The text was transcribed from the transcription from UB Basel, which is based on the 1920 edition. The page breaks, chapter divisions and chapters were taken from scan from UB Basel, which is based on the 1920 edition.
Mir ist mitten in dieser öden Winterszeit, da bleigraue Wolken das Land überwölben, als sähe ich ihn noch, den kleinen Heini Tillmann mit den ja, auch bleigrauen, aber in warmer Treuherzigkeit leuchtenden Augensternen und dem immer verstrubelten braunen Lockenschopf, wie er im Riedgras liegt und mit einem dürren Ästchen winzige feine Bächlein auf die „heiße Platte“ leitet. Die „heiße Platte“ nannten sie im Werlental einen anderthalb Ruten großen Gletscherschliff, der abgeschürft in der Berghalde lag. Im Frühsommer heizten die Sonnenstrahlen just während der Nachmittagsschule den kahlen Stein derart an, daß die heimkehrenden Kinder ihren Spaß daran fanden, einander die Hände auf den Fels zu drücken. Der VögeliRuedi setzte seine kleinen Kolleginnen immer damit in Staunen, daß er Phosphorhölzchen an dem heißen Stein in Brand setzte angeblich ohne zu streichen.
Für den herrlichen Sommerduft, der sich über die Wiesen des Tales und die dunklen Wälder der Hügelketten legte, hatte Heini keinen Blick, nicht einmal für die Schneeberge, die zwischen Ballenbühl und Belpberg herein den durch baumreiche Schächen in die weite Welt hinausfliehenden Gletscherwellen der Aare nachstaunten.
Die große Uhr drunten am käsbissenförmigen Kirchturm von Schöchwyler hatte gut mahnen; Heinis einziges Augenmerk galt den schillernden Dämpflein, die wie Elfenschleier von der „heißen Platte“ in die lachende Tichtflut des Himmels entschwanden.
Plötzlich aber spürte der träumende Knabe etwas mächtig Schattendes herankommen, und noch bevor ihm klar zum Bewußtsein gekommen, was das zu bedeuten hatte, stand schwer und groß der Vater hinter dem aufgeschreckten Büblein. Jäh durchzuckte den Kleinen die Erinnerung an den neben ihm im Gras versunkenen Henkelkorb, an den Gang zum Krämer, die Schule, die längst verlaufene Kinderschar, die fernen Glockenschläge von Schöchwyler, die Heimkehr und an die Mutter. Potz Kuckuckt Der Vater schon da und ich noch nicht daheim! Heini beachtete auch jetzt noch nicht, daß ja die Schatten des abendwärts liegenden Amselberges noch gar nicht über die Werlen herangeschlichen waren, daß also der Vater früher als sonst heimgekommen sein mußte. Er schnellte auf, zupfte sein Röcklein herunter, wunderte sich, daß er noch keinen Bretsch auf seinem Sitzlederchen fühlte und noch mehr,daß der Vater das Sumpfgemälde auf seinen Zwilchkleidern nicht einmal zu bemerken schien, während Heini doch die Nässe bis aufs Bäuchlein herein verspürte.
Diese Empfindungen waren sich blitzschnell gefolgt und wurden alle miteinander ausgewischt durch des VDaters Frage: „Was treibst du da?“
Nun tat Heinis Herz einen Hupf aus der Angst.„Schau, wie das dampft,“ sagte er schnell und wollte den Vater für sein Spiel interessieren. Aber der sah nicht einmal hin, hieß vielmehr durch eine Handbewegung sein Söhnchen den Korb aufnehmen und schritt ihm voran dem Wege zu. Der Weg schlängelte sich auf halber Höhe dem weiten Graben entlang, der die große Tallehne durchschneidet, kreuzte beim Kehrhüsi die Straße,die in groß hingezeichneten Serpentinen das Werlental mit dem östlichen Hochplateau verbindet und über dessen waldige Hügelzüge ins Emmental sich verliert.Vom Kehrhüsi schlüpft der Fußsteig durch eine Verengerung des Grabens in die Känelmatt hinauf, eine weltabgeschiedene, flachgründige Mulde, die vor Zeiten ein Bergseelein geborgen haben mag. Jetzt standen da sonnenhalb ein ansehnliches Bauernhaus und etwa hundert Schritte herwärts ein Stöcklein. Hier wohnten Tillmanns. Das Heimet war anzuschauen wie der leibhaftige Friede auf Erden, in Sonderheit das Stöcklein.Dor seiner weißgetünchten, durch dunkelbraune Balken in drei und viereckige Felder geteilten und von einem gewalmten Bernerdach gekrönten Fassade lag ein mit niedrigen Buchshecken ebenso ordentlich abgeteiltes Gemüsegärtlein, aus dessen Zierbeeten schlanke Rosenstämmchen ihre duftstrsmenden Maien emporhielten.Zu beiden Seiten bauschte sich das dunkelgrüne und elfenbeinfarbene Gescheck üppiger Hollunderbüsche, und etwas abseits standen in einem offenen Häuschen zwei
Reihen altmodischer Bienenkörbe, umschwärmt von honigschweren Völkern. Gegen Morgen rankten sich blühende Bohnenstauden in einem stattlichen Wälochen von hochragenden Sticheln empor, und daneben grinste in farbenfreudiger Zugskolonne eine Kompagnie Kohlköpfe zu der silberig flimmernden Pappel hinauf, die wie ein Kampanile das Stöcklein behütete.
Wenn trotz alledem den Bewohnern des Stöckleins in diesem Paradies nicht ganz so wohl
war, wie man meinen sollte, so waren daran nicht etwa die kleinen Verhältnisse oder die
Einsamkeit schuld, auch nicht die harte Pflicht, welche den arbeitsamen Vater Tillmann an
jedem Werktag in die brausende Welt hinausrief,sondern etwas, worüber jeder Weltweise
hellauf lachen müßte. Da guckte nämlich über den schön abgerundeten Hügelwalm, der wie ein
mütterlicher Arm die Känelmatt von der übrigen Welt abschloß, etwas wie eine versteinerte
Riesenknospe, und das war der stilvolle Firstknauf des Schlosses Prankenau. Ja, dieser
seit mehr als hundert Jahren an den mächtigen Firstbalken geschmiedete
guirlandengeschmückte Topf drohte, weiß Gott,zur Aschenurne von Hans Tillmanns Seelenruhe
zu werden. So oft er morgens aus dem obern Stock auf die Laube hinaustrat, warf ihm der
Knauf den ersten Sonnenstrahl entgegen, und abends, wenn er noch sein Pfeifchen auf der
Laube schmauchen wollte, um den letzten Sonnenhauch auszutkosten, saß ihm der kokette
Schattenriß mit seinem ganzen hohlköpfigen Rokoko
Heini hatte schon hin und wieder seinen Vater etwas wider den Knauf brummen gehört. Was
es damit für eine Bewandtnis hatte, war ihm unklar. Einmal hatte er danach gefragt; aber
er tat's nie wieder. Das war sicher. Ärgerte sich die Mutter über das Gepolter, so
tröstete sie Heini: „Wart nur, wenn ich einmal groß bin!“
„Was ist jetzt das wieder ?“ schalt sie in der Küche.„Heini, wo bist?“ Der Kleine wollte sich treppab stehlen; aber der Mutter Befehl, hereinzukommen,kreuzte seinen Schleichweg. Da half nichts. Hinein mußte JungHeinrich, in die Küche, wo 0 Schreck das Körblein ausgepackt auf dem Tische stand.
„Wo bist mit dem Korbli gewesen 7*
Dda war weder Stimme noch Antwort. Bange Ahnung erstickte jeden Entschuldigungsversuch. Es hätte auch der väterlichen Aufklärung nicht bedurft, als die Mütter den mit Zuckerwasser getränkten Boden des Korbes zeigte und schimpfte, auch das Mehlsäcklein sei „drecknaß“ bis halb hinauf.
„Dir will ich das Koseln austreiben,“ sagte der Vater, und auf einmal schwebte Heini
Cillmann in des Vaters linker Hand, wie weiland Ganymed in den Alauen des Adlers, auf die
Laube hinaus, und tat vor Angst genau dasselbe wie der kleine Ganymed, der vor Heini nur
den Vorzug genoß, keine netzbaren Höslein anzuhaben. Der Vater das war Erfahrungstatsache
kriegte den herzförmig geflochtenen Möbelklopfer immer verkehrt zu fassen, wenn's an
lebende Wesen ging. Seiner im Garten arbeitenden Schwester Röseli vermochte Heini mit
Aufbietung aller Energie das Wehegeschrei vorzuenthalten; aber das wupp
II.Ein Sinnbild jugendlicher Lebenslust schoß der große Springbrunnen von Prankenau in
das dämmernde Gewölbe der Roßkastanienbäume, welche soweit über den runden Teich
hereinragten, daß nur noch ein kleines Stück blauen Himmels über der Mitte frei blieb.
Seit Jahren schon hatte keines Gärtners Messer mehr dem Wachstum gewehrt. Und kaum öfter
als einmal des Jahres befreite jemand den Spiegel des kristallhellen Wassers von den
grünen Schlamminseln, durch deren Risse und Lücken man die rotgoldenen Fische
herumschwänzeln sah. Wenn ein dürrer Ast in den dichten Kranz schöner Schilfgewächse
gefallen war, so konnte es Monate dauern, bis semand das Holz herauszog
Auf der entgegengesetzten Seite ließen die zur Erde nieder hängenden Aste einen schmalen
Ausgang frei.Da sah man einen schnurgeraden, mehrere Terrassen in Treppen überwindenden
Gartenweg zum Mittelportal des Schlosses hinaufführen. über eine dieser Treppen herunter
nahten eine schlank gewachsene jüngere Dame, ein großer, eingetrockneter Herr mit weißem
Schnurrbart und ein ungefähr siebenjähriges Mädchen.Am Fuß der nächsten Creppe blieb der
Herr stehen und wies unter lebhafter Bewegung nach den Treppenstufen und der
Terrassenmauer, in deren Ritzen ein kleiner Urwald von Farnkräutern wucherte. Das Funkeln
seiner blutunterlaufenen Augen konnte man des verwaschenen Panamahutes wegen nicht sehen.
Aber das energisch vorgestreckte Kinn und die nervösen Bewegungen seiner Hände ließen von
weitem erkennen,daß der vereinsamte Schloßbesitzer seinem schönen Besuch eine Vorlesung
über den unerschwinglichen Unterhalt
Die kleine Antoinette war an den Teich vorausgeeilt, was die Dame bewog, einen rascheren
Schritt anzuschlagen. Leicht, vornehm und entschlossen ging sie,den trippelnden Herrn
hinter sich lassend. Der nahm den Hut ab, zog aus seiner zwilchenen Gartenjacke das
Taschentuch und wischte sich das bronzefarbene Grenadiergesicht ab. Herr Scipio von
GuldwangPrankenau hatte als junger Offizier des 4. Schweizerregiments Catania erstürmen
helfen und vor Palermo eine ehrenvolle Narbe davongetragen. Trotz dem Einsiedlerleben der
letzten Jahre hatte er jene sorgsame Selbstachtung noch nicht eingebüßt, die dem jungen
Offizier anerzogen wirod. Jetzt trug sie ihm neben dem Respekt auch schon ein gewisses
spöttisches Lächeln seiner bäurischen Nachbarn ein. Sie wußten zu gut, daß der Alte keine
Gewalt über sie hatte. Der Frau seines Neffen Fernand hingegen sagte das ergraut
Kavaliermäßige sehr zu.Sie weilte gerne in Prankenau. Bis vor kurzem noch hatte das
Bewußtsein, die Sonne des Martinssommers um den Onkel zu verbreiten, für sie einen
Hauptreiz der Aufenthalte im Schloß ausgemacht, und deshalb wollte sie sich durchaus nicht
in den Gedanken finden,
Dem alten Herrn wurde die Taktik seiner Nichte von Jahr zu Jahr unbequemer. Im Laufe des
Winters festigte er seinen Entschluß, Prankenau zu verkaufen. Und hatte ihn das
Neusahrsdiner bei seinen VDerwandten in der Stadt ins Wanken gebracht, so verhärtete er
sich hernach desto mehr in seinen Absichten.Zog aber mit Frühlingserwachen auch die Anmut
der
„Wir müssen eben von neuem geboren werden.. *
Über diesen aus dem Schatz ihrer religiösen Reflerionen geschöpften Einwand seiner Nichte geriet der alte Herr in lebhafte Erregung. „Paperlappapp u rief er und fuchtelte mit beiden Händen in der Luft herum,was die Dame in tiefe Verlegenheit brachte, denn in der Stille ihres Herzens fühlte sie sich berufen und verpflichtet, Onkel Scip sachte, sachte einem seligen Heimgang entgegenzuführen.
Schweigsam träppelten sie wieder den Garten hinan,er innerlich polternd, sie meditierend, ja eigentlich betend. Da zuckte in ihre Gedankengänge ein eigentümliches Geräusch. Pägg! hatte es hoch oben, auf dem Dach des Mittelbaues, gemacht. Das nahezu siebzigjährige Ohr des Offiziers ließ sich nicht täuschen. Er blieb wie angewurzelt stehen, blickte ringsherum in die Felder und sagte: „Je parie que c'était le projectile d'un fusil. Die verfluchten Bauern!“ Und den ungläubigen Blick seines Gastes erwidernd, fuhr er fort:
„Froh sein dürfen wir, wenn's nur in die Häuser schlägt und nicht in unsre Köpfe. Canaille!“J
Je 49 Zweimal schon hatten seit jenem Besuch der Frau Dorothea die Pflüge ringsum die
Grasnarbe gewendet,und zum zweitenmal odroschen die Bauern ihre Garben,während die Nebel
zwischen den roten Waldsäumen das Werlental überspannen; aber niemand merkte etwas von
einer Veränderung in Prankenau. Und doch mußte da etwas Besonderes vor sich gegangen sein.
Eines Abenös nämlich nahm Mutter Tillmann ihre beiden Kinder bei der Hand, schloß hinter
sich die Haustüre und wanderte mit ihnen dem Schlosse zu. Ihr Mann war seit mehreren
Wochen als Bauführer bei einer großen Entsumpfung im Oberland beschäftigt und verwöhnte
seine Familie nicht mit Briefen. Sonntagsbesuche machte er daheim nur, wenn er damit einen
geschäftlichen Zweck verbinden konnte. Er gehörte zu den Leuten, denen der Erwerbssinn zur
Religion geworden,die aus jeder der Beschaulichkeit geopferten Stunde eine Sünde machen.
Jeder arbeitsfähige Mann, der nicht in Arbeit sein Leben hinbrachte, war in seinen Augen
ein gemeinschädliches Subjekt, dem in einer Zwangsanstalt der Müßiggang abgewöhnt werden
sollte. Frau Tillmann achtete den Fleiß ihres Mannes, aber sie litt unter seiner
Verachtung aller Feiertagsbedürfnisse.Frau Verena war sich genau bewußt, daß sie mit dem
von Tavel, Seinz Tillmann. 2
Gang ins Schloß in ihres Mannes Herzen einen gewaltigen Zorn entfesseln würde. Aber, sagte sie sich,läßt er mich so lange allein krebsen mit den Kindern,so will jetzt einmal ich sagen, was gehen soll, und für das Seelenheil meiner Kinder bin ich halt doch einem Andern verantwortlich. Endlich einmal ein erquickender Ton aus einer andern Welt, wo nicht die Hetzpeitsche den Takt schlägt, ist für unsereins nicht zuviel verlangt.Ist Hans wieder daheim, so haben wir Sachariä zum Längsten gehört.
Röseli ging seelenvergnügt neben der Mutter her.Heini dagegen hätte seinen ganzen Kaninchenstall drum gegeben, hätte er einen schicklichen Vorwand entdeckt,seiner Mutter die Gefolgschaft ins Schloß zu versagen.Hätte er nicht eine unerbittliche dreitägige Diät mit Kamillenschwemmung zu gewärtigen gehabt, er würde noch vor dem großen Hoftor alle ihm bekannten Symptome des wütendsten Bauchgrimmens vorgetäuscht haben.Schon zu groß, um hinter den Röcken der Mutter Deckung zu suchen, schlich er scheu und „chlüpfig“ zwischen ihr und der Schwester her. „Du bist jetzt auch ein dummer Bub,“ schalt Frau Cillmann, „tu doch nicht,als ob man dich denen vom Schloß wollte zu fressen geben.“
Durch den mit Hirschgeweihen reich geschmückten Kreuzgang, der den Schloßbau in vier
Teile schnitt,gelangten Tillmanns mit andern Leuten in einen getäferten Saal, von dessen
Wänden große dunkle Bilder
So war Heini Tillmann unter den Dachknauf von Prankenau gekommen. Wie war denn das
moglich geworden? Des alten Herrn Wunderlichkeit und Eigensinn hatten sozusagen mit jedem
Monat zugenommen, zugleich aber auch seine Wehrlosigkeit gegen den Charme seiner Frau
Nichte, die nach und nach alles durchsetzte, was ihr gut schien. Freilich, als sie dem
Oheim zum erstenmal mit der Zumutung kam,den sehr erholungsbedürftigen Pastor Sachariae
aus Barmen auf einige Tage ins Schloß zu nehmen, da hatte sich der Grimmbär mit wütender
Gebärde er
An einem trostlosen Regentag war's, der nicht einmal einen Gang durch den Park,
geschweige denn eine Hasenpirsch gestattete. Von Einwintern war noch lange nicht die Rede.
Und so klimperte die Langeweile mit den Cropfen der rostzerfressenen Dachrinnen auf
allem,was Klang geben wollte. Da huschten zwei lieblich federnde Füße durch die grämlich
träumenden Korridore, und bald darauf klirrte, von den mit höchster Kunst gepflegten
Händen getragen, ein silbernes Plateau auf den Schreibtisch des Herrn von Prankenau. Ein
sehr ungleiches Paar, standen auf dem Plateau ein lustig kicherndes Kelchglas und eine in
Staub und Spinnweben erblindete Flasche. Kein Mensch hätte die Etikette zu lesen vermocht.
Aber „man“ wußte, wo der dunkelgoldene Vittorio vom Hause Hirzel in Palermo in
Bereitschaft lag. Daneben stand eine Schale mit Bretzeln, Bretzeln, wie sie nur von den
Köchinnen der alten Landsitze gebacken wurden. Welche wunderliebliche Energie spielte in
den herrlichen Händen Doro
Der alte Herr lachte: „Jetzt sehe ich doch, daß diese Hände auch noch was anderes können als im Betbuch blät .....“
Sie hatte sich mit graziösser Drohgeberde vor ihn hingepflanzt und schob die Flasche hinter sich.
„Was soll das?“ schalt sie. „Onkel Scipio, jetzt muß ich einmal ein sehr ernstes Wort mit Ihnen reden.“
„Sacre double! Wenn Sie mir den Tropfen nicht vergällen wollen, so sparen Sie Ihre Tiraden! Fir!Geben Sie her!“
Er tat, als wollte er seine Nichte wegschieben. Sie aber legte ihm den ausholenden Arm mit kräftigem Druck auf die Lehne des Fauteuils uno setzte sich, die Flasche noch weiter schiebend, halb auf den Schreibtisch. „Spaß beiseite, Onkelchen,“ sagte sie, „Sie ahnen gar nicht, was für einen ausgezeichneten Mann Sie im Hause haben. Tausende kämen stundenweit gelaufen,wenn sie diese Gelegenheit hätten ...“
„Wuäh wuäh!“ krächzte belustigt der Hartgesottene.
