicht Besuchstag: aber ..... Wer seid Ihr?“

„Sein Sohn.“

Der Verwalter staunte.

„Und ich will den Vater zu mir nehmen. Ich kann jetzt für ihn sorgen.“

„Cja. Das wird seine Haken haben. So mir nichts,dir nichts kommt keiner hier zum Tor hinaus.

„Wer hat ihn hierher gebracht ?“

Der Verwalter blätterte in einem Folianten, setzte eine Brille auf und sagte mit einem Blick über die Gläser: „Die Heimatgemeinde. An die müßt Ihr Euch wenden.“

„Gut, das werde ich tun.“

„Aber wißt, Euer Vater hat da übel vorgesorgt. Au, wenn Ihr der Gemeinde die Kosten abnehmt ...Es ist nämlich da etwas passiert. Offen gestanden“ der Verwalter trat vertraulich an Heinz heran „ich kann's ihm nicht einmal so übel nehmen. Als der Notarmenkassier mit ihm herkam, hat er draußen im Hof zu ihm gesagt: „So, Tillmann, jetzt seid Ihr ja, wohin Euch solange gelüstet hat. Da ist Euer Vater dem Kassier mit der Faust unter die Nase gefahren, daß er beinah den Geist aufgeben mußte. Und er war doch schon damals ein kranker Mann, Euer Vater.“

„Darf ich ihn sehen?“ fragte Heinz.

„Wie gesagt, es ist eigentlich nicht Besuchssstag, aber wenn Ihr ertra weither gekommen seid ...“

Damit führte der Verwalter den Gast in den gewoölbten Korridor. Gott! Diese alten herrschaftlichen Gänge, in denen sich nun der atembeklemmende Arme leutegeruch fingt Auf der Treppe wanote sich der Vorsteher nochmals zu Heinz: „Wie gesagt, es ist nicht Besuchszeit. Und Einzelkrankenzimmer haben wir eben nicht. Ich muß mir mit dem helfen, was da ist.“

Heinz war ohnehin auf Schlimmes gefaßt, so daß ihm die wie Entschuldigung klingenden Worte seines Führers nicht einmal besondern Eindruck machten. Was ihm in diesem Augenblick noch mehr das klare Denken benahm, war die hier oben aus jedem Winkel ihn anfallende Erinnerung, in deren Mitte fantomartig und blitzschnell die herrliche Gestalt Antoinette von Guldwangs trat. Hinter dieser dunklen Eichentüre da, an der er eben vorbeiging, hatte das schöne liebe Mädchen manchen Tag seiner glänzenden Jugend zugebracht;hier hatte es vielleicht in stillen Stunden an Heinzens Leiden mitgetragen, hatte es wohl sogar für ihn auf den Knien gelegen. Heinz fühlte, wie sich seine Kehle zu schnüren begann.

Da floß plötzlich helles Licht in den Korridor. Der Verwalter hatte eine andere Türe geöffnet und trat,mit der Hand den Türflügel gegen den Windoruck stemmend, zur Seite. Ein Schwall widerlicher Gerüche strsmte in den Gang. Trotz der offenen Fenster, durch die der Blick in die weite blaue Pracht des Sommertages flog, schwehlten Arzneidüfte, Ausdünstungen absterbender Menschenleiber und zerwühlter Betten träge durcheinander. Der Raum war ein letztes Überbleibsel seiner einstigen Herrlichkeit hoch und hell.An den mattweiß gestrichenen Panneaur liefen noch die erblindeten Goldfilets. In acht oder zehn verbeulten,hellgrauen Holzbettstellen lagen unter rot und weißkarriertem Bettzeug Jammergestalten. Über einigen Betten hingen Schnüure mit Hanogriffen von der schön getäferten Decke. Rasch ließ Heinz seine Blicke über die Lagerstätten hingleiten. Einige der Kranken nahmen gar nicht Notiz von seinem Eintreten; andere, in den sonderbarsten Korperlagen sich wälzende glotzten ihn neugierig an, mitten darunter ..... o Gott! Barmherziger Gott! Heinz, der aufrechte, stattlichschlanke Mann, war an das eine Bett hingestürzt, in dem er nicht auf den allerersten Blick seinen unglücklichen Vater entdeckt hatte. Aus einem bleichen, eingefallenen Gesicht mit anstaltsmäßig zurechtgestutztem grauem Vollbart hatten ihn ein paar weit aufgerissene,wie aus schreckhaftem Craum erwachende Augen angestarrt.

Seinz drückte den Greisenkopf mit ungestümer Inbrunst an die Brust, bis die hageren Hände des Kranken sich gegen die allzu kräftige Tiebkosung zu wehren begannen.„Heinz, Heinz,“ kam es endlich von zitternden Lippen, „was suchst du hier?“ Dann sank das ermüdete Haupt in die Kissen zurück.

„Dich, Vater,“ rief Heinz, der sich auf den Bettrand gesetzt hatte und unverwandt in den fahlen Zügen des gänzlich gebrochenen Mannes zu lesen suchte. „Dich suche ich, Vater. Dich will ich haben. Bei mir will ich dich haben, damit wir selbander einen neuen Weg einschlagen können. Du bist zum längsten hier gewesen.“

Aber des Alten Gesicht liefen Cränen. Er bewegte den Kopf hin und her und machte mit der rechten Hand eine wegwerfende Bewegung, als wollte er sagen:„Laß nur. Hier ist nichts mehr zu holen.“

Heinz streichelte lange seines Vaters Hände und fing an mit ihm zu reden, wie man mit einem kranken Kinde spricht. „Glaub' mir's nur, Vater. Es ist mir ernst. Jetzt werde ich dich heimholen, und dann wird alles wieder gut.“

„Wohin? Wo wohnst du denn?“ fragte Hans Tillmann staunend.

Da ward Heinz es inne, daß er ja selbst noch nicht hatte, wohin er sein Haupt legen könnte. Er zauderte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte er:„Laß mich nur sorgen, Vater.“ Dabei richtete er sich auf und reckte die Arme, als wollte er auf seine Kraft hinweisen.

Einen Augenblick ruhten des Vaters Blicke mit sichtlichem Wohlgefallen auf dem Sohne. Dann kam wieder ein tiefer Schatten auf das welle Gesicht.Schmerzlich zuckte es um die Mundwinkel, ehe er sagen konnte: „Verdirb dir dein junges Leben nicht weiter mit Sorgen und Mühen um mich. Ob ich hier oder anderswo den letzten Atemzug tue, hat nichts zu sagen.Jetzt kommt deine Zeit. Du mußt's halt in Gottes

Namen wagen ohne mich. Aber du kannst's. Geh,Heinz, nimm dir das Weib deiner Wahl und baue dein Glück. Aber hüte dich vor den vor den Menschen!“ Des Alten Stimme erstickte, da er Heinz jählings ins Weite blicken und mit Tränen kämpfen sah.

Nach einigen tiefen Atemzügen hub er wieder an:„Ach Gott, ach Gott, was habe ich um dein Glück gerungen; aber ich bin zu Schanden geworden. Geh von mir, Heinz, ehe ich dich mit in das Verderben reiße. Was meine Hände anrühren, ist dem Fluch verfallen.“

„Vater, ich bitte dich, nicht so!“

„Ja ja, so ist's,“ keuchte Hans Cillmann. Seine zitternde Hand zeigte stumm durch das Fenster. „Siehst du,“ fuhr er, mühsam sich meisternd, fort, „siehst du dort den alten Saarbaum hinterm Walm, der unser Haus vor dem Blitz schützte? Der klagt mich Tag für Cag an: Hättest du deinem Weibe gehorcht, als es dich vor Prankenau warnte!“

„Nun weiß ich, Vater, daß wir ein Neues pflügen können. Wenn du deinen Fehler eingesehen hast, so hat auch die Buße ihr Ende.“

„Geb's Gott? Nun du's weißt und mir vergibst, kann ich auch ruhig sterben.“

„Leben, Vater, leben!“

„Du, ja, du sollst leben, und zwar nach deinem und der Mutter Sinn. Gehe du deinen Weg getrost. Ich will dir nimmermehr dawider sein. Nur mußt du mir 2258 vergeben. Heinz, mein Bub, ich kann dir deine Treue nicht mehr vergelten. Aber wenn es einen gerechten Gott gibt, so kann's dir nicht fehlen. Seiner Gnade muß ich dich überlassen, wie ich wie ich“ Hans Tillmann richtete sich mühsam auf und streckte drohend den hagern Arm aus dem zurückfallenden AÄrmel gegen die Decke „wie ich seiner Rache meine Verfolger übergebe.“

„Du hast recht, Vater,“ sagte Heinz, „Gnade und Rache sind Gottes. Überlaß das alles ihm und gehe deines Weges weiter.“

Eine Weile noch sprachen Vater und Sohn zusammen, mehr auf die Schritte einlenkend, die zu des Alten Befreiung aus dem Armenhaus bei den Behörden zu tun sein würden. Als Heinz sich endlich losriß und der Türe zuschritt, fielen ihm erst die Bettnachbarn seines Vaters auf. Der eine hatte, halb aufgerichtet,ihr Gespräch aufmerksam belauscht. Jetzt stieß er, kaum verständlich, unter freundlichem Grinsen wohl zehnmal die Worte aus: „Ja ja heigah.“ Der andere lag platt auf dem Rücken, wandte sein verblödetes Gesicht nickend gegen Heinz und lachte: „Gäll gällt Himmelvater, gäll.AÄhä, ähä, Himmelvater ...“ Dazu zeigte er mit dem Finger gegen die Zimmerdecke.

Heinz blieb an der Türe stehen. Er biß sich auf die Lippen und drückte die Hand aufs Herz. Seine Blicke konnten sich nicht von der zusammengesunkenen,schluchzenden Gestalt seines Vaters trennen. Auf einmal *2

8 trat er raschen Schrittes wieder an das Bett.,Vater,“befahl er mit gedämpfter Stimme, „steh auft Kleide dich an!“

Hans Tillmann tat, als verstünde er Heinz nicht.

„Kasch!“ wiederholte der. „Wo hast du deine Kleider? Da, sitz auf! Vorwärts!“ Heinz suchte selber die Kleidungsstücke zusammen, nur Schuhe, Rock und Hose. Der Vater wollte Heinz die Flucht ausreden;aber der Sohn hatte kein Ohr mehr dafür. Er drängte und half dem Steifgewordenen in die Hosen, wobei er in seiner Hast nicht allzu schonend verfuhr. Als der Alte die eiserne Entschlossenheit seines Amerikaners zu fühlen bekam, gab er nicht nur den Widerstand gegen die Entführung auf, sondern er verbiß tapfer die Schmerzen, welche ihm das Einzwängen seiner geschwollenen Füße in die ungewohnten Lederschuhe verursachte. Plötzlich erkannte sich Hans Tillmann in seinem Sohne wieder, und darob glomm in seinem Herzen ein Fünklein der fast erloschenen Tatkraft wieder auf, die ihm von jeher müßiges Zusehen verbot. Wenn denn etwas gewagt werden sollte, so mußte es mit Ausgabe der letzten Kraft geschehen. An Mißlingen dachte ein Tillmann nicht, bevor er zerschmettert am Boden lag.

Enolich waren sie soweit fertig, daß man es hätte wagen dürfen, den Weg ins Freie zu suchen. Da kniete Hans Tillmann nieder und langte mit einer Hand unter die Bettlaode.⏑ö

„Was willst, Vater ?“

Meine Papiere,“ flüsterte der Alte. „Hast ein Messer bei dir?“

Ach laß doch den Plunder! Ist denn was Kostbares dabei?“

„Die laß ich nicht hier, Heinz. Meine Rechtsansprüche sind noch nicht erloschen.“

Mit zitternden Händen führte er das Messer von unten ins Matratzengestell und grübelte endlich mit des Sohnes Hilfe ein dickverstaubtes Bündel Briefe heraus.Heinz behändigte es. Dann zog er den mühsam Gehenden zur Türe. Aber nun erst beachtete er, daß sein Unterfangen die Neugier der Stubengenossen geweckt, ja daß es sogar einige aus ihren Betten gelockt hatte. Barfuß,in schlotternden Hosen, mit herabbaumelnden Hosenträgern und offener Hemobrust kamen ihrer zwei nachgelaufen. Alle grinsten mit neugierig aufgerissenen Augen, einzelne machten Bemerkungen, riefen: „Wohin die Reis? Wann kommst wieder?“ Die Bettnachbarn Hans Tillmanns verwarfen die Hände und gaben Töne von sich, die man als Freudenausbruch, als Hilferuf, als Alarm, als Abschiedsgruß, als Schreckensausdruck, kurz als alles Erdenkliche auslegen konnte. Schon drängten die zwei halb Angekleideten zur Cüre. Da stellte sich Heinz ihnen drohend in den Weg: „Ob ihr euch still haltet? Ins Bett! sag' ich, oder ich hole den Verwalter.“

Es trat eine Stille der Verblüffung ein.

„Wenn wir im Gang jemanden antreffen, so bist du auf dem Weg zum Abort. Verstanden?“ flüsterte Heinz seinem Vater zu. Dann schob er ihn durch die Türe, faßte ihn fest unter den Arm und schritt, so rasch es ging, mit ihm der Treppe zu, immer mit gespitztem Ohr. Es war alles still. Jedermann schien an seiner gewohnten Vormittagsarbeit zu sein. Im Erögeschoß durchliefen sie den Quergang, der auf die Freitreppe nach dem Garten führte. Scharf zeichnete die Junisonne den Schatten des prachtvollen Barockgeländers auf die Fliesen des Vorplatzes. In den Gemüsebeeten des prosaisch abgeteilten Gartens knieten zwei Anstaltsinsassen. Links außerhalb der nun sauber entmoosten und mit Zement erbarmungslos ausgebesserten Parkmauer wendeten auf der Zelg ihrer ein Dutzend das Heu. Der Teich auf der untersten Terrasse war ausgefüllt und verebnet, von dem Kastanienhain stand nur noch spärliches Ranogestrüpp. Gräßlich! Aber Heinz hatte keine Zeit zu Betrachtungen. An der letzten Creppe des Terrassenweges lud er sich den Vater huckepack auf den starken Rücken, lief mit ihm den kleinen Wiesenpfad entlang, und schöpfte erst wieder Atem, als der grüne Riesenwall des Buchenwaldes Antoinettes Wandelgang ihnen den Rücken deckte.

Hier ließ er seine teure Last zur Erde gleiten. Seine Augen leuchteten vor Genugtuung, als er sich den Schweiß aus dem glühenden Gesicht wischte. Vater Tillmann aber zitterte am ganzen Leibe. Er lachte vor Schwäche,

*88 fast unheimlich, und dabei liefen ihm Tränen in den Bart. Wortlos sank er auf einen Baumstrunk nieder.Was mochte in ihm vorgehen, als er da auf die Zelg hinausblickte, über die Schollen, auf denen er vor Jahren mit dem Feind sein eigenes Glück zertrümmert hatte?Seine Blicke richteten sich wieder auf den Sohn, der ihn jetzt eben hart an der Stätte des Fluches vorübergetragen. Sie schienen zu fragen: „Und jetzt?“

Heinz verstand die stumme Frage, und er hatte nicht sofort eine Antwort darauf. Erst jetzt ward er inne, was es eigentlich hieß, einen alten, kranken, steif und matt gewordenen Mann in durftiger Kleidung,die von weitem den Anstaltszögling verriet, am helllichten Cag durchs Land zu bringen. Aber TillmannStarrsinn und junge Tillmannskraft reichten sich die Hand, so daß es Heinz bald gelang, im Cal ein Fuhrwerk aufzutreiben und den Weg nach dem Wieseneiland von Hilbligen einzuschlagen.

XVI.Im feierlichen Halbdunkel des hohen Lesesaales der Berner Stadtbibliothet saßen viele Wissensdurstige über ihre Bücher gebeugt. Sie verwehrten mit ihren schweren Häuptern den gestrengen Herren Schultheißen,die über der Galerie aus goldenen Rahmen in die Schatzkammern des Wissens hinabschauten, den Blick in die neuere Literatur. In stoischer Ruhe fing zwischen zwei mattglänzenden Himmelsgloben der marmorne Albrecht von Haller das kühle Licht der Novembersonne in seine weißen Stirnfalten auf, und wo die Fenster zu wenig der blassen Strahlen einließen, schimmerten in mystisch dämmernden Winteln grünbeschirmte Lampen auf die traulich braunen Tischplatten. Dienstbeflissen trug der Bücherwart auf Finkensohlen schweinslederne Folianten und inhaltschwere Büchelchen mit rötlich angelaufener Golopressung. Leise, leise. Außer dem Knistern gewendeter Seiten durfte kein Geräusch die heilige Stille unterbrechen, über die unsichtbar das majestätische Eulenauge der Athene wacht.Plötzlich als wären sie alle an eine elektrische Leitung angeschlossen gewesen hoben sich alle Köpfe.Unwillig richteten sich aller Blicke auf eine Tischecke,von der ein schweres Buch klatschend auf den Fußboden gefallen war. Sobald die Aufgestörten den Sünder Tächeln, teils verärgert, ihre Nasen wieder in die weis-heitbefruchteten Furchen ihrer Folianten. Kaum einer saß da, der den Ruhestörer nicht kannte, kaum einer,der ihm nicht verziehen hätte, noch bevor er nach etwa zwei Minuten behutsam wippenden und doch schweren Schrittes den Saal verließ. Es war jener schon nicht mehr junge Student, der, aus Amerika heimgekehrt,seinen Vater gewaltsam aus dem Armenhaus befreit und sich nun mit Feuereifer auf das Studium der von Tavel, Heinz Tillmann. 19

Gottesgelehrtheit geworfen hatte. An der ganzen Universität genoß zurzeit kein Mensch soviel Sympathie wie dieser Tillmann. Wer unter den Professoren irgend ein Türschloß unter Händen hatte, sperrte es ihm auf.Erst immatrikuliert, ging er schon dem Ebraicum entgegen. Zu der Achtung, die man dem braven Sohne zollte, tam die Teilnahme wegen der dem Vater geopferten Studienjahre und ganz besonders bei den Theologen eine stille Bewunderung für die Lebensreife des jungen Mannes, der unter den Arbeitern des Panamakanals die soziale Frage praktisch studiert hatte.

Diese offenen Arme hatten Heinz Cillmann in das Haus des Pfarrers Jeanmaire geführt. Bei ihm, der dem jungen Mann aus lauter Ceilnahme und Bewunderung unentgeltlich HebräischUnterricht angeboten,hatte Heinz sich eingemietet. Eine ideale Bude hatte er in dem alten, sonnseitigen Junkerngaßhause gefunden.Eigentlich war er nicht bei dem Pfarrer, sondern bei dessen Untermieterin im obern Stockwerk, Frau Boß,untergebracht und kam mit dem liebenswürdigen, alten Herrn nur in den Hebräischstunden in Berührung. So hatte es auch geschehen können, daß Heinz erst nach einer Woche einen Hausgenossen entdeckte, der in die ersprießliche Ruhe seines neuen Lebens störend eingriff.Schon in den ersten Tagen zwar hatte er einmal im Dunkel des innern Korridors bei Jeanmaire eine weibliche Gestalt sich bewegen sehen, die ihm ein Kätsel aufgab. Bald darauf war es gelöst. Auf der Treppe war ihm, seinen etwas lintisch ausgefallenen Gruß höflich erwidernd Lilian Merle begegnet. Blitzschnell hatte ihn die Ahnung einer romantischen Fügung gepackt. Nahte sich ihm in dieser Gestalt der Lohn für seine Bravheit? Dummer Kerlt! schalt er sich. Bravheit! Lohn! Pfui. Aber was konnte er für das Aufflitzen dieser Vermutungen? Hatte er sie etwa ausgeklügelt?

„Frau Boß“, hatte er noch gleichen Abends seine Philisterin zur Rede gestellt, „was ist's mit der jungen Dame, die drunten bei Pfarrer Jeanmaire ein und ausgeht ?

In den Augen der Frau Boß flackerte etwas auf.Esel! schalt sich Heinz, konntest du dich nicht enthalten? Nun hab' ich natürlich der Alten Neugier geweckt. Aber er ließ sichs nicht anmerken und nahm mit möglichst kaltem Gesicht den Bericht entgegen, das heimat und elternlose Fräulein sei schon vor Jahren oft hier gewesen, sei vom Pfarrer Jeanmaire konfirmiert worden und nun nach dem Tode seiner Frau zu ihm gezogen,um dem alten Herrn die Haushaltung zu besorgen.

Seit jenen Mitteilungen der Frau Boß war Heinz Tillmann mit der Frage beschäftigt, ob er nicht besser tun würde, eine andere Wohnung zu suchen. Da es ihn aber verdroß, seine Zeit an solches zu verschwenden und er kaum irgenowo eine Behausung finden würde,die ihm besser behagte, so hatte er die Sache rutschen lassen. Heute nun, als er von einer Morgenvorlesung heimgekommen, hatte er auf seinem Tisch ein Billett von Lilians Hand gefunden, worin sie ihn im Auftrag von Pfarrer Jeanmaire zum Abendessen einlud. Er hatte es rasch zu sich gesteckt und in der Bibliothek wieder gelesen, als hätte sich zwischen den harmlosen Zeilen wirklich noch etwas anderes herauslesen lassen.Darob war er in eine nervöse Aufregung geraten und hatte in seiner Zerstreutheit das Buch vom Cisch hinunter gestreift.

Jetzt lief Heinz, die Hände in den Rocktaschen, mit vor Kälte glühendem Gesicht, dem Waldsaume des Bremgartens entlang. Immer von neuem rief er sich die Erlebnisse der letzten Monate ins Gedächtnis, um nachzuprüfen, ob er seine Richtlinie genau innegehalten habe. Dabei durchzuckte sein rückwärts lauschendes Ohr immer von neuem jener Verzweiflungsruf des Vaters:„Nimm dir das Weib deiner Wahl und baue dein Glück!“ In der Aufregung des Augenblicks hatte er den Schmerz dieses unbeabsichtigten Dolchstoßes nur wie in einer Betäubung empfunden. Zu seiner vollen Glut entbrannt war dieser Schmerz erst, als Heinz den Vater mit Franz Dengelers Hilfe bei einem braven Bauersmann versorgt hatte. Da auf dem einsamen Rückweg in die Stadt war ihm das Herz in Bitterkeit versunken. Mit aller Kraft hatte er sich der Anklagen erwehren müssen, die es wider den Vater erhob, der durch seinen Starrsinn und seine unselige Kachsucht ihm den Weg zum Weibe seiner Wahl und zu seinem

63*erkorenen Lebensberuf verlegt. Auf ewig blieb ihm nun die einzige, die mit ihm litt und stritt, versagt.Seinen Lebenszielen nachzugehen freilich fühlte er sich von jener Stunde an frei, und er hatte das einst so heiß ersehnte Studium mit der Freude und dem Ernst ergriffen, wie sie nur aus wahrer Herzensnot erblühen können. Nicht Lust am wissenschaftlichen Streben trieb ihn, sondern der Jammer der Menschen, an dem er so früh und so hart mitgetragen. Für sie wollte Heinz an den Quellen des ewigen Erbarmens schöpfen und aussprengen, soviel er sein Leben lang zu fassen vermochte. Suüß war ihm dabei der Gedanke, daß er damit den Wunsch seiner der Last erlegenen Mutter erfüllen konnte.

Warum mußte nun Silian Merle, die eine der schönsten Erinnerungen seiner Jugend verkörperte, von neuem seinen Weg kreuzen? Sollte er ihr den süßen,trotzig gehegten Schmerz um Antoinette opfern? Das wäre eine tapfere Selbsternüchterung, ein Stück Reinigung seines Strebens, so mußte sich Heinz sagen,und drum konnte er sich nicht entschließen, ihr von vornherein auszuweichen. Er nahm die Einladung für dies eine Mal an.

Bei der Nachmittagsarbeit ertappte sich Heinz über allerhand Unachtsamkeiten. Eine frohe Ungeduld plagte ihn, und er lächelte über seine wieder erwachende GymnasianerEitelkeit, die ihn nötigte, endlich wieder einmal seinem Äußern Aufmerksamkeit zu schenken.

Erleichtert und frohgemut klopfte er abends an die Korridortüre des untern Stockes, ganz dazu aufgelegt,neue, praktische Wege einzuschlagen. Er wurde aufs Liebenswürdigste empfangen, und der Abend verlief unter lebhaften Gesprächen mit andern Studenten für Heinz um so schneller, als er selber zum Gefühl berechtigt war, er sei der Mittelpunkt der Gesellschaft.Die stille Bewunderung seiner Kommilitonen wuchs noch unter dem Eindruck dessen, was er auf immer neue Aufforderung hin von seinen amerikanischen Erlebnissen erzählte. Zu besonderen Gesprächen mit Lilian kam es nicht, doch merkte Heinz, daß er an ihr einen aufmertsamen Zuhsrer hatte. Ohne irgendwelche Antnüpfungsversuche gemacht zu haben, fühlten sich die beiden jugendlichen Hausgenossen, als sie sich beim Abschied die Hand drückten, wieder näher gerückt.

Heinz stopfte auf seiner Bude noch eine Pfeife und überließ sich allerhand Streifereien in Vergangenheit und Zulkunft. Lilian hatte von ihrer Anmut nichts eingebüßt. Im Gegenteil, die Reife stand ihr sehr gut.Dazu lag in ihrem Ausdruck, wie Heinz dünkte, die Teilnahme heischende Melancholie der Heimatlosen.Schon tastete da etwas nach seinem Herzen, und ihm war, als müßte er sachte hinwegrücken, um sich nicht an einen neuen Zauber zu verlieren. Aber je mehr er sich darum bemühte, desto deutlicher und gewinnender erschien ihm Lilians liebliche Gestalt. Als ob es gestern erst gewesen wäre, ward ihm jener verliebte Abend nach dem Eislauf wieder lebendig. Nur hatte sich inzwischen etwas verschoben. Damals war das feine Mädchen dem Gymnasianer nur Gegenstand sehnsüchtiger Verehrung gewesen; heute wußte Heinz, daß er mehr zu geben hatte als sie. Es keimte ganz leise ein Gefühl von Verantwortung für ihr Glück in ihm auf. Aber,zum Kuckuck! Er stand ja erst auf der Schwelle seiner neuen Laufbahn, die er wahrlich nicht ergriffen hatte,um ..... Nein, er wollte kein Pfarrhausidyll. Aufspringend klopfte er die Pfeife aus und riß das Fenster auf, um die kalte Nachtluft einströmen zu lassen. Freudig und andächtig zugleich grüßten seine hellen Augen das herrlich flimmernde Heer der Sterne.

Wenige TCage später ward Heinz Tillmann auf das Advokaturbureau Bär KeSohn gerufen, wo ihn sein Kamerad Berni in seinem besondern Kabinett empfing.In dem weiß getäferten Hofzimmer standen so viele mit Aktenwust überladene Tische, Pulte, Kommoden und Gestelle herum, daß dazwischen nur noch schmale Gänglein blieben. Heinz ward auf ein Wachstuchsofa gewiesen, dessen Sitz er mit einem Berg von Zeitungen teilte, während Dr. Bär jun. eine Wolldecke über die Knie ziehend, sich in den Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch fallen ließ. Zwischen dem Chaos von Papieren hockte ein ausgehöhlter Sanösteinbär, in welchem Heinz ein sinniges Geschenk aus einem Weihnachtskommers wieder erkannte. Eine Menge angebrannter Zigarrettenmundstücke, Streichhölzer und Aschenhäufchen lag drin und drum herum. Berni steckte sich, nachdem Heinz abgelehnt, eine Zigarrette an und blies ein paar Wöltlein in den winterlichen Dämmer seiner Werkstatt, vor deren Fenstern die ersten Schneeflocken in einen öden Hof herniederwirbelten.

„Ja, du“, begann der Advokat, „was ich dir zu sagen habe: Mir scheint, es wäre nun an der Zeit,daß du deinem Alten ah pardon deinem Vater tlar machtest, daß in seinem Handel mit den Kuretablissements gar nichts mehr zu holen sei. Das ist gewiß ungemein schmerzlich; aber an der TCatsache ist nicht zu rütteln. Jeder weitere Schritt hat nichts mehr zur Folge als unnütze Kosten.“

„Ich dachte doch“, warf Heinz staunend dazwischen,„er habe die Sache längst aufgegeben.“

Berni Bär drückte auf eine Klingel und befahl der eintretenden Schreiberin: „Bringen Sie mir doch das Dossier Tillmann kontra Kuretablissements.“

„Da, sieh mal her“, sagte er dann, die Papiere entgegennehmend, „8. November, 3. November, 25. Oltober, 10. Oktober, 4. Oktober, 15. September, wart nur, noch mehr! 1. September, und diese drei vom August, also alles seit der Befreiung aus Prankenau geschriebene Briefe, in denen er immer von neuem, aber immer auf erledigten Argumenten basie rend, uns zum Vorgehen drängt. Und es ist nichts zu wollen.“

Unter lebhaften Zeichen des Unwillens hoörte Heinz dem wortreichen Nachweis der traurigen Sachlage zu,bis das Celephon den Vortrag unterbrach.