„Es wäre wirklich nicht zu verantworten, wenn Sie nicht wenigstens einmal den Versuch machten, ihn anzuhsören. Sehn Sie, ich weiß schon, warum Sie nie in eine Predigt gehen. Das kommt nur daher, daß
Sie niemals einen wirklich guten Prediger gehört haben.“
„Was? Gelbschnabel Sie! Unsere Feldprediger ...“
„Eben, gerade die! Das müssen so eine Art von Profoßen ...“
„Bitte?“„Also, fertigl Sie haben überhaupt noch nie eine rechte Predigt gehört, und hier handelt es sich zudem um etwas ganz anderes. Ihr Gast ist kein zudringlicher Bußprediger, sondern ein Mann, der mit besonderer Erleuchtung Blicke in die Herrlichkeit des Jenseits getan hat. Hie und da einmal sich auf das ewige Leben besinnen, kann nichts schaden. Onkelchen, tun Sie mir den Gefallen, ihn nur ein einziges Mal anzuhören.“
„Ach was! Eben gerade das mag ich nicht leiden.Was sollte denn so einer mehr sehen vom Jenseits als andere Menschen. Was unsereiner nötig hat, wäre so alle paar Jahre einmal eine verflucht gesalzene Schweize, die den Sündendreck abfrißt wie Ätzwasser.Aber dazu müßte ein anderer her, sapristit Und überhaupt, mir ist's noch gar nicht um den Abmarsch zur großen Armee.“
„Onkel Scipio, um Ihre Sünden ist's ja gar nicht zu tun. Ich meine bloß, man sollte doch die prächtige Gelegenheit nicht versäumen. Sie brauchen ja nicht einmal dabei zu sein. Aber ich möchte es nicht verantworten, daß man den vielen Leuten hier herum den großen Segen vorenthält, den ...“
„Wa... wawawaß!“ Des alten Herrn Augen sprühten Feuer. „Was gehn mich diese Leute an?“
„Ich meine nur... Sie brauchen sich in keiner Weise zu derangieren. Sie sollen mir nur erlauben, daß ich irgendwo unter Ihrem Dach einen Raum herrichte, wo.. *
„Wohl gar noch in meinem Salon, daß es drei Cage lang nach Halblein und Kuhmist duftet! Nein, meine Liebe. Und daß man hernach im Lande herum die Kopfe zusammensteckt und sich zuwispert: der alte Scip ist unter die mömiers gegangen. Er will wohl himmeln, he? Non non, ma chère!“
Er wollte sich erheben; aber Dorothea schob ihn sanft in den Lehnstuhl zurück und sagte: „Also, ich will Sie nicht länger quälen.“ Nun schenkte sie ein Glas voll des herrlichen Weines, nippte daran und hielt es ihm mit einem entzückenden Lächeln hin, indem fie sich auf die Armlehne seines Fauteuils setzte und den linken Arm um seinen Nacken legte, genau so, wie wenn man einem lieben Kranken einen Labetrunk reichen will. Aber sie wartete umsonst auf das gutmütige Lächeln des alten Kindes, mit dem er sonst ihre Schmeicheleien erwiderte. Und ihr Duft schien das Dunstgebräu von kaltem Knaster und Eau de Cologne,das seine Kleider atmeten, diesmal nicht überwinden zu können.
„Onkelchen, nicht wahr!“ schmeichelte sie ganz nahe an seinem Ohr. Das Glas in der Hand, fragte er barsch, als ob er nicht verstünde, was sie wolle: „Was ?“
„Onkelchen! Den süßesten Kuß bekommen Sie von Dorothea, wenn Sie ihr erlauben, ein paar Teute ins
Schloß zu laden...“ Ganz nahe fühlte der alte Herr ihren Hauch. Da raunte in ihm etwas: Wenn du etwa glaubst, dein Onkel sei ramollo, so irrst du dich, Kleine.Mit einem Schluck war das Glas leer. Er machte sich von ihr los, stand auf und ging zur Cüre. Dort wandte er sich noch einmal um und rief: „Geht ins Ofenhaus oder in die Remise!“ Und hinter ihm fiel die eichene Türe ins Schloß.
Einen Augenblick war Frau Dorothea betroffen und ärgerlich. Sie schämte sich der verschwendeten Zärtlichkeit, empfand einen stillen Zorn über die Ablehnung seitens des alten Kavaliers und überlegte, ob sie nicht stracks nach Bern verreisen wolle. Dann aber meldete sich in ihr das bescheidene Criümphlein. Es roch ein klein wenig nach Romantik und Glaubensverfolgung. So eine Versammlung im rauchgeschwärzten Ofenhaus! Das wurde ungeheuer stimmungsvoll. Und was den verschmähten Kuß betraf ... der alte Herr war ja doch so ein bißchen ... na! Weg damit!Und Frau Dorothea flog, ein wenig parfümierte Puritanerin, zu dem Propheten.
Herr Guldwang von Prankenau war übler dran als seine Nichte. Der Schimpf, den er ihr
angetan,wurmte ihn, denn im Grunde seines Herzens war sie ihm lieb. Es war ihm, als hätte
er mit eigener Hand den Sonnenschein aus seinem Hause verscheucht. Gar zu sehr wollte er
doch auch nicht das alte Kind spielen,sonst würde er den Schaden durch verdoppelte
Artig
Sarg hinein. Hätte er gewußt, daß es solche Weiber auf der Welt gibt, die Füße würde er sich danach wundgelaufen haben. O sie war charmant, die Dorothea mit all ihren lebenslustigen und selbst mit ihren frommen Faren, denen er sich auf die Dauer wohl kaum ganz entziehen konnte.
Als sich Herr von Guldwang von seinem Nachmittagsschläfchen erhob, trommelten die Dachrinnen immer noch. Gähnend warf er einen Blick in den Hof und erwachte darob vollends. Was trieben denn die da unten? Die Köchin, die Kammerjungfer der jungen Frau, die alte Christine und wohl noch andere Weibsleute schleppten alles mögliche aus dem Wasch und Ofenhaus, ja sie rollten sogar die großen Bauchbütten in den Hof hinaus. Ei, das ging ja kreuzfidel zu, eine wahre Gugelfuhr. Wurde da nicht das NeßlerenMädi,das Faktotum, welches seit des letzten Gärtners Entlassung das Regiment in Hof und Garten führte, mit des Lehenmanns Kobi hanogemein! Und der Trappi mußte ihr handlangern wie im CTaglohn. Ja, ja hm hm, gelt Kobeli, so sind sie. Sogar die Hunde hatten ihren Spaß daran, wedelten uno bellten wie besessen vor Freude, daß endlich etwas los sei.
Herr Scipio ahnte etwas und ergrimmte in seinem Herzen. Stracks nach dem Ofenhaus lief
er. Da stand,ein befehlender major domus, den Kopf in ein rotes Tuch gebunden und in eine
Ärmelschürze gehüllt, Frau Dorothea auf den Steinfliesen des ausgeräumten Wasch
„Was gibt's denn da?“
„Ich habe mir erlaubt, von Ihrer gütigen Erlaubnis Gebrauch zu machen, Onkel.“
Da rang sich ein knurrender Taut aus des alten Herrn Kehle. Er schleuderte einen grimmigen Blick auf Frau Dorothea und wanöte sich unwirsch zum Gehen,fühlte aber alsbald die zarte Hand seiner Nichte am Äürmel.
„Onkelchen!“ bat sie.
Nun kehrte er sich wieder ihr zu: „Nu ja, Himmelsakerment. Ich will das nicht!“ Und mit einem ganz besonders vorwurfsvollen Blick fügte er bei: „So bin ich doch nicht. Das könnten Sie nun nachgerade wissen.“
„Und ich weiß es auch,“ sagte sie begütigend. „Ich wollte nur wirklich nicht etwas durchsetzen, was Ihnen unangenehm ist.“
„Kommen Sie mit!“ befahl Herr von Guldwang und schritt ihr voran dem Schloß zu. Er führte
sie in den großen Speisesaal und erklärte ihr, wie der schöne Raum am zweckmäßigsten in
eine Kapelle umgewandelt würde. „So können Sie's dann auch einmal machen,wenn ich die
Augen schl.....“ Er brach ab. Frau Dorothea aber hatte genug gehört und zog ihre Schlüsse
inbezug auf den Verkauf von Prankenau. Aber sie
So war die Abendversammlung zustande gekommen.Niemand von den erwartungsvoll harrenden Teilnehmern wußte etwas von diesem Vorspiel. Desto feierlicher war's.
Jetzt hörte man Stimmen im Korridor, die sich rasch der Türe näherten. Die Türfalle knackste. Warum nur Heini sich wieder an die Mutter hängte, als fürchtete er, ein Gespenst eintreten zu sehen? Ja, wer mit seinen Ohren gehört hätte. wie das machte: Pigg!Pägg! Pägg!
Statt eines Gespenstes trat die junge Frau ein,wie man allgemein Dorothea benannte, und hinter ihr her der „Profässer aus dem Deutschen“. Er trat zwischen die schönen Leuchter an den Tisch, schlug aber die große Bibel nicht auf, sondern zog ein Testamentchen aus der Tasche, neigte sich seitlich gegen den einen Leuchter und blätterte kurzsichtig in dem Büchelchen. Die junge Frau setzte sich an das Klavier, zündete die Kerzen an und schlug ein Gesangbuch auf.
Das alles hatte Heinis Aufmerksamkeit derart in Anspruch genommen, daß er wie aus dem
Traum er
Nun las der Pastor einen Liedervers vor und Frau Dorothea schlug ein paar Akkorde an. Da hielt Antoinette ihrem Nachbarn ganz zutraulich das aufgeschlagene Gesangbuch hin. Heini überlief es heiß und kalt. Jetzt sollte er gar noch mit dem Schloßfräulein aus einem Buche singen. Unwillkürlich lehnte er sich wieder gegen die Mutter, erhielt aber durch einen ziemlich spitzen Ellbogen mehr als deutliche Verhaltungsmaßregeln. Mit dem Singen war's freilich sonderbar bestellt. Heini, der kaum einen Con herausbrachte, hörte nur Antoinette; alle andern vergaßen das Singen über den kräftigen Stimmen der Frau von Gulowang und des Pastors. Einzig Frau Schraner, in der Umgegend bekannt unter dem Namen Neßlerenmädi, hatte sich mitreißen lassen und setzte ungefähr in der dritten Zeile ein. Aber schon nach der ersten Strophe erhielt sie von der Köchin einen Bor: „Hör' lieber zu, Mädi!“ Mädis Augen sprühten Nesselhärchen; aber in der Dunkelheit verfehlten sie ihr Ziel, und da der Bor die Sangesfreudigkeit des weiblichen Gartenvogts erstickt hatte,blieb die Stimmung ungestört.
Hätte Heini Tillmann zwischen seinen Schulkame
Antoinette hielt ihm wieder das Buch vor, während ihre Mutter sich ans Klavier setzte, und sagte: „Du mußt auch singen.“ Heini ward es heiß im Kopf. Er tat, als wollte er singen; aber es kam kein Con aus seiner Kehle. Wie hätte er's auch wagen dürfen! Es wäre Sünd und schade gewesen, zu stören, was sein Ohr genoß. Wie die sangen! Die Schloßfrau und der Pfarrer und das schöne Mädchen. Sie sangen ein Tied,das er so schnell nicht vergessen würde:Ich bin zufrieden,
Daß ich die Stadt gefehn,
Und ohn Ermüden
Will ich ihr näher gehn
Und ihre hellen, gold'nen Gassen Lebenslang nicht aus den Augen lassen.
Hernach stand man auf, und weil nicht alle auf einmal zur Türe hinaus konnten, blieb Heini eine ganze Weile neben dem Mädchen stehen, das so freunölich mit ihm gewesen. Da kam auch die Schloßfrau herzu,sprach ein paar Worte mit der Mutter und faßte mit ihrer feinen Hand Heini unters Kinn. „Wie heißest du, Kleiner?“ fragte sie, und als er geantwortet, fuhr sie mit einem zärtlichen Blick auf ihre Tochter fort:„Komm doch auch mal am Tag herüber mit deiner Schwester. Ihr könnt dann zusammen spielen. Willst du?“ Heini war die Einladung gar nicht willkommen.Er am hellichten Cag im Schloßgarten das wollte ihm nicht in den Sinn. Aber, was konnte er anders als ja sagen?
Als sie das große Hoftor hinter sich hatten, fingen die Frauen an, ihre Meinungen über des Pastors Ansprache auszutauschen. Einige wollten sich den schönen Eindruck, den sie empfangen hatten, nicht verschwatzen lassen und gingen raschen Schrittes ihren Heimstätten zu, um sich in der dumpfen Finsternis der niedrigen Schlafstuben noch möglichst ausgiebig dem Bild von der himmlischen Stadt, die keine Leuchte hat und doch lauter Licht ist, hinzugeben. Aber kaum lagen sie ausgestreckt, so war auch schon der Schlaf da, der tagsüber am murmelnden Bach gekauert und aus dem Schatten der Erlen dem rastlosen Schaffen der Landleute zugesehen. Der litt es nicht, daß ihr Geistesauge in die Wonne des mühelosen ewigen Lebens hinüberblicke.von Tavel, Heinz Tillmann.
Er legte seine Hand auf ihr Gesicht und hieß Leib und Seele verstummen, damit sie andern Tages neue Kraft an den Kampf um ihr Brot wenden könnten.
Auch Frau Tillmann würde ihre Einörücke schweigsam im Tabernakel ihres Herzens
heimgetragen haben, hätte nicht die KänelmattBäuerin, Frau Verena Grundbacher, besser
bekannt unter dem Namen MattVreni,ihren Widerspruch herausgefordert. MattVreni meinte:„Ein
schönes Wort hätte er schon, dieser Pfarrer; wenn er nur die Gschrift ließe, wie sie istt
Was brauchen sie auch immer daran herumzunüderen, bis niemand mehr drüber kommt, was man
glauben soll! Wenn's doch einmal geschrieben steht, das ewige Jerusalem sei eine Stadt, so
wird's däich wohl eine Stadt sein und nicht nur so Geistigs. Und wegen den goldenen
Gassen:Gold ist einmal Gold. Gott wird wohl wissen, warum er es dem Johannes so eingegeben
hat. Aber eben, es braucht nur den armen Sündern etwas Schönes verheißen zu sein, so ist's
den großen Herren schon nimmer recht, und sie haben nicht Ruhe, bis sie es vernütiget
haben.“„Selb ist schon so,“ wandte nun BillAÄnni vom Lindenboden ein, „aber weißt, Vreni,
öppis muß doch dran sein mit dem Geistigen. Man darf sa nicht dran denken, was es gäbe,
wenn os Ernstem so eine Stadt vom Himmel herunterkäme. So ein Gebäu will doch Grund und
Boden haben. Wenn man's gesehen hat,wie's da die Jahre in Kilchwerlen gegangen ist, wo
Frau Tillmann blieb auf einmal stehen und sagte zu ihren Kindern: „Seht, wie das schön ist!“ Sie deutete auf die andere Seite des Tales, wo der langgestreckte mächtige Rumpf des Amselberges sich vor der sanft am Himmel verschwimmenden Cichtflut der Stadt abzeichnete. Um so tiefer war das Dunkel, welches herwärts auf allem ruhte. Aber in unermeßlicher Tiefe und Herrlichleit flimmerte über der ganzen weiten Welt das Sternenheer des Herbsthimmels. Den Kindern kam es merkwürdig vor, daß die Mutter auf einmal eine besondere Freude an diesen Dingen bekundete. Sie, die jeden Abend noch lange aufblieb,wenn Röseli und Heini schon im tiefsten Schlafe lagen,konnte ja so etwas täglich bewundern. Mit Frau TCillmann waren auch die andern Frauen stehen geblieben,denn eigentlich hatten die erbaulichen Gespräche ihr gegolten, von der man ein sicheres Urteil über die Bibelstunde erwartete.
BillAnni, unwillig über die Ablenkung, sagte: „das ist dStadtheiteri“, worauf Frau
Cillmann plötzlich ihre
Die Mutter blieb schweigsam. LTange noch, nachdem die Kinder zu Bett gegangen waren, saß sie über der Bibel und sann ungestört den zukünftigen Dingen nach.
Drüben, im Schlosse, saß der alte Herr am Kaminfeuer. Die Lampe hätte er durch einen Tichtschirm, auf dem in transparenter Malerei der Vesuv seine glühenden Lavaströme ausschüttete, abgeblendet. Er träumte in die Glut des Kamins, das ihm heute abend wie Klänge aus einer andern Welt das TLied von den goldenen Gassen, den süßesten Lippen entschwebt, aus dem Saal in seine Einsamkeit heraufgeleitet hatte. Und auch er sann darüber nach, was die goldenen Gassen bedeuten könnten.
III.Von sich aus wären Röseli und Heini niemals ins Schloß gegangen, obschon sie sich den Garten wie ein Paradies vorstellten, und noch weniger wäre es Frau Tillmann eingefallen, ihre Kinder dorthin zu schicken.
Aber sie waren durch einen Dienstboten abgeholt worden.Die Mutter hatte sie eilends in Sonntagsstaat gesteckt,dem Mädochen eine schöne Schleife ins Zöpflein geflochten und dem Buben die krausen LTocken mit einem reichen Zusatz selbstverfertigter Pomade säuberlich gescheitelt. So waren sie schüchtern und doch voll herrlicher Erwartung in Prankenau angerückt und von Antoinette sehr liebenswürdig empfangen worden, denn das Töchterchen hatte selten Besuch aus der Stadt und fand am Verkehr mit den Kindern der Nachbarschaft,denen sie immer ein wenig die gütige Fee sein durfte,ganz besonderes Vergnügen. Antoinettes Vater war an jenem Tage auch da, ein stattlicher Herr. In seinem wohlgenährten Gesicht, aus dem eine stolze Aodlernase hervortrat, stand kein einziges Bartstöppelchen. Doch gaben ihm die nur bis zum Ohrläppchen herunterreichenden, geometrisch scharf abgeschnittenen schwarzen Backenbärtchen etwas Gütiges. Heini war nicht wenig erstaunt, als bei seinem Anblick Herr und Frau von Guldwang belustigte Blicke tauschten. Frau Dorothea sagte etwas auf Französisch. Und dem Knaben kam es vor, als zöge Frau von Guldwang dabei die Nasenflügel zusammen. Er ward von der Bonne in ein oberes Zimmer geführt, wo es sehr gut duftete und alles weiß und blitzsauber war. Da kämmte und bürstete ihn die Kammerjungfer aus, als ob er Läuse hätte, schüttete ihm aus einem Fläschchen wohlriechendes Wasser auf den Kopf und bürstete wieder und wieder, bis die
Haare vor Trockenheit flogen. „So,“ sagte die Jungfer befriedigt und führte ihn zu den Mädchen in den Garten. Da meinte Antoinette: „Jetzt gefällst du mir“und gab dem Umcoiffierten einen Kuß. Heini kam das sehr kurios vor. Er hatte noch nie von einem fremden Mädochen einen Kuß bekommen, und wußte nun nicht,ob man so was erwidern müsse. Er war darüber noch nicht schlüssig, als man sich ans Croquetspiel machte,und nun war die Gelegenheit verpaßt. Den ganzen Nachmittag war er krumm örin mit seinen Gefühlen.Das schöne Mäochen war so freundlich und lustig mit ihm, und immer noch kam er nicht draus, ob ihm einen Kuß zu geben eine Pflicht wäre oder etwas, das man sich nicht herausnehmen durfte. Auf alle Fälle hatte er sich dumm benommen. Das einzig war ihm klar.Und es ward ihm noch deutlicher bewußt, nachdem er auch die Zärtlichkeit, welche Antoinette beim Adieusagen an ihn verschwendete, nicht zu erwidern gewagt hätte.
Von dem Tage an war es dem armen kleinen Kerl,als liefe er mit einer ungetilgten Schuld
herum, mit einem etwas, für das er keinen Namen wußte. Am ähnlichsten war das Gefühl dem
eines leeren Magens.Und es hing eigentümlich zusammen mit der Erinnerung an den Duft und
die feine weiße Wäsche und die Coilettengegenstände in jenem Zimmer, wo man ihm die
Känelmattpomade aus den Haaren getilgt hatte.Diese Erinnerung wiederum war unzertrennlich
von der lieblichen Gestalt Antoinettens und von der seltsam
4strengen und doch wieder freundlichen Art, wie die Mama Guldwang mit den Kindern umging.
Manchmal war ihm, als möchte er sich stehlen und in diese verfeinerte Zucht und Pflege
versetzen lassen. Aber er fühlte ganz deutlich, daß er eben gestohlen werden müßte, um in
dieses Treibhaus versetzt zu werden.Dann kamen wieder Augenblicke, in denen ihm unsäglich
wohl war bei seiner Mutter und im traulichen Dämmer ihrer Stube, wo es nach praktischeren
Dingen roch.Am grünodlichsten vergaß er das merkwürdige ungestillte Verlangen in der
Gesellschaft seiner Schulkameraden. Es gab aber auch nichts Schöneres als die gemeinsamen
Streifzüge, die gewöhnlich der Werlen entlang und etwa bis in die Steinbrüche des
Kriesberges hinübergingen, mitunter jedoch bis in die Gräben des Prankenauerwaldes auf der
Emmentalerseite sich erstreckten. Die Kunst bestand nur darin, mit Sicherheit
festzustellen, welchen Strich jeweilen der Bannwart genommen hatte. Das gegenseitige
Übertrumpfen an Schlauheit hatte einen ganz besonderen Reiz. Eines Tages war von den
Ausspähern festgestellt worden,daß der „Bawi“ nach Bern gefahren sei. Also los!In den
Prankenauer Schloßwald. Eichhörnchen und Herrenvsgel. Man schlenderte, nicht eben sehr
zielbewußt, dem Känelgraben entlang gegen einen schmalen Waldriemen, der wie ein Gürtel
den Westhang des Gummenhubels umgab, ein von den Hähern sehr bevor
„Nein,“ sagte Mädi, „es ist gar nicht nötig, daß der alte Herr sedes Drecklein erfährt,
das unsereins für ihn tut. In der Gschrift heißt es: TCaß deine linke Hand nicht wissen,
was die rechte tut“, und selb gilt auch hie. Was hätte der alte Herr davon? Du weißt
nicht, ob ihn nicht vor lauter ürger noch der Schlag rührte, und dann? Es wär' sich bei
Gott nicht derwärt. Ein Unflat bist richtig, weißt, Bub,“ wandte sich die Gestrenge
plötzlich gegen den Gefangenen. „Verdient hättest's, daß man dir die Hosen
herunterließe.Grad du, daß du dich nicht schämst. Nichts als Gutes haben dir os Herren
erwiesen, und dann gehst du und zerschießest ihnen das Dach.“ O wie es da tagte in des
armen Delinquenten Herzen! Denn so viel Lebenserfahrung hatte er doch schon, auch wenn
er's nicht mit klarem Bewußtsein erwog, daß, wenn eins
Mädi ließ den Kobi stehen und führte Heini, immer noch in harter Faust, ein Stück Weges gegen die Känelmatt. Von bedingtem Straferlaß hatte sie ihrer Lebtag noch nie ein Wort gelesen, aber in der Praxis war sie den Richtern weit voraus. „Dent doch auch, du dummer Bub,“ schalt es, „was du deinen Eltern für einen Kummer anemachst. Ich will jetzt der Mutter noch nichts sagen, aber viel braucht's nimmer, so geschieht's dann doch. Hast's gehört?“ Dabei hatte sie Heini am Schopf gefaßt, so fest, daß er von der Zürnenden sich tief in die Augen mußte blicken lassenm. Jetzt mach, daß dr heimkommst!“
Heini warf einen fragenden Blick nach dem Gewehrlein. Aber „nüt da,“ hieß es, „das behalte ich. Wollen dann schon sehen, wo's hingehört.“
Nun blieb ihm bloß noch eine Sorge: Wie heimkommen, ohne daß er den Kameraden begegnete.
Eigentlich waren die Feiglinge ja ihm gegenüber in der Schuld,aber das wog nichts gegen
das Gefühl der Zerschmetterung, in der er sich vor ihnen nicht wollte sehen lassen.Unter
Anwendung der äußersten Vorsicht gelang es Heini, unbemertt seinen Kaninchenstall zu
erreichen.Eine zeitlang sah er den Kraut muffelnden Lieblingen zu, ohne seine Gedanken von
dem rein äußerlichen Gang
Da die Eltern keine Tust bekundeten, herunterzukommen, mußte Heini sich damit begnügen, wenigstens der Schwester seine Häschen zeigen zu können.Du,“sagte sie, „die sollten wir der Antoinette zeigen können,die hätte eine Freude dran!“
„Allweg,“ sagte das Brüderlein, in dessen Vorstellungswelt schon bei der Entdeckung der
flaumigen Herrlichkeit das Bild Antoinettes sich eingedrängt hatte,„aber weißt, es ist
vielleicht besser, wir warten noch ein wenig. Wenn die Chuneli erst sehen und dann die
ganze Riglete im Ställi herumhaset, wird's noch viel lustiger.“ Das mußte Röseli zugeben,
und es ahnte nicht, daß nach Heinis schmerzlicher Vermutung der Aufschub um die paar Tage
sich sehr wahrscheinlich zur Ewigleit dehnen würde. Ihm war es ganz erwünscht,daß Röseli
von den Eltern zu plaudern anfing und damit seine Gedanken von der grausam zerstörten
Schloßherrlichkeit abbrachte. Erfreulich klang nun allerdings, was die Schwester erlauscht
hatte, auch nicht.Die Mutter, sagte sie, habe geklagt, es stehe nicht gut um ihre
Gesundheit, und es wäre ihr lieb, wenn der Vater nicht so weit weg wäre oder wenigstens
öfter heimkäme. Ihr sei manchmal so bange. „Ich hab's
„Was hat der Vater dazu gesagt?“
„Eben hat er gar nichts gesagt. Zuerst hat er lange vor sich hingestaunt, und dann fing er an herumzulaufen, türein, türaus und auf der Laube auf und ab. Aber jetzt komm, ich muß der Mutter beim Anrichten helfen.“
Das Mittagessen verlief still. Heini war's höchst ungemütlich, denn der Vater unterbrach
sein dumpfes Schweigen fast nur, um das Söhnchen auszufragen über die Schule und sein
sonstiges Cun und Treiben.Der Mutter war dabei auch nicht wohl, denn sie fürchtete, die
Kinder könnten darauf verfallen, zu erzählen,was sie im Schloß erlebt hatten.
Glücklicherweise geschah das nicht. Wenn Hans Tillmann nach seiner Kinder Wohlergehen
fragte, so glich er nicht dem stillvergnügten Manne, der, im Garten sich feiertäglich
ergehend, an den roten Backen der Pfirsiche seine Erbauung findet,sondern dem Gärtner, der
ungeduldig nach dem Stand ihrer Reife sieht, bei blauem Himmel stillschweigend über die
Möglichkeit von Hagelwettern flucht und auf Schutzvorrichtungen gegen Diebe sinnt. Noch
ehe Heini und Röseli eine Gelegenheit erhaschen konnten,etwas von erlebten Freuden zu
verraten, hatte sich der Vater seinen Zukunftssorgen von neuem ausgeliefert.Heini wurde
auf die Taube geschickt. Röseli hatte den
Heini spitzte die Ohren. „Was sagt die Mutter dazu ?“„Nichts. Kein Sterbenswörtchen. Ich glaube, es macht ihr das Herz schwer.“
Die Aussicht, nach Bern zu kommen, überschüttete den Knaben mit einer Fülle neuer Vorstellungen, hinter denen alles zurücktrat, was ihn eben noch so stark beschäftigt hatte. Er war damit noch gar nicht zurechtgekommen, als Röseli plötzlich aufsprang und sagte:„Eh! Was wollen jetzt die? Schau, Heini, Antoinette und ihr Vater !“
Dem Brüderchen war's gar nicht geheuer. „Gehl“sagte er, „frag' siet“ Und während Röseli
zaghaft und neugierig die Creppe hinunterstieg, duckte sich Heini und beobachtete die
unerwarteten Gäste durch die ausgesägten Blumen und Sterne des Geländers. Von An
Herr von Guldwang sprach sehr freundlich zu Röseli.Er lud Heini und seine Schwester ein
zu einem Spaziergang nach Rautenberg, einem beliebten Ausflugsziel der Stadtberner, das
gerade dem Schloß gegenüber auf dem jenseitigen Höhenzuge lag. Heini hätte aufjubeln
mögen. Das NeßlerenMädi stieg in seiner Achtung.Fast liebende Verehrung empfanod er für
sie, weil sie ihn nicht verklagt hatte. Aber nun schämte er sich seines Versteckens und
wußte nicht, wie sich daraus hervorstehlen, ohne zu verraten, daß er hier die Begegnung
belauscht. Wenn sie nun gar die Treppe heraufkamen?!Die Situation konnte aber mit längerem
Zuwarten nur noch peinlicher werden. So sprang er denn auf,zupfte das Kleid zurecht,
wischte die Knie ab und ging an die Treppe, wo ihm auch schon Antoinettes freundlicher
Gruß entgegenklang. Er schämte sich zwar seiner unsaubern Kleider; aber er stieg hinunter
und grüßte höflich, während Röseli zu den Eltern eilte, um ihre Erlaubnis einzuholen. Der
Knabe wußte nicht recht,was er reden sollte und riß verlegen an den Knöpfen
Noch viel größer aber als des Knaben Pein war die seiner Schwester, die jetzt schon vergeblich mit den Tränen kämpfte. Grob angeschnauzt hatte sie der Vater.„Was?“ hatte er mit einem mißtrauisch forschenden Blick auf die Mutter gefragt. „Die vom Schloß wollen euch mitnehmen? Das wäre mir nun das Allerneueste. Davon will ich nichts. Mit denen sollt ihr gar nichts zu tun haben. Verstehst mich?“
Röseli lehnte am Cürpfosten und blickte seine Eltern scheu an. Erwartete der Vater von dem Mäochen, daß es Herrn von Guldwang solchen Bescheid bringe?
„Nun? Was fehlt noch?“ fragte Tillmann ungeduldig. Seine Frau warf ihm einen bittenden Blick zu.Er verstand ihn nicht, meinte, die Mutter wolle den Kindern die Erlaubnis, mitzugehen, erwirken und brach in ein zorniges Gepolter über die aristokratischen Nachbarn aus. Als er ein wenig nachließ, wagte Frau Cillmann zu sagen: „Man sollte aber den Herrn nicht länger auf Bescheid warten lassen.“
„Der vermag's zu warten. Er weiß ohnehin nicht,mit welchem Übermut er seine Zeit totschlagen soll.“
Als aber die Mutter sich erhob, um das weinende Kind aus seiner Not zu befreien, sprang
Hans Cillmann auf, vertrat ihr den Weg und ging schweren von Tavel, Heinz Tillmann.
Er hatte erwartet, den alten Schloßherrn zu finden.Daß statt seiner der junge Herr dastand, dämpfte ein wenig seine Aufregung; aber es kam immer noch derb genug heraus, als er sagte: „Guten Cag.“ Er wäre eher erstickt, als daß er's über sich gebracht hätte,zu sagen: „Herr von Guldwang.“ „Sie wollten meine Kinder einladen? Das ist ja recht freundlich;aber sehen Sie, ich kann das nicht annehmen. Ich komme nur alle paar Wochen einmal einen Cag heim.Da wird niemand von mir verlangen, daß ich die Kinder dann noch mit andern Teuten spazieren schicke.“
„O das verstehe ich sehr wohl, Herr Tillmann,“sagte Herr von Guldwang. „Ich würde auch gar nicht gefragt haben, hätte ich geahnt, daß Sie heute daheim seien. Also, nichts für ungut. Ein andermal vielleicht.Adieu, Herr Cillmann.“
„Adieu,“ sagte Vater Tillmann, der die unterste Treppenstufe nicht verlassen hatte. Und er wanöte sich so rasch um, daß er gar nicht sah, wie liebenswürdig Antoinette sich von seinem Buben verabschiedete.
Herr von Guldwang ging schweigend mit seinem Töchterchen der Straße zu. Als er von dort auf das Känelmatt Stöcklein mit seinem leuchtenden Blumenschmuck, den blitzblanken Fensterscheiben zurückblickte,kam ihn ein unbehagliches Gefühl an. Halb war's Haß,halb ein Weh über die Kluft, welche immer noch
Menschen schied, die doch so gut den Kampf des Lebens gemeinsam bestehen, ja in Liebe verbunden sein könnten.Unübersehbar ist das Meer des Schmerzes all derer,die sich von den Begüterten abgestoßen fühlen; aber wer mißt die Tiefe des Leides eines wohlmeinenden Reichen, dem der kleine Mann, nach dem er die Hand ausstrecken möchte, trotzig den Rücken kehrt?
„Solch einen Papa möcht' ich aber nicht haben,“ sagte Antoinette, als sie ihren Vater so ernst nach der Känelmatt hinaufblicken sah. Sie bekam lange keine Antwort.Erst als sie schon gegen Schöchwyler hinunterkamen,sagte er, wie aus einem Traume heraus: „Es ist schade um den prächtigen Jungen.“
Bald nachdem er Antoinettes Vater seine Kinder verweigert hatte, verließ Hans Tillmann das Haus,ging nach Rafeldingen hinüber, zum Bäuertpräsidenten,und kam erst zum Nachtessen heim. Heiter gelaunt sah er auch jetzt nicht aus; aber er schien doch befriedigt von seiner Verhandlung mit den Rafeldingern, welche ihm die Ausführung eines umfangreichen Wasserfassungs und Drainierungswerkes anvertraut hatten.„Nun wirst du mich öfter daheim haben als bisher,“sagte er zu seiner Frau, „und wenn wir im Oberhasle fertig sind, so kann ich dann meinen Werlsplatz hier aufschlagen und einmal etwas auf eigene Rechnung unternehmen.“
Diese Aussicht erfüllte Frau Tillmann mit einer solchen Freude, daß sie sich mit einem
lauten „Gott
„Was hast du?“ fragte Hans plötzlich. Er hatte ein paar Tränen auf sein Kleid tropfen verspürt.
Mit erstickter Stimme sagte sie: „Ich weiß nicht.Mir ist so eigen ...“ Und nun löste sie sich von ihm,trat ans Fenster und blickte sinnend in den herrlichen Abend hinaus.
„Laß das Flennen!“ schalt Hans ohne Härte. „Das taugt nichts. Schau, Vreneli, man muß nicht immer ans Auseinandergehen denken, wenn man sich doch enölich einmal hat. Komm, wir wollen ein paar Schritte tun.“
Sie stiegen miteinander vor das Haus hinunter,wo die Kinder ihren kleinen gärtnerischen Pflichten oblagen, saßen ein Weilchen auf der Bank unterm
Weichselspalier und spazierten dann, als die Sonne hinter dem Walm versank, wegab gegen die Straße,um dort noch einen Sonnenblick zu erhaschen. Frau Verena war jetzt wieder wohl zumute, und sie konnte sich der Freude auf kommende Tage hingeben.
Da lehnte, seine Pfeife rauchend, der Nachbar Vögeli,Bäuertgemeindeschreiber und mehr Gschäftlimacher als Bauer, über seinen Gartenzaun und wünschte den beiden einen guten Abend. Als sie weitergehen wollten, sagte Vögeli: „Ja, du, was ich noch sagen wollte: es wäre mir anständig, wenn dein Bub mir das Gwehrli bald wieder brächte.“ Hans Tillmann blickte höchst erstaunt auf, während der andere listig mit den Augen zwinkerte.„Ja ja,“ sagte er, „die Bürschlein haben scheint's Unfug getrieben und sind dann erwischt worden.“
Nach wenigen Sätzen wußte Tillmann alles. Sein heiß aufwallender Zorn trieb ihn nach Hause. Aber VDerena schlang ihren Arm enger um ihn und bat um Gnade für Heini. Sie fand sogar den Mut, ihrem Manne zu sagen: „Weißt, Hänsel, so ganz unschuldig bist du an der Geschichte nicht. Du hast dich vor dem Buben zu wenig in acht genommen, wenn du über den Dachtknauf schimpftest.“
„Eben drum. Das muß jetzt gründlich zurechtgerückt sein.“„Aber nicht hauen! Denk doch auch, was du aus den Herzen der Kinder machst, wenn du den Buben jedesmal prügelst, so oft du heimkommst.“
Das Wort traf Hans Tillmann hart, und es kostete ihn Überwindung, sich der bessern Einsicht zu fügen. Allein,er war jetzt einmal in der Laune, das Zusammensein mit seiner Frau auszukosten, und wollte sich's ersparen, ihre Stimmung aufs neue wieder herstellen zu müssen.
Heini lähmte der Schreck, als die Türe seiner Schlafkammer aufsprang und die gewaltige Gestalt des Vaters die Fußdielen vor seinem Bette ächzen machte. Sogleich ahnte er, daß seine Streiche verraten seien, und er duckte sich in Erwartung einer grausamen Züchtigung an die Wand. Den Möbelklopfer suchte er zwar umsonst in des Vaters Hand; aber er wußte, daß der Erzürnte imstande war, ohne Besinnen nach dem erstbesten Gegenstand zu greifen, um ihn damit zu schlagen.Schwarze Angst blickte Tillmann aus den weitgeöffneten Augen seines Knaben entgegen, der sich aufrecht an die Wand lehnte und das Bettzeug an sich riß, um sich zu bedecken. Heini vergaß zu atmen, als er die Frage beantworten sollte: „Bub, was hast du mit Vögelis Gewehr getrieben? Wo hast's?
Jetzt griff die unerbittliche Hand nach ihm. Sie faßte seinen Haarschopf so fest, daß ihn dünkte, die Kopfhaut müßte sich loslössen. Der Vater zog ihn zu sich heran und sagte: Weißt, Bub, du brauchst mir nicht zu versprechen, daß du's nie wieder tun willst,wie du's im Brauch hast, wenn du die Rute riechst.Es ist nicht nötig, denn ehe noch das Gewehrchen wieder in Vögelis Hand ist, bist du in Bern beim
Vetter Ernst. Der wird dich kuranzen, daß dir der Unfug vergeht. Bei uns erträgt sich's nicht, daß man Vater und Mutter Verdruß macht. Eltern, die sich nicht überarbeiten müssen, um zu ihrer Sache zu kommen,mögen's drauf ankommen lassen; aber wir .....“
Er ließ den Strubel fahren. Heini verkroch sich und atmete erst wieder auf, als der Vater, sich umwendend,sagte: „Du weißt, was du zu tun hast. Gut Nacht.“
Die Türe fiel ins Schloß. Eine Weile starrte Heini in die verdämmernde Stube, verwundert über das Ausbleiben der Züchtigung. Dann fiel ihm das Wort vom Verdrußmachen auf die Seele. „Habe ich der Mutter Verdruß gemacht?“ Heini lehnte sich auf gegen den Vorwurf; aber er war ehrlich genug, um sich einzugestehen, daß sein heutiges Tun der Mutter bitteres Leid hätte bereiten können, daß sie für ihn hätte büßen müssen.Gott sei Dank war es nicht soweit gekommen. Zum erstenmal ward dem Knaben bewußt, daß sein Vater nicht aus Laune alles so ernst nahm. Er kämpfte offenbar um etwas, das ihm sehr wichtig war. Über diesen Gedanken befiel der Schlaf den von Eindrücken erschöpften Knaben.