„Hier Bär, Sohn. Jawohl, ich selbst. Aha. Sehr gut, sehr gut. Fein. Lesen Sie mier den letzten Passus noch einmal. Wollen Sie nicht, Proletariat“ durch, Arbeiterschaft ersetzen? Aha. Ganz recht. Also, meine Zustimmung haben Sie. Als erster Votant? Meinetwegen. Gut. Zählen Sie auf mich. Adieu.“

Den Kopf auf die Sofalehne gestützt, hatte Heinz zugehört. Die nun in seinen Augen liegende Frage rasch beantwortend, sagte Berni Bär: „Ja, ja, mein Lieber. Dem wirst auch du nicht lange mehr entgehen.Heutzutage muß jeder denkende Mensch zu den sozialen Problemen Stellung nehmen. Und mich dünkt, am allerersten sollte den Cheologen das Verständnis dafür aufgehen.“

„Laß mich in Ruh. Jetzt habe ich anderes zu tun.“„Ganz recht. Studiere nur erst fertig. Aber ich meine, ein Mann wie du, der den Übermut der kapitalistischen Gesellschaft am eigenen Leibe zu spüren bekam, der durch sie aus der Bahn geworfen wurde und als Arbeiter unter Arbeitern fühlen lernte, kann unmöglich in den Tag hineinleben.“

„Sei nur ruhig, Berni, ich werde nach meinem Gewissen handeln.“

Dann ist mir nicht bange. Wer es mit dem Christentum ernst nimmt, kann doch wahrhaftig nicht anders,als den Forderungen der Entrechteten zuzustimmen. Aber weißt, Heinz, damit ist's nicht getan. Das sind die Verabscheuenswürdigsten, die in ihres Herzens Grunde den Unterdrückten recht geben und dabei in aller Seelenruhe ihr Schifflein vom Strome der kapitalistischen Gesellschaftsordnung tragen lassen. So bist du nicht. Das weiß ich, ich kenne dich zu gut.Wenn du, in diesem gottverlassenen Schiff sitzend, den Heiland auf den Wogen draußen wandeln siehst, so wirst du hinausspringen, und dein Glaube wird dich tragen. Du wirst die Sache der Enterbten mutig vertreien. Im Strome treibend, würdest du mit tausend andern untergehen. Über die Wasser schreitend, wirst du Licht verbreiten. Dich brauchen wir.“

Heinz hatte, ein feines Lächeln des Wohlbehagens um den Mund, zugehört. Nun richtete er seine lautern,grauen Augen voll auf den gesprächigen Jugenöfreund:Wer braucht mich? Du gehörst doch nicht zu den Enterbten.“

„Ich erkläre mich solidarisch mit ihnen“, antwortete Berni schlagfertig. „Und du dienst ihnen am besten im Rahmen der Organisation. Individueller Einsatz gehört zu den Folterwertzeugen ins historische Museum. Das alte, christliche Barmherzigkeitsgeplänkel ist vor dem

Massenelend längst verpufft. Wem es ernst ist um die Liebe zum Volk, verzichtet auf die egoistische Wohltäterei und fügt sich als Rad in die große Maschine,die allein imstande ist, den Riesenklotz der Not zu zermalmen.“

„In dieser Maschine geht aber sehr viel Persönlichkeit verloren, die dem Armen zugute käme und auf die er ein Recht hat“, wandte Heinz ein. Er stand auf, knüpfte seinen Überzieher zu und wollte das Gespräch abbrechen, indem er sagte: „Du mußt mir Zeit lassen, darüber nachzudenken. Und was meinen Vater betrifft, so werde ich mein Moglichstes tun. Bis jetzt habe ich den Stahl noch nicht gefunden, der härter wäre als sein Starrsinn.“

„Das ist alles, was ich von dir verlange“, drang Berni Bär von neuem auf seinen Freund ein, „daß du deiner Pflicht, dich mit den sozialen Problemen bis auf den Grund auseinanderzusetzen, nicht ausweichst.Erfüllst du diese Pflicht aufrichtig, so gibt's nur eine Moglichkeit: mitmachen!“

Die TCürklinke in der Hand, sagte Heinz: „Das beste wäre, du kämest einmal mit zu meinem Vater,dann könnten wir ja unterwegs uns über die Weltverbesserung verständigen. Adieu, Berni.“

*Die Weihnachtsferien verbrachte Heinz im Pfarrhause zu Hilbligen. Mit andern Gefühlen war er dies

40 mal zu seinen Geschwistern hinausgewandert. Stand auch noch nicht alles, wie er sich's wünschte, so war ihm doch die schwerste Last vom Herzen geschafft, mit

Genugtuung durfte er zurückblicken, und vor sich sah er freie Bahn. Oft blieb er auf seinen Spaziergängen unwillkürlich stehen, um tief sinnend sich so recht zum Bewußtsein zu bringen, welches Glück ihm widerfahren sei. In dieser Stimmung fand er sich ganz gut mit dem noch vor kurzem so gründlich verschmähten Pfrundidyll ab. Er ertrug sogar die Tante Nilpferd, mit der er den Frieden des Pfarrhauses teilte. Ihre Gesellschaft war ihm lieber als die seines Schwagers. Gesund und selbstverständlich wie ein Kohlkopf im sonnigen Garten,saß sie in dem Hilbliger Glück und wehrte sich gegen das Gekrabbel der Kinder so wenig, wie der Kohlkopf gegen die Raupen. Den heiligen Abend vollends hätte Heinz um allen Reichtum in dieser Welt nicht hingegeben, denn der brachte den Geschwistern, was sie seit den Tagen ihrer frühen Kindheit nicht mehr erlebt:der Vater saß in ihrer Mitte, sehr still freilich, aber der Freude seiner Kinder nicht verschlossen. Und die Rolle des Großvaters schien ihm gar nicht schlecht zu gefallen. Heinz drückte hinterm Tannenbaum seiner Schwester die Hand, und dieser traten die Freudentränen in die Augen, als Hans Tillmann im traulichen Tichterglanz mit dem kleinen Fränzi ryti ryti Rößli zu spielen begann. Keines sagte ein Wort dazu, aber in beider Augen lag es ausgesprochen: „Jetzt ist's erstritten.“

Nein, wahrlich, jetzt hätte es Heinz nimmermehr über sich gebracht, den Burgfrieden anzutasten; er genoß seine Wohltat zu sehr. Und doch sollte das Jahr seiner Lebenswende nicht ganz ohne Sturm zu Ende gehen.

Es verstrich trotz Wind und Regen kaum ein Cag,an dem Heinz Tillmann nicht nach der Lorhalde hinaus gewandert wäre, seinen dort verkostgeldeten Vater aufzusuchen. Man hatte es längst aufgegeben, den alten Trotzkopf zur Übersiedelung ins Pfarrhaus zu bewegen.„Hat mir das Leben den Ausmarsch nicht freigegeben,wie ich ihn gewählt,“ pflegte er zu sagen, „so will ich wenigstens den Heimweg nach meinem Sinne wählen.“Und diese Rückzugslinie steckte sich der Geometer straks durch die Einsamkeit ab. Teute, die ihm gelegentlich mit gutgemeinten Lehren zurechthelfen wollten, hielt er sich weit vom Leibe. Da war ihm der Lorbauer just recht, so ein stiller Mann, dessen Rückgrat seinen Krumb hatte und nicht mehr wider das Joch seines Loses auffederte, der mit seinem Grund und Boden umging, als wäre es Fleisch von seinem Fleische. Solch rechtschaffenem Kämpfer beizustehen, war eine Freude.Auch die Bäuerin war ihm recht. Von der Härte der Arbeit in ihrem Äußern bis zur Häßlichkeit hergenommen, ging sie ergeben ihres Weges, als predigte sie sich selber immerfort: Nur noch ein Weilchen ausgehalten, das Gute kommt schon noch. „An der Lorhalde,“ sagte Heinz einmal, zu seiner Schwester heim kehrend, „werden des Jahres nicht zehn überflüssige Worte gesprochen.“ Der ungewöhnlich weit über die altersschwarze Front vorspringende Schindelgiebel schien ein Geheimnis zu überdachen und lugte auf die Acker hinaus, so schweigsam wie im Herbst die Königskerzen des Gartens.

Am letzten Tage des Jahres, als Heinz den Hohlweg zum Lorhaus hinaufging, hörte er den alten Bauer laut und gsatzlich reden. „Und ich tu's nit,“ sagte er.„Ich gehöre nicht zu denen, die nicht schlafen können,eh' sie alles in ihre Gewalt gebracht.“

„Wenn man aber zusehen muß, wie die Sache in eines ungeschickten Menschen Hand zugrunde geht?“antwortete Hans Tillmanns Stimme.

„So bleibt's dennoch seine Sache. Geh du hin und zeig ihm, wie er's machen soll. Ich will dir nicht davor sein. Und wenn's Gödis Gödel zum Vorteil ausschlägt, so will ich es ihm von Herzen gönnen.Ein hablicher Nachbar ist mir lieber als ein neidischer.“Heinz war aus dem Hohlweg getreten und sah jetzt oben über der Bordkante die beiden Männer. Als er zu ihnen trat, grüßte der Bauer schicklich, ging aber alsbald weiter und verschwand im Hause.

Hans Tillmann schüttelte den Kopf und klopfte sich mit der geballten Faust sachte an die Stirne. „Ein braver Mann ist er,“ sagte er zu seinem Sohn, „aber versuch's, so einem etwas beizubringen, das ihm nicht 2*398 von selbst einfällt. Glaub' mir nur, in einigen Jahren beißt der sich die Finger ab aus Ürger darüber, daß er meinen Rat verschmäht hat.“

„Nämlich ?

„Schau jetzt nur!“ Hans Tillmann zog seinen Sohn ein Stück weit hügelan, bis sie über First und Hofstatt ins Feld hinausblickten. Da siehst, wie die ganze Corhalde gegen die Wetterseite offen liegt. Da odrüben,grad als hätt' es einer dem Haldenbauer zuleid getan,ist eine breite Lücke in den Walodgürtel gehauen. Solltest sehen, wie's aus dieser Gasse heranfaucht, wenn der Wistelacher bläst. Eine wahre Hagelpforte ist's. Und dort, gleich links davon mit einer Ecke stößt es an meines Bauers Land liegt, platt wie ein Tisch und von zwei Seiten im Waloschutz, ein prächtiges Stück Wiesland. Gödis Gsödel, dems gehört, weiß nichts damit anzufangen, weil es nicht entwässert ist.Da hab' ich dem Alten gesagt: Kauf's doch. Es gilt jetzt wenig. Hernach drainieren wir's, und du hast dein Besitztum verdoppelt oder verdreifacht. Er sieht's ganz gut ein. Aber, was gilt's, er will nur nicht drauf eingehen, weil ich es ihm angegeben.“

Hans Tillmann wartete vergeblich auf eine Antwort. Sein Sohn blickte nach jener Waldwiese hinüber und war doch offenbar nicht bei der Sache. Es ist doch noch nicht völlig erstritten, dachte er, und seines Gedaächtnisses Auge ruhte auf den Dachknäufen von Prankenau. Um aus dem peinlichen Schweigen herauszukommen, sagte er: „Ach, Vater, du magst recht haben;aber lasss lieber die Hände davon.“

Da er ohnehin heute die Absicht gehabt, nur im

Vorüberstreifen den Vater zu grüßen, verweilte sich Heinz nicht lange an der Lorhalde. Mißmutig wanderte er dem Pfarrdorfe zu. Beinah bereute er, nicht in der Stadt zu sein, wo das Silvestertreiben ihn doch ein wenig aus der ewigen Grübelei hinausgescheucht hätte.Hier war aber auch gar nichts, was an die Jahreswende erinnerte. Mattgrun lagen die Wiesen unter der träufelnden Wolkendecke. So richtig im toten Punkt zwischen Herbst und Frühling stand die Welt. Träge schlichen die Dunstschleier den Waldsäumen entlang, und wie sehr der Menschen Herz und der Gräslein müdes Heer im Sehnen nach einem Sonnenblick sich einten, nicht einen einzigen fadenscheinigen Fleck zeigte ihnen des Himmels graue Zeltdecke.

Genau so war Hans Tillmann im toten Punkt seines Lebens angelangt. Wie der Abgebrannte mit einem Stock die Asche seines Hauses durchstochert, um noch etwas Brauchbares herauszufinden, durchstöberte er, was hinter ihm lag, fand nichts und wußte auch mit der Zukunft in aller Gotteswelt nichts anzufangen,am wenigsten mit seines Sohnes neuen Wegen. Ach,daß doch ein Leichentuch sich senkte, ein reines, weißes,draußen über Halm und Scholle und auch über ihn!Aber mit unerbittlicher Ausdauer harrte das Leben vor seiner Türschwelle und wollte etwas von ihm, und IA5 er wußte keinen Bescheid und wehrte sich, die Türe aufzutun.

Als Heinz ins Pfarrhaus kam, meldete ihm die Schwester, halb verdrießlich, halb lachend, es warte jemand auf ihn.

„Wer denn?“

„Geh' nur hinauf, du wirst's gleich sehen.“

„Ach, sag's mir doch gleich! Ich bin so gar nicht aufgelegt.“

„Geh nur.“

Als er in den obern Flur trat, entfuhr Heinz ein aufrichtiges „o Gott im Himmel! Auch das noch!“.Dann mußte er doch beinahe lachen, denn er dachte an die Cante Nilpferd. Aus des Pfarrers Studierstube scholl, gleich dem Geräusch einer Hauptbrunnstube, die Stimme Berni Bärs. Er hatte den guten Franz schon fest dran. Nicht ganz ohne Schadenfreude lauschte Heinz einen Augenblick auf der Schwelle. Dann trat er ein,von Doltor Bär mit burschikosem Geschrei empfangen.„Eigentlich,“ sagte der Advokat, „bin ich auf dem Wege zu deinem Vater, Heinz. Ich wollte dich hier abholen.....“

„Nur „eigentlich‘ bist du auf dem Wege dorthin.Du würdest also mit dir reden lassen, wenn .....“

„Jawohl, wenn gute alte Freunde mich zu Gast laden, wie es soeben geschehen. Offen gestanden, ist's mir heute trotz dem grämlichen Wetter mehr ums Tuftschnappen als um Geschäfte zu tun. Wie wär's,von Cavel, Seinz Tillmann. 290 wenn wir drei heute Nacht noch einen tüchtigen Bummel unternähmen? Habt ihr nicht ein Freßbädli in erreichbarer Nähe, wo man einen vernünftigen Silvesterschoppen bekäme, he?“

„Lüterswil,“ sagte Heinz halblaut. „Aber mir gefiele es besser auf einem einsamen Berg. Und der Frieswilhubel ?“

„Gut, sehr gut! Dann neujahren wir drunten in Ortschwaben oder wie heißt's doch, da, weißt, wo das Trineli herkam, da das fidele Huhn im untern Jucker“.“

Franz Dengeler atmete erleichtert auf. „Ich wünsche euch beiden einen vergnügten Bummel.“

„Was?“ fragte Bär, „euch beiden. Du wirst dich doch nicht drücken wollen ? Oder mußt erst deine Weibsleute fragen ?“

„Guter Mann,“ lächelte Franz, „du vergißt, daß morgen ein wichtiger Feiertag ist.“

„Was hat's denn damit auf sich?“

„Ei, daß ich Predigt halten muß.“

„Daran wird dich niemand hindern.“

„Hoffentlich nicht. Aber zu einer guten Predigt gehört eine ordentliche Vorbereitung, und überhaupt ...“

„Potz Donnerwetter, hört mir den an!“ schrie Berni Bär. „Vorbereitung! Hab' gemeint, so ein Mann Gottes sei Geistes voll bis zum Zerplatzen. Du,du,“ schrie er noch lauter auf Dengeler ein, „da sieht man's ja grad, was mit euch ist, ihr Staatspfründer.Sakerment. Wenn ich Pfarrer wäre, ich wüßte, was ich zu reden hätte. Mir würde das Schweigen schwerer.Du, weißt was, Fränzel, lass' mich an deiner Stelle predigen. Dann bekommen deine Hilbliger Mastkälber einmal eine Neujahrspredigt zu hören, die bis zum 31. Dezember vorhält. Du kommst einfach mit, und wenn du einen rechtschaffenen Suff heimbringst, so kannst ihn morgen ruhig ausschlafen. Ich garantiere dir .....“„Hör auf!“ wehrte Franz, ärgerlich auflachend.

„Wo hast deinen Kanzelrock?“ brüllte Bär und machte Miene, den nächsten Wanöschrank aufzureißen.„Lass' sehen, wie mir das Zeug stünde!“

Franz drängte den Ungestümen auf das Sopha zurück. Der Advokat weidete sich an des Pfarrers Unbehagen, lenkte dann aber zu ruhigerem Gespräch ein und sagte: „Nein, aber Spaß beiseite! Daß euch,Cheologen, die Vorbereitung einer Neujahrspredigt Bauchweh macht, beweist gerade, daß euch der Geist fehlt, von dem ihr mit einem gewissen Recht das Heil der Welt erwartet. Heißt's nicht irgendwo: Er wehet,wo er will, du hörest sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt? Hä, Dengeler, gelt, ich hab' weniger vergessen als du meinst. Dieweil ihr mit Händen und Füßen an eurem Webstühlchen klappert und ein seidenes Predigtlein mit allerhand Blümelein und Arabesken zusammenwebt, wallt's ganz anderswo, in den Herzen der Mühseligen und Beladenen, auf und rauscht, daß es donnert in den Lüften, wie Murtenschießen um Mitternacht.Und eines schönen Morgens werdet ihr euch die Augen ausreiben und glotzen und nicht verstehen, was im Dunkel der Nacht geschehen ist. Und dann dann werdet ihr euch des Wortes erinnern: ‚Und es geschah plötzlich ein Brausen vom Himmel und erfüllte das ganze Haus, und es züngelte Feuer auf eines jeglichen Haupt.“

„Du,“ unterbrach Dengeler den Eifernden, „das Zitieren darfst du immerhin noch uns überlassen.“ Mit fliegendem Schlafrock eilte er nach dem Pult, seine Bibel herunterzureißen.

Bär blieb wie angewachsen auf dem Sopha sitzen und lachte: „Laß nur, laß nur! Deine alten Schmöker brauch' ich gar nicht erst. Was ich dem Sinne nach erfaßt habe, bleibt in mir lebendig, ob auch die Worte längst nicht mehr mit dem Koder sich decken mögen.“

Eben stürmte Franz mit aufgeschlagener Bibel auf den lachenden Kameraden los, den blonden Schopf über der glühenden Stirn ordentlich gesträußt, als Frau Röseli eintrat. Jetzt gefiel ihr Franz. Als brennenden Dornbusch hatte sie ihn noch nie gesehen.Gerne hätte sie dem offenbar entbrannten Zweikampf zugehört; aber ihren Schritten folgte der Küchelduft aus dem Eßzimmer und ermächtigte sie zur Mahnung.daß ein jeglich Ding seine besondere Zeit habe. Ein homerisches Gelächter sprengte die Schwierigkeit des Augenblicks, und der geistsprühende Töwe Sozialdemo krat ließ sich vom einladenden Worte der Hausfrau ebenso leicht bändigen wie das Kanzellämmlein. Ohne allen Hader setzten sie sich zu Cische. Franz und Berni schienen sogar vergnüglich angeregt. Heinz verharrte in nachdenklichem Schweigen. Was Franz Dengeler besonders freute, war das nun wohlerworbene Recht,fürderhin in jedem Pfarrverein sich mit dem Hinweis darauf aufzulassen, daß er sich mit einem Führer der sozialdemokratischen Partei im Zweikampf gemessen habe ohne zu unterliegen (daß ihn die Frau mit der Küchlipfanne vor dem Schlimmsten bewahrt,brauchte man ja nicht zu sagen).

Wer aber den Einbruch des roten Wolfes durch den Waldfriedensgürtel von Hilbligen keineswegs erbaulich fand, war die Tante Nilpferd. Nicht daß sie von dem Disput etwas gehört hätte. Aber der Gast mit den flackernden Augen und dem wirren Krausschopf hatte sich während des Tischgebetes im Stuhl zurückgelehnt, den Schnauz gestrichen und ja, ja,sie hatte es trotz aller Andacht ganz deutlich gesehen spöttische Blicke üuber die fromm gesenkten Häupter streifen lassen.

Wie atmete sie auf, als nach Cisch. der wüste Geselle zum Aufbruch drängte und nach einem letzten vergeblichen Ansturm auf den standhaften Pfarrer mit Heinz allein abmarschierte. Die Tante machte aus ihrer Erleichterung kein Hehl, und als der Pfarrer ihr versicherte: „Ja weißt, Cantchen, in dem Manne steckt

0 eine Gärung, die vielleicht auch ihr Gutes hat dent, er liest sogar die Bibel,“ da meinte sie: „Mag sein, aber wozu!“

Vorerst schlugen die beiden Wanderer den Weg nach der Lorhalde ein. War der Advokat nun einmal in der Gegend, so sollte die Gelegenheit ausgenützt werden. Die Karrgeleise waren gefroren, und es lag kein Grund vor, am Straßenbord zu gehen. Dennoch tat Heinz, als müßte er sorgsam den Weg wählen.Es war ihm nur darum zu tun, nicht in einemfort reden zu müssen. Während Bär, voraus schreitend, seine Worte nicht zählte, sann Heinz schweren Herzens, wie sie am schonenosten seinem Vater die letzten Illusionen zerstören tönnten eine richtige Silvesterarbeit. Was hätte er nun um einen packenden Neujahrsgedanken gegeben! Als sie sich der Lorhalde näherten, hielt Heinz seinen Kameraden an: „Du,“ sagte er, „nun bitt' ich dich bloß um eins: Fang bei meinem Vater nicht von Politit ant Wir wollen ihm nicht, wenn die Wurzel seines Unglücks endlich ausgerissen sein wird, den Keim zu neuem Unfrieden ins Herz setzen. Ein still leuchtender Abend ist's, was ich ihm wünsche.“

Diesen Gedanken hatte Heinz die Sonne gegeben,deren rote Glut jetzt eben aus breiten Rissen den Horizont überströmte.

Bär lachte leise. „Morgenrot wäre mir lieber,“sagte er halblaut. Und im Weitergehen raisonnierte er: „Weißt, Heinerli, Resignation darfst du bei unser einem nicht suchen. Vor einer verkrachten Existenz die Hände falten und seufzen: ‚es ist nun mal so, daran läßt sich nichts mehr ändern', das gibt's bei uns nicht.“

„Es ist aber hier nicht um Wiederaufbau nach außen zu tun, mein Lieber. Ich suche etwas anderes...“

„Schon recht. Lass' mich nur machen.“

Dicht vor der Küchentüre des Bauernhauses faßte Heinz den Vorwärtsstürmenden am Aermel und bat dringend: „Berni, nimm dich in acht!“

Bald saßen sie in der dumpfen Stube, und der Advokat erklärte vom warmen Ofentritt aus seines Freundes Vater klipp und klar die Aussichtslosigkeit seiner Rechtsansprüche. Hans Tillmann saß auf der Wandbank am Fenster und blickte starr nach dem Walde hinüber, in dessen Wipfelmeer die Sonne versank. Er sprach kein Wort, tat keinen Seufzer. Sein grauer Kopf aber war die in Erz gegossene Bitterkeit. Des Advokaten Worte polterten wie gefrorene Schollen auf einen Sarg.Als der Abenöschein auf den gemalten Blumen des Wanoschrankes erlosch und die drei Männer sich nur noch wie Schemen dasitzen sahen, kam Bär auch mit seinen Ausführungen zu Ende. Da war es Heinz, als müßte er dem Vater, der in sprachloser Verbitterung am Grabe seiner letzten Hoffnungen stand, mit einem lieben Wort an die Brust fallen. Aber auch das war vorbei, die Zeit der jugendlichen Zärtlichkeit, jetzt, wo ihr vielleicht der einst so harte Mann wieder zugänglicher gewesen wäre. Und da saß im Halbdunkel der zu Hilfe gerufene Fremde. Der hatte nun sein Wert getan, mit berufsmäßiger Sachlichkeit. Warum ging er jetzt nicht hinaus, Vater und Sohn allein lassend?Wenn er nur nicht anfing ..... Heinz wollte reden und fand kein Wort. Da fing Bär wieder an, den die Grabesstille nicht minder drückte. Er verließ den Ofen und setzte sich nahe zu Hans Tillmann auf die Fensterbank. „Das ist freilich ein bitter Ding, was ich Ihnen da mitteilen mußte, Herr Tillmann,“ sagte er,„und da läßt sich nichts mehr herausholen, aber seien Sie nur ruhig, eine Genugtuung werden Sie doch noch erleben. Die Stunde der Vergeltung ist nicht mehr fern. Sie sind recht eigentlich das Opfer der kapitalistischen Gesellschaft, und der wird's an den Kragen gehen, so wahr ich da sitze.“

Berni Bär konnte nicht anders. Er mußte Feuer schlagen, wo er einen Stein dazu fand. Aber die Funken entfachten keine Glut. Hans Tillmann blieb stumm.

Heinz war um nichts gesprächiger geworden, als er bei einbrechender Nacht mit seinem Kameraden weiterwanderte. So hatte sich nun freilich der junge Advokat den Silvesterbummel nicht gedacht. Zu der bedrückenden Einsilbigkeit seines Wandergefährten gesellte sich das Schweigen der Tanöschaft, die mit jedem Schritt tiefer ins Dunkel versank. Da hockten links und rechts, in herausfordernder Selbständigkeit, weitauseinandergerückt, die Bauernhöfe, gleich Mutthaufen,aus denen mit glimmenden Äuglein das fette Behagen blinzelte. Nichts regte sich weit und breit als etwa dann und wann ein Kettenhund, der das Behagen gegen jede Stsrung sichern sollte. Heinz stimmte dieses Bild satter Ruhe, dieses samtene Dunkel feierlich. Berni aber kam eine bübische Lust an, es zu stören. Es gelang ihm wenigstens insofern, als er durch Gröhlen der Arbeitermarseillaise die Hunde zum Bellen brachte.Er hoörte damit nicht eher auf, als bis einer dieser Wächter glücklich seine Kette gesprengt hatte und mit wüstem Zãhnegefletsch in bedrohliche Nähe von Bernis Hosenbeinen kam. Berni hieb und stach und guselte mit seinem Stock gegen den Hund, ohne ihn zu treffen,und als sie endlich außer Sprungweite von dem Tiere waren, fing er an zu schimpfen, ein Skandal sei es,daß man nicht einmal ruhig seines Weges ziehen könne,man sollte den hagels Mastbauern überhaupt das Halten von Hunden verbieten.

Er wüßte etwas besseres, meinte Heinz, auflachend,man sollte die Hofhunde alljährlich gemeindeweise einziehen und ihnen unter dem Gesang der Marseillaise Gnagi austeilen. Dann kämen alle Teile auf ihre Rechnung, die Hunde zuvorderst, dann aber auch die Bauern, die Metzger, die Viehhändler, die friedfertigen Wanderer und endlich auch diejenigen Proletarier, um derenwillen die Hofhunde gehalten würden.

„Meiner Seel,“ antwortete Bär, „du hast mehr soziales Verständnis, als du zugestehen willst. Was wetten wir ?“

Vielleicht mehr als du, Berni.“

Heinz sagte das in einem ernsten, fast strafenden Con, so daß sein Kamerad nähere Erklärung verlangte.

„Wenigstens ich,“ sagte Heinz, nun auftauend,könnte mich mit dem negativen Trost, mit dem du meinem Vater aufgewartet hast, nicht zufrieden geben.“

Berni Bär blieb stehen und blickte erstaunt auf Heinz, der ruhig fortfuhr: „He ja. Was nützt es einem Schiffbrüchigen, wenn du ihm sagst: DDir ist nicht mehr zu helfen; aber sei getrost, deine Rivalen und Peiniger werden auch bald ersaufen“? Das ist ein Ausfluß jener kommunistischen Denkweise, die dem Stärkern das Werkzeug nimmt und es zerschlägt und deren Schlußresultat die allgemeine Tähmung ist.“

„Bitte,“ protestierte Bär, „so habe ich's nie verstanden. Ich möchte dem Starken, der es mißbraucht,das Werkzeug wegnehmen und es dem Schwachen geben.“

Mit dem Rollentausch ist nichts gewonnen. Nichts kann dem Ganzen verhängnisvoller sein als entwaffnete Intelligenz. Lasse dem Starken seine Waffen, aber zwinge ihn, sie für das Volk zu gebrauchen, und mache den Schwachen stark, damit er frei werde!“

„Auch gut. Siehst du, wir haben im grunde genommen dasselbe Programm.“

So wanderten die beiden, bald schweigend weiterspinnend, bald disputierend, durch die Nacht. Sie fühlten, daß sie einander näher kamen, daß sie beide etwas Schönes, Großes, wahrhaft Menschenwürdiges suchten. Im Wirtshaus zu Frienisberg kehrten sie ein und feierten in seliger Laune bei einem Glase purpurnen Weines die Auferstehung ihrer Jugenöfreundschaft. Gerne erinnerte sich Heinz des stürmisch frohen Tebens, das einst „Mirabeau“, das Sorgenkind aller Lehrer, in die Klasse getragen, gerne der treuen Freundschaft, die er ihm in den dunkelsten Tagen seines Lebens bewiesen. Er mag ein Brausekopf sein, ein Sturm“vielleicht manchmal, dachte Heinz Tillmann, aber ein guter Mensch ist er doch. Berni Bär, dem zu Zeiten selbst das Unausgeglichene seines Wesens und seiner Anschauungen zum Bewußtsein kam, ahnte, daß er an dem durch die harte Jugend ausgereiften und doch noch so lebensfrischen, jungen Gottesstreiter einen festen Halt gewinnen konnte. Verjüngt brachen sie wieder auf, um zur Mitternacht auf dem Kamme des Frieswilhubels zu sein. Es kam ihnen vor, als wären sie von der Welt weit abgerückt und noch tiefer in die Nacht getaucht, als sie auf dem Bergrücken hin und herwanderten und nach den fernen Glockenklängen lauschten. Tief schwarz lag alles um sie her. Kein Lichtlein verriet menschliche Behausung, kein Stern des Himmels tröõstliches Gezelt. Das einzige helle in der weiten Runde war der fahle Schein, der die Stelle bezeichnete, wo in des schlummernden Landes weichen Falten die Stadt fieberte. Endlich kam es, in kaum hörbaren summenden Wellen herauf, der Münsterglocken feierliches Lied von Vergehen und Werden.

Sie redeten nichts mehr; aber jeder wußte vom andern, daß er entschlossen war, einer neuen Zeit, einer viel verheißenden, gläubig entgegenzugehen.

Als der letzte Ton verhallt war, trennten sie sich unter Glückwünschen, die einen ganz besondern, tiefen Klang hatten.

Dicht wirbelten die Schneeflocken um den bereits in weißer Decke schimmernden Pfarrhof, als Heinz rechtschaffen müde zu Hilbligen eintraf. So leise es ging, schlich er sich in sein Zimmer hinauf. Zu seinem Erstaunen fand er auf dem Tisch eine ansehnliche Kiste.Darauf lag ein von großzügiger weiblicher Hand adressierter Brief aus Bern. Klopfenden Herzens riß er ihn auf. Die Schriftzüge hatten ihn in einen Sturm seltsamer Gefühle versetzt. Nachdem er in atemlosem Staunen die Unterschrift gelesen, zwang er sich zu ruhigem Genießen des ganzen Briefes. Er lautete:

„Lieber Heinzt Denken Sie nicht arg von mir,weil ich mir diese Anrede vergebe. Aber es wäre wie ein falsch gegriffener Con, wollte ich diesen Brief mit Hochgeehrter Herr'‘ einleiten. Vielleicht ist es mein letzter an Sie. Darum soll er erst recht die Freundschaft zum Ausklang haben, eine wahrhaftige Freundschaft. Sie verstehen mich, nicht wahr?

Also, ich fühle mich Ihnen tief verpflichtet, da ich Ihnen mein Glück verdanke. Durch das wahrhaft glänzende Beispiel von Kindesliebe, das Sie mir mit Ihrem Verzicht auf das Theologiestudium seinerzeit gegeben,haben Sie mir geholfen, die Wunsche meines Herzens niederzuringen, deren Erfüllung mich mit meinen lieben Eltern in Zwist gebracht hätte. Ihr Beispiel vor Augen,habe ich überwunden, und habe meiner Eltern Liebe dadurch vergolten, daß ich dem Manne die Hano reichte,der nach ihrem Herzen gewachsen ist.

Nun bitte ich Gott, daß er den Segen des Verzichtes uns beiden in gleichem Maße zuteil werden lasse.

Wie ich höre, ist ja nun Ihr Herzenswunsch auch erfüllt, und Sie konnten den Beruf doch noch ergreifen,den Sie Ihrem Vater zuliebe preisgegeben. Sie glauben nicht, wie sehr wir uns darüber freuen, Marecel und ich. Es ist bei uns ausgemacht, daß Sie in Zwischenflüh Pfarrer werden, sobald der alte Herr, der voet die Kanzel inne hat, seines Amtes müde ist. Wir haben sehr viele Arbeiter dort. Da sagt Marcel immer, für die wären Sie der richtige Seelsorger, weil Sie selbst unter den Arbeitern gelebt haben. Wie freuen wir uns auf den Augenblick, da wir Jugenöfreunde uns wieder die Hand reichen werden, um gemeinsam Gutes zu tun unter den Menschen.

Und nun machen Sie mir die Freude, als ein schwaches Zeichen meiner Dankbarkeit das kleine Kunstwerk anzunehmen, das ich für Sie anfertigen ließ in Erinnerung an den, der die neunundneunzig in der Wüuste läßt, um das eine verlorene Schaf zu retten.

Ich suchte ein entsprechendes Bild. Aber all die Bilder vom guten Hirten sind mir zu süßlich, zu weltfern.Sie sagen mir nichts. Nun glaube ich in nächster Nähe das Beste gefunden zu haben, indem ich einem unsrer Schnitzler den Auftrag gab, das darzustellen in gutem,derbem Bergholz, was mir vorschwebte.

Empfangen Sie mit meinen und meines Mannes herzlichen Glückwünschen zum neuen Jahre die freundlichsten Gruße von Ihrer Antoinette Delierre.“Heinz war, als müßte er wieder in das Schneetreiben hinaus. Aber er wußte, daß er den Aufruhr seiner Seele mit sich forttrüge, wohin immer er seine Schritte lenkte. Wieder und wieder las er den Brief,und so oft er ihn wieder hinlegte, stand er vor einem neuen Rätsel. Müde und verwirrt setzte er sich auf sein Bett. Er wollte sich zur Ruhe zwingen. Aber immer wieder klangen Antoinettes Worte gleich den Schlägen einer Sturmglocke an sein Ohr. Es war ihm, als hörte er ihre Stimme, als sähe er ihre schlanke Gestalt im Waldesdämmer vor sich. „Da ich Ihnen mein Glück verdanke ...!“ Ob sie denn nicht ahnte, was dieser Satz für ihn bedeutete? Und „Ihr Beispiel vor Augen, habe ich überwunden ...“ Plötzlich sprang er auf. „Das ist eine Lüge,“ rief er. „Sie lügt sich selber vor, daß sie überwunden habe, daß sie glücklich sei. Sie ist es nicht. Das beweisen die verschwommenen Zeilen da unten. O Antoinette! Antoinette! Armes Kind!“

7

Unfähig, sich aus dem Wirrsal seiner Mutmaßungen und Schlüsse loszureißen, begann er mit seinem Sackmesser den Kistendeckel zu lösen. Es ging mühsam, und das war ihm recht. Er arbeitete sich in Schweiß, trotz der Kälte des Zimmers. Da knacks brach ihm die Klinge die gleiche, mit der er am Panamakanal einst sein Leben erfolgreich gegen Aufrührer verteidigt. Sollte er vielleicht das Angebinde der geliebten Frau gar nicht sehen wollen? Nach kurzer Pause schlich Heinz in die Küche und holte sich ein Beil. Mit wachsender Ungeduld brach er die Kiste auseinander. Sie enthielt eine lebendig empfundene Holzstulptur, einen Geißbuben, der ein Lamm den Klauen eines Aodlers entreißt.

„Auch das trifft ja nicht einmal zu,“ sagte sich Heinz, nachdem er das Kunstwerk eine zeitlang betrachtet. „Ich habe ja meinen armen Vater durch den Verzicht nicht gerettet. Konnte ich ihn denn vor dem Zusammenbruch bewahren?“

Je mehr Heinz über die seltsame Verkettung all dieser Dinge nachsann, desto mehr kam es ihm vor,als hörte er das Hohngelächter eines unsichtbaren Feindes. Eine dunkle unfaßbare Macht schien mit ihm ein grausames Spiel zu treiben. War es vielleicht doch tindisch und verkehrt, an einen Segen des Verzichtes zu glauben? Nur eines blieb in dieser Neujahrsbescherung unbestreitbar: daß Antoinette ihre Liebe zu Heinz so wenig überwunden hatte, wie er selbst seines Herzens tiefen Zug zu ihr.3*

20

XVII.Den Pfarrleuten zu Hilbligen gefiel Heinzens Wesen in den ersten Tagen des neuen Jahres gar nicht. Für ihn schien es keinen Unterschied zwischen Spazier und Stubenwetter zu geben. Besann sich Franz Dengeler,ob das Verlangen eines wunderlichen Kranken nach seelsorgerlichem Trost es auch wirklich rechtfertige, daß er seinen angegriffenen Hals der mußte doch für die Verkündigung des Wortes glatt bleiben den Unbilden der Witterung aussetze, so war Heinz längst im froststarrenden Waldrevier draußen. Zuhause war er so wortkarg, daß man fand, er hätte seine Ferien ebensogut in Bern zubringen können.

Es hängt, das laß ich mir nicht nehmen, mit dem geschnitzten Dings da zusammen, mit dem Vogel,“ sagte Frau Röseli beim summenden Ceekessel zu ihrem Mann,und der brümmelte hellen Criumphes vor sich hin:„Ja, ja, Heinerli, an deinem Herzen frißt noch was anderes als der Eifer um des Herrn Haus.“ Der Frau Pfarrerin fiel auf, daß sie beim Aufräumen von Heinzens Stube fast täglich zerknitterte und verbrannte Briefpapierfetzen fand, welche ihres Bruders Schriftzüge trugen. „Aha,“ dachte sie, „der Dankesbrief an die vornehme Freundin macht dem Brüderlein Sorgen.“Weder sie, noch ihr Mann ahnte, was Heinz auf seinem Herzen forttrug, als er am Schluß der Neujahrsferien in die Stadt zurücktehrte. Er nahm den Weg über die Lorhalde. Obwohl sehr kalt, strahlte der klare Wintermorgen etwas wie fernes Frühlingsahnen. Der blaßblaue Himmel war mit einer zahllosen Herde rosiger Schäfchen bedeckt. Sie empfingen ihr schillerndes Licht aus dem Glutstrom, den die schon östlich des Schreckhorns aufgehende Sonne aus ihrer Woltenpforte über das Eismeer der Strahlegg schüttete. Das Frühlingsahnen lag nur in des Wanderers Seele; denn im weiten, Purpur hauchenden Waldgürtel von Hilbligen knisterte noch gleißender Frost. Und in dem holden Ahnen zitterte, es anfachend, das süße Gelüsten nach verbotener Frucht. Die leuchtenden Berge lockten. Dort,zu ihren Füßen lag Zwischenflüh. Durch das wilde Tai führte die Straße zum Sillernpaß. Ja, Heinz hatte manchen Brief zerrissen. Alle waren ihm zu laut geraten. Und derjenige, den er endlich doch der Post anvertraute, weil die Dankesbezeugung nicht länger unterbleiben durfte, war auf das Nichtssagendste zurückgeschnitten, was der Schreiber über sich brachte. Alles andere ja, was denn, Heinz? sollte der Fußreise über den Sillernpaß vorbehalten bleiben. Was denn!Zum Kuckuck! War es denn nicht ganz natürlich, die Gemeinde sich einmal anzusehen, die einem nach Jahren anvertraut werden sollte? Doch, Heinz, ganz natürlich,ganz natürlich.

Vater Tillmann gab seinem Sohn von der Lorhalde aus ein gut Stück weit das Geleite. Als sie der von Tavel, Heinz Tillmann.

21 322 Waldlücke zustrebten, blieb er plötzlich stehen. Zur Linken lag dort die berühmte waldgeschützte Wässermatte von Gödis Gödel. Heute schlummerte die Kostbare unter rosig schimmernder Schneedecke. Aus dem feuerblauen Schatten des östlichen Waldsaumes flogen ein paar Raben. Die waren es aber nicht, die den Blick Hans Tillmanns auf sich zogen, sondern das in der Kälte dampfende Roßgespann und der Bauer, der sich dort mit seinen Knechten zu schaffen machte. Die Schneedecke hatten sie schon in langer Linie aufgeschürft.Der Bauer Gsdis Gödel stand neben der dunkelbraunen Furche und verwarf, sich zu erwärmen, die träftigen Arme. Hans Tillmann tat es auch, nicht um sich zu erwärmen, sondern um seinem ürger Tuft zu machen. „Da siehst,“ sagte er zu seinem Sohne, „so sind sie allesamt. Vor etlichen Cagen habe ich dem dort meinen Entwässerungsplan gezeigt mit Grundriß und Profilen. Ich hab' gedacht, wenn doch unserm Bauer mein Rat nichts gilt, so sei vielleicht der andere gescheiter. Weißt, was er mir geantwortet hat? Teufelsdreck“, hat er gesagt, iich bin länger da als du,weiß wohl, was das Härdli nutz ist. Mich braucht kein verdingeter Nütnutz zu brichten.“ Er wollte etwas anderes sagen, Heinz.“ Hans Tillmann faßte seinen Sohn fest am Arm, als suchte er an ihm eine Stütze. „Weiß schon was und muß noch froh sein, daß er's verhalten hat. Aber ich kenne das Volk dieser Gerechten und weiß, was man schlucken muß, um seine Reputation durchzuzwängen. Drum hab ich dem Stolzgrind gesagt:Behalt den Plan bis morgen. Sinn' drüber nach.“Drauf hat er wieder zu schimpfen angefangen und zu lamentieren über alles, was das Jahr hindurch den Bauer plagt und wie einer ja nie wisse, wo das Geld zum Nötigsten hernehmen, geschweige denn zu solchem Schwindelzeug. Und derweil hat er in allem Reden den Plan studiert und sich wohl auch die Maße gemerkt. Nimm nur dein Spekulierprojektli wieder mit!Damit hat er mir den Plan zugeschoben und mich ziehen lassen. Jetzt probiert er's doch. Aber, was gilt's, er orientiert's nach einer andern Seite. Statt den Ablauf nach dem Walograben zu leiten, legt er ihn gegen meines Bauers Land hin, damit er ihm hernach sagen kann: „Dein Schiltzling, der Cillmann,hat mir's so angegeben. Daß ich immer noch Esels genug bin, einem Menschen ehrlich Wesen zuzutrauen!“

Hans Cillmann schlug sich bei den letzten Worten vor die Stirn und begann weiterzuschreiten.

„Vater,“ sagte Heinz, „du hast in etwas recht.Aber ich glaube, auch du würdest tlug tun, dich anders zu orientieren. In Gottes Namen von den Menschen ab! Es tut ja weh, wenn man einem das Gutgemeinte nicht abnehmen will; aber denk' dran, daß einst einer über die Erde gegangen ist, der nicht nur etwas Gutgemeintes bringen wollte, sondern den Menschen das Gute hinstreckte. Und was haben sie gemacht? Angespien haben sie ihn und die Hände und Füße, die das J

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Gute trugen, haben sie ihm festgenagelt. Und solches tun wir heute noch.“

„Wir?“

„Ja, Vater, du und ich und wir alle.“

Eine Weile gingen sie schweigend auf den Karrgeleisen im knarrenden Schnee waldein. Dann blieb Hhans Tillmann plötzlich stehen, reichte Heinz die Hand und sagte: „So bhüt dich Gott, Heinz. Komm etwa wieder und vergiß mich nicht.“

„Leb' wohl, Vater. Verlier' den Mut nicht,“ antwortete Heinz.

Oft noch wandte er sich im Weitergehen um, bis die von den hohen Buchenkronen herniederrieselnden Schleier gelösten Rauhreifes seinen Augen die langsam hinschreitende Gestalt des Vaters entzogen.

4

3In emsigem Fleiß arbeitete sich der junge Cheologe durch die zweite Hälfte des Wintersemesters. Außerhalb der Hör und Bibliothetsäle sah ihn kaum jemand.Den Freund Bär mied er mit Überlegung. Nicht zwar,daß er befürchtet hätte, durch ihn am Studium gehindert zu werden; aber Heinz war seit der Neujahrsnacht durchaus nicht mehr geneigt, den Erwartungen,welche Mirabeau von ihm hegte, entgegenzukommen.Das widersprach den Gefühlen und Überlegungen, mit denen er an seine Zukunft dachte, und er wußte sehr wohl, daß er, einmal in Berührung mit Bär, dessen

Argumente nicht leicht zu widerlegen vermochte. Er besaß eine gewisse Macht über ihn. Der Student mied aber auch jemand anders, der häufig seinen Weg kreuzte.War Lilian Merle auf Gelegenheiten des Zusammentreffens bedacht, so wurde Heinz immer geschickter, ihnen auszuweichen. Bei alledem gewann nun zwar seines Herzens Frieden nichts, dafür destomehr seine Wissenschaft. Das HebräischEramen lag hinter ihm. Die kurzen Frühjahrsferien hatte er ohne besondere Erlebnisse bei den Geschwistern zugebracht, und jetzt stand man schon im Sommersemester.

Dem freunodlichen Anerbieten des Pfarrers Jeanmaire, seine kleine Gartenterrasse gelegentlich als Studierstube zu benützen, hatte Heinz Cillmann um so weniger widerstehen können, als die Luft seiner Mansardenstube oft auch gar so dumpf wurde. Und was gab es Schöneres als der trauliche Winkel, wo eine efeuübersponnene muschelartige Mauernische dicht am Hause die Terrasse gegen den Nachbargarten abschloß? Ein paar Flieder,leuchtend rote Feuerbüsche und Goldregenbäumchen umrahmten den heimeligen Ausblick nach dem gegenüberliegenden waldigen Aarebord, und in das melodische Rauschen des großen Wehres warf das Vogelgezwitscher lustige Triller.

Manchmal klang noch etwas anderes hinein. Aus den hochliegenden Fenstern scholl in stillen Morgenstunden die weiche Stimme Lilians. In den ersten Tagen, seit Heinz die Terrasse benützte, klang das ganz 18*33 22 natürlich und ungesucht, bald nahe am Fenster, bald aus der Tiefe der Zimmer. Das Mädchen sang, während es seinen Haushaltungsgeschäften oblag, nicht anders als der Fink, der, von Ast zu Ast hüpfend,seine Lebenslust auskündet. Das währte nun schon ein paar Wochen, und Heinz nahm es hin als etwas, das zu dem kleinen ioyllischen Leben dieses Winkels gehörte.Als der längste Cag vorüber war, blieben die Fensterläden tagsüber meist geschlossen. Das fliegende Orchester der Terrassenbüsche hatte den großen Urlaub angetreten.Aber die Amsel im Hause sang hinter den grünen Läden weiter, deren bewegliche Brettchen gleich niedergeschlagenen Augenlidern in den Garten blickten. Und nun fiel auf einmal Heinz etwas auf. Es war ihm, als läge in der Wahl von Tilians Tiedern die Andeutung eines Lebensprogramms. Dazu waren Töne und Worte voller Sehnsucht. Ach, daß ihm solches nie zum Bewußtsein gekommen wäre! Er wollte sich's ausreden;aber die Stimme der Heimatlosen hallte in seinem Ohre fort, auch wenn der Gesang hinter den Läden längst verstummt war. Von Tag zu Tag schwerer begann die anklagende Stimmung des Gärtleins auf ihm zu lasten. Die einst so gemütliche Gartenfront des alten Hauses hob an, eine eindringliche Sprache mit Heinz zu führen. Es kamen stille Stunden, die ihm zuraunten:Erlöse sie, und du wirst das Glück einer Glücklichgewordenen teilen. Heinz, überlege dir's! Und Heinz überlegte; er wollte den Verstand zu Worte kommen lassen, um nicht einer törichten Regung des Herzens seine Zukunft zu opfern. Aber wie sonderbart! Der XC entschied für Erhörung des Heimwehgesanges, und das Herz, der unerbittliche, berufene Richter über die Wahrhaftigkeit, entschied dagegen und war der Stärkere. Es rief aus dunkler Tiefe: Ich gehöre einer andern. Nun war's aus mit seiner Ruhe in dem stillen Winkel.

Eines Morgens war dem singenden Hausmütterchen ein Staubtuch vom Fenster hinuntergefallen. Der Student hatte es nicht bemerkt. Auf einmal stand Lilian im hellen Sonnenglanz auf der Freitreppe. Freimütig wünschte sie ihm einen guten Morgen. Bestechend war ihr Bild, als sie mit schwebenden Füßen die altersgrauen Stufen herabstieg. Heinz war verwirrt. Erst als sie auf den Rasen hinaustrat und das Tuch aufhob, begriff er die Ursache des Besuches. Er stammelte etwas von schönem Sommerwetter, worauf sie in ungezwungenem Plaudern einging.

„Sie haben Reisepläne, Herr Tillmann?“

„Woraus schließen Sie das ?“

„Man brachte gestern einen Eispickel und einen Rucksack für Sie.“

„Ach so? Ja, es ist allerdings ein alter Plan.Wenn das Wetter sich bis zu den Ferien hält, so möchte ich mal ein wenig klettern gehn.“

„Über Eis und Schnee? Darum köonnte ich Sie beneiden. Haben Sie große Couren vor?“

„Das nicht gerade. Aber so ein wenig Gipfelein samteit schickt sich doch gut zu meinem Beruf. Ich dachte zunächst an eine Wanderung über den Sillernpaß.“

Heinz hatte bei diesen Worten, die ihm entwischt waren, das unangenehme Gefühl einer leisen Blutwallung. Ob er wohl rot geworden? Sofort einfallend, hatte Lilian erwidert: „Ach, über den Sillernpaß? Dann reisen wir doch zusammen. Ich gehe mit Herrn Jeanmaire zu Anfang der Ferien nach Zwischenflüh.“

„Ah,“ zwang sich Heinz, möglichst gelassen zu sagen.„Sie werden Ihre Freundin, Frau Delierre, besuchen.“

„Jawohl.“

Aun wußte Heinz, daß er andere Wege einschlagen würde. Und Tilian sollte es gleich von Anfang an wissen.„So lieb mir Ihre Gesellschaft wäre,“ sagte er,„werden wir doch wohl getrennte Wege gehn. Ich gedenke von hier aus alles zu Fuß zu machen, in wachsenden Crainiermärschen. Und, um mit einem Ihrer Tieblingsdichter zu reden: „Lasse gern die andern breite,lichte, volle Straßen wandern.“

„Woher wissen Sie denn, daß das ein Tieblingslied von mir ist ?“

Heinz zeigte nach den Fenstern hinauf. „Das haben die mir verraten.“

„Ist doch ein herrliches Lied. Finden Sie nicht auch 7“32 2

„Es ist ein schönes, stimmungsvolles Lied,“ sagte Heinz spröde, „aber keineswegs mein Fall.“ Und auf die staunenden Blicke Lilians hin ergriff er die Gelegenheit, um ihr scharf hinzuzeichnen, daß seine Lebensziele auf einer andern Linie lagen als das Sehnen ihrer Lieder. „Die tiefste Versenkung in Gott taugt nichts, wenn sie nicht dazu führt, daß man sich seinem Volke hingibt. So wenig, wie ich das Recht habe, mein irdisch Hab und Gut mir allein zunutze zu machen, so wenig habe ich das Recht, was ich an Herz und Geist besitze, meinen Mitmenschen vorzuenthalten.“

„Sie tun aber dem Dichter unrecht,“ wandte Lilian ein. „Hardenberg hat doch nur Hingabe an Gott im Auge, wenn er sagt: ‚,Wenn ich Ihn nur habe, wenn Er mein nur ist!“

Mit gewollter Härte erwiderte Heinz: „Gott hingeben können wir uns doch nur, indem wir den Menschen uns in Liebe opfern. Was ihr einem dieser Geringsten tut, das habt ihr mir getan. Oder wollen Sie lieber Schafe und Rinder auf einem Altar verbrennen? Mit frommer Beschaulichkeit bahnen wir dem Reiche Gottes den Weg nicht. Solange es noch einen Darbenden auf Erden gibt, ist es mit dem harmlosen Genießen im Angesicht Gottes aus.“

„Sie schauen mich an, als wollten Sie mich eines selbstsüchtigen Lebens anklagen,“ sagte Tilian lächelnd.„Ob meine Worte für Sie einen Vorwurf bedeuten,Fräulein, können nur Sie entscheiden. Mir liegt bloß

9 daran, Sie nicht im Unklaren zu lassen über meine Ziele.“

„Die sind mir interessant,“ versicherte Lilian, sich der Treppe zuwendend. „Ich hoffe, wir werden bald Gelegenheit haben, weiter darüber zu reden.“

Nun war auch dieser Vogel zum Schweigen gebracht,ohne daß jemand sich ihm zum Bau eines Nestes anerboten hätte. Lilian fand die harmlose Stimmung zum Singen nicht mehr. Heinz aber fühlte, daß er das Gegenteil von dem erreicht hatte, was seine Absicht gewesen. Die Schroffheit seiner Enthüllungen hatte Lilian zum Nachdenken gebracht, statt sie abzuschrecken.Ihr Einlenken ließ ihn eher ahnen, daß weitere Diskussionen sie einander nur noch näher bringen würden.So entschloß er sich nach wenigen Cagen, während der Sommerferien seine Zelte abzubrechen und auf das Wintersemester an eine andere Universität zu ziehen.

4

Heinz Tillmann war, seinem Vorsatz getreu, auf Schusters Rappen den Bergen zugewandert. Den Seen entlang war er über Maienschachen hinaus gekommen.Das Wetter war nicht immer blank gewesen, aber just so, wie's Einer braucht, den der Trutz landein treibt.Eine Strecke weit waren die Bremsen dracksbös, als ließe der Teufel ihnen nur noch fünf Minuten Lebenszeit. Dann gab's einen Regenguß, so dicht wie aus einer Schaumkelle. Crotzdem liefen des Wanderers »2.Blicke hellauf den Bergwänden entlang und freuten sich jeder blauen Schlucht, jedes träumenden Tannenheeres, jeder wegsperrenden Fluh. Mochte es in jedem Winöstoß, in jedes Wilobachs Brauselied raunen: Heinz Tillmann, was suchst du? Ob dem Gesäusel kehrte er wahrlich nicht um. Wenn's dem lieben Gott nicht recht war, so standen ihm ja Wasserströme, altersmürbe Grattürme, Lawinen und Wetterstrahlen genug zu Gebote,um ihm den Weg zu verlegen. Nun lag da vor ihm,wie ein wiederkäuender Stier, der Bolgen quer über das Cal. Steil dehnte sich seine Flanke in der Mittagssonne. Der Balg des trotzigen Hüters, ein weitläufiger Fichtenwald, wartete und schwieg. Nein, auch der summte die Frage, die den Ferienwanderer Tag und Nacht verfolgte.

„Zum Kuckuckd Warum soll ich, Heinz Tillmann,angehender verbi divini minister, nicht über diesen Bergbuckel, einen Blick tun in das Land, das mir Gott der Herr geben will, damit ich es baue zu seiner Ehre ?“

Die Schatten der Wettertannen zeigten nach dem Ziel seines Ganges, so daß er das Hochtal im Vollglan der Abenosonne zu sehen bekam. Wo der Weg über die jenseitige Kante zu fallen begann, gaben ihm die Tannenspitzen den Ausblick nicht frei. Drum bog er ab und klomm auf einen Felsenvorsprung. Da lag nun die ganze Herrlichkeit vor ihm ausgebreitet. In schwindelnder Tiefe, mit wenigen Bauernhäuschen übersäet, dehnte sich im weichen Schatten des Bolgen der 12.

33 4 flache Talboden. Zur Rechten fing die ungeheure, rote Bruchfläche der Achsenwand das Sonnenlicht und warf es als weichen Ton in die Bläue des Abgrundes. Ihr gegenüber öffnete sich zur Linken das einsame Gandeggtal, dessen herwärtige Flanke im tiefen Schatten lag.Ihre gezackten Schlagschatten schoben sich langsam an den gegenüberliegenden Hängen über die nach oben spitz verlaufenden, von zahlreichen Runsen zerrissenen Wälder empor in das grausig zerklüftete, rot glühende Fluhgewirr des Dossen, aus dessen Kaminen schmalgeschmolzene Lawinenzüge niederhingen. Dem Dossen gegenüber türmte sich, in scharfem Scheidegrat auf-wachsend, der Gertenstock, dessen Firnschneide, wie von der Erde getrennt, aus einem breiten, rötlichen Nebelkragen in den blauen Himmel schnitt. Der schäumende Gletscherbach, der zwischen diesem Berg und der Achsenwand von rechts in den Talboden stürmte, lag schon im Schatten. Dem Wanderer grad gegenüber, tief eingeschnitten zwischen Dossen und Gertenstock, zog sich das wildromantische Ruhsetal in zahllosen Stufen hinauf bis in die tief verhangenen Klüfte des Sillernpasses.Aus dem purpurnen Schoße dieses Tales herunter ließ eine in Zickzack gelegte Kette weißschäumender Wasserfälle den Lauf der Ruhse erraten. Im Halbdunkel dieser urmächtigen Talrinne war eine Gruppe heller Punkte just noch zu erkennen. Das mußte das Pfarrdorf Zwischenflüh sein. Erquickend weich und doch majestätischer Gewalt voll klang das in den Abend winden auf und abschwellende Rauschen der tausend Wilodbäche, die in den zahllosen Kerben dieser gewaltatmenden Felsenwildnis rumorten.