IV.
Ein Frühlingstag, der jeden geschlossenen Raum zur Folterkammer machte, lag über dem
Lande. Dazu war es Samstagnachmittag. Wer mochte sich da wundern,
Die jugendliche Schar hatte eine der Waldlichtungen des Rautenberges erreicht, aus denen der Blick ungehemmt über die reichen Triften des Aaretals zu den Hochalpen hinüberschweift. Heute ließen sich die Schneeberge nur ahnen. Nur die im direkten Sonnenlicht liegenden Firnfelder vermochten den blassen Frühlingsdunst zu durchscheinen. Heini Tillmanns Klassenkameraden fragten auch gar nicht nach den himmelragenden
Zinken und Hörnern. Ja, die ganze Lenzespracht war ihnen kaum zum Bewußtsein gekommen. Das Bedürfnis,sich auszutoben, war der einzige Beweggrund ihrer Wanderung. Sie waren nämlich am Morgen in der Geschichtstunde zur französischen Revolution gekommen,und Dr. Ellenstab hatte sich in seiner Erzählung an Rouget de Lisle so erwärmt, daß sein Feuer auf die Herzen seiner Schüler übergesprungen war. Es waren etliche unter ihnen, deren erwachende Lebenssehnsucht schon einen Keim von politischem Empfinden in sich barg, allen voran Berni Bär, den sie Mirabeau nannten,ein gedrungener Kerl, der bereits wußte, auf welchen Platz er sich einst im Nationalrat setzen wollte. Auf dem ganzen Weg hatte er seine Kameraden belehrt, es müsse Seele in die schweizerische Politik kommen. Man ahnte wohl, daß Mirabeau das irgendwo aufgeschnappt habe und wahrscheinlich nicht ganz im Klaren sei über den Sinn dieser Forderung; aber er brachte sie mit solcher Überzeugung vor, daß doch entschieden etwas dran sein mußte. Da er konsequent immer der letzte im Range war, genoß Bär in der Klasse eine eigenartige demokratische Sympathie. An Anhang übertraf ihn nur Marcel Delierre, ein Tunichtgut aus dem Neuenburgischen, der mit allem ausgestattet war, was den Deutschschweizern an einem welschen Kameraden imponieren kann. Groß, schlank, geschmeidig und hübsch von Angesicht, gab er sich immer verdammt schick. Er trug eine baskische Mütze, die ihm verwegen übers Ohr
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hing, und Kniehosen mit eleganten Wadenstrümpfen,was damals noch nicht allgemein Mode war. Immer war er elegant krawattiert und ließ einen sauberen Taschentuchzipfel aus der Brusttasche gucken. Delierre,der sich je nach der Gesellschaft, die er um sich hatte,auch de Lierre nannte, war in Bern bei einem Pfarrer der französischen Gemeinde in Pension gegeben. Zum geheimen Schmerz dieses braven Mannes setzte er allen Besserungsversuchen einen stillschweigenden Widerstand entgegen. Er tat das aber mit einer gewissen Grazie,und trug eine Leichtfertigkeit zur Schau, welche die Lehrer in Verzweiflung, die Mitschüler in Bewunderung versetzte. Dabei war er frühreif und verfolgte mit leidenschaftlichem Interesse alle möglichen technischen Fragen, war tüchtig in der Mathematik und verblüffte alt und jung mit geschickten Erperimenten. Es war bei allen ausgemacht: Marcel Delierre würde ein Ingenieur ersten Ranges werden, wenn er nicht in seinem gottlosen Leichtsinn Schiffbruch litt. Seinem Pfarrherrn entronnen, riß Marcel auf dem VRautenberg all seine Kameraden in seinen Übermut hinein.
Mit ihm atmete auch Otto Tremp auf, dessen Vater mit Resignation eine Aktenmappe ins
Bureau und vom Bureau wieder in die Wohnung trug und nur einen Gedanken hatte: seinem
Söhnlein die große Enttäuschung des Lebens zu ersparen. Es regnete beständig Ernüchterung
auf den armen Jungen, der den Eindruck einer ungeduldig aufgefingerten Knospe machte. Er
litt
Augenblicklich waren diese Leiden und Schatten vergessen. Als müßte das Gute von allen Bergen herabstrsmen, aus allen Tiefen aufwallen, so war ihnen zumute, und keiner fragte, in welcher Gestalt es erscheinen würde.
Mit Singen und Schreien ging's weiter durch das harzduftende Dickicht junger Cannen, die ihre schlanken Herzschoße ins Sonnengold tauchten. Wieder lichtete sich der Wald. Eine Wiesenmulde voll Schlüsselblümchen breitete sich vor den Füßen der Wanderer aus. Durch ihre Senkung glitt ein Sträßchen in den Osthang des Amselberges, aus dessen Flanke der schimmernde Giebel des Wirtshauses von Rautenberg sich erhob. Man hatte
4 sich durstig geschrien und folgte, als ob es etwas anderes nicht gäbe, dem Sträßlein in den Trichter. Franz Dengeler bremste. Er folgte ihnen von serne, aber er folgte wie das Blütenblättlein auf dem Spiegel des Brunnentroges und schwapp hatte auch ihn der gurgelnde Trichter samt all seinen Bedenken verschluckt.
Allen voran war Mirabeau die hölzerne Treppe hinaufgestürmt. Da oben gab's eine heimelige Laube,nach dem Werlental hinaus. Oft schon hatten sie dort gezecht und gesungen. Schade, daß Mirabeau nicht Flügel hatte, sonst wäre er in einem Schuß über die Caube hinausgeflogen, hoch kreisend über dem lachenden Tale. Aber o Simmel! Da hockten pfundig und brütend ein paar Männer um eine Flasche. Die machten Gesichter wie heilig gesprochene Atlasse. Mit denen ließ sich's nicht auf einem Brette sitzen. Mirabeau prallte zurück. An ihm vorbei trat Delierre auf die Laube,fuhr ebenfalls zurück, und so einer nach dem andern mit seiner Wundernase, genau als ob ein Appell hätte gehalten werden müssen. Und dann trappelte die ganze Bande mit neuem Lärm die Treppe hinunter, ums Haus herum, in die mit Rinde bedeckte Kegelbahnlaube und begann zu brüllen: „Bier her, Bier her,oder ich fall' um!“
Auf der Laube war man sehr froh über den raschen Rückzug der übermütigen Gesellschaft.
Auch hier oben erwartete man das Gute von allen Bergen herunter,ganz besonders von den
Hügeln, die sich jenseits der
Kleidern und Krawatten auch Fingernägel mit Trauerrand bevorzugte. Vor dem Abschlußfenster der Laube,schön mitten zwischen den roten, blauen, gelben und grünen Zierscheiben, zeichnete sich die Gestalt des Architekten Bygentischer ab, dessen Gesundheit mehr Vertrauen erweckte, als seine meist auf Pfählen in die
Alpenseen hinaus gestellten Häuser. Diesen drei Männern saß Hans Tillmann gegenüber. Er lehnte sich mit beiden Ellbogen auf den Tisch, zupfte öfter an seinem braunen Vollbart und kehrte dem Gegenstand der Beratung,dem jenseits des Tales in der Sonne weithin leuchtenden Schloß Prankenau, hartnäckig den Rücken. Zu einer Ausschreibung war es allerdings noch nicht gekommen; aber unter der Hand hatte sich das Gerücht verbreitet, ein verlockendes Kaufsangebot würde den alten Herrn Scipio sehr wahrscheinlich zum Entschluß bringen. So stand man nun im Begriff, auf der Wirtshauslaube zu Rautenberg, von wo man die Situation des Kaufsobjektes prachtvoll überblickte, ein „Konsortium für den Ankauf der Schloßdomäne Prankenau zwecks Errichtung eines hochmodernen Sanatoriums zu gründen, ein Unternehmen, an dessen humanitärem Charakter niemand zweifeln konnte und das einem dringenden Bedürfnis entsprach. So ungefähr sollte der Oberton des Prospeltes klingen. Welcher Art Leiden dort kuriert werden sollten, würde sich noch finden.Vorläufig war man einig über die Art der Patienten:Erstklassig!
Was hatte nun Hans Tillmann, der fleißige KleinUnternehmer mit seinem rechtschaffen
erworbenen Vermögen von nahezu hunderttausend Fränklein von dem seine Frau nichts wußte
bei diesem Unternehmen zu tun? Hans Tillmann war nichts Geringeres als der geistige
Urheber des Projektes. Er war auch der einzige, in dessen Erwägungen etwas schlummerte,
was gar nichts mit dem Geldsäckel zu tun hatte. Das lebte schon in seinen heimlichen
Zwiegesprächen mit dem prunksüchtigen Dachtnauf. Als nun zum erstenmal das Gerücht in die
Känelmatt drang, Herrn Scipio sei das Schloßgut verleidet, da sah Tillmann den Tag
heraufdämmern, an dem das Aristokratennest dem Volke nutzbar gemacht werden konnte. Und er
ging hin und verriet sein Geheimnis den Teuten, die er bei seinen Geschäften im Oberland
als ebenso leichtfüßig wie tatkräftig kennen gelernt. Zu den Finanzmännern in der Stadt
hatte er keine Beziehungen. Die soliden unter ihnen würden die Idee durch Vorsicht und
Bedenken im Keim erwürgen, die Wagemutigen würden sie ihm entreißen und ihn leer ausgehen
lassen. Seine engern Landsleute Tillmanns Wiege hatte an der Lütschinen gestanden hatten
schon oft gezeigt, wie man aus ozonreicher LTuft, schöner Aussicht und Bratenduft rentable
Paläste bauen kann. Und wenn schon dann und wann mal solch ein Ding in sich zusammenbrach,
so kam doch niemand dabei um. Sie wußten das Unglück immer auf den unbeholfensten Buckel
abzulenken.
Aus der Kegelbahn herauf scholl Lied um Tied,und wenn's auch mehr ein Gebrüll war als Gesang,so störte das die Männer auf der Laube wenig. Im Gegenteil, die Sorglosigkeit des kommenden Geschlechtes tat ihnen wohl. Herr Ueltschi nahm sich aus guter Laune sogar vor, den jungen Herren noch ein paar Flaschen zu wiren. Aber einstweilen hatte man ernste Arbeit.
Ob irgendwer von den Initianten sich des fernen fast musikalisch korrekten Hufschlages geachtet hätte, der von der Talstraße her scholl? Wohl kaum. Aber mitten in einem tiefen Brüten zuckte Hans Cillmann zusammen.In der Kegelbahn drunten hatte einer geschrien: „SHa!Dort fährt der Heini Cillmann.“
Mit scharfem Ruck wandte sich Vater Cillmann um.Dort fuhr auf der blendenden Landstraße
ein prächtig glitzerndes Spielzeug, die Guldwangsche Equipage. Bei
„Da hat man's. Jetzt weiß man, warum der Tilly nicht mitkommt.“
„So ein Drückeberger !“
„Ja, da tut er immer so fromm. Immer heißt's:Ich muß zu meiner Mutter. Meine Mutter ist krank.“
Ein wildes Gelächter folgte diesen Worten. Dann fuhr einer fort: „Du, Delierre, was sagst eigentlich du zu der Geschichte? Kannst du das so ruhig mit ansehen, he?“
Abermals folgte ein lachendes Gebrüll.
„Haha!“ antwortete der junge Neuenburger.Meinetwegen kann der mit ihr fahren, soweit es Straßen gibt.Ich werde ihn im Nu wieder ausstechen.“
„Übrigens,“ rief ein anderer, „prost Deli, einen Speziellen auf Antoinette.“
„Wißt ihr was, wir wollen sie aufrufen. Achtung!Silentium! Erst Tilly. Eins, zwei, drei Tilly! Alle hatten den Namen aus vollem Hals geschrien.
„Ahahaha seht! Sie haben's gehört. Sie schauen herauf. Jetzt sie! Eins, zwei, drei An ioi nette?“von Tavel, HSeinz Tillmann.
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Es war ein unbändiges Gebrüll.
„Ja ja, mein Lieber,“ sagte nun wieder einer.„Weißt du, Delierre, solange ihr euch nur in der französischen Kirche in ihre schönen Blicke teilt, hat's nichts zu sagen. Aber so in der flotten Equipage, Auge in Auge über Land Donnerwetter auch! Deli, Deli,an deiner Stelle ...“
„Es ist aber doch eigentlich schnöde, daß er sich immer drückt, der Cilly.“
„Ach, man muß ihn verstehen. Wenn man einen solchen Alten hat!“
„Der ist ja nie daheim.“
„Gerade oft genug. Er prügelt ihn ja jedesmal,wenn er heimkommt.“
Nein, das ist haarig.“
„Pereat der Schnödian!“
Das weitere ging in einem allgemeinen Durcheinander von Stimmen unter, so daß Hans Tillmann seine Ohren wieder für das Geschäftliche frei kriegte. Sich der Sache restlos hinzugeben, war ihm aber nicht mehr möglich, da sich ihm die Überlegung zwischenhinein drängte, ob er nicht besser tun würde, seinen Jungen aus dem Gymnasium wegzunehmen. Die Berührung mit der Aristokratenfamilie und anderseits diese Kameradschaft, die soff wie die Großen, und sich darin gefiel,die Eltern herunterzumachen! Schließlich gab es noch anderswo Gymnasien.
In ziemlich bärbeißiger Laune ging Vater Tillmann
Kaum eine halbe Stunde, nachdem der vielstimmige TillySchrei erschollen, hatte Heini Tillmann seine Mutter bei der Gartenarbeit überrascht. Sie sollte eigentlich das fühlte sie jetzt wieder diese Liebhaberei aufgeben. Die jedem Gesunden zuträgliche Arbeit bezahlte sie doch immer mit Rückenweh und Stichen, über deren Herd und Ursache sie sich nicht klar werden konnte.Froh zu rasten, braute sie ihrem Sohne schnell eine Casse Kaffee und setzte sich zu ihm vor das Haus in den milden Frühlingssonnenschein. Der flimmerte lustig auf den blanken Blättchen der Buchsbäume. Er entlockte dem aufgebrochenen Eröreich des Gartens einen erquickenden Atemhauch und ließ vor dem dunkeln Hintergrunde der Buchshecke die Bienen wie mattgoldene Funken spielen.
„Du bist früh heimgekommen. Bist so streng gelaufen?“ fragte Frau Tillmann.
„Ja. wenn du wüßtest!“ sagte der Junge, und seine Augen leuchteten dazu in jugendfrischem
Glück. Heut hab' ich's ganz nobel gegeben. In der Equipage der Gulowangs. Das läuft
freilich anders als das alte
„Heinit“ entwischte es der Mutter, so daß der Junge ohne ein Wort weiterer Erklärung aufs Sicherste der Mutter Gedankengänge erriet.
„Weißt du,“ sagte er, „ich geh' hin und wieder in die französische Predigt, zu dem Pfarrer, bei dem mein Freund Delierre wohnt. Es geschah ursprünglich mehr wegen des Franzõsischlernens. Aber nun habe ich da mehr gefunden. Er hat etwas von dem Sachariä, weißt du noch, der da einmal im Schloß gepredigt hat. Und dort hat mich die Frau gesehen. Die Guldwang sitzen immer dort, die ganze Familie, und da...“
„Aber sag' mir, was hast du ihr geantwortet ?“
„Ich hab' mich nicht lange besinnen müssen. Ja',hab' ich gesagt, von Herzen gern, am liebsten von allem.“
„Heini, mein Heini!“ sagte Frau Verena. Sie zog ihren lieben Buben an sich und strich ihm zärtlich über den Krauskopf.
Dem Jüngling war unsäglich wohl in dieser mütterlichen Freude; aber in das Wohlbehagen
stach leise leise der gleiche Schmerz, der grausam an der Mutter Herz nagte. Er ahnte,
warum sie ihm jetzt nicht ins
Gesicht schaute, und wagte kaum, sich zu rühren. Starr schweiften auch seine Blicke in den Garten hinaus, als er endlich wieder zum Wort griff: „Es wird noch was kosten.“
„Jawohl,“ sagte die Mutter. „Aber bei Gott sind alle Dinge möglich. Kennst du den Pfarrer wie heißt er, der welsche?“
„Jeanmaire. Ja, ein wenig schon. Aber weißt,ich kann noch zu wenig französisch, um recht mit ihm reden zu können.
Frau Cillmann zog ihren Sohn eng an sich und nahm seine Hand in die ihre, wie man tut, wenn man einen sorgsam führen will. „Heini, Heini,“ sagte sie,„wenn das geschehen dürfte!“
„Mutter,“ wandte der Junge behutsam ein, ich fürchte, daß das nicht ohne Kampf möglich sei.“
„Ach ja, du hast recht. Zwängen wollen wir's nicht.Es muß ja auch nicht sein. Ich will schon mit Dank meine Augen schließen, wenn ich weiß, daß du deine Schritte auf die ewige Stadt gerichtet hältst.“
Nun schwiegen sie beide eine zeitlang, bis aus tiefem Sinnen heraus Heini sagte: „Wunderlich kommt's einem doch vor, daß der Ort höchster Glückseligkeit gerade eine Stadt sein soll. Warum nicht ein hoher Berg?“
„Kind, du mußt nicht am Zerrbild unserer Städte hängen bleiben. Die Stadt ist eben der
Ort, wo die Menschen sich finden. Alle Herrlichkeit, welche der liebe Gott über Gerechte
und Ungerechte ausgeschüttet hat,
Schritte, die sich dem Hause näherten, ließen plötzlich Frau Tillmann verstummen und bereiteten der seligen Stunde zwischen Mutter und Sohn ein Ende.Es war nur ein Nachbar aus dem Bauernhof gewesen.Aber man kam nicht mehr dazu, den Faden weiterzuspinnen, und als die Sonne in die Tannwipfel des
Amselberges versank, kam der Vater bergan geschritten,schwer und brütend, wie immer. Ängstlich forschten der Mutter Blicke im Gesicht des Heimkehrenden, wußte sie doch, daß drüben eine Besprechung hatte stattfinden sollen, von der er sehr viel erwartete.
Heini ging dem Vater ein paar Schritte entgegen und wurde mit einem heitern, fast lächelnden Blick begrüßt. So eine Stunde einsamen Weges vermag oft viel. Hans Tillmann zupfte sogar seinen Sohn leise am Ohr das war etwas ganz Neues und fragte mit schalkhaftem Augenzwinkern: „Du bist wohl von Bern heraufgeflogen oder hast du die Schuhe schon auf den Sonntag gewichst?“ Heini errötete, als er seine schwarzen Schuhe mit dem dicken Staubbelag auf denjenigen des Vaters verglich.
Hans TCillmann hatte sich unterwegs in die Überzeugung hineingezwungen, daß die
Prügelpädagogik,die man ihm offenbar nachredete, gar nicht der Herzensgüte entspreche, die
er gegen seinen Sohn hegte. „Himmelsakerment!“ hatte er drunten auf der Werlenbrücke
geknirscht. „Wenn der Vater eines einzigen der jungen Saufbolde von Heiners Klasse so
rechtschaffen um die Zutunft seines Sohnes sich sorgt wie Hans Tillmann,so will ich mich
hängen lassen. Nein, meiner Seel, so bin ich nicht. Ein wahrhafter Freund, ein treuer
Freund bin ich meinem Buben. Und wenn er's so nicht begriffen hat, so kann ich's ihm ja
auf andere Art zeigen.Zornrot soll er mir werden, aber nicht verlegen, wenn
Und als er im Straßenstaub die schmalen Geleise des Guldwangschen Landauers gesehen, hatte er sogar aufzulachen versucht: „Bin ich etwa einer, der es einem jungen Blut mißgönnt, einmal zweispännig zu fahren? Wart nur, Bürschlein, wenn du's in deinem Leben nicht dazu bringst, vierspännig zu fahren freilich nicht so zwecklos und zum ürger der arbeitenden Menschen so soll die Schuld nicht an deinem Vater liegen, dem Schnödian!“
Seit den Tagen, da Heini auf seines Vaters Knien hatte reiten dürfen, war ihm solch freundlicher Familienabend wie heute nicht mehr vorgekommen. Allen war so wohl und heimelig zumute, daß Mutter und Kinder dachten, dem Vater müsse heute eine ganz besonders rosige Zukunft aufgegangen sein.