„Wahrlich, hier hört man den Odem des lebendigen Gottes“, sagte sich Heinz. Wer da nicht aufgeht in der Verkündigung seiner Herrlichteit, verdient nicht,Mensch zu heißen.“ Kindlich fromme Freude kam über ihn. War nicht schon das übergenug, um sich nach einer so trüben Kindheit mit lautem Jubelruf den kommenden Jahren entgegenzuwerfen? Und doch war es nicht alles, was ihm entgegenlachte. Noch mehr, noch mehr! Hier warfen des Leibes trunkne Augen ihren ersten Blick in das gelobte Land. Aber sein Herz eilte voraus in das Himmelsland einer Weibesseele, nach der es in allen Fasern dürstete. War sie nicht die Perle in diesem Meere von Gottesoffenbarung?

Schweigend stand hinter dem Wanderer das Heer der Tannen, als vor ihm Woltken, Firn und Felsen im Scheideblick der Sonne aufloderten.

Stürmenden Schrittes mußte Heinz seinen Weg fortsetzen. Heute noch, heute noch in das beseligende Ticht der Augen, die er suchte! Er sprang auf, wandte sich um und erblickte die stumme Schar der Cannen und sann und erwachte. Da war ihm, als legte sich der Arm seiner Mutter um seinen Hals und als blickte er in ihre fragenden Augen. Gesenkten Hauptes lenkte er seine Schritte wieder gegen die scheidende Sonne. In Maienschachen wollte er sich noch einmal zur Ruhe legen, noch einmal nachdenken, ehe er seinen Wanderstab nach dem Willen seines Herzens weitersetzte.

Als die Hähne krähten, schlummerte das Tal noch in seinen blauen Schatten. Aber auf den höchsten Kämmen lag rosiger Morgenglanz, und der Himmel wölbte sich wolkenlos. Auf! Bald marschierte Heinz Tillmann zuversichtlichen Schrittes dem Bolgen zu.Potz tausend, so hatte er sich in der Frische des Morgens ausgelacht, du willst ein Gottesbote und Heilsverkünder sein und fürchtest dich vor den Augen eines Weibes? Wie willst du denn durch das Leben kommen?Alles ist Euer.

Bald schon erreichte er die jenseitige Kante der mächtigen Talsperre. Aber heute blieb er nicht stehen.In rüstigem Ausschreiten nur verglich er den Morgen mit dem Abend, und noch herrlicher erschien ihm das Reich seiner Zukunft. Auf allem lachte der glare Sonnenschein. Aus den blauen Einbuchtungen blitzten die silbernen Bäche, und zwischen den hohen Felstürmen zu beiden Seiten des Haupttales zeichneten sich blinkende Firnkämme ab. Die tiefe Talsohle durchwandernd, besah sich nun Heinz das, was ihn einst näher angehen würde,die Menschen und ihre Behausungen. Die Häuser waren lieblich und trugen allerhand leuchtenden Blumenschmuck.Kaum eines, in dessen sauberer Traulichteit man nicht gern sich niedergelassen hätte. Aber die Wohnlichkeit vermochte doch das Auge dessen nicht zu täuschen, der lange genug zwischen den großen Bauernhöfen des Flachlandes gelebt hatte. Die mit einer dünnen Zeile von Saubohnenstauden eingehegten Kartoffeläckerlein,nicht größer als ein Stubenboden, die dürftigen Getreideplätzlein, jeder Weg, jeder Hag, jeder Brunnen,alles zeugte unwiderlegbar von harter, zäher Arbeit,von geringem Ertrag und ständiger Bedrohung. Trümmer von Brücken, Ruinen von Hütten verrieten die blinde Grausamteit der hier herrschenden Gewalten. Im Schirm einer überhängenden Felsmasse hielten Zigeuner Rast.Das malerische Gesindel schien Heinz vorzüglich in die Gegend zu passen. Ein paar hundert Schritte weiter begegnete er dem talwärts rasselnden Postwagen.Wanderfaule Touristen hielten ihn besetzt. Dann kam ein wunderlieblich Bild: ein Mäochen schritt, ob allem Gehen strickend, eine mächtige Hutte auf dem kleinen Rücken, hinter drei glöckelnden Ziegen über eine Holzbrücke, gegen deren leichte Tragbalken die brausende Ruhse silbernen Gischt warf. Das Kind blickte heiter und erwiderte sittsam des fremden Wanderers Gruß.

Nach einer Schlucht, deren Grund das Sonnenlicht nur zu sehen bekam, wenn die Sonne im Zenith stand,weitete sich das Tal zu Weiden. Zur Linken lagen sie fett und krautig; jenseits aber hatte eine Lawine ihren öden Schuttkegel in roher Breite bis an den tosenden Fluß vorgeschoben.

Wieviel Gewalttat, wieviel Wunden und grausame Schürfung barg doch, von nahe besehen, das gotterfüllte

Landschaftsbild, das gestern und heute morgen noch Heinzens Augen trunken gemacht! Warum nur blieben die Menschen in solch unwirtlichem Lande? Warum zogen sie nicht weiter, wie die Zigeuner? Waren sie etwa durch Stärkere von den fetten Triften des Unterlandes bergan gedrängt worden auf das karge Erbteil der Verschupften? In Heinz erwachte Liebe zu dem verstoßenen Völklein. Das also, sagte er sich, wird meine Herde sein. Ja, ich will ihnen dienen, will sie an die Güte und Gerechtigkeit dessen erinnern, der sich Lob zur ichtet aus den Verheerungen der rohen Gewalt. Oder werden am Ende sie mich glauben und hoffen lehren?Wahrlich, es war eines Dieners der frohen Botschaft würdig, was Heinz bewegte, als er die breitere Talstufe erklomm, auf welcher plötzlich, an sanftem Hange das Dörflein Zwischenflüh sichtbar wurde. Das spitze Cürmlein der Kirche überragte kaum die Firsten der Dorfgasse. Auf einmal warod Heinz wieder enger um das Herz. Soll ich Kopf hoch, Blick gradaus, im Sturmschritt hindurch marschieren, stracks nach der Sillern?

Da waren schon die ersten Häuser, dunkel gebeizte Wände mit vielen kleinen Fensterchen. Breite, mit Steinen beschwerte Schindeldächer, über denen sich Frühling und Herbst beinahe die Hand reichten. Aus stattlicher Holzfassade sprang über einer steinernen Freitreppe ein Wirtshausschild mit aufgemaltem Bären in die Dorfgasse. Schräg gegenüber stand auf engem Kirchhof das Gotteshäuslein. Heinz vermochte beinahe die Dachrinne mit der Hand zu fassen. Neugierig spähte er durch einen Fensterflügel in das Halbdunkel seiner künftigen Wirkungsstätte, als er seinen Namen rufen hörte. Alles Blut schoß ihm zum Herzen. Er fühlte sein törichtes Erröten, als er sich umwandte und Antoinette Delierre vor sich stehen sah. Freundliches Erstaunen lag auf ihrem Gesicht. Zu jener Zeit stellte man sich das wandernde „Wort Gottes vom Lande“und seine Jünger noch in staubiger Rohrhose und abgeschossenem Schoßrocke vor, mit Kalbfelltasche und unbeschorenem Haupthaar. Da war nun freilich der „Amerikaner“ anders angetan. Er ging, der einzige an der ganzen Universität, in Kniehosen und knapp sitzenden Gamaschen. Sein Haar war kurz geschoren, das Gesicht sauber rasiert, kurz, er durfte sich auch an vornehmeren Tischen sehen lassen als hier im „Bären“,wo Antoinette vorläufig ihr Sommerquartier bezogen hatte.

Heinz fand auch sie ein wenig verändert. Sie war etwas schlanker geworden, ihre elfenbeinerne Haut trug die Spuren des belebenden Berghauches. Das schicke Sportkostüm, welches sie täglich trug, um ihrem Manne auf den Gängen seines Berufes jeden Augenblick nachsteigen zu können, stand ihr zum Entzücken.

„Sie denken wohl, wir muten Ihnen eine bescheidene Kanzel zu,“ sagte Frau Delierre; „aber ich kann Ihnen

22 von Tavel, Seinz Tillmann. sagen, das Kirchlein wird für Sie Nebensache sein. Sie werden das Evangelium unter freiem Himmel, freilich oft in Sturm und Schneegestöber, auszukünden haben.Sehen Sie, Herr Tillmann, dort draußen, an den Hängen der Horlaui, liegt unser Arbeiterlager.“

„Das sind doch wohl meist Italiener, Katholiken?“wanote Heinz ein.

„Es sind viele Italiener dabei, aber auch Einheimische. Die Italiener machen uns keine Sorgen, aber die unsrigen sind verseucht. Ah, ich sehe, das Wort mißfällt Ihnen, Herr Tillmann oder darf ich Sie noch Heinz nennen? Aber glauben Sie mir, es hat seine Berechtigung, das häßliche Wort. Denken Sie ja nicht, daß ich kein Herz für die Arbeiter habe. Im Gegenteil, gerade deshalb liegt uns ja so sehr daran,daß Sie hierher kommen. Aber nun wollen wir in den Bären' gehen. Sie sind gewiß sehr hungrig. Wie weit sind Sie denn heute schon gegangen?“

„Ich komme von Maienschachen und will heute noch zum Sillernhospiz hinauf.“

„Ach, schon wieder weiter? Wirklich? Das wird Marcel leid tun; er kommt nicht zu Tisch. Es lohnt sich nicht, vom Galmersee, wo sie jetzt einen Stollen sprengen, herunterzukommen. Sie essen natürlich mit mir. Wenn Sie um 4 Uhr aufbrechen, kommen Sie noch tags auf die Paßhöhe. Ich werde Sie ein Stück weit begleiten, denn wir haben uns viel zu erzählen, Heinz.“

Ein Aufflammen in ihres Gastes Augen brachte plötzlich Antoinette zum Schweigen. Sie machte sich um die Oronung in dem kleinen SeparatEßzimmer,das der Bärenwirt dem Oberingenieur eingeräumt hatte,zu schaffen. Dann trat sie wieder zu Heinz: „Ist es Ihnen recht, wenn ich unsern alten Pfarrer mit zu CTisch bitte? Er kann Sie dann gleich ein wenig über Ihre künftigen Pfarrkinder aufklären.“

Es gelang Heinz nicht völlig, seine Enttäuschung zu verbergen; aber er zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln und sagte: „Sie denken weit voraus,Frau Delierre. Aber selbstverständlich freut es mich,den alten Herrn kennen zu lernen.“

In der halben Stunde, auf die man sich trennte,kam Heinz die Gemütsverwirrung, in die er geraten,zum Bewußtsein, und er dankte Gott trotz aller Enttäuschung für Antoinettes rettenden Einfall.

Als sie dann zu dritt am Tische saßen, wurden Antoinette und Heinz es bald inne, daß der Hüter,den sie sich in lobenswerter Selbstüberwindung verordnet hatten, kein scheidendes Element war. Im Gegenteil. Der zahnlose alte Herr aß so entsetzlich langsam und umständlich, daß sich zwischen den beiden andern Tischgenossen ganz von selbst ein verständnisinniges Lächeln über den Graukopf hinweg einstellte, in welchem Antoinettes Liebreiz zu voller Entfaltung kam. Mühsam kauend, richtete der Pfarrer Frage um Frage an den jungen Gast. Von der Gemeinde Zwischenflüh war nicht

——

50 die Rede. Der alte Herr war so heißhungrig nach Neuigkeiten und Aufschlüssen aus der Stadt, daß Heinz ihm nicht genugtun konnte. Man trank vom besten Tropfen des „Bären“, und der alte Herr ward zusehends gesprächiger. Seine in der Bergeinsamkeit konservierte Art zu denken und zu reden, mochte denselben Jahrgang haben wie der köstliche Wein, den noch der Großvater des Wirts über den Sillernpaß gesäumert hatte.Natürlich ward auch die soziale Frage gestreift, die damals, von Stöcker beleuchtet, die Cheologen lebhaft zu beschäftigen begann. „Wenn ich die Zeitung läse,“sagte der Pfarrer mit spaßhaft beabsichtigter Feierlichkeit, „so kommt mir vor, die Herren im LTande drunte sähe vor lauter Bäume den Wald nicht. Und doch ischt die Frage seit mehr denn drei Jahrtausende gelöst.Wenn man nur dem alte Weise Gehor schänke wollte!Sein Rat findet sich aufgezeichnet im fünfte Bueche des lautet allda im vierte Värse: „Du sollscht dem Ochse,där da drischet, das Maul nicht verbinde. Haha hahaha hahahaha.“ Einen solchen Tacherfolg hatte der alte Herr noch nie erzielt. Als ob etwas in ihnen geborsten wäre, stimmten die beiden Hörer in sein selbstzufriedenes Lachen ein. Nein, wie sie ihm dankbar waren für diese Erlssung“! Und sie lachten und lachten. bis aus ihren schönen Augen die Tränen rollten und die Mägen sie schmerzten. Warum denn? Ja, wer ihnen das hätte sagen können!394]

Den schwarzen Kaffee nahmen sie im „Garten“ ein,das heißt an einem rohgezimmerten Tische auf einem vom Hühnervölklein des Wirtes übel versperzten Wieslein zwischen drei mächtigen Wettertannen, hinter deren einer ein Haufen leerer Konservenbüchsen lag. Aber Zierpflanzen und Kieswege vermißte man hier so wenig wie befrackte Kellner. Auch hier stellten sich Gelegenheiten zur Entspannung in unverhältnismäßigem Lachen ein. Am schlimmsten wurde es, als der Pfarrer eine Ausdauer an den Tag legte, die alle Erwartungen längst überstiegen hatte. Dabei schien er auch gegen die gröbsten Winke zum Aufbruch gefeit. Es ging schon gegen 4 Uhr, als Antoinette zu Heinz sagte: „Ich will Sie nicht wegscheuchen, aber wenn Sie noch tags aufs Hospiz kommen wollen, so sollten Sie ans Aufbrechen denken. Der Pfarrer zog eine sehr hübsche altmodische Uhr aus der Westentasche, die er an einer langen goldenen Kette trug, und warf einen erstaunten Blick auf Antoinette. Diese kam einem Einwand zuvor mit der fadenscheinigen Erklärung: „Ich meine nur,falls Herr Tillmann den Umweg über die Gertenlimmi nehmen wollte...“

„Jaso,“ sagte der Pfarrer, dann freilich wäre es höchste Zeit.“

Als er Abschied nahm, fiel den Zurückbleibenden plötzlich auf, daß in des alten Herrn Augen etwas lag,das mit der eben noch laut geworodenen guten Laune in seltsamem Widerspruche stand. Sie begleiteten ihn bis auf die Dorfstraße. Zurücktehrend, sagte Antoinette,noch halb lachend, halb sich schämend: „Wir haben uns eigentlich dem alten Herrn gegenüber recht unartig aufgeführt.“

„Ach ja, 's ist wahr,“ meinte Heinz, „aber es ist uns zu verzeihen.“

Wollen wir aufbrechen? Wir können's dann etwas gemütlicher nehmen. Aber wenn Sie über die Gertenlimmi gehen wollen, so müssen Sie einen Führer mitnehmen, denn es gibt da ein Stück trügerischen Gletschers.“Heinz überlegte einen Augenblick, dann sagte er entschlossen: „Für diesmal ziehe ich die Straße vor.“

Antoinette schien sehr zufrieden. „Besser plaudern läßt sich's hier schon,“ sagte sie, „wir sind ja noch gar nicht auf unsre Rechnung gekommen.“ Sie machten sich marschfertig, und als sie sich vor dem Hause wieder trafen, griff Heinz mit erheucheltem Ernst zurück: „Im Grunde genommen weiß ich nicht, was ich nun hinter Ihrem Vorschlag, mich einst um die Pfarre Zwischenflüh zu bewerben, suchen soll. Wenn ich diesen alten Herrn betrachte ...“

„Sie werden mir doch nicht zutrauen, daß ich Sie auf Lebenszeit hierher verbannen möchte! Wir selbst werden sa, sobald die großen Bauten vollendet sind,auch weiterziehen. Ich meinte bloß, so ein oder zwei Jahre, die ersten im Pfarramt, würden Sie gewiß ganz gern in der Bergluft zubringen. Wissen Sie, im 343 Vertrauen gesagt, dieser Pfarrer ist, wie man mir erzählte, durch eine Art Strafversetzung hierher verschlagen worden. Er hat bessere Cage gesehen. Haben Sie nicht seine hübschen Sachen beachtet, die Uhr, die Kette, überhaupt! Geben Sie zu: so stellt man sich einen Gebirgspfarrer nicht vor.“

„Sehr richtig.“„Er soll in jüngern Jahren der Romantik zu viel Raum gelassen haben, der arme Mensch.“

Nun gingen sie eine Weile stumm nebeneinander her.

„Nein, sehen Sie,“ fing Antoinette wieder an, „Sie müssen mich verstehen. Es ist ja wunoerschön hier, und ich habe kein Recht zu klagen. Wie manche Frau möchte mich beneiden, weil ich so vom Klatsch unberührt meiner Familie leben kann. Im Sommer ist's gar nicht so eintönig. Aber, was ich bitter vermisse, ist jegliche geistige Anregung, ein Mensch, mit dem man ein wenig über den Alltag hinaussteigen kann. Marcel wäre sicher ganz empfänglich für die Dinge, die Sie interessieren wenn er nur jemanden hätte, der es ihm nach Männerart nahebrächte. Er fragt sicher nur nicht danach, weil er niemanden um sich hat, der es ihm interessant machen kann. Er geht so in seiner Arbeit auf, daß er für alles andere nichts übrig hat. Zudem ist er abends so müde,daß ihm ein irgendwie anstrengendes Gespräch gar nicht zuzumuten ist. In die altbackenen Predigten unseres Pfarrers mag ich ihn nicht nötigen. Er soll mir nicht vortäuschen müssen, daß ihm diese etwas sagen. Aber unsre Sonntage werden manchmal ich sage es offen entsetzlich langweilig. Lange habe ich's versucht,Marcel für andere Dinge zu interessieren; aber ich merkte doch immer, daß er nicht dabei war. Sehen Sie, um seinetwillen müssen Sie kommen, sonst geht er mir innerlich zugrunde.“

„Was sagte er denn zum Beispiel zu dem Geschent, das Sie mir machten? Ich meine zu Ihrer Idee ?“„Sehen Sie, gerade das war so etwas. Ich habe versucht, ihm meine Idee beizubringen. Erst wollte er durchaus, daß ich ein Bild vom guten Hirten kaufe.Einen ganzen Stoß ließ ich mir vorlegen. Aber ich bitte Sie, alle diese sentimental frisierten Heilande, die um des schönen Faltenwurfs willen in ein orientalisches Hirtenhemd gesteckt sindt So kam ich endlich auf die Skulptur. Nun wollte er dem Schnitzler den Chorwaldsen Christus als Modell vorsetzen, und als ich mich dagegen wehrte und sagte: Nein, Abplanalp, einen derben Schweizerhirten sollen Sie mir machen, so und so,‘ da wurde Marcel ärgerlich. Wozu denn überhaupt der ganze HeilandsKrimskrams?“ sagte er. ‚Da hättest du ja einfach am Höheweg in Interlaten eine Jagogruppe kaufen können.““

„Er sieht eben die Sache nüchterner an. Vielleicht haben Sie mein Tun zu hoch eingeschätzt.“

„O keineswegs. Und Marcel dentt sehr hoch von Ihnen. Glauben Sie mir nur, er bewundert Sie in Ihrem Verhalten, schon weil seine Natur ihm selber solche Hingabe unendlich erschweren würde.“

„Wir wollen nicht über ihn urteilen. Er ist eben ein einseitiger, dafür aber auch ganzer Mann.“

„O ja, das ist er; aber das sollte ihn doch nicht hindern ...“

Ein von der östlichen Berglehne herunter klingender Hornstoß lenkte plötzlich der beiden Wanderer Aufmerksamkeit nach der Gegend des hoch in die Felsen gebetteten Galmersees. Und gleich darauf rollte der Donner eines Sprengschusses in endlosen Echowellen talauf und ab.

„Marcels Gruß,“ sagte Heinz, während seine ehrlich erschrockenen Blicke Antoineites fallende Lider trafen.Da packte den Wanderer ein heißes Erbarmen mit der gequält vor ihm Stehenden. Beide fühlten, daß sie nicht mehr weiterreden konnten. Endlich raffte Heinz sich auf, ergriff Antoinettes Hand kräftig und sagte:„Leben Sie wohl und grüßen Sie Ihren Mann von mir.“Dann rannte er die Bergstraße hinan, ohne sich umzusehen. Er wollte und konnte nicht sehen, was er zu sehen fürchtete. Aber, was kommen mußte, sagte ihm sein Herz unerbittlich. Die ganze Nacht hindurch sah er die ihm so liebe Gestalt einsam in sich ringend das Cal hinunterschreiten.

XVIII.Hans Tillmann war kein Bauer. Lauf und Launen des Hilbliger Himmels kannte er noch nicht. Aber seinem vorausblickenden Menschenverstand gab doch manchmal das Geschehen auf dem Friedenseiland recht. War es diese Erfahrung, die ihm an jenem schwülen Maienmorgen zuraunte: Es kommt? Er wußte nicht was;aber es stand ihm fest, es hing, wie die Bauern zu sagen pflegen, eine Kuh in der Cuft. Und weil Cillmann sich nicht erklären konnte, was es mit dieser bangen Ahnung sei, so dachte er ans Sterben. Ihn dünkte, als er, schon am frühen Morgen bachnaß vom Schweiß, in einem Kartoffelacker jätete, so still sei es in seinem ganzen Leben noch nie um ihn her gewesen.Aebenan, auf dem Roggenacker, wiegte sich kein Halm,die blühenden Kartoffelstauden standen so andachtvoll in den feierlich parallelen Furchen, der Walosaum schwieg, als wäre alles nur ein Gemälde und nicht eine lebende, wachsende, schaffende Welt, die, gestern noch Keim, morgen Frucht werden sollte. Es segelte keine Wolke am Himmel, und doch lag kein freundlich Blinken, kein labender Schatten im Gebreite. Da bewegte sich etwas zwischen den Stauden, kaum wahrnehmbar, und genügte doch, um zu beweisen, daß ein gewaltiger Atem die Riesenbrust der schlummernden Erde bewegte. Ein Vögelchen ja, aber was für eins! Ein TotenkopfFalter war's, der in dieser bangen Bruthitze zur Unzeit ausgekrochen. In planloser Lebensfreude flatterte das Tierchen mit der warnenden Helmzier ein Weilchen über dem Acker. Dann strebte es der Walonacht zu. Was bedeutete das 7 Das Schlimmste wär's eigentlich nicht, wenn sie mich heut abend tot in den blühenden Stauden fänden. So mitten aus der Arbeit, fern von allem Menschengelichter. Hans Tillmann richtete sich auf. Er lauschte auf das Pochen seines Herzens. Das ging mühsam, aber in unerschütterlichem Gleichmaß. Oder sollte irgendwem, der ihm nahe stand, etwas drohen? Seinem Sohne, der nun schon bald ein Jahr in Basel studierte? Er gehörte zwar nicht zu jenen Studenten, die gerne Gelegenheit zu Balgereien suchen.

Als Tillmann zum Mittagessen gerufen wurde,türmten sich über dem Walde blendende Wolkenburgen.In seine wehmütigen Gedanken vertieft, beachtete Hans Tillmann diese Veränderung im Tandschaftsbild so wenig wie die brütende Stille, die auch unter dem breiten Schirm des Hausdaches waltete. Es ging ja dort immer recht still zu, und bei den Mahlzeiten waren die Worte zu zählen, die nach dem Cischgebet ausgetauscht wurden. Heute jedoch bekam man auch gar nichts anderes zu hören als das leise Klirren von Geschirr und Löffeln. Um so deutlicher vernahmen die schweigsam Cafelnden das Rollen der Streitwagen, die über die Zugbrücken jener blendenden Burgen hinausfuhren.

Die Arbeit wieder aufzunehmen kostete Überwindung. Selbst die Pferde schleppten sich. Jetzt sah man die Woltken auch vom Kartoffelacker aus. Sie wuchsen hoch über den Wald herein. Causendstimmiger Unmut rollte dumpf und unbestimmbar im Fichtenheere. Ein paar Vögel schossen in tiefem Fluge über die Wiesen hin. Unversehens war die Sonne erloschen, der Himmel uüber und über grau, gegen Westen tiefdunkel. Es fielen Tropfen, und die Leute zogen sich gegen die Höfe zurück.Winostsße fegten über die Felder, und das Wipfelheer geriet ins Wogen. Silberhelle Schauer liefen über die Obstbäume, indem der Wind ihre Blätter nach oben sträußte. Als Tillmann zum Hause kam, standen der Bauer und seine Leute unter dem Scherm und blickten in banger Erwartung nach der Waldlücke. Dort bog und bückte sich das Gestrüpp des jungen Nachwuchses in flimmerndem Wirrwarr. Aber nicht das schreckte die Leute, sondern das grausige Fantom, das in weißlichgelbem Brodem, von Blitzen durchzuckt, unaufhaltsam einherbrauste, begleitet vom Rauschen eines zermalmenden Wassersturzes. Mit grauenhafter Wucht wälzte es sich durch die Bresche heran. Und ehe Bauer und Bäuerin ein Wort gefunden, knallte es auf Dach und Wänden wie einschlagendes Gewehrfeuer. In tollem Spiele sprühten auf der Bsetzi die weißen Körner nach allen Seiten. Scheiben klirrten, Läden schmetterten.Haus uno Hofstatt schienen wie unter den Sturz eines Gletscherstromes getaucht, so brauste und donnerte es 522*in weißem Wirbel um die erschrockene Heimstätte. Den Leuten kam es vor, als währte die grausige Heimsuchung stundenlang. Aber eine halbe Stunde hatte genügt, um mitten im Vorsommer den Winter über Hilbligen zu werfen. Als die eisigen Schleier sich verzogen hatten, dehnte sich's weithin wie ein von unzählbaren grünen Splittern und Strünklein zerschlissenes Linnen. Wo der Wind eine Schranke gefunden, lagen die Hagelkörner in hohen Wächten. Von den Bäumen hing das Laub in Fetzen, und rings um das Haus war alles mit kleinen Astchen und mit Splittern vom morschen Schindeldach ũbersäet. Der Krautgarten, der Stolz und die Freude der Bäuerin, war zu einem Gemüse von Erde, Gerberloh, Hagelkörnern, zerrupften Kräutern und Blumenblättern geworden.Noch ließ das so jäh entrollte Bild die Leute nicht überlegen, was alles an Arbeit und Aufwano vernichtet,was an Hoffnung zu Schanden geworden. Hans Cillmann stapfte hinter dem Bauer den Ackern entlang.Die Bäuerin folgte wehllagend. Auch auf den Nachbarhöfen sah man die Menschen ihre traurige Runde machen. Flachs und Roggen lagen in den Boden gedroschen. Die heute früh noch so üppige Schraffierung der Kartoffeläcker grinste in öder Regelmäßigkeit weiß und braun, weiß und braun, weiß und braun, und,ein Hohn, reckten sich die dünnen, zerhackten Stengel aus den abgeschwemmten Wãälmchen. Am untern Ende der Äcker war alles in einem flachen Brei ausgeglichen.C⏑

Aus der Mulde stiegen sie hügelan, und nun überblickten sie den Lauf, den das Unheil genommen. Wie der Meßschnur entlang war das Ungeheuer gewandelt.Durch die Waldbresche stracks gegen die Mitte des Eilandes. Und als ob es dort zur Einsicht gekommen,daß die Attacke scheitern müsse, hatte das weiße Millionengeschwader nach Süden abgeschwenkt und über dem Walde sich aufgelöst. Das einzige, was hier herum gänzlich verschont geblieben, war die einst versumpfte,von zwei Seiten durch Wald geschützte Wiese von Gödis Gödel. Dort lachten unversehrt die violetten Kartoffelblüten im tröstlich aufleuchtenden Abenosonnenblick.