Als die Kinder zu Bett waren, konnte Frau Verena nicht länger an sich halten. „Du, Hans,“ forschte sie,„du bist wohl sehr zufrieden mit deinen Herren?“
Hans zuckte mit den Achseln und sagte nachdenklich:„Weißt, wenn die Menschen lauter wären, so wär' das Leben ein ewiger Sonntag, so dünkt's mich. Aber so hat man doch Tag und Nacht keine ganz ruhige Stunde.Gottt? Wenn man nur einmal des Jahres so ganz arglos alle viere von sich strecken und den blauen Himmel anstaunen könnte. Ich glaube, ich finge an,Psalmen zu singen.“
Der Sonntag verstrich im Frieden, wenn auch öfters die Wolken sich wieder auf des Vaters Stirne senkten.
Als Heini in der Morgenfrühe des Montags sich auf den Weg nach der Stadt machte, geleitete ihn die Mutter trotz des Regens, der die ganze kleine Welt des Werlentales herrlich erduften ließ, bis an die Straße, um ihm zu sagen: „Heini, eins mußt du mir versprechen: Gelt, du läßest dich niemehr von Gulowangs in den Wagen laden? Weißt, der Vater möchte nicht, daß du meinst, er gönne dir so was nicht, drum sagt er nichts; aber es tut ihm doch weh. Er mag's nun einmal nicht leiden, daß wir von diesen Leuten etwas annehmen, was wir ihnen nicht vergelten können.Gelt, Heini, du verstehst's ?“
Heini, voll Glück.über den Sonntag, der so ohne alle Härte und Strenge abgelaufen, drückte der Mutter herzlich die Hand und sagte ohne Besinnen: „Du kannst drauf zählen, Mutter, ich tu's nimmermehr.“ Und während der Regen weich und melodisch in die wundervolle Morgenstille rauschte, blickte Frau Verena ihrem Jungen voll süßer Hoffnung nach.
V.
In die altersgrauen Gassen von Bern fiel der erste Schnee. Und das war gut. Die weiße
Decke auf dem Fahrdamm, den damals noch keine Tramgeleise zer
Eines Tages hielt Frau Dorothea ganz gehsörig Einkehr bei sich. Die Entdeckung, daß sie über eine Weiblichkeit verfügte, mit der sich bedeutend reizvoller hätte spielen lassen als in dem allzu leichten Gängeln ihres guten Fernand, machte sie sich selbst interessant.Sich als eine gefährliche Person zu erlennen, bereitete ihr einen süßen Schrecken. Ganz geduckt und mit listigen Äuglein schlich ein Phantom von Reue über verpaßte Flirtgelegenheiten ihr um das Herz herum. Etwas in ihr entrüstete sich über diese Reue, aber die Entrüstung wollte sich nicht so recht ihrem Herzblut mitteilen. Sie geriet in einen Konflikt, der sie hin und her zerrte,bis ihr zum Bewußtsein kam, daß es gegen die Weihnachtszeit gehe und daß vor den heiligen Zeiten der altböse Feind immer ganz besonders rührig werde. Da raffte sie sich auf und trat entschlossen dem Schlänglein der romantischen Reue auf den Kopf mit demselben
Pantöõffelchen, das sie Onkel Scip auf den runzligen Nacken setzte.
O, es war ihr sehr ernst. Sie schämte sich ihrer Schwachheit gegenüber den unheiligen Gesprächen des alten Herrn. Sie hatte sich das war ihr jetzt klar auch ihm gegenüber eines Unrechts schuldig gemacht.Das mußte ausgeglichen werden, und weil dieser Ausgleich sich sehr gut in ihre ursprünglichen Pläne fügte,so schritt sie sofort zur Ausführung uno dirigierte Herrn Pfarrer Jeanmaire dem Onkel auf den Leib.
„Aha“, dachte Herr Scipio, als man ihm Herrn Jeanmaire meldete, „um den Alten von
Prankenau aus seinem Winterbau zu räuchern, braucht's ein anderes Räuchlein. Er empfing
den Pfarrer, der bloß an den Schläfen ein wenig ergraut war, aufs Liebenswürdigste und
komplimentierte ihn in einen ungewöhnlich tiefen FaulenzerFauteuil, so daß er die Knie
nächst ans Gesicht bekam, und schob ihn dicht ans Kaminfeuer. „So“, dachte sich der alte
Haudegen, „wird dich schwerlich das Beten ankommen.“ Dann schleppte er Zigarren herbei und
klingelte um Dessertwein. Gegen beides blieb Herr Jeanmaire trotz seiner Versenkung
unerbittlich standhaft. Aber Herr Scipio war noch nicht am Ende seiner taktischen
Gewanotheit. Er hielt seinem Gast eine gewaltige Lobrede auf die Abstinenz und ging dann
dazu über, Unmäßigkeit an Beispielen nachzuweisen, die er in seinem langen Leben kennen
gelernt.Pfarrer Jeanmaire gab ihm zu verstehen, daß man
Draußen, in der winterlichen Allee erst, erloschen die Funken des Tachens, die noch an ihm fortgeglommen, völlig, und Pfarrer Jeanmaire tat aufrichtigen Herzens Buße. Vierzehn Tage lang wich er ängstlich jeder Begegnung mit Frau von Guldwang aus.
Auch Herr Scipio war überzeugt, daß er nicht so bald wieder einen Besuch des Pfarrers zu
gewärtigen habe. Das hatte er gewollt; aber froh war er seines Sieges doch nicht. Siebzig
Jahre hatte er hinter sich,ein halbes Jahrhundert lag zwischen dem heutigen Tage und der
letzten Stunde, die er mit seiner Mutter
In diesen Cagen ging ein eisiger Hauch über das Tand und malte den Alten aus lauterem Eis
Craumlanoschaften an die Fenster, so daß sie wehmütige Blicke in Cage warfen, die jenseits
der großen Enttäuschungen,weit hinter ihnen lagen. Der JZugend aber bahnte der kalte Hauch
Wege über Strecken, die ihr sonst nicht zugänglich waren. Spiegelglatt und durchscheinend
schwarz lag das Eis auf den Teichen. Während der Himmel sich schon leise zu färben begann
und die blauen Schatten der kahlen AlleeRiesen auf dem rötlich flimmernden Schnee ans Ufer
herankrochen, steuerte Heini Tillmann auf blitzenden Kielen über das Egelmoos.Das Eis sang
und knackte leise, und es war, als atmete die Tiefe, der man, über sie hinschwebend, ins
grausig leere Herz schaute. Heini hatte vor seinen Kameraden Vorsprung gewonnen, nicht
weil er ihn gesucht, sondern ganz einfach, weil er nach der letzten Nachmittagsstunde
stracks aufs Eis gegangen war, während die andern
Fast war er froh darüber, daß Antoinette nicht allein fuhr. Ihr allein zu begegnen, hätte ihn in Verlegenheit gebracht. Die Begleiterin hatte er schon oft mit dem Fräulein von Guldwang gesehen. Wer sie war, wußte Heini nicht. Der ungewöhnlich gute Geschmack, den sie in ihrer Kleidung zur Schau trug, ihr wohlgepflegtes und zugleich anmutiges Wesen rückte für Heini dieses Mädchen in die Linie derer, von denen er sich gesellschaftlich absolut getrennt fühlte. Da gab es keine Brücke, so wenig wie bei Antoinette. Die beiden jungen Damen gehörten für ihn zu den Erscheinungen,die man anschwärmt, ohne zu leiden.
Im Weiterfahren ließ Tilly seine Gedanken zurückschweifen, zu allerhand Begegnungen mit
Antoinette,die ihm bei den Neckereien unter den Kameraden immer
Sie kreuzten sich zum zweitenmal. Heini erntete die nämlichen freundlichen Blicke wie vorhin. Ihm schien, es liege eine Einladung darin. Weiter sinnend,glitt er dem Ufer entlang. Da sah er einige seiner Kameraden auf den Bänken ihre Schlittschuhe anschnallen.Das trieb ihn an. Unwillkürlich beschleunigte er seine Schritte. Er wanöte sich um und folgte nun wieder,in gleicher Richtung fahrend, den beiden Mäochen.
Jetzt glitt in verwegenen holländischen Bogenzügen,mit vollendetem Gleichgewicht der
schwarzäugige Delierre mitten durch die Bahn. Wie ein Sperber umkreiste er die beiden
Damen. Triumph und Hohn lag in seinen Kurven, die er, im Bewußtsein, daß ihm die Beute
nicht entgehen könne, kühn dehnte, um Tilly damit zu quälen. Der war ein gutherziger
Mensch; wenn aber in diesem Augenblick irgend eine „Tücke des Obfekts“den ästhetischen
Sieg von Delierres Figuren zunichte gemacht hätte, so würde er das dem Schicksal gar nicht
übel genommen haben. Auf einmal standen die vier jungen Menschen dicht beisammen, so daß
die Eisdecke von Tavel, Heinz Tillmann.
„Werden Sie auch geneckt deshalb 7
„Geneckt ?
»Nun, Sie wissen doch, daß man uns jungen Leuten vorhält, wir gehen nur deshalb dort zur Kirche,weil die späte Stunde des Gottesdienstes ein langes Ausschlafen gestatte.“
„Ach so! Nun, offen gestanden, gegen das Ausschlafen habe ich gar nichts. Aber es ist doch wirklich noch etwas anderes, was mich dorthin zieht.“
„Das habe ich schon durch Antoinette erfahren. Sie werden Cheologie studieren?“
„Ich möchte wohl gerne; aber ich fürchte, daß mein Vater es nicht haben will.“
„Was wünschte denn Ihr Vater aus Ihnen zu machen ?
„Jedenfalls etwas Prattischeres, das mehr Gelegenheit bietet, sich in der Welt eine Stellung zu machen.“
„O, Ihr Vater sollte einmal Herrn Jeanmaire hören.Es gibt noch größeres als eine einträgliche Stellung. Moöchten Sie gerne Lanopfarrer werden oder Professor?“
„Ich möchte vor allem einen Beruf wählen, der mir Gelegenheit gibt, meine Ideale zu verfolgen. Das Schönste muß es doch eigentlich sein, „wenn man die Sehnsucht der Menschen stillen kann.“
War es reiner Zufall, daß Lilian in diesem Augen
„Ich bin eine schlechte Hüterin,“ sagte Lilian. „Wo ist Antoinette ?“ Endlich sahen sie das bogenfahrende Paar das Gewimmel durchkreuzen, steuerten darauf zu und gingen mit ihm ans Ufer, wo Delierre sich sofort auf ein Knie niederließ, um Antoinette die Riemen aufzulssen. Heini Cillmann machte es ihm sogleich nach,wobei er noch einmal Gelegenheit fand, in die großen graugrün schillernden Augensterne seiner Begleiterin aufzuschauen. Und jetzt fielen ihm auch die zwar nicht leuchtend roten, aber sehr hübsch geschwungenen und ziemlich starken Lippen und die wohlgepflegten Zãähne Cilians auf. Hätte man ihm zugemutet, in dieser Stellung bis zum völligen Anfrieren zu verharren, es würde ihn keine Überwindung getkostet haben. Aber ebenso rasch, wie vorgestellt, fand sich Heini Tillmann verabschiedet. Er schlenderte, seine Schenkel wieder an die Alltagsbewegung gewöhnend, mit Delierre der Stadt zu.
Daß ihm der Welsche Antoinette weggelapert hatte,erschien beiden Kameraden selbstverständlich, und wenn Cilly vor dem Zusammentreffen durch Delierres siegesgewisses Einherfahren gereizt gewesen, so fühlte er sich jetzt frei von jeder Spur des Neides.
„Du,“ fragte er, als sie die beiden jungen Damen aus den Augen verloren hatten, „wer ist sie eigentlich?Ich meine, wie kommt sie zu Antoinette?“
Ein belustigter Blick Delierres streifte den Frager.„Sie hat dir wohl gefallen, he? Du meinst doch Lilian ?“
„Offen gestanden, ich hätte mir nicht träumen lassen, daß es so was gibt auf der Welt, ich meine einen Menschen... in dem ich so wiederfinde, was ich selber denke und fühle und der dazu so..... o Deli...so himmlisch lieb und schön ist. Deli, sag mir, wer sie ist t
Delierre blieb stehn und lachte aus vollem Herzen.„Tilly, Tilly, dich hat's.“
„Ja, es hat mich.“
In diesem Augenblick schon war es für Delierre ausgemachte Sache, daß er seinem Kameraden
aus der Känelmatt auch diese Beute abjagen müsse. Er war aber doch gütig genug, Heini
aufzuklären. „Lilian Merle,“sagte er mit einem Tönchen, als ließe ihn das alles gänzlich
kalt, „ist, soviel ich weiß, die Tochter einer verstorbenen Pensionsfreundin von Frau von
Guldwang. Diese hat sie in ihr Haus aufgenommen, daß sie ihr eine Gouvernante für
Antoinette erspare. Das ist für Antoinette und übrigens für uns andere auch recht
angenehm, denn Lilian ist nicht viel älter als Antoinette und dazu wirklich ein
liebenswürdiges Geschöpf. Man weiß nicht, wo sie herkommt. Sie weiß
„Bodenständig nennt man das,“ warf Heini ein,„aber das ist kein Nachteil.“
„Aber langweilig ist's.“
„Du, sag das einmal Antoinette!“
So disputierten sie ein paar Gassen lang die Stadt hinauf, als hätten sie Wunder was für Erfahrungen hinter sich.
Als Heini Tillmann am Abend einsam auf seiner Büde saß, strengte er sich ganz vergeblich an zu arbeiten. So hatte ihn noch nie etwas außer Stand gesetzt, fremde Gedanken in sich aufzunehmen. Woran lag es denn? Er hatte doch oft ohne die geringste Einbuße an Arbeitslust den schönen Begegnungen mit Antoinette nachgesonnen. Wie manche Dämmerstunde hindurch hatte er sich damit vergnügt, die wunderbarsten Luftschlösser auf die Freunöschaft mit der Prinzessin von Prankenau aufzutürmen. Aber das war's eben. Er wußte bei all diesem seligen Gedankenspiel,daß die Tuftschlösser dazu bestimmt waren, sich in nichts aufzulösen. Man konnte damit spielen, so lang es einem gefiel und hatte nicht einmal zu befürchten, daß der Dunst, in den sie sich auflssten, auch nur im Geringsten die Augen beizen würde. Aber nun hatte ihn der süße
Schreck des Erreichbaren überfallen, und ob er wollte oder nicht, etwas zwang ihn, seine Phantasie auf diesem Felde der Möglichkeit zu tummeln. Lilian Merle,die Einsame, die den gleichen Idealen nachsann wie er, ihr Interesse für die Cheologie, für se in CheologieStudium, die Gunst, welche sie beide bei der Familie Guldwang genossen, die Idee der Frau Dorothea, daß er sich der Cheologie zuwenden solle. Wenn aus diesen Zufällen nicht etwas Großes sich fügen ließt Das Endergebnis dieser Cräumerei war, daß Heini sich mit Ungestüm hinter seine Bücher machte. Er vertiefte sich in eine Aufgabe der analytischen Geometrie, rechnete und zirkelte und sah sich im Lampenschein wieder auf dem durchsichtigen Eise, über der dunkeln Tiefe schwebend, zu Lilian hingleiten. Es war doch seltsam,wie er da, ohne es zu suchen, so an sie heran geführt worden war. Aber nun die Analptische! Hol's der Kuckul, schon 11 Uhr! Jetzt drauf!
Die nächsten Tage kosteten Heini Tillmann viel Überwindung. Von den Lehrern wurde seine Unachtsamkeit auf das Konto der herannahenden Weihnachtsfreuden gesetzt, und es fiel niemand ein, etwas anderes dahinter zu suchen. Nur Delierre wußte, daß die Vögelchen,welche sein Kamerad auf alles hinkritzelte, Amseln,die Blumen, die er den Vögeln bald in den Schnabel,bald in die Krallen, bald zu Kränzen gewunden um den Hals zeichnete, Lilien vorstellen sollten.
Zwei Tage vor Weihnachten überfiel Heini der
Wonneschreck der Wirklichteit noch einmal. Er ward zu Guldwangs eingeladen. Anfangs ging es etwas géênant zu. Bei Tisch ließ man das Wort meist dem Pfarrer Jeanmaire. Hernach wurde es gemütlicher. Ein Weihnachtsbaum verbreitete im großen Salon Stimmung. Zum erstenmal seit langer Zeit bekam Heini wieder die erquickenden Stimmen Antoinettes und ihrer Mutter zu hören. Unter der Dienerschaft, die zum Gesang der Weihnachtslieder beigezogen wurde, entdeckte er ubrigens das NeßlerenMädi und andere Überbleibsel aus dem Prankenauer Hoffstaat.
Als diese Hilfstruppen aus dem Hinterhaus sich zurückgezogen hatten, löste sich die Gesellschaft in zwanglose Gruppen auf. Heini spähte nach einer Gelegenheit, sich in die Nähe der jungen Damen durchzuwinden,was auf dem dicken Teppich nicht so glatt lief wie auf dem Eise, denn es stand mancherlei vier und dreibeiniges Geräte herum, das sich aufs Ausweichen schlecht verstand. Er wollte zwischen dem Flügel und dem Weihnachtsbaum hindurchschlüpfen, als ihm Frau Dorothea den Weg zu seinem Ziele vertrat. Mit leuchtender Huld überreichte sie ihm zum Andenken an den heutigen Festtag ein Buch. Im Schimmer der Weihnachtskerzen glänzte der Aufdruck: „Heilig ist die Jugendzeit“. Kaum hatte er gedankt, so vernahm er dicht hinter sich die Stimme des Pfarrers Jeanmaire, der einen Blick voll Anerkennung auf das Buch warf und dann das Gespräch auf die Frage des Cheologiestudiums überleitete.
Der Pfarrer schien an Heinis Vorhaben warmen Anteil zu nehmen. Als der Gymnasianer auf die Möglichkeit hinwies, daß seine Pläne bei Vater Tillmann auf Wioderstand stoßen könnten, sagte Herr Jeanmaire;„Seien Sie ganz ruhig, junger Freund. Wenn es Gottes Wille ist, daß Sie sein Wort verkündigen, so wird er Ihnen den Weg dazu ebnen.“ Der Pfarrer lehnte sich bei diesem Gespräch an den Flügel, während Heini mit dem Rücken gegen den Weihnachtsbaum stand. Die Tannennadeln kitzelten ihn weniger als die fröhlichen Stimmen auf der andern Seite des Baumes. Das schien der Pfarrherr nicht zu ahnen,denn er hielt ihn mit seinem Gespräche ausdauerno fest.Erst als die jungen Damen, mit Thee und Bonbons an den Pfarrer herantraten, gelang es Heini, den Faden abzureißen und hinter dem Baume Deckung zu suchen. Heute brauchte doch mit dem TheologieStudium noch nicht begonnen zu werden. Was er aber heute in anderer Richtung versäumte, schien ihm viel schwerer wieder einzubringen. Sein Buch unter den linken Arm klemmend, nahm er von einer Dame eine Tasse Tee entgegen. Die Rechte brauchte er, um das Gebäck einzuheimsen, das Antoinette ihm anbot. Und nun kam Lilian noch mit einer silbernen Zuckerschale und dem Rahmtopf. Seine Unbeholfenheit wahrnehmend,warf sie ihm mit ihren rosigen Fingerspitzen zwei Zuckerbrocken in die Casse, goß Rahm nach, ohne auf ihre Frage: „Darf ich?“ eine Antwort abzuwarten.