Starr hielt der Lorbauer seine Augen dort hinüber gerichtet. Schweigend kehrte er um und schritt an Tillmann vorüber seinem Hause zu. Während seine Frau bereits zur Haue gegriffen hatte und, am erstbesten Ende anfassend, im Garten Ordnung zu schaffen begann, damit ihren Pflanzen das Wiederaufstehen möglich würde, kam dem Bauer das Unglück zu groß vor.Ihn däuchte, das Wiederanfassen lohne sich nirgends mehr. Schlurfenden Schrittes verschwand er im Stall.Dort blieb er, den Kopf in die Hände gestützt, auf dem Bänklein hocken, auf dem er den kalbenden Kühen zu wachen pflegte. Hans Tillmann ließ die Verheerung nicht Ruhe. Nachdem er dem Hüterbuben Besen und Rechen in die Hand gegeben, er solle flugs um das Haus herum Oronung schaffen, damit den Meister bald wieder der Glaube an den Heimfrieden ankomme, warf er sich selbst die Haue über und stieg in die Mulde hinunter, dem Wasser Abfluß zu schaffen. Und wie er da in die Dämmerung hinein werkte und dabei des Schadens immer mehr wahrnahm, kam ein Grimm über ihn. Unwillkürlich verglich er den aufgewendeten Fleiß mit der Tragweite des Unglücks. Der Bauer dauerte ihn; aber stärker noch als das Mitleid ward in ihm der Ärger über den mißtrauischen Trotz, mit dem der Alte seine Ratschläge abgelehnt hatte. Ob er nun einsah, wie töricht er gehandelt? Hans Tillmann schalt sich selber dumm, einem Menschen dienen zu wollen, der das so wenig zu würdigen wußte. Noch heute schien ihm, wie sein Leben lang, das Unbenütztlassen eines Vorteils unverzeihlich.

Als endlich sternenlose Nacht ihren Mantel über das Land breitete und alles wieder totenstill war, hörte Hans Tillmann durch die Ritzen seines Kammerbodens die Bäuerin auf ihren Mann einreden. Von Gödis Gödel hatte sie gesprochen, und das machte ihn aufmerksam. Es sei nicht zu verstehen, sagte die Frau, daß es so gehen müsse. Gerade als ob man noch gestraft würde dafür, daß man einem andern gegönnt, was man selbst hätte haben können. Nicht zu reden von der einstigen Wässermatte, habe das Wetter auf dem ganzen Nachbargut viel weniger arg gehaust. Und dabei wisse Gödis Gödel das Erbe seiner Väter gar nicht zu schätzen.Was er dran arbeite, sei nur gegäggelet. Tange antwortete der Bauer nicht. Endlich aber vernahm Hans

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Tillmann deutlich seine Worte, die er gsatzlich hervorbrachte, als ob er Setzlinge in guten Boden pflanzte:„Wir wissen nicht, was Gott vorhat, wenn er dem einen gibt und dem andern nimmt. Wo er austeilt,hat es Sinn und Zweck, und wehe dem Menschen, der ihm dreinreden will! Er versündigt sich an Gottes Gebäu. Was gilt vor dem Ewigen das zeitliche Gut!Wer nicht mit Hiob sagen kann: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen,, bleibt seiner Lebtag ein armer Tropf und ein Narr. Wie ist's dem Cillmann ergangen? Hätte der zur rechten Zeit an Hiob gedacht, statt nach anderer Teute Glück zu schielen, so hätt' er im Frieden seinen Weg machen können. Nein, Frau, auf das, was Wind und Wetter zerschlagen können, kommt's nicht an. Wenn's schon wehtut, hergeben zu müssen, was man redlich erwerchet hat, die Hauptsache kommt doch erst jenseits. Je mehr des Menschen Händen zerschlagen wird, desto mehr geht in seinem Herzen auf.“

Um besser hören zu können, hatte sich Hans Cillmann so tief über sein Bett hinausgebeugt, daß er sich mit der Hand am Boden aufstützen mußte. Als es stille blieb. drehte er sich auf die andere Seite; aber den Schlaf fand er trotz aller Müdigkeit nicht. Schon mancher Wohlmeinende hatte ihm Ähnliches gesagt, aber noch teiner, der so wie der Lorbauer am eigenen Hab und Gut solch schweres Leid erlitten. Er hat recht, sagte er sich. Wahr ist's, und es trägt nichts ab, es zu leugnen. Herr, du mein Gott! Wie anders hätte es werden können, wenn ich von Glück und Unglück, von Mein und Dein so gedacht hätte wie dieser Alte da drunten?

Während der ganzen Nacht flammte der Widerschein von fernem Wetterleuchten in Tillmanns Kammer,und von Zeit zu Zeit erinnerte rollender Donner an die böse Stunde des gestrigen Cages. Bald raschelten Regenschauer über das knisternde Dach, bald stieß der Wind seinen Fuß übelgelaunt in die Fensterflügel. Und als endlich Diele und Wand den ersten Frühschein auffingen, hing der Himmel voll eintöniger Wolken, die kaum erkennen ließen, wo die Sonne vom Horizont sich löste. Regen hüllte das gemarterte Land in kühl rauschende Schleier. Aber weder des Himmels noch der Erde Antlitz zeigte auch nur den leisesten Zug, aus dem Zuversicht zu schöpfen war. Da hörte Hans Cillmann vor dem Hause Holzschuhe klappern. Der Bauer war's. Bedächtig ging er über Feld, blieb hier stehen und dort, bückte sich und griff mit der Hand in das zerschlagene Gewächs, als wollte er prüfen, ob es sich zu erheben noch Kraft besäße. Enttäuschung zeichnete sich in seinen langsamen Bewegungen.

Hans Tillmann stieß vor der Küchentüre zu dem Heimkehrenden. „S ist nichts mehr zu wollen,“ sagte er. Der Bauer antwortete nach verdrossenem Besinnen:

„Am Wollen soll's nicht fehlen, und das Jahr ist noch lang. Will den Roggen zuerst umfahren. Bis das gevon Tavel, Seinz Tillmann. 23 schehen ist, sieht man dann auch, wozu das andere noch Kraft hat.“

Und wie er's sagte, so tat er's. Immer noch grollte in weiter Ferne der Donner, als nach dem Morgenimbiß der Lorbauer seinen Pflug in den Roggenacker setzte. Hans Tillmann führte ihm die Pferde.Und indem er mühsam durch den aufgeweichten Boden stapfte, zollte er dem Bauer in seinem Herzen Bewunderung.

Über der schweren Arbeit ging den beiden die Sonne auf. Wie Genesende schritten sie mittags dem Hause zu, aber nicht wie Menschen, die, kaum dem Tod entronnen, schon wieder tausend Pläne machen. Weit schon lag hinter den beiden die Jugend. Der Bauer freilich in seiner zähen Frömmigkeit ließ in allem den Zerschlagenen und doch in Vertrauen Siegenden erkennen,der jedem Tag sein Gutes abringt und nicht einmal des nächsten Mondes Geheimnisse zu erraten sucht.Hans Tillmann hingegen warod bald inne, daß für ihn weder Zeit noch Kraft mehr reichten, ein neues Leben anzufangen. Es konnte sich, so schien ihm, nur noch um eine Wandlung des Herzens handeln. Die wollte er ausreifen lassen. Und weil er die Wohltat dieser Reife zu fühlen begann, tam ihm der Gedanke, das müßte der Lebensabend sein. Immer deutlicher glaubte er sein Ende herannahen zu sehen. Zu Stille und Wehmut gesellte sich das Bangen.

„Bist du trank, Vater?“ fragte Heinz, als er, durch einen Brief beunruhigt, mitten im Semester über einen Sonntag nach Hilbligen kam.

„Krank? Nein, was man so krank nennt, nicht.Aber ich bin fertig. Wozu sollte ich länger leben wollen,weiß ich doch, daß ich mit neuem Zugreifen nur Unglück ins Getriebe bringe! Nicht einmal andern soll ich helfen durfen.“ Leise vor sich hin, so daß es Heinz kaum hören konnte, brümmelte Tillmann: „Jetzt geht der Lorbauer einen guten Weg. Er wird seines Glaubens mit großem Segen genießen. Hätt' er mir gehorcht, so zischten Neid und Haß aus seinen Fußstapfen,und sein Leben wär' vergiftet.“

Heinz ward unheimlich zumute. Gar so verwunderlich, dünkte ihn, wär's ja wohl nicht, wenn sein Vater nach allem, was ihm widerfahren, auf den Gedanken käme, seinem Leben ein Ende zu machen. Daß Hans Cillmann im Gegenteil einem geistlichen Zuspruch zugänglich gewesen wäre, ahnte sein Sohn nicht, und darum versuchte er, ihm den Vorhang von seiner eigenen verheißungsvollen Zukunft wegzuziehen. Daß er bald seine Studien vollenden und dann einer Lebensaufgabe sich hingeben könne, die ihn für alles Schwere reich entschädigen werde. „Eine Pfarrei ist mir sogar schon sicher, Vater, und dann wirst auch du wieder bessere Tage sehen. Nein, Vater, jetzt darfst du mir noch nicht davon. Die Freude habe ich noch von dir zu fordern.“

Ein kaum wahrnehmbarer Schein aufdämmernder Freude auf dem tiefgefurchten Gesichte des Alten er

3munterte Heinz, weiter auf ihn einzureden. Schweigend hörte der zu. Dann fragte er: „Welche Gemeinde hast du in Aussicht ?

Heinz suchte den leisen Schreck, den ihm die Frage verursachte, zu verbergen und antwortete so harmlos wie möglich: „Zwischenflüh.“

Da lag auch schon der kalte Schatten auf des Vaters Gesicht. Er antwortete nur mit einem Hochziehen der Augenbrauen. Wer im Ruhsetal gut und schlecht Wetter machte, wußte Hans Tillmann genau, trotz dem Walodgürtel, der Hilbligen von der Welt trennte.

Heinz hatte die Mißbilligung vorausgefühlt und begann hastig zu reden: „Es ist freilich eine kleine,weltverlorene Gemeinde. Aber weißt, das schadet nichts.Ein wenig Bergluft nach so viel Bücherstaub wird mir wohltun. Und dann kann ich von dort Ausschau halten.Die Fakultät will mir wohl und wird ...“

„Du wirst dort mit den Guldwang in Berührung tommen,“ schnitt Hans Tillmann ab.

„Nur mit Frau Delierre, und dieser Verkehr kann mir nur von Nutzen sein, denn das wirst du zugeben wären sie alle gewesen wie die .. .!“

Der Vater machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung. „Laß gut sein!“ sagte er. Nach längerem Schweigen, wandte er sein Gesicht voll und warnend dem Sohne zu und sagte: „Heinz, nimm dich in acht vor dem Tillmann!“

Staunend blickte Heinz auf. „Du willst sagen vor den Gulo...“„Nein,“ sagte der Alte fest. „Ich habe mich nicht versprochen. Vor dem Tillmann in dir sollst du dich hüten. Graod das ist mir der Hauptgrund, warum ich dir schrieb, herzukommen. Nun hab' ich's dir gesagt.Ich hätte nicht ruhig sterben können, bevor ich es mir vom Herzen geladen. Nun ist's deine Sache. Cu', was du willst.“

Heinz schüttelte den Kopf. Er wollte nicht zugeben,daß er die Warnung verstund.

XIX.

Ein Jahr war seit dem Tage verstrichen, da Heinz von seinem Vater die Warnung vor der Untugend seines Stammes empfangen hatte. Und Hans Tillmann war nicht gestorben. Er arbeitete unverorossen auf den Äückern des Corbauers. Aber eines war doch anders geworden. Der ergraute Mann, den die Nachbarn als den Knecht des Lorbauers kannten, war der freieste Mann des Hilbliger Eilands. Seitdem ihm das Licht aufgegangen war über sein früheres Leben, war er in der Verteidigung seiner innern Freiheit ebenso hartnäckig wie früher in der Verfolgung seiner Ziele.Manchmal noch kam die Arbeitswut über ihn, aber aus andern Gründen als früher. Potz Wetter, wie

*It emsig!? dachten die Leute um ihn herum und lachten in sich hinein, wenn sie den Mann so „fausten“ sahen.Andere dachten, es sei etwas „lätz“ mit ihm. Jedes erklärte sich den Eifer auf seine Weise. Am nächsten kam der Wahrheit die Lorbäuerin. Die sagte sich: Er will Buße tun. In ihren Augen war ein TCotschlag mit ein paar Jährlein Zuchthaus noch lange nicht gesühnt.Ganz auf den Gruno seiner Seele blickte aber niemand.Wenn Hans Tillmann mit Art und Karst umging,daß Halm und Stiel krachten, so wollte er damit gewissermaßen das Gelüsten nach seinem frühern selbstsüchtigen Teben kurz und klein schlagen. Arbeiten, ja,das wollte er, bis zum letzten Atemzug, aber nicht für sich, auch nicht für seine Kinder, denen er mit seinem Zeit und Kraftgeiz nur Unglück gebracht. Der Unternehmergeist sollte seiner Seele fernbleiben. NAur eine den Tag wohl ausfüllende Knechtesarbeit wollte er tun,um geringen Lohn und zum Nutzen des Bauers, bei dem er seinen Frieden gefunden hatte, und etwas von dem, was ihm seine verstorbene Tebensgefährtin so liebenswert gemacht hatte. O dieses Feiertägliche, das aus jedem Wort und Sang, ja auch aus dem Arbeiten seiner Frau geklungen und das er nie hatte an sich herankommen lassen Herrgott! Wenn er das wieder zu hören bekäme! Zuweilen war's ihm, als läge der goldlautere Klang in der stillen Sommerluft über ihm.Dann hielt er in der Arbeit inne, stützte sich auf den Stiel des Werkzeugs und lauschte. Er ahnte etwas von Lebensglück und meinte, das müßte man allen verkündigen, die im Erwerbseifer sich selbst zu Tode quälten und andere ja, auch alle andern quälten.Es kann schließlich doch keiner mehr als seinen Magen voll essen, und es wäre genug da, daß jeder sich satt essen könnte. Wozu noch Künste ersinnen, die dem üÜbersättigten das Erbrechen ersparen?

Wie er nun eines Abenös die Sense gewetzt hatte und über das blante Eisen hinweg studierte, glitt ein Schatten neben dem seinigen auf die frisch duftende Mahod. Hans Tillmann sah sich um. Da stand seines Sohnes Freund, der Aovokat Bernhard Bär, bei ihm.

„Für die paar Kuehli des Lorbauers dürfte das wohl langen,“ sagte der unerwartete Gast. „Hätten Sie nicht Zeit zu einem Abendschoppen?“

Was sollte nun das? Diese Stadtmenschen hatten doch auch gar keinen Begriff ...

„Ich habe etwas auf dem Herzen, Herr Tillmann.“

„Den „Herrn“ dürfen Sie nun für sich behalten.“

Bär lachte. Nach kurzem Gespräch fand sich Hans Tillmann wieder allein, mit einem Herzen voll Unruhe. Bis jetzt hatte ihm dieser Advokat noch nie angenehme Kunde gebracht. In einer Stunde sollten sie sich treffen im Wirtshause zu Rauchwil. Ob am Ende doch etwas mit Heinz nicht in Orönung war?Schon all die letzten Tage hatte Vater Tillmann sich mit der Frage gequält, ob sein Sohn die Warnung in den Wino geschlagen habe.

Aber es kam ganz was anderes.

„Herr Tillmann, Herr Tillmann,“ hub der Aovokat an, nachdem er die Gläser auf dem Taubentisch vollgeschentt und durch Anstoßen seinen Gast zum Trinken eingeladen, „es gibt Aufgaben, die nur einer lösen kann, der nun, wie soll ich sagen? von niemandem abhängig ist und den Mut hat 666h ...“

„Sie wollen sagen, der nichts mehr zu verlieren hat, nicht wahr?“

Berni Bär blickte befreit auf Cillmann. „Nun ja,“sagte er, „man kann's auch so ausdrücken.“

„Sagen Sie mir vorerst nur: Hat's etwas mit meinem Sohn gegeben?“

„Nein. Es hat gar nichts mit Ihrem Sohn zu tun.Der studiert ja, soviel ich weiß, in Basel.“

„Stimmt.“

„Nun gut. Unsere Sache spielt im Oberland, im obern Ruhselal.“

Hans Tillmann horchte auf.

„Wie Sie wissen, werden dort große Kraftwerke angelegt, Bäche zu Seen gestaut, Stollen gesprengt und so weiter. Kurz, es ist ein kolossales Unternehmen, bei dem Tausende von Arbeitern beschäftigt werden. Es ist zwar erst in den Anfängen; aber schon die Anfänge lassen erkennen, daß da eine schamlose Ausbeutung der Arbeiter einreißen wird. Man wird überall Italiener anstellen und damit die Löhne drücken. Wir sind bereits mehrmals dringend aufgefordert worden, einzuschreiten.“„Wer ‚wir? ?“

„Unsere Parteileitung.“

„Wissen Sie, wer hinter der Unternehmung steht ?

Bär zwinkerte mit den Augen. „Das ist's ja, was mir die Idee gegeben hat, mich an Sie zu wenden.“

„Ja, was soll denn ich dabei?“

„Was Sie dabei sollen? Sehen Sie, den Arbeitern muß geholfen werden. Wir dürfen es nicht dulden, daß sie von einer Gesellschaft ausgepreßt, verstlavt und geschunden werden, die keinen andern Zweck kennt als die Steigerung ihrer Dividenden. Aber die Sache muß mit Vorsicht und Energie angefaßt werden. Wie es scheint, gibt es da droben niemanden, der die Führung mit Sachtenntnis und kühlem Mut übernehmen würode.Wir haben uns den Kopf zerbrochen, bis mir plötzlich einfiel...„Daß da in der Lorhalde einer sei, der nichts mehr zu verlieren hat und seinen Buckel getrost hinhalten könnte.“

„Nicht den Buckel, Herr Tillmann. Wir suchen einen,der Herz hat für die Arbeiter und einen Kopf, der imstande ist, ein paar Zäune einzurennen. Spaß beiseite. Sie kennen die Verhältnisse und Gepflogenheiten bei solchen Unternehmungen. Sie kennen diese Unternehmer. Geben Sie zu, daß das eine Aufgabe wäre,ein Vertrauensposten, für den sich weit und breit niemano besser eignet als Sie.“

„Das möchte ich nicht ohne weiteres zugeben.“

2

Doch doch!“

„Sehen Sie, junger Freund, ich habe mir nun einmal vorgenommen, den Rest meines Lebens in der Stille zuzubringen. Ich habe genug vom Streit mit den Menschen. In der Einsamkeit habe ich meinen Frieden gefunden, und den gebe ich nicht wohlfeil.Meinen Kindern habe ich Leios genug zugefügt. Ich will nicht neues Ungemach auf sie laden. Will's Gott,tann ich meine Cage in Verborgenheit und Frieden beschließen.“

„Das alles verstehe ich sehr gut. Es hat seine Berechtigung, solange darob niemand zu kurz kommt.Aber denken Sie an die Hunderte von Arbeitern, an ihre Familien, an die Tausende von Eristenzen, welche der gewissenlosen kapitalistischen Ausbeutung schutzlos preisgegeben sind! Wie anders, mit wieviel größerer Senugtuung würden Sie einst Ihre Tage beschließen,wenn Sie sich sagen dürften, Ihre grausamen Erfahrungen, Ihre Menschenkenntnis, Ihre Gaben, Ihr Herz haben der Not von Tausenden einen Damm gebaut!Just weil Sie gegen sich selbst unerbittlich gewesen sind,haben Sie ein besonderes Recht, mitzureden.“

So ging das Gespräch hin und her, bis der Abgang des letzten Zuges nach der Stadt den Aovokaten zwang, abzubrechen. Sie gingen noch ein Stück Weges zusammen. Dann riß sich Berni Bär los, weil ihm der andere zu langsam schritt. Hans Tillmann wanote sich um, vergaß dann aber das Weitergehen. Wie ein 363 Meilenstein stand er am Wegrano, sog an seiner Pfeife und starrte in die laue Sommernacht. Seine Freiheit hatte er sich gewahrt. Der Aovokat, der unter dem Schild einer edlen CTat an seine Rachsucht appelliert hatte, war ohne Zusage abgezogen. Darüber glomm eine freudige Genugtuung in Tillmanns Brust. Unwillkürlich lauschte er nach dem Klang, der in der letzten Zeit ihn so oft getröstet. Der Nachhall aus dem Leben seines Weibes, der in Ewigteit nicht verklingen konnte,sollte ihm aus den schweigenden schwarzen Walosäumen,aus den Wiesen, vom Sternenhimmel herunter mit süßem Beifall antworten. Er war auch wirklich da,klang leise leise, aber er vermochte nicht durchzudringen durch den schütternden Ruf des Harsthornes, das aus den Felsgründen des Ruhsetales an seine Seele drang.Ein Seufzen klang aus dem Brausen der Bergbäche,ein Wehklagen im Rauschen des Cales, ein dumpfes Knurren im Donnerrollen der Lawinen. Er kannte den Unterton der großen scharrenden knarrenden Arbeitssinfonie. Und wenn er so zurückdachte an die Zeit seiner großen Werktage, die zugleich die Zeit seiner großen Hoffnungen gewesen, dann flammte blitzartig auch die Erinnerung an alles auf, was jener Zeit gefolgt war,und der Haß begann ihn zu würgen... Sollte er nicht doch? ... Nein, nein, ich will nicht noch einmal hindurch, ich will nicht!“Hans Tillmann schritt der Lorhalde zu. Als die schwarze Masse des Giebels vor ihm aus dem Boden 364 heraufstieg, blieb er abermals stehen. Sollte er, Hans Tillmann, dessen Catkraft und eiserner Wille zum Guten einst so mancher Faulpelz gefürchtet, wirklich in diesem bäuerlich duftenden Grabhügel auf immer verschwinden,während die Not von tausend Menschen nach ihm, der sich geächtet wähnte, schrie? Er konnte nicht unter das Dach, bevor er einen Entschluß gefaßt. Und er tkam, der Entschluß. Zum Agitator eignete er sich nicht; aber raten konnte er immerhin. Das vertrug sich mit dem Nachhall seiner CLebensgefährtin, und was damit völlig im Einklang stand und schon den ganzen Abend ihm durch den Kopf gegangen: als Warner und Wächter hinter seinen Sohn treten das durfte er.Das war es, warum er dem Advokaten nicht mit einem scharfen nein geantwortet . Ob Bär von der Liebe seines Sohnes wußte? War das vielleicht der Grund,warum er sich nicht an Heinz heranmachte? Oder wußte er noch gar nicht, daß Heinz nach Zwischenflüh kommen sollte?

In der Felsenwildnis oberhalb Zwischenflüh lagerte eine kleine Gesellschaft. Zwischen mächtigen Granitblöcken, in deren Spalten sich schlangenartig die roten Wurzeln zerzauster Kiefern eingruben, dehnte sich eine saftig grüne Mulde voll glühender Hahnenfußkugeln.Ringsherum bauschten sich blühende Alpenrosenstauden.Ein wolkenlos blauer Himmel wölbte sich über dem

*leise rauschenden Tale. Auf den Bergtämmen blinkten silberne Schneebänder, in schattigen Gründen schäumende Bäche. Ein sprudelnder Quell warf seine Funken aus dem Gestrüpp, als frohlockte er über das holoselige Bilo, das er in seinem Spiegel auffing. Mit ihren rosigen, wohlgepflegten Händen tauchte Lilian Merle einen kleinen Suppenkessel in die kalte Flut. Einige Schritte hinter ihr kniete glühenden Angesichts Antoinette und warf dürres Gezweige in das knisternde Herdfeuer. Im Schatten einer geduckten Kieferkrone breitete Frau Dorothea auf buntem Schal allerhand verführerischen Proviant aus. Ihre raschen anmutigen Bewegungen standen in einem gewissen Gegensatz zu ihren silbernen Haaren. Marcel Delierre, der seiner Frau ein Bündel dürren Holzes zugetragen hatte, stand jetzt eben am äußersten Rand einer gegen das Tal vorspringenden Platte und spähte nach seinem Werkplatz hinunter.Prächtig hob sich seine schlanke Gestalt vor dem fernen blauen Hintergrund ab. In der grellen Sonne schien sein abgeschossener bauschiger Sammetanzug wie mattes Gold. Das wetterbraune energische Antlitz mit den befehlenden Augen war überschattet von einer blauen baskischen Mütze. Man konnte den Mann nur mit Wohlgefallen betrachten. Auch Antoinette, die ihn täglich vor Augen hatte, ließ ihre Blicke mit einer gewissen Genugtuung nach ihm hinübergleiten, weil ihr die Bewunderung nicht entging, die Mama und Lilian ihm zollten.Die Gesellschaft hatte ihre Mahlzeit beendet. Antoinette warf, aus ihrem Korbe schöpfend, jedem noch eine Aprikose zu, wobei sich Marcel hintenüber legen mußte, um das süße Geschoß, das über seinen Kopf weg flog, aufzufangen. Man sprach davon, daß Herr von Guldwang Ende der Woche kommen sollte, um über den Sonntag in Zwischenflüh zu bleiben.

„Aber es trifft sich schlecht,“ meinte Frau Dorothea.„Kommt Papa erst Samstag abends herauf, so wird er kaum Lust haben, schon am Sonntag wieder mit uns hinunterzufahren nach Maienschachen.“

„Was wollt ihr dort?“ Marcel, der sich lang hingestreckt hatte, hob kaum den Kopf, als er dies fragte.

„Ei, zu Heinz Tillmann,“ erinnerte ihn seine Frau,„in seine Probepredigt.“

„Ach ja, richtig. Das hätt' ich beinah vergessen.“

„Warum kann er eigentlich nicht hier in Zwischenflüh selbst predigen?“ fragte Lilian.

„Weil das scheint's nicht üblich ist,“ belehrte sie Frau Dorothea, „es ist nicht Brauch, Kandidaten zu Probepredigten herzuberufen.“

„Ich bin wirklich gespannt, wie das ausfallen wird,“wandte sich Lilian gegen den Ingenieur, „er ist enragierter Sozialist.“

„Heinz enragierter Sozialist ?“ Antoinette lachte gereizt, als sie dies sagte. Und auch die übrigen schienen erstaunt.

„Ich tann's euch versichern,“ sagte Lilian. „Mit meinen eigenen Ohren habe ich propos von ihm gehört,die sehr kommunistisch klangen.“

Nun wollte man bestimmt wissen, was Heinz gesagt habe; aber Lilian konnte das kurze Gespräch, das sie damals mit ihm auf der Gartenterrasse von Pfarrer Jeanmaire gehalten, nicht wiedergeben. Sie versicherte nur immer von neuem, es habe sehr sozialistisch geklungen. Antoinette und ihre Mutter schienen ihr nicht recht Glauben zu schenken, worüber Lilian in sichtliches Mißvergnügen geriet.

„Nun,“ meinte Frau von Guldwang, „so sehr verwunderlich wäre es schließlich nicht. Es scheint ja bei manchen jungen Theologen Mode zu werden. Von vielen Irrwegen, die ihnen offen stehen, ist es einer.Möchte nur wissen, was Jesus selbst zu dieser modernen Liebhaberei sagen würde.“

„Das kann ich mir schon denken,“ sagte Marcel.der platt auf dem Rücken lag und in den blauen Himmel hinauflachte, daß ihm der Leib wackelte.

Die drei Damen horchten auf. Nun ?“ forschte Antoinette, verwundert, daß ihr Mann überhaupt auf eine derartige Frage einging. Aber Marcel antwortete nicht.Er blies das Käuchlein seiner Zigarette steil in die Luft.

„Allons!“ rief Antoinette. „Heraus mit der Sprache!“Und als auch diese Aufforderung erfolglos blieb, warf sie einen Kieferzapfen nach Marcels Zigarette, ohne sie zu treffen. Erst als nun auch die Schwiegermama in den Wioerspenstigen drang, antwortete er: „Ei nun,eyVJ ohne Zweifel würde er sagen: „err, vergib ihnen, sie wissen nicht, was sie tun.“

Den Damen schien diese Anwendung des Kreuzeswortes sehr unangebracht, und sie lehnten sie zurechtweisend ab, worauf Marcel sich aufrichtete und fortfuhr: „NAu, was denn sonst? Ist etwa dieser sozialistische Eifer der Herren Pfarrer nicht lächerlich? Da meinen die guten Herren, die von Handel und Wandel gar teinen Begriff haben, sie müßten dem Treiben der Sozialisten ihre religiösse Sanktion geben, obschon diese nicht den geringsten Wert darauf legen. Es ist genau so, als wenn der Geißbub da droben am Galmersee zu uns sagen würde: ich billige eure Idee, die Wasserkraft des Sees auszubeuten. Brauche ich denn seine Genehmigung? Jodelt er vor Freude über mein Werk, nun gut, so mag er jodeln. Ich würde aber auch getrost fortfahren, wenn er darob flennte und fluchte.“

Cilian lachte beifällig. Die beiden andern Damen aber brachten durch ihr Stillschweigen Marcel wieder zum Verstummen.

Bald darauf kam Elvezio, der kleine Tessinerjunge,der bei Delierre Botendienste leistete, über die Blöcke hereingeklettert, um den Picknickkorb herunterzuholen.Das war für den Ingenieur das Signal zur Arbeit.