Den Dank für die Erlösung aus seinen vor Freude kugelnden Augen lesend, zog sie Heini
behutsam die „Heilige Jugendzeit“ von dem befrachteten Herzen weg.Er strahlte wie der
Weihnachtsbaum. Daß er sonst noch etwas mit dem Lichterbaum gemein hatte, erfuhr er erst
durch den erschreckten Ausruf der Hausfrau.„Mon cher ami,“ sagte Frau Dorothea. „Sie sind
dem Baum zu nahe gekommen.“ Und alsbald richteten sich aller Blicke auf den armen Heini,
der ob diesem allseitigen Interesse um so tiefer errötete, als er die ganze Gesellschaft
lächeln sah. Noch wußte er nicht, was den Anlaß zu dieser halb bedauernden, halb
spöttischen Aufmerksamkeit gegeben, als Lilian ihn ganz fest beim Arm faßte und sagte:
„Kommen Sie ins Tazarett,Herr Tillmann!“ Die beiden Freundinnen führten ihn in das
Vestibule. Lilian verschwand, wie sie sagte, um einen Löffel zu holen. Unterdessen schob
Antoinette ihren Sommerfreund vor den Wanospiegel über dem Kamin und hielt ihm von hinten
einen Toilettenspiegel hin,so daß Heini seinen eigenen Rücken betrachten konnte.Nun kam
auch ihn das Lachen an, wenngleich ein gelbliches. Unter seinem linken Schulterblatt
gletscherte fast fingerbreit rotes Wachs über den Konfirmationsrock hinunter. Es bedurfte
keiner lebhaften Phantasie, um sich vorzustellen, Heini sei von einer Kugel ins Herz
getroffen worden. „Seien Sie getrost,“ sagte Antoinette, indem sie das Wachs abkratzte,
„das kriegen wir sauber weg.“ Unterdessen war Lilian wieder einge
Der Rest des Abenos verlief sehr fröhlich. Das kleine Abenteuer hatte nicht wenig
geholfen, Heini aus
„Da bringe ich Ihnen Ihr Buch,“ sagte Herr von Guldwang mit einem kaum wahrnehmbaren Anfluge von Heiterkeit. „Aber,“ fuhr er, gleich wieder ernst werdend, fort, „ich habe Sie nicht deshalb herausrufen lassen. Es ist leider etwas Wichtigeres.“ Herr von
Guldwang faßte Heini unter den Arm und ging mit ihm ein paar Schritte weiter. „Wissen Sie, daß Ihre Mutter schwer erkrankt ist? Nicht? Nun, ich vermutete es. Wir haben die Nachricht soeben aus der Känelmatt bekommen. Sie sollten gleich heimreisen,Heini. Erbitten Sie sich sofort Urlaub beim Rektor und dann kommen Sie zu meiner Stallung an der Junkerngasse. Ich lasse Sie heimführen.“
Heini ging im Kopf alles durcheinander. Er ahnte das Schlimmste und wäre am liebsten,
ohne auch nur die Mütze zu holen, weggelaufen; aber der väterlichen Freundlichkeit des
Herrn Fernand konnte er sich doch nicht widersetzen. Mechanisch gehorchend, lief er zum
Rektor und dann stracks die Stadt hinunter. Unterwegs begann er zu überlegen. Es mußte
Gefahr im Verzuge sein. Das hatte er deutlich herausgehört. Sollte er nun wirklich den
Wagen annehmen? Nein, er wollte sein Versprechen halten. Er durfte es nicht darauf
ankommen lassen, einen Mißtklang in das vielleicht letzte Zusammentreffen mit den Eltern
zu bringen.Mit dem festen Entschluß, dankend abzulehnen, bog er in die Junkerngasse ein.
Dort stand der Wagen bereit.Der Kutscher machte sich noch im Stalle zu schaffen,und bei
den Pferden stand neben dem NeßlerenMädi Cilian Merle mit einem Briefe von Frau
Dorothea.Beinahe verwünschte jetzt Heini das eben noch ersehnte Zusammentreffen. Aber er
raffte sich auf und ging geradewegs auf sie zu: „Cun Sie mir den Gefallen
„Wissen Sie denn nicht, daß es auf Minuten ankommen kann? Ihre Mutter ist sehr krank.“
„Ich muß es allerdings befürchten, Fräulein,“ erwiderte er, „aber es bleibt dabei. Warum, werde ich Ihnen hoffentlich später einmal sagen können.“
„Heini,“ mischte sich jetzt das NeßlerenMädi ein,„du wirst doch nicht so wunderlich tun, wo du doch gar nicht weißt ...“
Heini Tillmann hatte nicht zu Ende gehört. Die Mutze lüftend, war er davongeeilt. Lilian hatte noch die ersten Cränen über des armen, kämpfenden Burschen Wangen fallen sehen. Sie befahl Mädi, einzusitzen, dem Kutscher, sachte zu fahren. Frau von Gulöwang werde am Abenod doch Bescheid wissen wollen aus der Känelmatt, und vielleicht würde der junge Herr sich doch unterwegs noch eines andern besinnen. Dann ging sie heim, fest entschlossen, vorläufig für sich zu behalten, was Heini ihr anvertraut hatte. Vielleicht ließ sich so eine unnötige Verstimmung der Familie Guldwang vermeiden.
Es war ein widerwärtiges Wetter. Am frühen Morgen war Schnee gefallen. Zu beiden Seiten
der Tanöstraße griffen, Priester des Schweigens, die Alleebäume mit schwarzen Armen in den
Nebel, als wollten sie ihn niederziehen. Die sonst so lockende Ferne der Allee war
verhängt. Nichts regte sich als dann und
Von Heini Tillmann war weit und breit nichts zu sehen. Er hatte den kürzesten und
steilsten Anstieg aus der Stadt genommen und eilte nun schon weit draußen auf der
Landstraße dem Werlentale zu. Nicht links,nicht rechts blickte er. Naß vom Regen, naß vom
Schweiß,teuchte er durch die menschenleeren Dörfer und endlich den Prankenauer Berg hinan,
auch hier wieder auf dem steilsten Weg. Das UNebelgewölk hing bis über das Schloß
herunter, und das Tälchen der Känelmatt glich einem finstern Schlunde. Nirgends zeigte
sich ein lebendes Wesen. Beinahe graute Heini vor dem Pfad in die Matt. Ohne Atem zu
schöpfen, stieg er weiter. Das Stöckli stand wie ausgestorben in der Düsternis. Er keuchte
die Treppe hinan. Da trat Röseli auf die Laube hinaus, totenbleich und mit
rotverschwollenen Augen.Sie fiel dem Bruder um den Hals. Zu ersticken drohte sie. Erst als
sie fühlte, daß auch Heini in seinen triefend nassen Kleidern heftig zu zittern begann,
machte sich ihre furchtbare Herzensnot in aufschreiendem Schluchzen Luft. Heini faßte sie,
so fest er konnte, in seinen Arm und ging in die Stube der Eltern. Da lag im trostlos
grauen Dämmerlicht die Mutter mit gefalteten Händen auf dem Bette und schlief ihren
letzten Schlaf. Wieder warf sich Röseli an Heinis Brust, und er starrte, am ganzen Leibe
zitternd, über ihren verworrenen Lockenkopf hinweg auf das bleiche Gesicht der Mutter.
TLange standen sie so. Da ging jemand schweren Schrittes aus der Stube. Heini hatte gar
nicht bemerkt, daß der Arzt
Es dauerte eine Weile, bis Heini sich aufraffen konnte zur Frage: „Kommt der Vater?“
„Man hat ihm Bescheid gemacht,“ sagte die Schwester,„schon gestern abend, nach Interlaken. Aber vielleicht ist er nicht einmal dort.“
„Wann ist sie gestorben ?“
„Etwa vor einer halben Stunde.“
Da zuckte es seltsam in Heinis Gesicht. Er wankte zum Ruhebettlein und ließ den Kopf zwischen die Arme auf den Tisch fallen. Röseli sank neben ihm auf die Lehne des Ruhbetts und ließ ihre ratlosen Blicke zwischen dem schluchzenden Bruder und der toten Mutter hin und her schweifen. Die schauerliche Stille legte sich schwer auf des Mäochens junges Herz. Ihr war, als könnte sie diese würgende Last nicht länger tragen.„Heini,“ sagte sie, „sag' doch etwas, um Gottes willen!“Aber Heini brachte nichts heraus.
Endlich stand er auf. Er trat von neuem an der Mutter Bett. Röseli legte ihm beide Hände
auf die Schulter und schmiegte sich an den Bruder an. Wie still, wie stille war's um sie
hert Auch die Wanduhr war stehen geblieben, da niemand mehr sie aufgezogen.Niemand hätte
in Worte kleiden können, was auf dem feierlichen, eingefallenen und doch zufriedenen
Gesichte von Tavel, Heinz Tillmann. *
„Und wir haben nicht ein einzig armselig Blümlein,ihr in die Hand zu stecken,“ jammerte Röseli, durch das Fenster spähend, als sollte irgend in einem Winkel des verschneiten Gärtleins sich eine vergessene Blume noch finden. Da sah sie den Dotktor in seiner altmodischen Hasenpelzmütze nach dem Bauernhaus hinüberstapfen. Das war auch nicht einer von vielen Worten, obgleich er unendlich vieles zu sagen gehabt hätte. Wie oft war der im ganzen weiten Werlental herum dem Tode begegnet!
Der Doktor trat in die dunkle Küche des Bauernhauses, wo Frau Vreni eben anrichten wollte. „Der tusig Gotts Wille, Mutter,“ sagte er mit stockendem Atem, „geht hinüber ins Stöckli und schaut nach den armen Kindern, die kann man nicht so allein lassen mit der Toten.“
Das war der Bäuerin gar nicht kommod. Sie war sehr rumpelsurrig und hätte am liebsten gesagt, lebig machen könne sie die Nachbarin nicht und plären könnten sie drüben allein. Aber nimmermehr hätte sie so etwas über die Lippen gebracht. „He, me cha de ga luege,“sagte sie, „sobald mer g'ässe hei.“
„Und wenn Ihr sie würdet heisse zuechesitze? Für die zwei werdet Ihr wohl noch genug haben,“ oder ?“
„So gang du ga luege!“ sagte die Bäuerin zu ihrem Manne, worauf dieser mit dem Doktor hinübertrottete. Es war ja nicht, daß sie nicht Erbarmen gehabt hätte. Nein, aber es grauste ihr. Sie hatte eine abergläubische Furcht vor dem Code. Und sie wußte in aller HimmelsErdenWelt nicht zu trösten. Das heißt, eigentlich wohl; aber es kam dann immer so grobhölzig heraus. Einmal hatte man sie darob ausgelacht, und seither blieb sie immer so weit weg wie möglich.
Nach einigen Minuten kam der Bauer zurück mit dem Bescheid, das UNeßlernMädi sei drüben angerückt und mache sich mit dem Meitschi in der Küche zu schaffen.
„So?“ brauste Frau Vreni auf. „Das fehlte jetzt grad noch. Jetzt lauf und schaff', daß sie herüberkommen,Für ihrere drüũ werden wir's etwa noch machen können.“
Der Mann ging zögernden Schrittes, kam aber bald zurück mit dem Bescheid, der alte
Tillmann sei inzwischen heimgekommen, es sei wohl jetzt besser, die Leute drüben machen zu
lassen. Da hatte er recht ge
Hans Tillmann legte seine Arme um die beiden Kinder und seufzte: „Gott sei Dank, habe ich doch euch noch.“ Heini ward in dieser Umarmung seltsam zu Mute. Wohl fühlte er sich da geborgen, aber er wußte, daß er sich dieses Geborgenseins nicht lange würde getrösten können. Immer wieder blickte er verstohlen zu dem Vater auf. Das war doch merkwürdig.Wie oft hatte er ihn der Mutter gegenüber wegwerfend die Achseln zucken sehen, wenn sie ihm etwa sagte, der Mensch lebe nicht vom Brot allein, Freundschaft und Tiebe seien doch auch noch etwas wert und es lohne sich wohl, der Familie auch ihr Recht zu gönnen. Nie war er auf solche Gedanken eingegangen. Jetzt sah es aus, als wollte er sich an das klammern, was ihm von der Familie noch geblieben war.
VI.
Im Hause Guldwang wurde besprochen, wie man sich zu dem Codesfall in der Känelmatt
verhalten wolle.Wenn es sich gerade tun ließ, so pflegte die Familie an der Beerdigung von
Nachbarn der Schloßdomäne teilzunehmen. Das war eine Tradition, die man namentlich zur
Sommerszeit noch pflegte. Vater Tillmann freilich hatte das Seinige getan, um die
freunölichen Nachbarschaftsgefühle der „Herrschaft“ zum Erkalten zu bringen, und
schwerlich würde man ihm zuliebe die
Draußen, im sonst so stillen Werlental, war alles in einer sonderbaren fließenden
Bewegung. Ein wilder Weststurm suchte unter Fauchen die dichten Nebel aus den kahlen
Buchenwäldern zu reißen. In das Äüchzen
Viel schlimmer noch als um das Wetter stand es um die Gemütsverfassung des alten
Tillmann, dem der Ingrimm auf dem Gesichte lag. Die Lebensgefährtin,deren sterbliche Hülle
man da vor ihm hertrug, hatte
Wie Sturmgeheul klangen die verwehten Töne der Glocken, die jetzt deutlicher an sein Ohr schlugen. Du,riefen die Glocken, wir läuten der Seele zur Heimkehr,die nichts wissen wollte von solchem Kampf, die nur einen Kampf kannte: den gegen das Böse. Ist es dir nur um das Vermächtnis deiner Frau zu tun, nur um das Heil deiner Kinder? Ist nicht deines Herzens tiefste Regung die Vernichtung derer, die du hassest?
Drunten fuhr soeben die Equipage der X vom Kirchhügel hinweg nach dem Wirtshause von
In der kleinen kalten Tandkirche herrschte tiefe Stille. Es saßen da ein paar Bauernweiber, ins Schiff hingesäet, und in der zweitvordersten Bank eng zusammengerückt Frau von Guldwang mit den beiden Töchtern. Jetzt verstummten auch die Glocken, und die Stille wurde zum bedrückenden Schweigen des Codes.Gut, daß die Seitentüre geschlossen blieb; denn was da draußen auf dem Friedhof vor sich ging, würde allen Insassen der Kirche die Fassung genommen haben.Wer ermißt eines Knaben Weh, der den TCotenschrein seiner Mutter in das Grab sinken sieht? Die Einsegnung dauerte aber nicht lange. Kaum zehn Minuten nach dem Eintreffen des Leichengeleites ging die Türe auf.Schwerfällig und düster blickend kam Hans Tillmann hereingeschritten, und ihm folgten die beiden Kinder,deren fast zu Schreien gesteigerte Schluchzer die Stille zerrissen.
Die Rede des Pfarrers suchte Tillmann zu überhören, um nicht in Gegenwart fremder
Menschen der Rührung zu erliegen. Eine Ewigkeit dünkte ihn, habe
„... denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit. Amen. Und nun gehet hin im Frieden...“
Die letzten Worte des Pfarrers hörte Hans Tillmann nicht mehr. Mit dem Amen rannte er aus
der Mitte seiner staunend aufblickenden Kinder weg. Er tastete wie in Betäubung nach dem
verschnörkelten Griff des Türschlosses und taumelte, links und rechts anstoßeno,hinaus.
Noch hemmte der Anblick des offenen Grabes seinen Schritt. Er mußte noch einmal
hineinblicken.Aber kaum angelangt, ward er durch Schritte an der Kirchtüre aufgescheucht.
Um nicht den Weg der Teute kreuzen zu müssen, sprang er über die niedrige Kirchhofmauer.
In dem über dem hartgefrorenen Boden
Kaum vom Kirchhof herunter, war Hans Tillmann zum Bewußtsein gekommen, daß er seine Kinder im Stich gelassen in Gesellschaft der Frau, deren Einfluß er sie ja gerade entreißen wollte. Er hatte erwartet,sie würden ihm folgen, und nicht überlegt, daß sie solche plötzlichen Einfälle ihres Vaters gewohnt und anderseits zu schüchtern waren, um dem Pfarrer, während er noch sprach, unter den Augen wegzulaufen. Statt daß er sich nun die eigene Torheit zum Vorwurf gemacht hätte, verdroß es ihn, daß ihm die Kinder nicht gefolgt waren. Ihnen war er nicht gram; er hätte sie jetzt nur bei sich haben wollen, und weil sie ihm fehlten, grollte er desto mehr Frau von Guldwang.Ungeduldig spähte er nach dem Kirchhof, aus dem sich die wenigen Leute so rasch verliefen, als bliese der Sturmwind sie nach allen Richtungen.
In diesem Augenblick standen Heini und Röseli noch in der Kirche unter dem Zauber ihrer
schönen Gönnerin. Als Heini, etwas zaudernd, sich angeschickt,seinem Vater zu folgen,
hatte ihn der Pfarrer zu sich gewinkt. Er hatte vermutet, Vater Tillmann sei an
Schönheit und Güte schwebten auf dem edlen Gesicht der Frau von Guldwang, als sie Heini und seine Schwester bat, fortan ihr ein klein wenig von dem Vertrauen zu schenken, das sie ihrer Mutter entgegengebracht hätten. „Wißt, Kinder,“ sagte Frau Dorothea,„eure Mutter und ich, wir haben uns sehr gut verstanden. Gerne möchte ich euch beide bei der Hand nehmen und euch weiterführen auf dem Wege, den sie euch gewiesen. Es wäre doch zu schade, wenn ihr nun stehen bliebet, weil“ Frau von Guldwang vollendete den Satz zögernd, aber sehr überzeugt „euer Vater anders denkt.“
Diesen Worten folgte einer jener todesstillen Augenblicke, in denen, kaum in Augensternen bemerkbar,schwere Entscheidungen aufkeimen. Ob irgend einem der Dastehenden bewußt war, daß die liebenswürdige Frau dem vor Weh erschöpften Jüngling mit ihren Crostworten ein glühendes Messer ins Herz gestoßen hatte? Sie selber ahnte es am wenigsten. Ihr Gesicht verriet nur Genugtuung über eine Kundgebung frommen Wohlwollens. Wer aber den Stich mitverspürt hatte und darob erbleichte, das war Antoinette. Sie heftete einen langen Blick mißbilligenden Staunens auf ihre
Mutter. Und diesen Blick hatte Heini, dessen Tränen jählings vertrockneten, wahrgenommen.
In neuer heilloser Verwirrung verließ Heini, nachdem man sich freundlich verabschiedet hatte, mit seiner Schwester die Kirche. Umsonst hielten sie nach dem Vater Ausschau. Aber sie blieben nicht lange in Verlegenheit stehn. Dem Reden und Trostworteanhören durch Flucht sich zu entziehen, aller Höflichkeit und Sitte spottend, das sah dem Vater durchaus ähnlich.Er hatte solche Sprünge schon früher gemacht, in Situationen, die ihn viel weniger hergenommen hatten als der Cod seiner Frau. Im Gefühl, daß sie nun eben den Weg selbander und in gar manchen Dingen selbständig suchen müßten, gaben sich Heini und Röseli die Hand wie zwei kleine Kinder und wanderten stillschweigend der Känelmatt zu. Sie wurden es kaum inne, daß der Sturmwind sie von Zeit zu Zeit nötigte,mit der Hand den Hut festzuhalten, daß ihre Füße in Bächen von Schneewasser wateten. „Du,“ sagte nach einer Weile Röseli mit unmutig bewegter Stimme,„mich hat die Frau vom Schloß geärgert. Was weiß denn die von unserem Vater? Sie kennt ihn ja kaum.“
„Es hat mir auch wehgetan,“ antwortete Heini.„Sie meint's gut; aber da braucht sie uns nicht dreinzureden.“
„Ich hasse das,“ fuhr Röseli fort. „Man sieht grad, wie fromm die sich vorkommt. Aber, wer weiß,wenn man hineinschauen könnte in die Menschen ...“
Haß spürte Heini nicht. Er stand noch viel zu sehr unter dem Eindruck von Frau Dorotheas Holoseligkeit.Aber wenn die Dame etwa glaubte, sie könnte ihn auf dem Weg nach den ewigen Zielen von seinem Vater wegführen, dann sollte sie sich sehr getäuscht sehen.