„Ja, glauben Sie wirklich, daß Heinz zu denen gehöre?“ fragte er beim Aufbruch Lilian. „Dann müßte man sich's doch wohl überlegen, ob er hierher gehört.“

„Es wird am besten sein, Sie überzeugen sich selbst.“

Antoinette hatte schon eine beipflichtende Bemerkung auf der Zunge; aber da war etwas in ihr, was sie hinderte, unbefangen mitzureden. Durch den kräftigeren Händedruck, mit dem sie sich von ihrem an seine nicht gefahrlose Arbeit gehenden Manne verabschiedete, suchte sie ihm mitzuteilen, was ihr Herz bewegte. Auch ihre tiefernsten Augen schienen Marcel zu gerechter ÜÄberlegung aufzufordern. Ach, daß sie im Abstieg den gewohnten Plauderton wiedergefunden hätte“ Statt dessen ließ sie Lilian mit der Mutter vorangehen und hielt sich mehr denn sonst mit Blumenpflücken auf.o 3

Durch die hohen Bogenfenster des uralten Gotteshauses zu Maienschachen fielen die Strahlen eines blauen Sommersonntags. Scheinwerfern gleich beleuchteten sie manches graue Haupt, manch Röslein, das auf schneeweißem Linnen die frisch atmende Brust eines lebensfreudigen Mägoleins schmückte. Blonde Locken vergoldeten sie, selbst auf die Runzeln sorgenvoller Stirnen malten sie einen Freudenschein, ob es auch hinter der Stirnwanod tiefdunkel sein mochte. Das alles durfte man von der Kanzel aus sehen. Von dort aus durften auch die in Erwartung gespannten Gesichter Antoinettes und ihrer Mutter gesehen werden. Marcel Delierre freilich hatte sich dem Blick von der Kanzel zu entziehen gesucht; er wußte aus Erfahrung, daß ihn von Tavel, Heinz Tillmann. 24

*hier, im geschlossenen Raum, der Schlaf gleich einem gewappneten Mann überfallen werde. Da er aber keinen passenden Platz gefunden, hatte er sich mitten unter die Bauern gesetzt. Mochte man ihn einschlummern sehen,er hatte sich seiner gesunden Müdigkeit nicht zu schämen.Droben aber, schattseits neben der Orgel, durch das vorragende Schnitzwerk ihres Gehäuses halb verdeckt,wartete einer auf die Predigt, der nicht gesehen sein wollte. Der war des Wachbleibens sicher; aber niemand brauchte es zu sehen, wenn Rührung ihm allenfalls die Lider röten sollte. Sinmal während des Einläutens erhob er sich und blickte mit dem Auge eines pirschenden Jägers ins Frauenschiff hinunter. Eine Zorneswelle lief durch die Furchen seines Antlitzes. Da saß wieder einmal jemand im vollen Sonnenlicht vorne an, auf einem Platz und Rang, auf den er den ersten Anspruch gehabt hätte. Hans Tillmann kämpfte den alten Groll nieder und redete sich zu, daß nun ein neuer Gedanke sein Leben beherrsche.

Würde mit lebensfroher Jugend verbindend, betrat Heinz Tillmann im schwarzen Talar die Kanzel. Jetzt einmal durchzuckte des Vaters und des Sohnes Kopf ein und derselbe Gedanke: „Wenn die Mutter diesen Augenblick erlebt hätte!“ Nie hätte sich Hans Cillmann träumen lassen, daß es ihm so tief ins Innerste greifen würde, die ersten Worte von seines Sohnes Lippen durch die Kirche hallen zu hören. Wie ein Heroldsruf klang sein apostolischer Gruß an die Ge meinde. Am liebsten hätte der Vater darauf geantwortet: „Vergib mir, daß ich solange dir im Weg gestanden habe.“

Die Predigt ward mit Kraft und Wärme, ja man möchte sagen: mit LTust vorgetragen Heinz Tillmann trug sie einer großen Gemeinde von Menschen vor, die alle aus des Lebens Mühsal heraus nach Erbauung sich sehnten; und doch sprach er eigentlich nur zu einem einzigen Menschen darin. Zu einer schönen, edlen Seele sprach er mit der Wärme, wie sie nur in der beginnenden Vermählung gleichgerichteter Herzen entsteht. Jedes bezog die Worte auf sich und wunderte sich über den warmen Anschlag. Und niemand außer einem einzigen Zuhsrer ahnte, daß er in dem berückenden Gebäude dieser Predigt einen seltsamen Umbau vor sich hatte.Heinz Tillmann hatte seiner Probepredigt die Geschichte von David und Goliath zugrunde gelegt. Die Worte Davios hatten es ihm angetan: „Du kommst zu mir mit Schwert, Spieß und Schild; ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaoth.“ Der junge Pfarrer,der schon so tief in die Welt geblickt, hatte den Mammonismus in die Gestalt Goliaths gekleidet und eine Programmrede voll jugendlichen Feuers ausgearbeitet.Sie war nicht das Erzeugnis weniger Stunden. Schon seit seiner Rücktehr aus Amerika hatte er in seinen Gedankengängen daran gebaut, und er wußte auf dem Weg nach Maienschachen, daß er ein gewichtig Werk in sich trug, welches seine Wirkung nicht verfehlen, ja **47*

2 vielleicht mehr noch zu reden geben würde, als sein Überfall im Armenhause zu Prankenau. In freudiger Zuversicht sah er gestern abend noch dem großen Tag entgegen. Da fand er im Pfarrhause zu Maienschachen einen Brief, dessen Schriftzüge ihn um die Ruhe brachten.Noch überlegte er einen Augenblick, ob er den Brief nicht erst nach dem Gottesdienst öffnen sollte. Es war ihm, als könnte er Unheil bergen. Aber er hielt die Geduldsprobe nicht aus. Als die Frau des beurlaubten Ortsgeistlichen ihren Gast schon im Schlafe wähnte,vernahm sie ploötzlich in seinem Zimmer wieder Schritte Schritte Schritte. Das Treten währte länger als ihr Widerstand gegen den Schlaf.

Wieder und wieder hatte Heinz den Brief gelesen,ihn weggeworfen, wieder aufgehoben, ihn mit dem Gedanken: du meinst nicht was göttlich ist, sondern was menschlich ist, zerknüllt und weggeschleudert. Dann aber war ihm vorgekommen, als sähe er Antoinettes zürnende, bittende Augen oh diese unvergleichlichen,aus denen von jeher etwas nach ihm geschrien wie aus tiefer Not. Und etwas schrie in ihm selber. Ich muß ihr folgen, ich muß mit ihr gehen. Er glättete den Brief wieder. Er preßte ihn an die Lippen und flüsterte:„Ich folge dir.“

Der Brief war eine Warnung, eine aus Liebe geborene. Heinz kam zur Einsicht, daß es um seine Berufung nach Zwischenflüh geschehen sei, wenn er diese Davids Predigt hielt. So etwas ertrugen die kaum, die augenblicklich dort zu befehlen hatten. Und damit drohte gerade das in sich zusammenzusinken, was den schönsten Glanz in seine Hoffnungen gebracht. Sollte er aber nicht tapfer sein und bei dem bleiben, was im Laufe der Jahre sich in ihm zu zwingender Überzeugung verdichtet hatte? Heinz tastete in Erinnerungen zurück.Ihm war, als müßte er da nach einem festen Griff suchen, nach einer Kraft, einer Stimme, die ihm befahl.den geraden Weg einzuschlagen, einem Auge, das ihn zwang, seinem Ziele treu zu bleiben. Er wußte, das alles war da; aber eine andere Kraft zwang ihn zu umgehen, wonach sein Besseres verlangte. Er hörte eine Stimme, aber es war nicht die nachklingende seiner Mutter, sondern die melodisch tiefe seiner Freundin.Und wenn er auf einen Blick hoffte, so traf ihn der bittende der schönsten Augen, die er je gesehen. Heinz wußte: jetzt war der Augenblick gekommen, den um Hilfe anzurufen, der Herzen lenkt wie Wasserbäche;aber des jungen Priesters Knie wollten sich nicht biegen.Heinz war sich noch nicht bewußt, daß solche Qual vor Gott offen liegt und von sich aus zu ihm schreit ohne Zunge; aber er erfuhr es, und das war das Erlebnis jener Nacht im Pfarrhaus zu Maienschachen.Als ob ein Stein vom Himmel fiele und das Dach durchschlüge, so schoß des Vaters Wort plötzlich in seine Seele: Nimm dich in acht vor dem Tillmann. Jetzt verstand er den Sinn der Warnung, die er bisher zu verstehen sich hartnäckig gewehrt. Da lag vor ihm das

Wesen seines Stammes, wie es wuchs und wucherte vom Vater zum Sohn, wenn ihm nicht das Winzermesser in den Weg trat. Ein Wundergefühl durchschauerte ihn. Er war erlöst. Es kam ihm zum Bewußtsein: das war ein Gotteserlebnis. Und da war auch die Kraft wieder in ihm, die er andern Tags von der Kanzel konnte ausströmen lassen.

Kaum aber hatte sich der Kämpfer zur Ruhe gelegt, so beugte sich etwas über ihn und überschattete das Geisteserlebnis: die Erwägung der sichtbaren Vorgänge, die ihm bevorstanden. Er sah die schöne Warnerin zu seinen Füßen sitzen, wartend auf das, was er ihr geben sollte. Konnte er diesem edlen Weibe den Rücken tkehren und Pfeile auf seinen Bogen legen, welche sie zum TCode verwunden mußten?

Nun standen die beiden Überlegungen scheinbar gleich start vor Heinz, und die Qual griff ihm tiefer und grausamer in die Rippen denn zuvor. Da tat er, was unreife Menschen tun, er suchte einen Mittelweg. und war erstaunt, daß er den erst jetzt sah, und weil ihm das so überraschend kam, so meinte er, noch Größeres zu erleben. Die Entdeckung des Ausweges war ihm erst recht Erlssung, und niemand sagte ihm, daß ein

Schlupfloch kein Kreuz ist und daß nur im Kreuze das Heil liegt.

Aur einen kleinen Schritt galt es zu tun, um vom Engern ins Weitere zu gelangen. Goliath konnte statt als das Sinnbild des Mammonismus einfach allge meiner als die Macht des Bösen hingestellt werden.Da taten sich viele Gedankengänge auf. Heinz folgte ihnen leichten Schrittes, und als ihn am Morgen die Glocken aufriefen, ging er zur Kirche wie einer, der aus dem Vollen schenken kann. Ob er's nun zielbewußt tat oder nicht, er redete zu der einen Menschenseele,die ihm erschlossen war und hinter der alles andere ihm zurücktrat. Und dieser Strom von Herz zu Herzen erwärmte alles, was in seinen Bereich kam, also daß die ganze Gemeinde staunte ob der Macht des Woartes,das da geredet warod.

Unter lautem Orgelgetöne verließen die aus Andacht Erwachenden die Kirche. Einige gab es, die wollten auch jetzt noch nicht gesehen sein, darum warteten sie,bis der Schwarm sich verlaufen hatte. Als die Stiegenbretter unter Hans Tillmanns schweren Tritten knarrten,ächzten diejenigen der gegenüberliegenden, sonnseitigen Treppe unter den glatten Sohlen des Bankiers Ryter.In großem Staunen standen sich an der Kirchentüre die beiden einen Augenblick gegenüber. Was mochte nun dieser Finanzmann hier gesucht haben? Hans Tillmann konnte es nur ahnen. Dieweil er der Welt Lauf so ziemlich kannte, hatte er sich die seltsame Erscheinung bald erklärt. Im obern Ruhsetal arbeitete neben dem mittelländischen auch oberländisches Kapital,denn auf diese Weise pflegt man Unternehmungen solcher Art zum Anwachsen im heimischen Boden zu bringen.Freilich paßte diese Sorte von Menschen wunderlich zu den Guldwangs; das fühlte sogar Hans Cillmann;aber, sagte er sich wegwerfend, schöne Seelen finden sich. Denen, die am großen Werk des Ruhsetals beteiligt waren, konnte die Wahl des Pfarrers nicht gleichgültig sein, darum verließen selbst Leute wie Ryter ihren Klubsessel, um einmal die harte Kirchenbank zu tosten. Hätte Heinz diesen Zuhörer erkannt, so wäre ihn die erste Reue über den Umbau seiner Predigt angekommen.

Als Vater Tillmann um die Ecke des Friedhofes bog, begierig seinem Sohn die Hand zu drücken, sah er Heinz, immer noch im Calar, von den Guldwangs umgeben und sichtlich bewundert. Einen Augenblick verwirrte ihn aufbrodelnder Groll. Dann aber raffte er sich auf und schritt aufrecht und sicher der Dorfgasse zu. Und wie er's erhofft, so wirkte sein Erscheinen. Auf seinem Antlitz stand deutlich geschrieben: mir gehört er,nicht euch. Die Prankenauer verließen Heinz, der sich nun in freudigster Aberraschung seinem Vater zuwanöte.Er begrüßte ihn mit um so größerer Seelenruhe, als er soeben mit Rücksicht auf die Pfarrfrau eine Einladung Frau Dorotheas zum Mittagessen im „Wiloden Mann“ abgelehnt hatte. Vater und Sohn setzten sich in bester Stimmung im Pfarrhause zu Cisch und verlebten ein paar ungetrübte Stunden, da Hans Tillmann selbst es diesmal nicht über sich gebracht hätte,seines Sohnes großen Tag mit abermaligen Warnungen zu stören. „Schon der Mutter selig zulieb.“ dachte er.Drunten, im „Wilden Mann“, traf man sich mit dem von Bern kommenden Herrn Fernand von Gulowang. Nach der Table dhõte gesellte sich auf einen Augenblick Herr Ryter zu Papa. „Schade,“ sagte er,so daß es die Damen und Marcel hören konnten, „Sie hätten den jungen Pfarrer hören sollen. Den dürfen wir der Gemeinde Zwischenflüh ruhig empfehlen. Nur wollen wir hoffen, daß er nicht etwa seinen Vater mitbringe, sonst möchte ich für nichts garantieren.“

XX.Ein Sieger, doch zwiespältigen Herzens, war Heinz Tillmann über den Bolgen hinein marschiert, nachdem ihn die Gemeinde Zwischenflüh auf mannigfache Empfehlung hin zu ihrem Seelsorger gewählt hatte. Drunten in Bern, an der Hochschule, schüttelten sie die Koöpfe.Wozu vergrub sich ein so hochbegabter Mann in der einsamsten Berggemeinde? Ist er lungenkrank? „Nein,“ versicherte ein graues Haupt. „Er geht auf vierzig Cage in die Wüste, um hernach in großer Kraft wieder unter die Menschen zu kommen. Hoffen wir's7 Ein Paradies auf Erden dünkte den jungen Pfarrer sein Amt. Nie konnte das Tal einen glücklicheren Wanderer gesehen haben. In schöner Freunoschaft erblühte der Verkehr zwischen dem Pfarrhaus und dem Ehepaar

Delierre, das nun in einem gemieteten Hause eigenen Haushalt führte. Antoinette nahm an allen Amtsgeschäften des Gemeindehirten teil. Sie kannte das ganze Völklein von Zwischenflüh, von der Ruhseschlucht bis zu den obersten Alphütten, sie kannte eine große Zahl on Arbeitern, und ihre Winke waren nach kurzer Zeit dem Pfarrer unentbehrlich. Selbst in seinen Predigten lebte Antoinettes große liebreiche Seele. Auch Marcel war zufrieden. Er verstand sich mit dem so anders gearteten Schulkameraden besser als er es je gedacht hatte. Er, dem einst nur die exakten Wissenschaften imponiert, lernte durch Heinz nach und nach einsehen,daß auch die idealen Gedanken ihren sehr praktischen Wert haben. Er glaubte sogar zu bemerken, daß der Pfarrer einen guten Einfluß auf die Arbeiter gewonnen habe, und faßte deshalb ein festes Vertrauen zu ihm.Daß der Wirkungskreis für seine frische Kraft zu gering war, merkte Heinz Tillmann kaum. Der schöne Sommer brachte viele Fremde in das TCal. Alltäglich rollten Kutschen voll erholungsbedürftiger Menschen uber den Sillernpaß, und manchen Wanderer aus der Stadt begleitete der Bergpfarrer pickelbewehrt über Fels und Gletscher. Das Leben in der Alpenluft kräftigte den großgewachsenen Mann so, daß er allen Besuchern als ein Bild strotzender Gesundheit in Erinnerung blieb.Als nun aber die Ferienzeit zur Neige ging und die Straße stiller wurde, kam Heinz das Mißverhältnis zwischen seiner jugendlichen Tatkraft und der Berufs

aufgabe zum Bewußtsein. Wie sollte das im Winter werden? In manchem Scherzwort war er von Studienkameraden und Bergbauern gefragt worden,wann die Pfarrfrau einziehen werde. Der Gedanke an einen richtigen Haushalt drängte sich ihm immer deutlicher auf. Heinz wich ihm aus, so oft er nur konnte,denn nun waro er es inne, daß er seine Freiheit eingebüßt hatte. In seinem Wirken und Denken lebte Antoinette. Er hielt es für unmõglich, daß eine andere Lebensgefährtin ihm irgendwie ersetzen könnte, was diese mit seinem Wesen schon so innig verwachsene Seele ihm war. In nüchternen Augenblicken erkannte er die Notwendigkeit eines Losreißens. Er mußte die Flucht ergreifen, wenn er mit seinem Gewissen ins Reine kommen wollte. Schon hatte er ihr die Mission geopfert, die er an den Arbeitern zu haben glaubte.Um ihres friedlichen Einvernehmens mit Marcel willen hatte er das preisgegeben; er wollte sie nicht unglücklich machen. Wie er seine erste Predigt umgebaut, so orientierte er nun sein ganzes Wirten, und der Erfolg der allgemeinen Zufriedenheit täuschte ihn eine zeitlang hinweg über die innere Zerrissenheit. Aber so bleiben konnte es nicht. Der äußerlich riesenstarke Heinz Tillmann fühlte seine Wioerstanoskraft schwinden. Er besaß nicht einmal mehr die Kraft zur Flucht. Wie sollte er einen Rücktritt vor der Gemeinde begründen? Und er wollte ja auch gar nicht fliehen. Er mußte anderswie sich zu befreien trachten.

In langen bangen Wochen, während welcher Antoinette ihm die Kümmernis aus den Augen gelesen,reifte in ihm der Entschluß, bei ihr selbst die Befreiung zu suchen. Ihrem edlen Herzen traute er das Größte zu. Sie mußte ihn verstehen. Er dachte sich seinen Plan aus, ohne zu merken, daß auch darin schon etwas anderes ihm Wegleitung gab als nüchterne Wahrheit.Auf einsamer Gratwanderung womõglich, zwischen Himmel und Erde, wollte er Antoinette die Beichte ablegen, sie bitten, mit eigener strenger Hand den Bann aufzuheben. Schon das Spiel seiner vorauseilenden Einbildungskräfte schuf ihm Erleichterung. Über den selten begangenen Norograt auf den Gertenstock führen wollte er Antoinette. Dann würden sie sich südwärts wenden über die wilde Zackenfirst des Gertengrates nach dem Sillernhorn. Zu einem Nebo werden sollte ihm diese firnumgürtete Felsenzinne. Da wollte er mit ihr hinuüberschauen in das Land einer reinen heiligen Freundschaft, an die keine Begierde rühren durfte. Auf ewig würden sie sich da das Wort geben, getrennte Wege zum höchsten Ziel einzuschlagen. Bei Gott! schwur sich Heinz, ich habe es nie anders gemeint, und ich will das Schönste, was mir auf Erden geworden, nicht durch ein Unrecht beflecken.

Derlei Gedanken spann Pfarrer Tillmann, alles andere darob vergessend, als er eines Abends, von entlegenen Hütten heimkehrend, an der Kantine des Barackendorfes vorüberschritt. Wie es seine Gewohn heit war, rief er einen freundlichen Gruß in die Schar der müde um die Hütte herum hockenden Arbeiter. Da fiel sein Blick auf einen, der mitten unter ihnen nachdenklich sein Räuchlein aus der Pfeife blies. Diese kantigen Schultern, die Wolbung des Rückens, der breite Trotztopf und der struppige Bart In zehn Schritten war Heinz neben dem neu Aufgetauchten.„Vater! wie kommst du hierher? Seit wann bist du da ?

Ein Lächeln in den Augen, hatte sich Hans Cillmann erhoben. „Gelt!“ sagte er nur. Dann folgte er dem Sohne stillschweigend zur Straße.

„Hast du auf mich gewartet?“

„Nicht einmal.“

„Ja, aber ... du kommst doch zu mir ?“

„Auch.“

„Auch? Zu wem denn sonst noch ?“

Jetzt log Vater Cillmann, mit einer Hano und Kopfgeberde nach den Arbeitern weisenod.

Heinz staunte.

„Wie soll ich sagen?“ erklärte der Alte. „Mit dem Herzen bin ich zu denen da gekommen, für dich behalte ich wenigstens ein Auge frei.“

Heinz forschte überrascht in des Vaters Zügen. Seine Gratwanderung flitzte ihm durch den Kopf, und es war ihm, als hörte er eine Stimme aus seinem eigenen Dunkel heraus, die wiederholte unablässig:„Gottgesandt, gottgesanot.“

Da stand eine wirkliche, nüchterne, erlösende Kraft in Mannsgestalt neben ihm. Der UNeboTraum war verflogen.

Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Heinz hatte eine Frage auf der Zunge nach dem Sinn des seltsamen Satzes von Herz und Auge. Aber er schob etwas anderes dazwischen: „Wo hast du deine Sachen? Du kommst zu mir, Vater.“

„Eigentlich wollte ich draußen bleiben,“ log Hans Tillmann weiter, „bei den Arbeitern. Ich will dir nicht zur Tast fallen. Man sieht es vielleicht nicht gern,wenn ich bei dir wohne. Aber weil du so oft gesagt hast, ich solle dann einmal zu dir ziehen, wenn ...“

„Wo hast du dein Gepäck?“

„Es ist noch bei der Postablage.“

„Also, gut.“

Als sie nun nach dem Abendbrot auf der dämmerigen Laube des Pfarrhauses saßen, drang Heinz in seinen Vater um Aufschluß. Der wollte um keinen Preis mit dem wahren Grund seines Kommens herausrücken.

Es kam ihm jetzt klein und lächerlich vor, daß er dem Sohne unlautere Absichten zugetraut hatte. Bevor er mit eigenen Augen etwas Cadelnswertes wahrgenommen,wollte er darüber keinen Con von sich geben. So begann er denn vom andern zu reden und erzählte Heinz von Berni Bärs Besuch.

„Vater,“ sagte Heinz. „Daß du's ein für allemal weißt: Ich lasse dich nicht mehr unter meinem Dach weg. Ich will dich da haben. Eine Heimat sollst du bei mir finden. Aber von dem andern laß mir um Gottes willen die Hand.“

Hans Tillmann lächelte leise. „Gelt,“ antwortete er, „das wär' dir wohl unangenehm, wenn ich den armen Teufeln da draußen ein wenig mit Rat an die Hanod ginge ?“

Das Dunkel hinderte Heinz, den forschenden Blick seines Vaters zu sehen, und doch fühlte er ihn. „Unangenehmt ... ja, es wär' mir unangenehm, nicht weil ich den Arbeitern ihr Bestes mißgönnte; aber es würde ganz krumm ausgelegt, wenn du dich in ihre Angelegenheiten mischtest. Es ist nämlich eine Lohnbewegung im Gang. Von Bern aus ist geguselt worden.Und wenn man nun gerade gleichzeitig mit dieser Treiberei dein Hiersein entdeckt, so lkönnte sehr leicht der Verdacht entstehen, 0 u seiest der Aufwiegler.“

Hans Tillmann legte begütigend seine schwere Hand auf des Sohnes Arm. „Sei nur ruhig, Heinz. Wenn ich überzeugt wäre, daß mit den paar Rappen höhern

Lohnes einem Menschen wahrhaft geholfen wäre, du würdest mich mit keinem Mittel hindern, dafür zu kämpfen. Aber ich habe Lebens zuviel hinter mir, um noch an das Glück zu glauben. Nein, ich werde dir das nicht zuleide tun. Will mich still halten und den LTeuten fern bleiben. Da hast du meine Hand örauf.“

Im Morgengrauen klirrten auf den Granitblöcken des Gertengrates Pickelzwingen. Schuhnägel kreischten leise. Zwei Gestalten stiegen schweigsam in dichtem Nebel von Stufe zu Stufe, die eine bepackt, groß,mächtig, die andere schlank und elastisch. Stundenlang währte der langsame Aufstieg, ohne daß ein anderes Geräusch laut geworden wäre als das Klirren der Pickel. Einmal nur drang aus dem grauen Geröll das Schnarren eines Schneehuhns, ein andermal aus ferner Tiefe das dumpfe Krachen eines Eisbruches. Auch das Rauschen des Tales war zurückgeblieben, verschollen.Es herrschte das große Schweigen der Höhe.

Aber nicht bloß die feierliche Stille der Umgebung und die Notwendigteit auf ihre Füße zu achten benahmen den Wanderern das Wort. Beide wußten, daß sie einer großen Stunde entgegengingen, die sie herbeigesehnt und nun doch fürchteten. Ihre Herzen arbeiteten schwer, ihre Gedanken eilten durch dunkle Strecken zurück und voraus, wie die Bergdohlen, die zu ihren Seiten über den nebelerfüllten Abgründen kreisten. Unablässig verfolgte Heinz des Vaters Wort, daß er sich durch nichts hindern ließe, den Arbeitern kämpfend beizustehen. Dem VBater stand die eigene Überzeugung im Wege. Ihn aber, Heinz, was hinderte ihn, Wort zu halten und dem treu zu bleiben, was er sich und im Stillen seinen Mitmenschen gelobt? Es war ihm, als stiege er mit jeder Felsstufe, die sein Fuß überwand,tiefer hinein in die Ertenntnis, daß er sich losreißen 38*müsse von Antoinette. Welchen Schmerz diese hinter ihm her trug, ahnte er nicht.

Die Dämmerung lichtete sich. Die Nebel ballten sich in der Tiefe zu wolligen Strõmen und Strängen. Die Schatten der Schluchten gingen aus dem Blauschwarzen in tiefes Violett über, die Felshänge jenseits der Kalten Ruhse rõoteten sich leise, und die zwischen den niederwärts sich verzweigenden Gräten eingebetteten Gletscherzungen schimmerten wie mattes Golo. Der Himmel begann zu blauen. Die Sterne erloschen, und auf einmal standen rings herum die Felsgipfel kupferrot. Eine Fülle von Farbentsnen, die in Ewigkeit keines Menschen Zunge benennen wirod, hauchte die starren Wände an und floß wie ein seliges Wohlbehagen über die Firnen.Mit dem dumpfen Brüllen ihrer tausendjährigen grünschillernden Kehlen jauchzten die Gletscher der aufgehenden Sonne zu. Feuersprühendes Glatteis klirrte von den aufatmenden Platten los und verklingelte niederrieselnd im Widerhall frohlockender Wasserstürze.Und üüber das Gipfelheer breitete sich die weltferne Gottesstille.

Staunend betraten die Wanderer den Firnkamm,der sie bis jetzt vom Tage geschieden. Sentrecht zu ihren Füßen lag das breitgerissene Ruhsetal. Heinz Tillmann war tief ergriffen. Bergandacht legte sich auf seine Seele.Aber nun erst drohten ihm in Bangnis und Wonne die Pulse zu sterben, als er gewahr wurde, welches Wunder ihm die Sonne in seiner Begleiterin enthüllt von Tavel, Heinz Tillmann. 25 hatte. Welch ein Weib war sie doch, seine Freundin und Leidensgefährtin, wie sie, in der scharfen Morgenluft erglüht, mit wogender Brust dastand, das edle Haupt in Entzücken gehoben. Wie herrlich hob sich der Wuchs ihrer Gestalt von den harten Felstrümmern,auf denen sie sieghaft sich reckte!

Beiden waren ob der Schönheit des Augenblickes die trüben Gedanken verflogen. Aber Heinz hörte, als er Antoinette den Labetrunk aus seiner Feloflasche reichte, ein Raunen: „Du bist ein verlorener Mann.“

„Nein,“ schwur er sich, „bei meiner Seele Seligkeit und all dieser Gottesoffenbarung nein, ich will und werde nicht unterliegen. Mit grimmer Wucht faßte er den Pickel zum Weitermarsch. Er wollte ihr den Vortritt lassen, um sie beim Passieren der wächtenbewehrten Firnschneide unter den Augen zu haben; aber sie wies ihn voran. Er gab nach. Doch mußte sie sich's angesichts der trügerischen Wächten gefallen lassen, daß er sich mit ihr ans Seil band. Es bedurfte weniger Worte;die Augen einigten sich auf die Losung: beide zum Leben oder beide in den Tod. Und so stapften sie zwischen Himmel und Erde zwischen Freude und Qual dem Gipfel entgegen. Der Gang erforderte alle Aufmerksamkeit. Das war die Gratwanderung, wie sie heiden oft vorgeschwebt hatte. Wieder und wieder riefen sie sich das ins Bewußtsein, um die Seligkeit solch symbolischen Tuns voll auszukosten. Den Schatten aber,welcher der willkürlichen Erfüllung des Traumes folgte, trotz Sonnenglast und Herbstesklarheit, vermochten sie nicht zu verscheuchen. Dankbar begrüßten sie den Schlagschatten des Sillernhorns, der sich nach einer halben Stunde über ihren luftigen Pfao legte. Drohend wuchs der schattseits vereiste Felskegel vor ihnen in des Himmels Bläue. Beide kannten seine Risse, seine Bänder und Griffe, so daß der Aufstieg wiederum der Worte wenig erforderte. Ein Kamin, dessen untere Gffnung in gähnende Leere mündete, legte der Kletterkameraoschaft der beiden die letzte Prüfung auf. Dann konnten sie sich zur Gipfelrast zwischen die Blöcke der hohen Kanzel setzen und ihre Augen sich weiden lassen am weithin sich dehnenden Heere der Gipfel und Kämme. Sie gaben sich Mühe, von Zacken und Firnen zu reden,die sie in solcher Deutlichteit wie heute noch nie gesehen zu haben meinten, und wußte doch jedes, daß das andere dieses Ausweichen durchschaute und des andern Feigheit zur Entschuldigung für die eigene nahm.