„Nein,“ sagte Heini, „vom Vater lassen wir nicht.
Und wir lassen auch vom Wege der Mutter nicht.Aur Geduld! Er kommt schon noch mit uns. Wenn er einmal wieder zu Atem kommt, wird er dran zurückdenken.“
„Aber du, Heini, gelt, du bleibst auch ein wenig bei mir,“ bat Röseli. „Gott im Himmelt Was soll ich so allein da droben, wenn der Vater seinen Geschäften nachgeht ?“
„Weine nicht, Röseli. Das wird sich alles finden.“
Heini war sich klar bewußt, daß die kommenden Jahre ihn von seiner Schwester trennen würden, und er konnte sich noch gar nicht zurechtlegen, wie sie zusammen den Vater sollten umgeben können. Seine Gedanken an die Zukunft führten ihn wieder in die
Familie Guldwang. Unod da ergriff ihn die Verwirrung noch tiefer. Hatte er recht getan, Lilian so sehr ins Herz zu schließen, weil sie ihm erreichbarer schien?Der Blick, den Antoinette ihrer Mutter zugeworfen,ließ ihn im Herzen dieser Unerreichbaren ein Verstehen ahnen, das nicht ohne Eindruck auf ihn blieb.
Als die Geschwister heimtamen, fanden sie ihren Vater auf dem Ruhbett in der Wohnstube.
Er gab
VII.
Tange noch lag die Stille des Codbes um das Stöcklein in der Känelmatt. Selten nur sah man Fußspuren,die das einsame Haus mit der Tanöstraße verbunden hielten, denn der Winter warf jetzt erst recht seine Schneemassen auf die Berglehnen, und der Wind war hinter den Fußstapfen her, als gälte es, ein großes Geheimnis um den Hof zu weben. Aber das Räuchlein aus dem Kamin und manchmal auch das Glitzern einer Fensterscheibe verrieten, daß unter dem schneebeschwerten Dache noch Leben glimmte. Nach der Straße hin blieb die Schneedecke wochenlang unverletzt; aber durch die Hofstatt nach dem Bauernhause der hintern Känelmatt ging jeden Abend in der Dämmerung eine vermummte Mädchengestalt. Wenn sie zurückkehrte, schritt sie behutsamer. Das war das Röseli Cillmann. Es holte die Milch für den kleinen Haushalt, und das geschah mit einer so geräuschlosen Regelmäßigkeit, daß kaum je ein Wort darüber gewechselt wurde. Jeden Tag schöpfte der Bauer dem Röseli draußen im Kuhstall seine vier Becher in den Milchhafen. Man sagte sich guten Abend und gute Nacht und punktum. Wie sollte da Mattvon Tavel, Heinz Tillmann.
J
Vreni ihren Gwunder stillen? Aus dem Meitschi war auch dann nichts herauszubringen, wenn man sich ihm mit Fragen an der Stalltüre in den Weg stellte. So entschloß sich denn die Bäuerin, einmal ganz direkt in das geheimnisvolle Stöckli einzudringen. Als sie vor das Haus kam, drang ein leiser Gesang durch das Küchenfenster. Die Haustüre war nicht eingeklinkt, die Küchentüre stand offen. Da hockte, einem Cannstrunk mit gespreizten Wurzeln ähnlich, Frau Schraner auf der Küchenbank und hielt in ihrem Schoß die Kaffeemühle. Krumm quoll aus dem korbartigen Korsett ihr Oberleib. Sie trieb mit ihrem g'äderigen Arm die leise knarrende Kurbel und sang im Takt dazu: „Es ist bestimmt in Gottes Rat, daß man vom liebsten, das man hat, muß schaiden muß schaiden.“ Bei den letzten Worten ging die Kurbel mit besonders feierlichem Schwung. Mädi kannte nur diese beiden Zeilen;aber die wiederholte es, bis das Schublädli voll war.
Erst als MattVreni unter der Türe ausrief: „Eh der tusig Gotts Wille? Bist du da?“ blickte die gute Alte aus ihren gekniffenen Äuglein verwundert auf.In diesem Blick lag die Frage: „Und du, was willst du hier?“
„Ich habe gemeint, du seiest 3z'Bern inne,“ sagte Vreni.
„Was sollte ich dort? Es gibt Leute genug in der Stadt.“
„Du bist ja sonst immer mit der Herrschaft ...“
„He ja, wenn ich nichts Gescheiteres zu tun hatte;aber nötig bin ich dort nicht. Da bin ich mit der Frau eins geworden, ich wolle dem Tillmann ein wenig zur Sache schauen. Er ist gar oft fort, und das Meitschi kann man doch nicht so mutterseelenallein lassen.“
„So so.“
„Ist das etwa nicht recht, he?“
„Bhüet'is Gott wohl. Es geht mich ja nichts an...Aber ...“
„Aber was?“
„O, ich will nichts gesagt haben; aber wenn du dann ...“ Die Bäuerin drückte hinter sich die Türe ins Schloß. „Wenn du oppe solltest ds Cüfels Dant dafür haben, so wundere dich dann nicht z'hert, Mädi.Weißt ...“
Jetzt gab Mädi der Kaffeemühle ein paar schnelle Umörehungen und stellte sie neben sich auf die Bank.
„Es gibt deren mehr als genug,“ sagte es, „wo um Dank tun, was sich gehört. Gewöhnlich sind das die Gescheiteren. Aber es stünde übel in der Welt,gäbe es nicht noch ein styfs Küppeli Leute, wo dem lieben Gott und den Nächsten zulieb sich gern unter die Dümmern stellten. Wenn die Gescheiten wüßten,wie nötig sie die Liebe der Dümmern haben ...“
„Schon recht. Aber, was hast davon?“
„Davon haben! Wann ich dir just sage, ich begehre keinen Dank! Wenn man so wollte, es
wäre ja nicht mehr zum dabei sein. Hat mein Christen etwas
„Ja, ich denke manchmal, wenn unsereins nicht sein Guthaben im Himmel hätte ...“
Mädi hatte eine Hand voll Bohnen nachgeschüttet,trieb mit Wucht die Kurbel herum und sagte: „Selig sind die geistlich Armen, ihrer ist das Himmelreich,ihrer wird sich Gott erbarmen..“
Aber all das begehrte die MattBäuerin gar nicht zu hören. Um weiterzukommen, fragte sie deshalb:„Fürchtest du dich nie vor ihm?“
„Vor wem?“
„Dem Tillmann.“
„Warum sollte ich den fürchten? Der ist kein schlechter Mensch. Ihm mangelt nur eine Hand, die ihn streichelt, wenn ihm die Galle überlaufen will. Er meint's gut. Nur einen Gedanken hat er: seinen Kindern Weg zu machen zum Glück. Aber zornmütig ist er. Kommt ihm einer überzwerch, so weiß er sich nicht zu halten. Da hilft nichts, als geduldig streicheln, wie seine Frau es getan hat.“
„Hast du schon so etwas mit ihm erlebt ?“
„Grad apparti nicht.“
Mädi hielt inne. Es fürchtete zu viel zu sagen.Hatte es sich doch erst vor einigen CTagen verplaudert,indem es Tillmann verriet, daß bei Guldwangs ernsthaft vom Verkauf des Schlosses an den Staat die Rede gewesen sei. Hans Cillmann war daraufhin in große Unruhe geraten und gestern verreist. Seither machte die Alte sich Vorwürfe und hütete sich, irgendwem etwas auszuplaudern. Sie stand auf und wirtschaftete in der Küche herum, nur in kurzen Worten noch Bescheid gebend, bis die Bäuerin merkte, daß sie nichts mehr herausbringen werde, und ihres Weges ging.
Mädis Ahnung, mit ihrem Plaudern vom Schloß ein Unheil heraufbeschworen zu haben, war nicht unbegründet.
Noch ein halb Dutzend Wochen schlummerte die Känelmatt unter des Winters Bann, dann war
das Leben nicht länger niederzuhalten. Aus dem Schneemantel brachen grünliche Flecken
hervor. Die Bäche
In der Känelmatt fand er nur seine Schwester und Mädi. „Wo ist der Vater? Wann kommt er heim ?“Niemand wußte Bescheid darauf. Die beiden Kinder empfanden es als einen Schatten auf ihrer Wiedersehensfreude, und wenn Mädi ihnen zusprach: „Seiod nur froh, er findet seinen Frieden in der Arbeit und in der Sorge um euch,“ so dachten sie: Schon recht,aber .....
Das war es ja eben, womit er sich das Leben verdarb! Und sie fühlten sich wehrlos gegen diesen Arbeitsdrang, dessen Cragik sie zu ahnen begannen.
Sie verbrachten den Rest des Tages, indem sie selbander auf altvertrauten Pfaden nach den
ersten
Boten des Frühlings suchten nicht weit weg, denn sie wollten die Heimkehr des Vaters
nicht verpassen.Aber da und dort in den Stuben ein paar Veilchen,Anemonen, Leberblümchen
konnten nicht wenig zu einer behaglichen Stimmung beitragen. Mädi hatte im Schloß zu
schaffen, weil andern CTags jemand von Guldwangs kommen sollte. Die Kinder schlenderten
der Alten nach durch den Hof, über die Terrassen, in den Garten, wo auf dem frisch
keimenden Rasen Crocus in der Sonne leuchteten. Von denen pflückte man nicht, wiewohl es
erlaubt war. Diese Blumen würden dem Vater ihre Herkunft sogleich verraten haben. Sie
weckten Heini aus einer Träumerei. Er hatte liebreizende Wesen durch den erwachenden Park
wandeln sehen. Fort!Weg damit! Überhaupt, was hatte er mit seiner Schwester hier zu tun,
zu einer Zeit, wo der Vater jeden Augenblick die Straße heraufkommen konnte?„Wir wollen
heim,“ sagte er zu Röseli. „Er soll das Haus nicht leer finden.“ Wie verscheucht eilten
sie heimwärts. Aber die Schatten wuchsen, die Sonne verfing sich flammensprühend in der
Walofirst des Kriesberges, und Hans Tillmanns schwere Tritte hatten die Schwelle noch
nicht berührt. Der lichtblaue Himmel hatte sich verdunkelt. Kalt flimmerten die Sterne.Die
Geschwister setzten sich vom kommenden Sommer plaudernd, an den grünen Kachelofen,
indessen Mädi sich in der Küche zu schaffen machte. Nach einer längeren Pause des
Gesprächs fragte Heini: „Warum weinst
Des Frühlings schwere Müdigkeit hielt jedes in seiner Kammer umfangen. als ein dumpfes Geräusch ihren Schlaf störte. Sie hörten Schritte, hörten eine Stimme, aber der Schlaf ließ sie nicht zu vollem Bewußtsein kommen, kaum daß ihnen erdämmerte, der Vater sei jetzt auch da.
Mädi hingegen in ihrer Dachkammer hatte trotz der Ermüdung nur leicht geschlummert und war aufgewacht,als sie die Schritte und das Girren der Flurbretter gehört. Es folgte ein dumpfes Gepolter in Tillmanns Stube, und was sie vollends zum klaren Wachen brachte, war das verworrene, bald polternde, balod lachende Selbstgespräch, das aus der Stube heraufdrang. Mädi hörte die schweren Schuhe in den Gang fliegen. Dann schien auch in der Stube etwas niederzufallen. Ein kollerndes Geräusch folgte, ein verhaltenes Fluchen, ein erleichtertes Aufseufzen, und dann ward es stille.
Ein Grauen überfiel die alte erfahrene Magd. Sie kannte den Hans TCillmann. In
Selbstgesprächen hatte sie ihn schon ab und zu beobachtet; aber es war immer
Mit dem Schlaf war's vorbei. Hin und wieder dünkte Mädi, sie höre Cillmanns Stimme. Sie
erhob sich und legte ihr Ohr an eine Ritze des Fußbodens,nicht aus Neugier, sondern aus
Sorge. Wenn er die Lampe umgeworfen hättet Oder wenn ihm sonst etwas zugestoßen war! Sie
kleidete sich an und stieg hinunter. Ihr legte sich das Bangen in den Weg:Wenn er einen
bösen Wein trinkt der zornmütige Mensch! Wenn er dich erschlägtt Aber das Weiblein schritt
über solche Bedenken weg. An Tillmanns Cüre horchte sie einen Augenblick. Sie hörte ihn
ächzen.Behutsam öffnete sie die Türe ein wenig. Das Zimmer war finster. Nach dem Geräusch
seines Atems lag er im Bett. Jetzt redete er wieder von Geschäften von Alktien,
Dividenden. Beruhigt zog Mädi die Türe zu und kehrte in ihre Kammer zurüuck. Geschehen war
ihm also nichts. Aber ihre Angst war die Treubesorgte damit noch lange nicht los. Was jene
Wörter bedeuteten, die er ausgesprochen, wußte sie zwar nicht,
Unterdessen saß Hans Tillmann droben am Saum des Wälochens auf einem Eichenstrunk. Den
Kopf in die Hände gestützt, glotzte er, zwischen Katzenjammer und Triumph brütend, auf das
Schloß hinunter, auf
Hans Tillmann war gewiß ein nüchterner Mann der Arbeit; nie und nimmer erhob er Anspruch auf Ehren, die ihm nicht gebührten. Aber daß ihm die zu Unrecht gebrauchte Bezeichnung „Ingenieur“ angenehm klang inmitten dieser Gesellschaft, wo jeder,ob echt oder unecht, die dickstmögliche Uhrkette über den Bauch hängte was konnte er dafür? Daß die Eroberung von Prankenau seine Idee war, konnte übrigens niemanod bestreiten.
Soweit lagen die gestrigen Erlebnisse Tillmann klar
Ja nun also ..... Ach, wenn nur dieser scheußliche Brummschädel nicht wäre! Wieder und wieder durchging Tillmann in Gedanken den gestrigen Tag, immer schwankend zwischen rosigen Hoffnungen und unabtreiblichen Besorgnissen. Da tauchte aus der Mulde der Känelmatt Heini auf. An jedem andern Tage würde des Vaters Herz froh geklopft haben ob dem Anblick des schlank und kräftig aufgeblühten Jünglings. Heute war ihm die Begegnung ärgerlich. Entfliehen konnte er ihr nicht. Den Jungen in die Erlebnisse einweihen? Nein, heute besser noch nicht.
Noch hatte Hans Tillmann keinen Entschluß gefaßt,da stand sein Sohn neben ihm. „Guten Cag, Vater,“sagte er mit etwas erzwungener Unbefangenheit.
„Guten Tag,“ brummte der Vater, ohne den Kopf heben.
Verlegen blieb Heini eine Weile stehen. Dann ver
Er erhielt keine Antwort.
„Vater!“
„Laß mich in Ruh, Bub! Wenn's mir darum zu tun ist, komm ich schon von selber wieder hinunter.“
„Aber Vater, so solltest du nicht in der Gegend herumlaufen. Schau doch, wie du aussiehst !
„Ach geh doch! Vor wem sollte ich mich genieren?Etwa vor dem Alten da drunten im Schloß? Der hat jetzt ausgespielt.“
Heini ließ noch einen fragenden Blick auf der Gestalt seines Vaters ruhen, als wollte er sich überzeugen,ob denn das sein letztes Wort sei. Dann ging er langsam weiter, dem Wälochen entlang, und als sein Vater sich immer noch nicht rührte, stieg er verdrossen zur Känelmatt hinab. Dort fand er Mädi im Sonntagsstaat. ZPredigt wollte sie und riet den Geschwistern,sie sollten mitkommen. „Geh du!“ sagte Heini zu Röseli,„ich bleibe auf dem Posten. Es ist doch moöglich, daß der Vater bald heim kommt.“ „Ich will aber bei dir bleiben,“ erklärte Röseli, und so zog Frau Schraner allein ihres Weges.
An solchem Lenztag in der Stube zu bleiben, war einfach unmöglich. Heini und Röseli
machten sich vor dem Hause die Bank zurecht, wo man so oft mit der Mutter gesessen, ihr
das Herz ausgeschüttet hatte. Sie strichen dem Gartenhag, dem Bächlein entlang, hielten
Gegen Mittag kam der Vater heim. Ordentlich gekleidet setzte er sich mit zu Tisch. Häufig den Kopf in die eine Hand stützend, sprach er mit sichtlicher Überwindung. Um selber möglichst wenig reden zu müssen,stellte er Fragen an die Kinder. Dabei schien ihm an den Antworten wenig zu liegen. Er wollte wissen,wann Röseli in die Haushaltungsschule zu Kilchwerlen eintreten könne. Seine Pläne für das Mädchen zielten über diesen Kurs ins Welschland und in die Hotelbranche. Welsch und englisch vor allem
Nach dem Mittagessen nahm Tillmann seinen Schwarzen mit gehörigem Zusatz von Kirsch. Dann ging er in sein Zimmer und kramte in den Papieren.Als Röseli nach ihm sah, um ihn zu einem Spaziergang zu bewegen, lag er wie hingeworfen auf dem Sopha und schnarchte. Die Haushälterin riet den Kindern: „Heut ist nun einmal nichts zu wollen. Geht lieber ein wenig spazieren. Man muß ihn in Ruhe lassen.“ Was blieb ihnen anderes übrig? Um ja keinem
Bekannten Auskunft über des Vaters Befinden geben zu mülssen, schlichen die beiden durch
das KänelmattTälchen hinauf in die entlegenen Wälder, die sich längs des Lindentals nach
dem Emmental hinüberziehen.Eine Stunde mochte verstrichen sein, da erwachte Mädi, die sich
vor dem Haus in den Sonnenschein ge
„Wo sollten sie sein ?“* antwortete sie. „Es ist heute kein Schleck, in Eurer Nähe zu bleiben.“
Tillmann warf einen langen, verwunderten Blick auf Mädi. Sollte er ihre Bemerkung von der komischen Seite nehmen, oder galt es, eine unverschämte Einmischung rechtzeitig abzulehnen? Mädi mochte fühlen,was er überlegte. „He ja!“ fuhr sie fort. „S'ist emel wahr. Da kommt der Junge heim und freut sich,mit Euch den Sonntag zu verbringen, und erst das Röseli! Wenn Ihr wüßtet, wie die Kinder sich auf einen solchen Cag freuen! Seitdem die Mutter nicht mehr da ist, haben sie ein doppelt Anrecht auf Euch. Und nun seid Ihr so zu ihnent“
„Was?“ knurrte Hans Cillmann. „Wie bin ich zu meinen Kindern?“ Er war nahe an die Alte heran getreten und blickte ihr drohend in das Gesicht.
„Jedenfalls nicht, wie Ihr sein solltet,“ antwortete sie. „Was sollen die Kinder denken, wenn sie merken,daß ihr Vater einen bösen Wein trinkt? Das kommt nicht gut.“
„Habt Ihr mich vielleicht ein einzigmal betrunken gesehen, he?“von Tavel, Seinz Tillmann.