Der Proviant war verzehrt. Man blickte, staunte und träumte, und die Herzen klopften ihnen zuweilen,daß sie glaubten, es müßten darob Steinchen und Sand ins Kieseln geraten. Antoinette saß aufrecht in der Wohlanständigkeit, die ihr in Fleisch und Blut lag.Heinz hatte sich in eine Felskehle hingelegt und stocherte mit seinem Sackmesser in einer Steinritze herum. Ohne aufzusehen, fing er mit leise bebender Stimme an:„Antoinette, nun haben wir endlich die Distanz von Gaffern und Lauschern gewonnen, die uns nottat. 4*48

8

Jetzt tann ich's Ihnen bekennen: Ich muß einen andern Weg einschlagen, wenn ich auch in meines Lebens Bergwanderung den Gipfel erreichen soll. Ich habe doch eigentlich etwas anderes gewollt. Die nach uns schreien,tommen nicht zu ihrem Recht, wenn wir ... wenn wir uns nicht trennen. Es ist bitter; aber mir scheint.Gott habe es nicht gewollt, daß ...“

Heinz brach ab. Eine rasche Bewegung Antoinettes zwang ihn, hinzusehen. Sie hatte ihr Taschentuch aus den Falten des Kleides gesucht. Auch jetzt noch saß sie in königlicher Haltung da und blickte erhobenen Hauptes in die Ferne; aber die Tränen liefen unaufhaltsam uüber ihre ringenden Züge. Wenn er's noch nicht gewußt hätte, jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Antoinette liebte ihn.

„Wir wollen uns aufmachen,“ sagte Heinz, „wollen tapfer sein und ...“

„Ja,“ unterbrach ihn Antoinette, „wir wollen tapfer sein. Aber sagen Sie nicht, Gott habe es so gefügt. Nein, es war nicht Gott. Ich bin's, Heinz, meine Corheit. Mein Kleinglaube hat mich irregeführt. Weil Sie Ihrem Vater das Opfer des Berufs brachten, glaubte ich damals, meinen Eltern ein gleiches bringen zu müssen, ein Opfer, das nie und nimmer hätte geschehen sollen.“

„Ich habe Sie irregeführt und werde das zeitlebens büßen.“

„Nein, Heinz, sagen Sie das nicht! Sie erwürgen mich damit. Ach Gott, ach Gott, ist's nicht genug an meiner eigenen Last?“

„Ihr Opfer wurde reinen Herzens gebracht.“

„Sie sollten eher sagen: in frommer Torheit. Oder ich würde besser tun, noch aufrichtiger zu bekennen: ich habe es gar nicht gebracht, das Opfer. Ich habe nur gehandelt, als hätte ich's gebracht.“

In tiefster Verwirrung starrte Heinz auf Antoinette.Als hätte er selber gar nichts mehr zu sagen, so fühlte er zwei Mächte in sich ringen. Mit dem Sturme glühender Leidenschaft drängte es ihn, sich auf die Gefährtin zu werfen und sie an sein Herz zu reißen.Aber noch bändigte ihn die vornehme Haltung Antoinettes. Sie mochte etwas fühlen von dem Ansturm,der ihn bedrohte. Abweisend, fast zornig, begegnete ihr Blick dem seinigen; aber nicht Sieg, sondern heißes Ringen verriet er.

Heinz hatte auf einen Augenblick Besinnung gewonnen. Wie in einem Krampf klammerte sich seine rechte Hand in das scharfkantige Gestein, so daß seine vom Klettern geritzten Finger ihn schmerzten. Die letzte Widerstanoskraft sammelnd, versuchte er's noch einmal mit seinem Entschluß: „Noch ist es nicht zu spät, Antoinette, von uns zu werfen, was unserem Teben die Lauterkeit genommen hat.“

Da schoß sie auf. Ein heiß schmerzlicher Laut entrang sich ihrer Kehle. Das edle Haupt in den Nacken werfeno, trat sie einen Schritt vor, hart an den Abz80 grund. Als wollte sie die Flut des hellen Sonnenlichts,die durchsichtige Luft in sich saugen. „Ja, barmherziger Gott, ja,“ seufzte sie tief auf, „lauter sein!Das ist's ja.“ Sie schien zu wanken.

Ein schauerlicher Gedanke riß Heinz auf. In einem Sprung stand er an ihrer Seite und faßte mit derber Faust in die Falten ihres Kleides. In rascher Wendung riß Antoinette sich los. Seinen angstvollen Blick beantwortete sie mit einem stolzen Lächeln, als wollte sie sagen: Was traust du mir zu!

Dann aber ließ sie es geschehen, daß Heinz sie in die Arme zog, sie umschlang, wie ein Kind, das er dem Tod entrissen, und sie mit Inbrunst küßte.

„Heinz, Heinz, was tun Sie!“ wehrte sie unter Tränen. Aber ihr Halt war gebrochen.

UÜbler der Bergwelt brütete die Stille des Mittags.Die Gletscher und Schneerinnen flimmerten. Aber den beiden Wanderern war etwas erloschen. Bald legte sich ihnen eine seltsame Winostille ums Herz, bald flackerte Leidenschaft in ihrer Seele auf. Als sie zum Abstieg sich rüsteten, war es Heinz, als hätte der Himmel sich uberzogen, und doch wölbte er sich in lichter Bläue uber ihnen. Heinz wußte, was diese Täuschung bedeutete.Er war an seines Kameraden Weib verloren, war für seinen Beruf, um den er so viel gelitten, verloren. Als er sich oben im Schlunde des Kamins verstemmte und das Seil, an dem sie hinunterkletterte, bremsend durch die Hände gleiten ließ, beschlich ihn einen Augen

4 blick der Wunsch, sie möchte ausgleiten, dann wäre es um sie beide geschehen, und alles weitere Unheil wäre abgeschnitten. Aber er wußte ganz genau, daß ihm weder Hände noch Füße versagen würden, daß er sie hielte, ob er's wollte oder nicht. Und seine Augen konnten nicht mehr lassen von der anmutigen Gestalt,jetzt am allerwenigsten, wo ihr herrliches Ebenmaß in allen Bewegungen zur Geltung kam. Sie kletterte nicht mühselig und anstandslos wie eine Hüttenbummlerin.

Immer deutlicher trat es vor ihn, daß er nimmermehr von ihr lassen konnte. Zuweilen wurde ihm schwarz vor den Augen. Daß doch ein Stein sich seiner erbarmte, ihn erschlüge, daß er in ihren Armen sterben könnte! Je näher der Talgrund ihnen entgegenrückte,desto furchtbarer erschien ihm alles Kommende. Was sollte er noch da unten? Bis heute hatte er sich zurechtgeredet, wenn ihm seine Liebe zu Antoinette zu einem Hemmnis für seine soziale Mission an den Arbeitern werden sollte, so würde er schlechthin den Kampf gegen die Sünde aufnehmen und das Evangelium von der Erlösung verkündigen. Und nun? Wie sollte er den Vorkämpfer wider die Sünde spielen? Wie ein kreuzlahmer Hund, der mit zwei Pfoten seinen siechen Leib zur Futterschüssel schleppt, kam er sich vor.

Ohne ein Wort zu verlieren, überquerten sie den Gertengletscher. Schweigsam trotteten sie an der Klubhütte auf dem Achsnollen vorüber.

Mitten auf der einsamen, mutz abgeweideten Nollen alp hielt Antoinette an. Sie zupfte ihren Anzug zurecht und steckte sich die glänzend schwarzen Haare besser auf. Herrlich anzuschauen, lehnte sie einen Augenblick in natürlicher Anmut an einen Felsblock. Da las sie Heinz die Zerstösrung seines Friedens vom verdüsterten Gesicht. Teilnahme erglomm in ihren lieben Augen und begann sein Gemüt aufzuhellen. Er vermochte nicht,wie er gewollt, den Blick von ihr abzuwenden.

„Heinz,“ sagte sie plötzlich, „nicht verzagent Wir wollen dem, der unsre Herzen füreinander schuf, vertrauen. Er wird uns unsern Weg finden lassen. Sollten wirs nicht fertig bringen, in Freundschaft nebeneinander herzugehen ?

Aufs neue betört, zog Heinz sie abermals an sich und küßte sie in Verehrung auf die Stirne, und da er sie in seinen Armen fühlte, konnte er's nicht lassen und küßte sie auch auf Mund und Wangen. Nun riß sie sich los und sagte: „Laß Heinz, jetzt erst beginnt der schwierige Teil unsrer Gratwanderung. Auf Seillänge Distanz genommen, mit straffem Seil!“

Das müdungläubige Lächeln, mit dem Heinz die Parole beantwortete, brachte ihr Antlitz in zornige Glut. „Heinz!“ rief sie und bedeutete ihm vor ihr her zu gehen. Nach ein paar Schritten wandte er sich zögernd um:

„Soll ich dich allein gehen lassen und über die Achsenalp heimkehren?“

„Wähle, welchen Weg du willst!“ trotzte sie, „ich 8*0

8*werde mit dir ins Dorf gehen. Ich wüßte nicht, wem wir die Stirne nicht bieten sollten.“

Alein sind die Fensterchen an den schwarzbraunen Häusern des Ruhsetals und mit mancherlei Maienstöcklein verdeckt. Aber kleine Fenster, böse Mäuler. Als Peter Ganodegger den Pfarrer und des Ingenieurs Frau mit Pickel und Seil vorüberwandern sah, sagte er zu seiner Frau: „Die hei eppen wohl denen Murmellen vorem Ynschlafen no os Paradies uf Ärden verchündiget.“

Sonst aber hatte niemand acht auf die Heimkehrenden.War diesen auf dem Abstieg nicht aufgefallen, daß zur gewohnten Stunde die Sprengschüsse ausgeblieben, so fiel es ihnen jetzt ein, da sie beim Wirtshaus und an andern Stellen die Arbeiter in großer Menge herumstehen sahen. Und doch liefen erst die Spitzen der Nachmittagsschatten über die schäumende KRuhse.

Gegenüber dem Wirtshaus hockte eine lange Reihe von einheimischen Arbeitern in trotzigem Nichtstun auf der Kirchhofmauer, während draußen, gegen das Barackendorf hin, die Italiener, in Gruppen stehenod,heftig aufeinander einredeten. Es sah unheimlich aus.Heinz und Antoinette durchrieselte ein seltsamer Schauer.Ihren Worten weit voraus, hatten sich ihre Blicke verständigt: Jetzt, sagten sie, ist der Augenblick da. Wie oft doch hatten sie zusammen über die Not der Arbeiter gesprochen! Wie schön hatten sie sich im Entschluß verstanden, gemeinsam für die Rechte der Armen einzu stehent War denn nicht gerade das der Grund, auf dem ihre Herzen einander so nahe gerückt waren? Und doch schwindelte beiden ob dem Gedanken, daß sie nun ihren idealen Zielen näher gehen sollten. Unklar,was sie in den nächsten Stunden tun sollten, trennten sie sich, um vorerst ihren ermüdeten Gliedern Ruhe zu schaffen.

Lieblich und einladend wie immer lachten die wettergebeizten Holzwände und der weißgetünchte Unterbau des Pfarrhauses den Gemeindehirten an. Die kleinen Fensier mit ihren Nelkenstöcken hießen den Heimkehrenden willkommen, und doch traf ihn aus ihrem tiefen Dunkel etwas wie der strafende Blick eines frommen Můtterleins.In wirren Gedanken betrat Heinz sein Haus. Er warf den Rucksack auf den Kuchentisch und fragte die alte Köchin nach dem Vater.

„Sie haben ihn heut mittag geholt, und seitdem ist er nicht wieder heimgekommen.“

„Wer?“

„Die Arbeiter.“

Heinz erschrack. „Was ist denn los?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern lief, wie er war, in seinen Codenkleidern und Gamaschen gegen das Barackenlager hinaus, wo die Arbeiter in großer Menge müßig herumstanden. Halbwegs dorthin begegnete er dem Vater.Ohne ein Wort zu verlieren, gingen sie beide ins Pfarrhaus zurück. Erst dort stellte Heinz den Alten zur Rede:„Vater, du hast mir doch versprochen, dich nicht in die Angelegenheiten der Unternehmung zu mengen.“

„Wohl hab' ich,“ antwortete Hans Tillmann mit derbem Lachen. „Und nachgelaufen bin ich ihnen auch nicht. Aber, hol's der Kuckuck! Sie haben mich gefunden. Hier herausgeholt haben sie mich, als ob ich ihnen was schuldig wäre.“

Die Hände in den Rocktaschen, stand Tillmann in der Laube und blickte mit Kopfschütteln talwärts in die Ferne.

„Eigentlich,“ fuhr er fort, „müßtest du zufrieden sein mit mir, denn ich habe die Leute zur Vernunft gemahnt. Aber die Weit ist verschroben. Es ist einmal so hab's doch schon mehrmals erfahren wenn mal die Atmosphäre geladen ist, dann kann's hineinblasen in welcher Richtung es sei, das Wetter bricht los und schlägt ein, wo es will. Sagst du ihnen nein,so verstehen sie ja, sagst du ja, so hören sie nein. Ich kann nichts dafür.“

Mißtrauisch hielt Heinz den Blick auf seines Vaters Gesicht gerichtet. Hans Cillmann fühlte das. „Glaub mir's oder glaub' mir's nicht, Heinz, von der Leber weg hab' ich draußen bei den Baracken zu ihnen geredet. Aber probier's selber, wenn's einmal so weit ist.

Heute mittag hat die Unternehmung die Lohnerhöhung abgelehnt. Darauf ist die Nachmittagsschicht ausgeblieben.Die Rollbahnwagen haben sie umgeworfen und die Schmiedefeuer ausgehen lassen.“

Aber was wollten sie von dir, Vater ?“

Daß ich ihnen recht gebe. Da hab ich gesagt, was ich denke: „Kein verruchterer Wahn als der, die Menschen durch mehr Geld glücklicher machen zu wollen l

Ein erstaunter Blick seines Sohnes traf den Grautopf. „Ja,“ fuhr er fort und ballte beide Fäuste, „das ist so, das hab' ich am eigenen Leib erfahren. Glücklich ist der Gute, und durch alles Geld der Welt ist kein Abelwollender gut zu machen. Nicht die Armen allein müssen erlöst werden, Heinz, sondern vor allem die Vermögenden von ihrer Gelogier. Durch die Erlssung der Reichen allein ist dem Proletariat zu helfen.“

„Und das hast du ihnen gesagt 2“ Heinz lächelte.

„Ja, das hab ich.“

„Und was haben sie darauf geantwortet ?

„Bravo gebrüllt haben sie. Und dann hab ich weiter geredet: „Erlöst wird aber einer nicht dadurch, daß man ihn gewaltsam verhindert, seiner Gier zu frönen,sondern durch freiwilliges Begnügen.“

Immer mehr weiteten sich Heinzens Augen in Staunen.

„Und das sag' ich jetzt dir, Heinz“, ertklärte der Alte, „damit du verstehst, wie ich's meine: frei macht nur der, welcher auf des Himmels Herrlichteit verzichtete, um in Bettelarmut unter den Menschen zu leben und ihnen zu zeigen, wer glücklich ist. Aber das ertrugen sie nicht, sie haben ihn umgebracht und werden

4*ihn doch nicht los. Gelt, Bub, das wundert dich,so was von deinem bösen Alten zu hören? Aber weißt,ein Leben wie das meine bringt schon einen Steifnackigen herum.“

„Ja. aber und nun? Was werden sie nun tun ?“

„Ei, was werden sie! Die sind nicht gescheiter als die hunderttausend andern. Fortfahren werden sie.Ihren Kopf durchsetzen werden sie und den Mord fort manchem der Daumen in die Hand fallen. Jeder neu in die Welt Tretende fängt wieder von vorne an. Für die Allgemeinheit fällt aus eines jeden Leben nur ein Sandksörnlein ab,aus jeder Generation eine Staubschicht. Tausend Jahre Schöpfergeduld braucht's für eine Steinlage. Aber einmal wächst es schon zur Kreuzblume hinauf. Nur wird das Ganze anders aussehen, als die Weltverbesserer es sich vorstellen. Baumeister wähnen sie zu sein und sind nur Gerüstpfuscher. Das Blut der Opfer ihres Sroßenwahns rinnt ihnen über die ungeschickten Hände.“

Selten noch hatte Heinz seinen Vater so gesprächig gesehen. Vor Jahren, in der Känelmatt, war Redseligkeit bei Hans CTillmann gewöhnlich ein schlechtes Zeichen gewesen; heute aber war sie nicht durch Alkohol geweckt. Er sprach wie Einer, der in verborgener TCiefe einen Schatz entdeckt hat, von dem er nicht länger schweigen kann. Über dem Nachsinnen vergaß Heinz das Antworten und brachte damit auch den Alten zum Schweigen. Tange noch saßen die beiden in der finstern

Caube, wo man nichts mehr horte als das ferne Cosen der Ruhse, die unterhalb des Dorfes mit ihren eisigen Wassermassen in eine Felsenkluft niederdonnert.

Antoinette hatte bei der Heimkehr ihre Wohnung leer gefunden. Das war freilich nichts Ungewohntes.Marcel pflegte später heimzukommen. Hätten sich jetzt auch das alltägliche Rollen der Schotterzüge, der Wioderhall der Sprengschüsse, das hundertfältige Klirren der Pickel, das Scharren der Schaufeln in das Rauschen der Sturzbäche gemischt, so hätte Antoinette trotz der Störung ihrer Herzensruhe sich der Erfrischung ihrer müden Glieder hingeben und der Ruhe pflegen können.Aber die fiebernde Stille, welche sich um das Dorf gelagert hatte, schreckte sie auf. Mit brennenden Füßen lief sie in den groben Bergschuhen nach der Baustelle hinaus, wo Marcel in den letzten Tagen meist gearbeitet hatte. Aber dort lag alles verlassen. Frau Deliere näherte sich einem Trupp Arbeiter, um sie zu fragen, ob sie ihren Mann nirgends gesehen hätten.Es ward ihr aber weder Gruß noch Antwort zuteil.Aur höhnische und erbitterte Gesichter begegneten ihr.Sie, deren Liebreiz und Frauenwürde sonst jeden Mund und jede Türe öffneten, fühlte sich plötzlich inmitten dieser Arbeiter, denen sie doch viel Gutes getan, vollkommen fremd, sa beinahe geächtet. In dieses Unbe hagen drängte sich nun auch noch die törichte Empfindung, als spräche aus den wetterbraunen Gesichtern eine Verachtung, die nicht bloß der geängstigten Gattin des Betriebsdirektors galt, sondern der schönen Frau,die heute mit dem Pfarrer in die Berge hinauf geklettert war. Rascher noch als sie gekommen, kehrte sie ins Dorf zurück, wo sie endlich vernahm, daß Marcel nach der Arbeitsstelle im , Boden“ hinunter gegangen sei, um von dort nach Bern zu telegraphieren. Es ging das Gerücht, unterhalb Zwischenflüh sei der Draht zerschnitten worden. Das klang sehr unbehaglich. Was sollte sie nun tun? Seitdem die Eltern und Lilian in die Stadt zurückgekehrt waren, hatte Antoinette außer ihrem Mann und dem Pfarrer niemanden um sich, dem sie sich anvertrauen konnte. Heinz aufzusuchen hätte sie jetzt um keinen Preis über sich gebracht.Gestern noch würde sie ohne Besinnen bei ihm Hilfe gesucht haben. Jetzt war es unmsglich geworden, trotzdem sie wußte, daß der leiseste Wint genügt hätte, um den Pfarrer stundenweit nach Marcel laufen zu machen.Ja, sie war gewiß, daß er ihr für einen solchen Auftrag Dank gewußt hätte. Es blieb Antoinette nichts übrig, als in ihrer Wohnung das Weitere abzuwarten.Wie so ganz anders sah es nun plötzlich in ihrem Herzen aus! Der Gedanke, daß Marcel ein Leid geschehen könnte, die Aussicht, daß zum mindesten ein Sturm im Heraufziehen sei, der das Unternehmen und ihres Hauses Eristenz bedrohte, erzeugte in ihr V eine Ernüchterung voll tiefsten Unbehagens. Als könnte sie es dadurch los werden, warf sie die Sportkleider von sich. Was sie vor einer Stunde sich noch versagt,die Erfrischung ihrer müde gelaufenen Glieder, holte sie nun umständlich nach. Dann setzte sie sich an das Fenster des einfach getäferten, niedrigen Zimmers und spähte, so gut die Dämmerung es noch zuließ, nach der Straße, welche ihr Mann heraufkommen mußte. Das war so die Situation, in der sie zur Zeit ihres regelmäßigen einsamen Lebens mit einer Art mystischer Wollust den Gedanken an Gott und das ewige Leben nachgegangen war. Sie tat es auch heute, aber nun ward sie erst recht gewahr, wie innig diese Träumereien ihr verwachsen waren mit dem Fühlen für ihren geistigen Führer und Begleiter. Dem wollte und mußte fie abschwören. Antoinette wußte, von wo allein sie Befreiung zu erhoffen hatte. Beten wollte sie um gütige Beschirmung ihres Mannes in der drohenden Gefahr, beten um ein reines Herz, das sie dem Heimkehrenden zur Erquickung entgegenbringen dürfte, beten um Vergebung für ihren Irrgang, beten um Aufhebung des Unheils, das sie in dem Manne angerichtet,der als ein Priester Gottes vor allen andern eines heiligen, unverdorbenen Herzens bedurfte. Dieser Tempelschändung wollte sie nimmer schuldig sein. Nein,das mußte in Ordnung kommen. Ihn ins Verderben zu reißen, hatte sie ihn zu lieb.

Kaum witterte die Ringende einen Hauch der Befreiung, so zog es sie wieder in das Dunkel ihrer Qual hinunter.Endlich vernahm man Schritte schwerer Bergschuhe.

Antoinette beugte sich aus dem Fenster. Er war es.Kein Zweifel. Gott sei Dank! Die herumschlendernden Arbeiter hatten sich verzogen, so daß Marcel die Dorfgasse leer fand und unbelästigt die Haustür erreichte,wo ihn seine Frau mit Ausrufen der Erleichterung empfing. Daß sie ihn trotzdem nicht küßte, wie sie es doch sonst bei jeder Heimkehr von längerem Ausgang zu tun pflegte, fiel ihm nicht auf, weil die Aufregung des Tages ihm noch zu tief in den Nerven saß. Bei dem Imbiß, der seiner unter der heimeligen Petrolhängelampe des Speisezimmers wartete, leistete Antoinette ihrem Manne Gesellschaft. Crotz ihrer Müdigkeit verlangte sie teilnehmend Auskunft über die Auflehnung der Arbeiter. Marcel erwartete nichts anderes von ihr. Daß Antoinette neben der Teilnahme an seinen Sorgen noch das Bedürfnis leiten könnte, ihn von Fragen nach dem Verlauf ihrer für eine Frau verwegenen Kletterfahrt abzulenken, kam ihm nicht in den Sinn. Das andere stand nun doch allzusehr im Vorodergrunde.

Nach der kurzen Mahlzeit drehte Marcel seinen Stuhl seitwärts, stützte den linken Ellbogen auf den Eßtisch und steckte sich eine Zigarrette an. Düster vor sich hinblickend, blies er die Rauchringel in den dämmerigen Raum. Dann richtete er sich plötzlich hoch auf:von Tavel, Heinz Tillmann. 26

„Antoinette, du könntest uns in der Sache einen wertvollen Dienst leisten.“

Antoinette blickte überrascht auf.

Weißt du, wer offenbar der böse Geist unserer Arbeiterschaft ist? Der alte Tillmann.“

„Du glaubst ?“

„Kein Zweifel. Bis vor wenigen Tagen war das Verhältnis zu den Arbeitern das beste, das man sich denken kann. Auch nicht das leiseste Anzeichen von Unzufriedenheit. Seitdem der alte Strolch da ist, mottet es überall.“

„Und du glaubst wirklich, er sei es, der ... B

„Was hat der Kerl hier zu tun?“

„Heinz hat ihn zu sich genommen. Das war ja schon lange sein Wunsch.“

„Catsache ist, daß der Alte mit den Arbeitern verkehrt. Und heute war er in den Baracken. Eine Rede gehalten hat er dort.“

Antoinette sann vor sich hin. „Daß der Mensch nicht von uns lassen kann!“ sagte sie halblaut. „Es ist, als ob er uns sein Leben lang auf den Fersen folgen müßte.“

„Er ist eben doch eine Verbrechernatur.“

„Aber, sag mir, Lieber, wie dentst du dir, daß ich euch dienlich sein könnte ?“

„Nun, du weißt, mit Polizeigewalt wegschaffen tönnen wir ja den Aufwiegler nicht. Es wäre auch nicht klug. Aber Heinz ließe vielleicht mit sich reden. 403 Wenn irgendwer ihn dazu bringt, den Alten wegzuschicken, so bist du's. Willst du's versuchen ?

Antoinette lehnte sich mit einem Seufzer zurück. Ihr Blick streifte durch das Fenster die Dorfgasse, in deren Abzweigung der steinerne Unterbau des Pfarrhauses im Monoschein schimmerte. In ihren Augen war freilich Hans Tillmann immer noch der rohe Geselle, an dessen Händen das Blut ihres Oheims klebte, der Mann, welcher die Herrlichteit von Prankenau zugrunde gerichtet, der brutale Mensch, der von seinem Sohn das Opfer des Berufes gefordert. Nein,sie hatte für ihn nichts übrig. Aber ins Pfarrhaus ging sie trotzdem nicht.

Marcel drängte nicht; doch fühlte Antoinette, daß er von ihr den gewünschten Dienst bestimmt erwartete.

„Es ist doch wohl besser, du sprechest selbst mit Heinz; aber ich will ihn rufen lassen und dir beistehen.“schlug sie vor.

„Warum nun auf einmal wagst ou nicht mehr,unter vier Augen mit deinem Freunde zu reden, da du mir damit einen wichtigen Dienst leisten könntest? Antoinette schien etwas Mißtrauisches in ihres Mannes Augen zu flackern, das sie bis jetzt noch nie bemerkt hatte.„Gut“, sagte sie, „dir zulieb will ich's versuchen.“„Ich will dir nicht allzu Schweres zumuten. Aber ich meine, von dir würde Heinz die Sache leichter annehmen kõnnen. Gehst du nicht, so werde ich selbst mit 404 VD Ich werde ihn kurz und klar vor die Probe aufrichtiger Freundschaft stellen.“

„Ich will's versuchen,“ antwortete Antoinette. „Bring ich ihn nicht dazu, so kannst du immer noch selbst an seine Freundschaft appellieren.“

„Es wäre sehr lieb von dir. Aber ..... es eilt. Magst du jetzt noch? Bist du nicht zu müde ?

„Ich bin müde, das ist wahr. Aber ich will's lieber jetzt noch wagen.“

Marcel nahm Antoinettes Kopf zwischen die Hände und küßte sie auf Stirn und Augen. Diese Augen waren es ja doch, diese wundervollen, welche von Heinz das Opfer verlangen würden. Dann ging er, um einen Boten ins Pfarrhaus zu senden, und zog sich auf sein Zimmer zurück, indes Antoinette in fieberiger Aufregung den Tisch abräumte.

Ihr drohte das Herz stillzustehen, als nach kaum einer Viertelstunde die hölzerne Creppe unter schweren Mannstritten ächzte. Man hatte Heinz, der im ersten Schlafe lag, rütteln und ihm in die Ohren schreien müssen, daß ihn des Ingenieurs Gattin sofort zu sprechen wünsche, so laut, daß es sein leicht schlafender Hater viel eher gehört hatte, als Heinz. Mit der ganzen

Müdigkeit des heimgekehrten Bergsteigers in den ungelenken Gliedern war er hinaufgestapft. Bange Aeugier schnürte dem Aufgeschreckten die Kehle und ließ ihn das Versagen seiner Leibeskräfte doppelt empfinden.

Aber nun war er wach, ganz, und trat gespannten Blickes in das Speisezimmer. Mußte er sich vor seinem Jugenofreunde rechtfertigen oder Antoinette in Schutz nehmen gegen ihn oder .....? Er fand sie allein.In einem Haustkleid, das auch die Umrisse ihrer Gestalt völlig verbarg, stand sie im schwachen Schein der Hängelampe.

Marcel hielt im anstoßenden Zimmer einen Augenblick den Atem an. Die Unterredung begann sehr leise.Er hörte, daß seine Frau den Herberufenen mit einer ihm neuen Bestimmtheit zum Sitzen aufforderte. Nach dem Schall der Stimmen zu schließen, kehrte Antoinette der Wand gegen Marcels Zimmer den Rücken. Sie sprach fast allein, ausgiebig und leise. Nach und nach nahm sie den Confall dringenden Bittens an. Heinz schien nicht zu antworten, denn nach jeder Pause vernahm Marcel immer wieder die Stimme seiner Frau. Endlich schien auch Heinz zu reden. Er sagte etwas von unbegründetem Verdacht, von Irrtum. Die folgenden Sätze Antoinettes beantwortete er nach und nach mit einer gewissen Energie. „Es fällt mir nicht leicht“, hörte Marcel ihn sagen, „ich habe lange genug an der Schmach getragen, daß ich meinem Vater nicht Heim noch Obdach zu bieten vermochte.“ Dann wieder:„Er ist aber nicht mehr wie ehedem. Was er mir genommen, steht er im Begriff, mir mit reichen Zinsen wiederzugeben.“

Antoinette hub wieder zu bitten an. Endlich ward ein Stuhl gerückt. Heinz schien näher zu kommen.Deutlich vernehmbar sagte er: So versuch ich's dir zulieb und in der Gewißheit, daß die nächsten Cage schon den Irrtum Marcels an den Tag bringen werden.“ „Dir zulieb,“ hatte er gesagt. Waren sie nun schon auf du und du miteinander.?

Die jäh ausbrechende Eifersucht verwürgend, ging Marcel lauten Schrittes zur Cüre und trat im Korridor dem zur Treppe schreitenden Pfarrer in den Weg.

„Willst du mir die Bitte erfüllen?“ fragte er mit erzwungener Ruhe.

„In der Erwartung“, antwortete Heinz, „daß du meinem Vater Gerechtigkeit widerfahren lässest, sobald du klar siehst.“

„Das werde ich auch“, versicherte Marcel, „aber ich glaube, das Opfer einer Täuschung seist eher du als ich. Ich habe deinen Vater mit eigenen Augen bei den Baracken gesehen, und ich habe den Beifall gehört,den er erntete.“

„Er hat sie zur Ruhe gemahnt.“

Marcel lachte häßlich auf. Aber um der Sache willen versagte er sich die höhnische Widerrede. die ihm auf der Zunge schwebte.

„Sie scheinen freilich meinen Vater nicht verstanden zu haben,“ ergänzte Heinz.

„Aber sag mir doch: Wie kommt überhaupt dein Vater dazu, in die Sache hineinzureden?“

„Die Teute haben ihn aus dem Pfarrhaus geholt,weil sie ihn für einen der ihrigen hielten.“

„Das ist sonderbar, bei dem Mißtrauen, das sonst die LTeute beherrscht.“

„Ich weiß es nicht. Vielleicht hat ihnen jemand geraten, meinen Vater beizuziehen, weil er sich in solchen Sachen auskennt. Mag sein, daß der eine oder andere Arbeiter ihn von früher her kannte.“

„Dann versteh' ich's erst recht nicht. Dein Vater war doch selber Unternehmer.“

„Ja, das war er. Das ist's vielleicht gerade. Die Leute kennen sein Schicksal. Des Lebens Mühsal hat ihren Fingerabdruck auf seiner Stirn zurückgelassen.Das weckt ihr Vertrauen. Und sein bißchen Italienisch,das gerade so schön langt zu ei nem gründlichen Mißverstehen ...“

Marcel lachte. „Also nicht wahr. Lassen wir's nun auch auf einen Irrtum meinerseits ankommen!“

Darauf reichten sie sich die Hand, und Heinz verließ das Haus. Marcel fühlte sich verpflichtet, seiner Frau den geleisteten Dienst durch irgend eine Zärtlichkeit zu verdanken; aber da war etwas in ihm, das ihn hinderte. Antoinette schien es zu fühlen, und so begaben sie sich schweigsamer als sonst zur Ruhe.

*

4 *Andern Tages schritten zwei Männer das Ruhsetal hinunter. Da die Poststraße schon im vollen SonnenT 3 licht lag, hatten sie den alten vernachlässigten Saumpfad schattenhalb eingeschlagen, der es streckenweise nicht anders erlaubte, als daß die Wanderer hintereinander gingen. Das war den beioen gerade recht,denn sie hatten das Herz voll und mochten doch gegeneinander den Mund nicht aufmachen. Wohl anderthalb Stunden waren sie schon unterwegs und hatten beide kaum etwas anderes vernommen als das Brausen der Ruhse und dann und wann das Bimmeln einer Treichel,da sahen sie jenseits einen Einspänner die Sillernstraße hinanschnecken. Der Kutscher ging langen Schrittes hinter dem Chaislein her und ließ das Pferd ruhig in den gewohnten Karrgeleisen gehen, während der Fahrgast scheinbar eingeduselt ins blaue Polster hingegossen lag.

Da blieb Vater Tillmann, der voranging, stehn und blickte auf Heinz, der ihm den Rucksack trug, als wollte er ihn fragen: „Siehst du den da drüben?“

Froh über den Anlaß, endlich ein Wort reden zu können, sagte der junge Pfarrer, nachdem er das Wägelchen scharf ins Auge gefaßt: „Wenn das nicht Berni Bär ist ...!“

„Er ist's“, bestätigte der Vater. Was er weiter brummte, ging für Heinz im Rauschen des Flusses unter. Hans Tillmann sagte es auch mehr zu sich selbst: „Wenn der Teufel etwas anzettelt, so ist schon dafür gesorgt, daß es grad ganz krumm wird. Nun werden sie mir droben erst recht nicht mehr glauben.“

Es schien, als wollte er Heinz anreden, denn er tat einen Schritt näher zu ihm; aber plötzlich wanöte er sich wieder um und schritt kräftiger aus denn zuvor.

Als sie sich der Stelle näherten, wo der alte Saumweg mit der Straße zusammen in eine Felsenklamm schlüpft, in der das Cosen des Flusses erst recht alles Reden zu eitlem Bemühen macht, blieben beide, wie verabredet stehen, der Alte, weil er sich jetzt doch noch etwas vom Herzen reden wollte, der Pfarrer, weil er dem Vater sagen mußte, daß ihm Amtspflichten umzukehren geböten. „Also, Vater,“ sagte er, „wenn der Sturm sich gelegt hat, hole ich dich wieder herauf, und unterdessen ...“ Er hielt plötzlich inne. Der Vater hatte ihn derb an der Brust gefaßt und blickte ihm starr ins Gesicht. „Daß du's weißt“, sagte er, „wenn sie dann kommen und sagen, ich sei von Bern hinauf geschickt worden: Der Bär ist bei mir gewesen und hat mich dafür haben wollen, aber ich hab es ihm abgeschlagen. Den Arbeitern helfen wollt· ich schon, aber nicht so. Diese sogenannten Führer trotten allesamt hinter der Mammonshure her und sind um kein Haar besser als die verpönten Kapitalisten. Die Rollen tauschen wollen sie nur, und dafür bin ich nicht zu haben. Aber darum handelt sich's jetzt nicht.“ Derber noch faßte des Alten Faust in Heinzens Vock, als er fortfuhr und in Kraft der Stimme mit dem zürnenden Fluß wetteiferte: „Heinz, Bubt du bist nun wohl in Amt und Ehren, aber du bist nicht mehr der, der seinen Vater aus der Schmach holte. Betrüuge dich nicht länger selbst. Nicht der Arbeiter wegen willst du mich weg haben, nicht um die Unternehmung zu sichern,sondern weil du selbst vor mir Ruhe haben willst. Ich gehe. Will dir nicht im Wege stehen. Aber, vergiß nicht: Nach meines Nachbars Haus hab' ich getrachtet und mußte in meinem Wahn zuletzt unschuldig Blut vergießen. Und jetzt, wo ich gebüßt und meinen Frieden gefunden habe, gehst du und trachtest nach deines Nächsten Weib und ...“

„Vater!“ Heinz suchte des Alten Hände von sich zu lösen; aber der ließ nicht ab, sondern fuhr zornglühend fort: „Und bist doch ein Priester Gottes. Ich sag' dir, kehr' um, bevor's zu spät ist. Das ist mein letztes Wort an dich. Denk dran!

Hans Tillmann schnallte sich den Rucksack um und wanote sich zum Gehen.

„Aber Vater ...“

„Dent an deine Mutter, Heinz!“

Das war sein letztes Wort, bevor er, rasch ausgreifend, in der Wölbung des Felsens verschwand.

Einen Augenblick besann sich Heinz, ob er dem Vater nachstürzen, ihn zur Umkehr bewegen sollte.Dann warf er sich, mit beiden Händen in den Haarschopf fassend, ins Gras. Aber Angst und Unruhe scheuchten ihn wieder auf. Wie ein Gehetzter lief er den Weg zurück.

Als er nach zwei Stunden hastigen Anstieges in glühender Mittagszeit zum Dorfe hinauf kam, stanod die Dorfgasse voll Menschen. Es däuchte Heinz, so viele Leute könne Zwischenflüh noch nie gesehen haben.Man wich ihm aus wie einer Amtsperson, die da etwas zu sagen hätte. Auch das Pfarrhaus war dicht umstanden. Der Gemeindepräsident war da und redete ihn mit stockender Stimme an: „Der Cusig Gotts Willen, Herr Pfarrer. Grad jetzt sind sie mit ihm herunter gekommen.“

„Mit wem?“

„He, mit dem Oberingenieur, dem Delierre.“

„Was ist's mit dem ?“

„Erschlagen haben sie ihn.“

Heinz griff nach dem Treppengeländer. Was ?“keuchte er. „Ihr werdet mir doch nicht sagen ...“

Nun redeten mehrere auf den Pfarrer ein. Aus dem Gewirr klang immer wieder heraus: „Wäret ihr nur da gewesen, es wär' nicht geschehn.“

„Es ist Einer von Bern heraufgekommen, etwa vor einer Stunde. Aber es war schon zu spät. Der ist grad wieder weiter gereist, dem Paß zu.“

„Aber so sagt mir doch um Gotteswillen, wieso uno warum!“

Endlich kam der Gemeindepräsident wieder zum Wort: „Weiß nicht, wie das zuging. Aber heute morgen ist es wie ein Tauffeuer umgegangen, man habe Euren Vater fortgeschafft. Da hat's angefangen zu rumoren draußen bei den Baracken. Und als der Herr

Delierre hinauf ging gegen den Galmiboden, haben sie ihm den Weg verlegt und verlangt, daß man den Vater Tillmann wieder herauf hole. Da ist er, scheint's, böse geworden und hat ihnen gesagt, es gehe sie nichts an,sie sollen sich an die Arbeit machen, eher rede er nicht mit ihnen. Als er weiter ging, ist ihm der Haufe nachgelaufen. Immer die Italiener voran. Und neben der Straße her und vor ihm her sind sie gelaufen, haben gebrüllt und gedroht. Da ist er zuletzt stehen geblieben und hat einen Revolver aus der Casche gezogen. Aber zum Schießen ist er nicht gekommen. Die Nächsten sind auseinandergefahren. Einer ist rücklings gestolpert und hingefallen. Da haben sie von hinten Steine nach dem Herrn geworfen, ganz grobe. Und da ist's geschehen.“

Heinz vergaß die Amtsgeschäfte, um deren willen er so eilig zurückgekehrt war. Er ließ die Leute stehn und rannte nach Delierres Wohnung. Man ließ den Pfarrer ohne weiteres eintreten. Behutsam stieg er die knarrende Treppe hinan. Lysolgeruch schlug ihm oben entgegen. Die Türe zum Schlafgemach war nur angelehnt. Heinz öffnete sie nur wenig und spähte, den Atem verhaltend, hinein. Den Verwundeten sah er nicht. Eben beugte sich der Arzt über ihn und entnahm einer Schale, die Antoinette ihm hinhielt, Wattepfropfen.Bett und Boden zeigten Blutspuren. All das nahm Heinz kaum bewußt in sich auf. Ihn bannte die Gestalt Antoinettes, die, in äußerster Spannung, einer

Marmorstatue gleich, dastand. Es war, als hätte das Furchtbare des Augenblicks ihre Schönheit noch gehoben. Nichts an ihr schien zu leben als die großen Augen, die des Arztes Hantierung verfolgten. Das leise Knarren der Tür hatte sie auf eines Atemzugs Länge abgelenkt, und da hatte der Blick aus den dunkelblauen Sternen Heinz getroffen. Dann hatten sie sich zur Decke gerichtet, um ihn alsbald unter schmerzlichem Zucken wieder zu treffen, groß und starr. Keine Silbe ward laut, aber die Blicke schrien ihn an: Hilf mir,denn du bist mitschuldig an diesem Blute. Du hast mich den Weg zu Gott leiten wollen, nun bahne mir ihn!

Den Fuß in diesen Raum zu setzen, däuchte Heinz ein Frevel. Er wußte, welche Hilfe er Antoinette schuldete. Aber hier konnte er sie nicht leisten. In die Stille seiner Kammer trieb es ihn. Teise wandte er sich ab und stieg die Treppe hinunter. Es kam ihm vor, als schlösse das sonst so trauliche Pfarrhaus vor ihm Fenster und Türen. Wie einer, der, die Augen bedeckend,in einen Kampf sich stürzt, rannte er hinein, warf die Türe hinter sich ins Schloß. Mitten in seiner Stube,wo der Mutter Bild hing, fiel er auf die Knie. „Und du bist doch ein Priester Gottes!“ schrie es aus ihm.„Mutter, Mutter, sieh mich nicht an!“

Heinz betete kein Wort; aber seine Seele lag mit der Not von oreißig harten Lebensfahren vor Gottes Thron hingeschüttet.

Als die Nacht hereinbrach, wurde an die Haustüre geklopft. Durch das offene Fenster hörte Heinz, wie eine Mannsstimme der Magd trocken mitteilte, Herr Delierre sei soeben gestorben, der Herr Pfarrer möchte hinauf gehen, um das Nötige mit der Familie abzureden.

Bald darauf gab Heinz dem Sigristen einen Brief an Frau Delierre. Dann fah man den Pfarrer ohne Bergausrüstung den Weg nach der AchsnollenHütte einschlagen.

XXI.Marcel Delierre lag im Todesschlummer, hingestreckt mitten in seinem klug und kraftvoll geleiteten Tebenswerk, als Teiche noch achtunggebietend. Ein treuer Arbeitskamerad hatte soeben die Ehrenwache bei ihm angetreten und lauschte gesenkten Hauptes dem Nachtsang der fernen Wasser. Antoinette hatte sich zurückgezogen. In tiefster Einsamkeit lehnte sie am Fensterpfosten ihres Zimmers. Noch hielt ihre Hand den zerknitterten Briefbogen, auf dem zu lesen stand: „Ich bin deines Blickes nicht mehr wert. Laß einen andern den Freund begraben, dem ich das Beste geraubt. Ich will dort meine Sühne suchen, wo ich mein Unrecht Cat werden ließ. Lebe wohl.“

Das finstere Gewölbe des Leides war über ihrem Haupte geschlossen. Sie begehrte nach keinem Licht mehr,fragte nicht nach dem, was nun noch kommen würde.Daß der Brief einen aufrichtigen Entschluß enthielt,hatte sie mit ihren leiblichen Augen gesehen. Der ihn geschrieben, war vor einer Viertelstunde bergan geschritten, in die Nacht der verlassenen Alpen hinauf.

Lange währte es, bis sie sich wieder bewegte. Lautlos schritt sie hinüber. Unbeweglich stand sie am Tager ihres Lebensgefährten, als suchte sie in den erstarrten Zügen zu lesen. Der Wachende verließ das Zimmer. Als er nach einiger Zeit wieder einen Blick hineinwarf, sah er im flackernden Licht der Kerze Antoinette vor dem Bette knien. Sie legte des Toten Hände, die sie an ihre Lippen gezogen hatte, wieder ineinander. Einen Augenblick noch ließ sie ihren Blick auf dem Entschlafenen ruhen, dann wich sie rückwärts der Türe zu, den Blick starr nach dem fahlen Gesicht gerichtet. Plötzlich war sie verschwunden. Der Wachende trat ein. Er horte einige rasche Schritte im Nebenzimmer, dann im Korridor, und dann waro es still.

Stiller noch war es droben, auf der Nollenalp, wo nicht einmal mehr das Rieseln der Wasser zu hören war. Über einer zwischen schwarzen Felsmassen ausgespannten, frischen Schneedecke flimmerte in der verschwenderischen Pracht des Hochgebirgshimmels das unabsehbare Heer der Sterne, da und dort von einer Aebelfahne verhüllt, so daß die sichtbaren Sterngruppen noch größer und heller zu flackern schienen.

In dieser Verlassenheit suchte eine mühsam schreitende Frauengestalt die Stufen, welche in langer Reihe den sanftgeneigten Firn. durchquerten. Mehrmals sank sie hin. Mit dem Rest ihrer Kraft raffte sie sich immer wieder auf. Wie fern ist doch der erbarmende Cod!Mehr als einmal beschlich sie die Versuchung, sich auf die matt schimmernde Decke hinzulegen und sich dem zu überlassen, der so jäh ihr gefährdetes Glück zerbrochen, noch ehe sie Zeit zu seiner Rettung gefunden.Aber zuvor noch mußte sie wissen, durch welche Pforte ihr Freund in die Vergessenheit gegangen. Plötzlich sah sie in der Ferne ein mattes Lichtlein. Das konnte kein Stern sein, es lag zu tief. Ob er in der Hütte geblieben? Die Möglichkeit, ihn lebend zu finden,spornte ihre schwindende Kraft.

Bald darauf war Heinz, er höre Tritte auf dem Geröll vor der Hütte. Im ausflutenden Lichtschein sank, dicht vor der aufgerissenen Cüre, Antoinette auf die rohbehauenen Steinplatten. Ein Schrei der Erlösung entrang sich der Brust des Entflohenen. Rasch hob er die Erschöpfte in seine Arme und trug sie in die Hütte.

Auf die Pritsche hingestreckt, hauchte sie: „Heinz ...Heinz, nimm mich mit. Ich ertrage es nicht.“

„Nein,“ sagte er sanft, doch sicher. „Wir kehren an der Schwelle um.“

Ihre Augen weiteten sich zu staunender Frage.

„Ich habe den Tod gesucht und habe das Leben gefunden,“ fuhr Heinz fort. „Auf dem Wege zu den unergründlichen blauen Tiefen ist mir meine Mutter begegnet.“

„Deine Mutter ?“

„Die Sterne, die herrlichen, haben nicht abgelassen,meine Blicke auf sich zu ziehen. Da ist ein Abend aus der schlummernden Ciefe meines Geoächtnisses heraufgezogen, jener Abend, der uns zusammengeführt. Da haben die Sterne auch so wundervoll geschienen, und der Mutter Freude darüber ist mir in der Seele geblieben.“

Heinz!“

„Erinnerst du dich des Abenos, da sie im Schlosse das Lied gesungen haben von den goldenen Gassen, das seltsame? Mein Leben lang hat es in mir fortgeklungen.Aber das Brausen der Welit hat es übertsnt. Jetzt erst,in dieser heiligen Stille, ist es wieder laut geworden und klingt, klingt ... Antoinette, hörst du es nicht?Ich muß dir's sagen, was ich höre, muß dir zeigen,was mir aufgegangen.“

Antoinette blickte starr nach der Glutpforte des kleinen Hüttenherdes. Erschauernd sagte sie tonlos vor sich her: „Ich höre nur Seufzen, Stöhnen, Röcheln.“

Heinz legte ihr eine Wolldecke um die zitternden Schultern und schob Holz in den Ofen. Dann setzte er sich neben Antoinette, die, an einen Pfosten gelehnt,unverwanodt in das aufprasselnde Feuer blickte.von Tavel, Heinz Tillmann.27

„Ich weiß jetzt, was uns irregeführt hat, es ist der Irrtum aller Menschen und die Wurzel all unserer Not. Wir haben das Sehnen unsrer Herzen nicht verstanden, wir sind ihm nicht gefolgt in die goldnen Gassen der Stadt Gottes. Denn, weißt du, dorthin zieht die Sehnsucht, die aller Menschen treibende Kraft ist. Und weil sie ihr Gewalt antun und ihr Verwesliches in den Weg legen, geraten sie wider einander in Neid und Streit.“

„Ach, Heinz, das törichte Sehnen nach dem ewig Unerreichbaren, das uns quält und martert, weil unsre Fuße doch nie hinüberkommen.“

„Die Stadt Gottes schwebt nicht auf flüchtigen Wolken, nicht in blauer Zukunft, sie ragt mit all ihrer Herrlichteit herein in unser armes vergängliches Leben.Wir stehen vor ihren Pforten und wagen nur nicht hineinzugehen, weil uns Coren vor ihrer Reinheit graut ünd weil wir uns nicht entschließen können, die Lumpen abzuwerfen, mit denen wir das Gsottliche in uns vermummen.“

„Laß doch die unmöglichen, unverständlichen Wahngebilde denen, welche sie in Verzückung des Geistes gesehen zu haben wähnten. Ich habe es, wenn ich ehrlich sein will, nie verstanden und werde es nie verstehen. Wie sollen wir uns nur eine Stadt vorstellen,die gleich hoch, wie lang und breit ist ?*

Das ist bloß der Ausdruck für die Vollkommenheit ihres Baues. Aber laß die Bilder, die für den gemalt sind, der nur nach der Weise leiblicher Augen zu schauen vermag. Es heißt, die Gassen der ewigen Stadt Gottes seien von lauterem Golde wie ein durchscheinend Glas. Das will doch nichts anderes sagen, als daß die Menschen und ihr Wanoel lauter sein sollen. Die Gassen sind doch nur das Sinnbild des Verkehrs. Nun dente dir eine Welt, in der alles Tun und Tassen, Böses und Gutes in durchsichtiger Wahrheit geschieht! Ist das nicht allein schon einer brennenden Sehnsucht wert? Nur unerkannt vermag das Böse die Menschen zu bändigen.“

„Blick einmal zurück auf unser Leben, wie es verlaufen ist und wie es geworden wäre, wenn wir es in Lauterkeit gelebt hätten. Wäre mein Vater so tief zu Fall gekommen, wenn er gegen sich und andere lauter geblieben wäre? Hätte ich meine Mission an den Arbeitern verleugnet, hätte ich dein Glück zerstört,wenn meine Seele lauter geblieben wäre? Ich habe den goldnen Gassen, in die ich andere weisen wollte,selber den Rücken gekehrt. Wäre ich lauter gewesen,gegen mich und andere, wie meine Mutter es gewesen ist, nie hätte ich solches Unheil heraufbeschworen. Sieh,das ist es ja, warum die ewige Stadt keinen Tempel und kein Licht, weder Sonne noch Mond braucht. Gott wohnt in den lautern Menschen. Er ist die Wahrheit ihres Wesens und Wandels. Darum sind dort die Kleinen groß, und es bedarf keiner Firsterne noch CTrabanten.Glücklich, wem die Augen aufgegangen sind! Der sieht, daß diese Welt des Verderbens schon von goldnen Bassen durchzogen ist. Er hält sich zu den Kleinen und Niedrigen, in denen kein Falsch ist.“

„Heinz, Heinz! Wir aber sind verdorben und liegen im Elend vor den Toren. Wer gibt uns die goldene Tauterkeit wieder ?“

„Vergiß nicht. Zwölf Tore sinds, nach jeder Himmelsrichtung drei. In heiliger Zahl stehen sie allen Völkern und Richtungen offen. Sie stehen ununterbrochen offen allen, die Verlangen nach den goldnen Gassen tragen.Aber siehe, wie fein! Ein jeglich Tor besteht aus einer einzigen Perle. Was sind die Perlen? Das schmerzgeborne Erzeugnis einer Wunde des Muscheltieres, das in der dunklen Tiefe lebt, das edle reine, sanft schimmernde Erzeugnis eines Herzeleides. Selig sind die Zerbrochenen,denn sie werden vollkommen sein in der Stadt Gottes.“

„Heinz, Heinzt Führe mich durch das Tor meines Schmerzes.“ Antoinette lehnte ihr Haupt an des Freundes Schulter. Tränen lösten sich labend aus ihren brennenden Augen und glitzerten über Heinzens Kleid nieder. „Warum mußten wir in die Irre gehn, Heinz?Wir hatten uns doch auf das Gute verbunden.“

„Weil wir uns nicht im Spiegel der göttlichen Lauterkeit prüften. Die sich im Verweslichen suchen,finden sich im Verderben. Wir meinten das Gute zu wollen, aber wir wandelten nicht in goldenen Gassen.Aun die Schranke gefallen ist, die uns trennte, solange wir im Verweslichen uns suchten, laß uns aufeinander verzichten, damit unsre Irrfahrt gesühnt sei. Getrennt,werden wir doch ewig eins sein, wie alle, die in goldnen Gassen wandeln.“

„Ewig eins.“ Antoinette hüllte sich tiefer ein. Sie erschauerte trotz des Feuers. Aber aus ihren Augen leuchtete neues Leben.

„Brechen wir auf!“ sagte Heinz, die Glut des Ofens löschend. Noch haben wir ein gefährlich Stück Weges durch die Nacht. Aber der Tag soll uns bei der Pflicht finden. Du, gehe hin und gib der Erde, was von ihr genommen ist. Hinfür aber laß uns in Tauterkeit die Liebe Gottes kundtun. Ich weiß nun auch, was ich denen zu sagen habe, die mir anvertraut sind. Nicht mehr Kampf um Brot, Recht und Freiheit ist meine Losung, sondern offene Bahn zum LTeben in goldenen Gassen.“

„Laß mich's noch einmal hören, das Lied, damit es mir fortklinge als der Nachhall unserer zerbrochenen Liebe?Leise hub Heinz vor dem Abmarsch zu singen an,und bald klang es zweistimmig über das nächtliche Firnfeld:Ich bin zufrieden,

Daß ich die Stadt gesehn,

Und ohn Ermüden

Will ich ihr näher gehn

Und ihre hellen, gold'nen Gassen Lebenslang nicht aus den Augen lassen.

Der Himmel lichtete sich kaum merklich über den duntlen Zinnen der gegenüberliegenden Berge, und im Rauschen der Bäche schlummerte das Tal mit all seinem Leid, als Heinz sich von Antoinette verabschiedete. Er wandte sich talwärts, seinen Vater zu suchen.

Noch lag Morgenfrische auf Fels und Busch, als er nach mehrstündigem Marsch den Rücken des Bolgen erreichte. Wie staunte er, als er an der Stelle,wo er einst den ersten Blick in das Ruhsetal getan,seinem Vater begegnete!

„Ich wußte, daß du kommen würdest,“ antwortete der Alie auf seine Überraschung. „Ich habe mir vorgenommen, täglich hieher zu kommen, um dir meine Arme, die du doch wohl noch brauchen kannst, zu öffnen.“

„Vater, Vater, kannst du mir vergeben?“ Heinz hatte sich seinem Vater um den Hals geworfen. Nicht er vergoß Tränen, sondern der alte, in Leid und Sorgen hart gewordene Mann. Es dauerte ein Weilchen, bis er, aus der Umarmung des Sohnes sich lösend, es herausbrachte: „Hab' ich dir nicht gesagt, es werde noch Blut fließen? Hab' ich dich nicht vor dem Tillmann gewarnt?“

„Vater, vergib mir nur, so kann ich wieder zum Leben ausschreiten. Denn ich habe das Leben entdeckt,wahrhaftig, erst jetzt, nachdem all mein Streben gecheitert ist. Gott hat mir die Sehnsucht der Mutter offenbart, die große unverwesliche Kraft, die ich in ihrem Schoße empfing. O Mutter, die Blume deiner 17*53 lautern LTiebe ist in mir aufgegangen, um ewig fortzublühen, ein Labsal allen, die mir begegnen werden,ein Weg in die goldnen Gassen.“

„Was hätte ich dir zu vergeben?“ antwortete der VDater. „Uns beiden hat die Liebe der Mutter, die ich mit Füßen getreten, den Weg ins Leben gebahnt.“Verlag von A. Francke in Bern Rudolf von Cavel 7 14 Berndeutsche Novellen. BuchFamilie Tandorfer. schmuck e von 8 Umschlagzeichnung von Rudolf Münger.l. Band: Zä gall, so geit's! S luschtigi Gschicht us truuriger Zyt.8. Auflage. Gebunden Fr. 7. .II. Band: Der Houpme Lombach. 5. Auflage. Gebunden Fr. 7. .sI. Band: Gstti und Gotteli. 4. Auflage. Gebunden Ir. 7. Band 1AIII in Futteral zusammen Ir. 21. .