9
„Weiß nicht, wie Ihr gestern heimgekommen seid. Aber das weiß ich: So fängt's an.“
„Was fängt an?“
„Das unordentliche Wesen. Leugnet's nur nicht, Herr Tillmann! Gestern habt Ihr über den Durst getrunken.Und es ist grad genug an einemmal, wenn's ein Unglück geben soll. Grad just weil Ihr ein braver Mann seid, ist's schon zuviel an einem Mal. Es ist immer so. Bei einem Hudel kommt's nicht drauf an,ob er sich einmal oder hundertmal betrinkt. Aber ein solider Mann muß schwer büßen, wenn er e in mal nicht auf der Hut gewesen ist.“
Tillmann hatte sich abgewendet, stand mit den Händen in den Hosentaschen da und ließ durch ein eigenartiges Verziehen der Mundwinkel erkennen, daß er die Strafpredigt von der komischen Seite zu nehmen suchte.
Mädi sah das und ereiferte sich nur desto mehr.„Es gibt da gar nichts zu lachen.“
NAun tat er, als schüttelte es ihn nur so vor Lustigteit. Mädi aber merkte wohl, daß es nur jenes gezwungene Belustigtseinwollen war, das oft einem Wutausbruch vorausging. „Wo sollen die Kinder hin, wenn sie kein Heim mehr finden, da wo ihr Heim gewesen?Ihr dürft Euch nicht wundern, wenn sie dann anderswo Rats suchen und ihr Vertrauen Leuten schenken, die auf festerem Grunde stehen, auf dem Grunde, da Eure selige Frau drauf gestanden Herr Tillmann!“
Damit war Tillmanns Heiterkeit abgewürgt. Ein
„Ja,“ bekräftigte es, „was Ihr Eurer Frau zulieb lassen konntet, solltet Ihr erst recht den Kindern zulieb meiden.“
Ein rollender Fluch glitt Tillmann über die Lippen.„Saufe ich etwa zu meinem Vergnügen? Was wißt doch Ihr, was ich tue! Grad um der Kinder willen muß ich dabei sein. Was wißt Ihr davon, wie's in der Welt zu und her geht! Schön und recht mit dem gottselig abseits stehen; aber wer nicht mit dabei ist,wo der Braten geteilt wird, der soll sich dann auch nicht wundern, wenn er nebenab kommt, Frau Schraner.Und ich bin nicht einer von denen, die ihren Kindern allerhand frommen Trost mit auf den Weg geben und sie am Bettelstab zurücklassen. Darüber, wie man im Leben zu etwas kommt, braucht mich niemand zu brichten,am wenigstens eins, das selber über nichts gekommen ist, Überhaupt Himmelherrgottsd .....10 Tillmann hatte die Fäuste geballt und wandte sich zum Davonlaufen; aber es war, als hielten die Sanosteinfliesen,auf denen seine Frau ihre Sohlen sich abgelaufen, seine Füße fest, so daß er der Haushälterin einfältige und doch treffsichere Hiebe noch weiter auffangen mußte. Er wollte den Platz behaupten. Am liebsten hätte er sie fortgejagt; aber eben... Daran hinderte ihn etwas und dann mußte der Streit mit Mädi zum Schweigen gebracht sein, ehe die Kinder heimkamen.
„Nur geflucht!“ sagte die Alte. „Aber die verachtete Gottseligkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses Herr Tillmann dieses Lebens und auch des zukünftigen. Es wäre besser, Ihr ließet die Hand vom Spelulieren. Ihr werdet dem Zeug doch auf die cänge nicht Meister. Solches kann zum Reichtum führen,aber in braver Leute Händen kann's doch zum Unglück ausschlagen. Und was haben dann die Kinder davon?Spitzbuben vermögen den Teufel vor ihren Wagen zu spannen; aber wenn ein Rechtschaffener ihn am Schwanz faßt, so muß er mit davon, weil er nicht weiß, wann man mit dem geringsten Schaden loslassen kann.“
Was war nun das? Wie kam Mädi auf den Gedanken, ihn vor Spekulation zu warnen, sie, der er nie ein Wort von seinen Geschäften gesagt? Cillmann war das fast unheimlich, und weil ihm, nicht minder als zdiesem dummen Weiblein da, das Gefährliche seiner Pläne bewußt war, wollte er sich auf weiteres nicht mehr einlassen. Er nahm Hut und Stock und lief der
Straße zu. Ob und wann die Kinder heimkamen,danach fragte er nicht mehr. Er lief talwärts
und wälzte in einer ewig wiederkehrenden Reihenfolge seine Sorgen im Kopf herum. Bald
ärgerte er sich darüber,daß er vor Mädi das Feld geräumt hatte. Mit den Kindern hätte er
freilich gerne den Abend zugebracht. Vielleicht hatte die Alte doch den Takt, in ihrer
Gegenwart zu schweigen. Aber nun fiel ihm ein, daß auch Heini ihm Vorwürfe gemacht. Er
hatte keine Lust,
Nicht doch! Aber vielleicht um des Heims willen, dessen die Kinder bedurften? Ach was! Alter Esel, weißt du noch nicht, daß solchen Cräumen doch immer die Enttäuschung folgt? Sollte er's darauf ankommen lassen, daß Kinder aus einer zweiten Ehe seine Pläne zunichte machten?
Tillmann erhob sich und wollte seinen Schoppen bezahlen. Er wollte hinauf, in die Känelmatt, war er doch Manns genug, um heute noch mit seinen Kindern ins Reine zu kommen. Sie mußten wissen, daß er auf festern Füßen stand, als es heute morgen den Anschein hatte.
Da näherte sich draußen Pferdegeschell. Statt Tillmann Bescheid zu geben, lief die Kellnerin hinaus. Unmutig warf der mißachtete Gast sein Gelostück auf den Tisch, drückte den Hut in die Stirn und verließ die Gaststube, um nach der Bergseite zu entkommen. Kaum hatte er sich im Hausgang der hintern Türe zugewandt,so hielt ihn eine ihm wohlbekannte Stimme zurück.„So, so, der Herr Tillmann will auf und davon, wenn man just mit ihm zu reden hätte?“ Es war der Gemeindepräsident von Rafeldingen, der trotz der Dunkelheit des Ganges die mächtige Gestalt Tillmanns erkannt hatte.Zu den Männern, die ihm folgten, sagte er: „Das trifft sich jetzt aber gut! Jetzt können wir mit dem Inschenör grad noch zBode reden wegen der Entsumpfung droben auf der Prankenauzelg.“ Geärgert über die sein Vorhaben durchkreuzende Begegnung, stierte Tillmann, die
Hände in den Rocktaschen, einen Augenblick vor sich hin.Aber bald fügte er sich dem Zufall. In Geschäftssachen durfte nichts versäumt werden. Und Hans Tillmann kehrte mit den Gemeinderäten in die Gaststube zurück.
4 *Auf der Bernstraße rollte der elegante Tandauer der Guldwang. Zur Linken lag alles in tiefem Schatten,während die Strahlen der Abendsonne über den Kamm des Amselberges hinweg ihren goldenen Schein droben in die Fenster des Schlosses und der an den Hängen zerstreuten Bauernhäuser warf. Es war empfindlich kühl, so daß man beidseitig die „Glacen“ des Wagens heraufgezogen hatte. Auf dem Rücksitz saßen Frau Dorothea und Antoinette. Dieser gegenüber kauerte träumend neben Lilian Merle Heini Tillmann. Er saß wider Willen da. Schon hatte er, als der Wagen ihn drunten auf der Talstraße einholte, sich eine Lüge zurechtgelegt, um eine Einladung zum Mitfahren abzulehnen. Aber im Handumorehen hatte die kategorische Güte der schönen Frau Heinis Ausreden zunichte gemacht.
„Machen Sie keine Flausen, Heini! Fir! Herein!Wir haben nicht umsonst anhalten lassen.“
Und weiter rollten die blinkenden Räder. Der Jüngling kam sich mit seinem zerbrochenen
Trotz, seinem Gram über den verfehlten Sonntag und all den trüben Aussichten ganz am
unrechten Ort vor. Wenn er sich
Wagen machte eine jähe Bewegung seitwärts und fuhr ganz langsam. Man horte die Hufe unruhig trappeln.Dem Kutscher war ein Ruf des Unmuts entfahren.Dann zogen die Pferde heftig an und gingen eine kurze Strecke im Galopp. Im ersten Schreck hatten die Insassen des Wagens nach der Ursache der Störung geblickt, leise Ausrufe auf den Lippen. Dann aber, während die Pferde wieder in ruhigen Trab übergingen,richteten sich Aller Augen auf Heini. Niemand ließ ein
Wort laut werden. Frau von Guldwang, Antoinette und Heini wußten, warum die Pferde
gescheut hatten.Es waren Schimpfworte durch die geschlossenen Fenster
Heini lehnte sich unwillkürlich zurück, um sich dem einfallenden Licht zu entziehen. Dann reckte er sich wie in körperlichem Schmerz und barg sein Gesicht an der Wand des Wagens. Gott! Wenn er nur aus diesem Kasten hätte entfliehen können! Er fühlte, wie eine schlanke Hand in Glackhandschuh seine Linke ergriff und zärtlich preßte. Es war Frau Dorothea. Niemand antwortete auf Lilians Frage nach der Ursache des Zwischenfalls.
Auf der ganzen Fahrt sprach niemand mehr davon.Heini brachte überhaupt kein Wort mehr
über die Lippen. Er schämte sich. Seines eigenen Vaters mußte er sich vor diesen Leuten
schämen, die Hans Tillmann so sehr verachtete, weil er in ihnen nur Schmarotzer sah. Warum
schwiegen sie jetzt alle drei? Wenn sie nur nicht hochfahrend und selbstgerecht über
seinen armen Vater richteten, sonst mußte er sie hassen die ganze Sippe, denn der Vater
verdiente noch lange nicht Verachtung, er war kein Säufer, kein Schwächling, der aus
Genußsucht trank, er war nur das Opfer seines Erwerbseifers geworden, nur dies eine
Mal.
Der Wagen ratterte auf hartem Steinpflaster. Links und rechts flimmerten viele Lichter durch die leicht angelaufenen Scheiben. Schatten von Pfeilern und Bogen huschten vorüber. Dazwischen leuchteten die hellen Schaufenster von Kaufläden.
Vor dem Guldwangschen Hause hielt die Kutsche.Heini verließ sie zuerst und wartete mit Ungeduld auf die andern, um sich zu verabschieden. Er bot Frau Dorothea die Hand und dankte. Da überraschte sie ihn mit der Frage: „Heini, werden Sie in Ihrer Wohnung zum Nachtessen erwartet?“ Sollte er lügen und ja sagen? Sein Zögern war Antwort genug für Frau von Guldwang. „Kommen Sie mit hinauf! Sie essen bei uns!“ befahl sie mit senem Zauber, der den Jüngling immer zu Boden warf.
Heini mußte voran die Creppe hinaufsteigen, und er ging wie einer, den man in den Turm
abführt,während hinterher Antoinette mit vorwurfsvollen Augen ihrer Mutter zuflüsterte:
„Er wäre gewiß lieber heimgegangen.“ Sie bekam keine Antwort. In diesem Augenblick machte
die verwöhnte, ihrer von Ontel Scip geweissagten Schoönheit entgegenreifende Antoinette
von Guldowang in ihrem Herzen mit dem kleinbürgerlich biedern Heini Tillmann einen Bund.
Heini war nicht umsonst ein schöner Junge. Schlank war er und hübsch von Angesicht, und in
seinen treuherzigen Augen hatte
4*sich das Leiden eines Knaben hingelagert, das nach einem verstehenden Herzen schrie. Aber Prankenau Känelmatt! Ahnherren, die den Königen von Frankreich mit Crotz in die Augen geblickt Vorfahren,die als Bäuerchen ihre Garben den Herren von Prankenau zu Füßen gelegt! Wie sollten diese beiden Linien sich je vereinigen? Können Steine sich erweichen? Pah, wo Liebe gottgeborenes Verlangen des Leidenden zum Leidenden das Gold erwärmt, da springen die Perlen aus der Fassung und rollen mit ihrem milden Licht in den Staub der Werkstatt.
Heini Tillmann wurde in das Coilettezimmer des Herrn Fernand geschoben, vor einen elegant
ausgestatteten Waschtisch. Ein Kammermädchen mit weißem Häubchen goß ihm Wasser in die
Waschschüssel und reichte ihm eine frische Serviette. Als es die Türe geräuschlos hinter
sich geschlossen, ließ Heini seine verwirrten Blicke in dem eleganten Raum
herumschweifen.Das Aufheulen hatte er zuvorderst. Was hätte er um die Einsamkeit seiner
Studentenbude gegeben Kaum wagte er seine Hände an dem tadellosen Handtuch abzutrocknen.
Nun mußte er einen ganzen langen Abend noch an sich halten. Er wußte nicht, sollte er
diese in sonderbarer Weise bändigende Kultur verwünschen oder hatte sie vielleicht doch
noch ihr Gutes? War all diese verfeinerte Lebensart eines der Mittelchen zur Überlegenheit
der höhern Gesellschaftsktlassen? Diskussionen mit den Kameraden fielen ihm ein. Aber
durch
Während Herr von Guldwang sich die Hände wusch,ertönte eine Glocke, und bald darauf saß man am wohlgedeckten Cisch. Von des Gymnasianers Riesenappetit,der sonst den stillen Spaß der herrschaftlichen Familie ausgemacht, war heute gar nichts zu merken. Herr Fernand suchte seinem jungen Gast die Zunge zu lösen durch Erkundigung nach den Aussichten der unmittelbar bevorstehenden Maturitätsprüfung, nach dem Schulund Vereinsleben. Der Frage, ob er seinem Entschluß,CTheologie zu studieren, treu bleiben werde, ließ Herr von Guldwang, ohne die Antwort abzuwarten, gleich eine eindringliche Ermunterung folgen. „Das wäre nicht nur eine schöne Laufbahn für Sie, Heini,“ sagte er, „es wäre geradezu ein Verdienst um das Volk,denn es gibt nie genug Pfarrer, die aus wahrem Herzensorang ihrem Beruf leben. Der Segen Ihrer
Mutter würde Sie Ihr Leben lang als das tostbarste Zehrgeld begleiten.“ Herr Fernand redete fürbas, indes seine Frau und Antoinette auf Gesicht und Händen des armen Jungen Weh und Wirrnis zucken sahen.Den dankbarsten Zuhörer fand der Hausherr an Lilian Merle, die mit leuchtenden Augen an dem Gespräche teilnahm und sich aus der Lobpreisung des Pfarrerstandes ein Verdienst zu machen schien. Ihr war es beschieden, Heini Cillmann wenigstens auf Augenblicke seiner Qual zu entreißen. Die naive Wärme, mit der das liebliche Geschöpf von dem hohen Berufe sprach,löste die Schwingen von Heinis Phantasie. Fürwahr,es war ein sonniger Ausblick mitten durch das schwarze Gewölk, das ihn umgab.
Frau Dorothea hatte sich an dem Gespräch nicht beteiligt. Als ob die Unterhaltung
außerhalb ihrer Hausfrauenpflicht läge, hatte sie sich nur mit ihrer Teemaschine und dem
übrigen silberglänzenden Geräte der Cafel abgegeben. Im Salon flackerte zwischen den
Fenstern ein Kaminfeuer. Herr Fernand hielt Heini sein Zigarrenetui hin und lehnte sich,
von Zeitungsnachrichten plaudernd, an das Marmorgesims der behaglichen Feuerstätte,
während die jungen Damen sich am Flügel zu schaffen machten. Aus der Musik wurde jedoch
zunächst nicht viel, denn sobald Frau Dorothea,die inzwischen ihre hauswirtschaftlichen
Ordres ausgegeben hatte, im Salon erschien, lenkte sich die Aufmerksamkeit wieder auf
Heini. Frau von Guldwang
„Sagen Sie mir, lieber Heini,“ begann Frau Dorothea leise und vertraulich, „wie geht es denn Ihrem Vater, seitdem Frau Tillmann gestorben ist? Er ist wohl meist bei seinen Arbeiten im Oberland?“
„Ja. ich bekomme ihn sehr selten zu Gesicht. Und wenn er heimkommt, so ist er mit seinen Gedanken doch immer bei den Geschäften. Ich fürchte, er wird immer mehr darin aufgehen.“
„Was baut er denn eigentlich?“
„Jetzt arbeitet er noch an der Bahnlinie im Schieferbachtal. Hernach wird ihn die Unternehmung der oberländischen Kuretablissements vollauf in Anspruch nehmen.“Heini sagte das mit einem gewissen Stolz. Den Blick, welchen Herr Fernand mit zugekniffenen Augen über die Zeitung hinweg auf ihn warf, verstand der JZüngling ganz falsch. Er dachte, Herr von Guldwang hielte seinen Vater nicht für finanzkräftig genug, um bei einem so bedeutenden Unternehmen aktiv beteiligt zu sein. Darum versicherte er: „Mein Vater ist Teilhaber des Konsortiums.“
Während nun der Bankier im Kaminfeuer herumstocherte, fuhr seine Frau fort noch leiser als vorhin:
„Sagen Sie mir: kommt es oft vor, daß Ihr Vater über den Durst trinkt ?“
Heini zuckte zusammen. Sollte er den Beleidigten spielen? Er konnte nicht. Frau von Guldwang hatte ihre Hand auf die seine gelegt und sprach in sehr teilnehmendem Tone. „Denken Sie nicht, daß ich mich in etwas mischen wollte, was mich nichts angeht oder daß ich über Ihren Vater richten möchte. Im Gegenteil.Sehen Sie, lieber Heini, ich möchte nur Ihnen beistehen. Ich weiß ja wohl, sein Beruf bringt das vielleicht mit sich. Wenn man so oft bei schlechtem Wetter im Freien arbeiten muß. Aber solche Sachen wie heute sind doch sehr, sehr fatal und könnten Ihrem Vater furchtbar schaden. Zu Lebzeiten Ihrer Mutter ist das sicher nie vorgekommen.“
Antoinette und Tilian lauschten gespannt auf die allmählich etwas lauter werdenden Worte der Frau von Guldwang.
„Ist Ihnen nicht bange dabei?“ fragte sie.
„Entsetzlich ist es mir. Ich kann Ihnen zwar versichern, daß es meines Wissens bis jetzt nie in dem Maße vorgetommen ist, und vielleicht bin ich ein wenig mitschuldig, weil ich heute nicht zuhause blieb. Aber was ich tun soll, wenn es wieder geschieht ...“?
„Sie selber werden nicht viel tun können. Hat Ihr Vater nicht einen Freund, der auf ihn einwirken könnte ?
„Ich weiß keinen.“
„So müssen wir jemanden suchen, der bereit wäre,mit ihm ein Abstinenzgelübde einzugehen.“
„Mama, das wirst du nicht tun“
Aufs Höchste erstaunt, wandten sich alle nach Antoinette um, die in aufwallendem Zorn nahe an die Sprechenden herangetreten war.
„Was werde ich nicht tun?“ fragte Frau Dorothea gereizt.
„Was du eben Heini vorgeschlagen hast.“
Frau von Guldwang lachte gezwungen. „Ich werde tun, was ich für meine Pflicht halte, und daran wird mich Mademoiselle Antoinette nicht hindern. Im übrigen gehört die Sache allerdings nicht hierher, wenn ihr beiden lange Ohren machen wollt. Nun,“ wandte sie sich jetzt zu Heini, „wir werden noch darüber reden.Bis dahin überlegen Sie sich, ob nicht jemand zu finden wäre ... Und ihr beiden spielt uns lieber noch etwas!Oder wart, Lilian, nehmen wir nochmals unsre liebe Ouvertüre vor!“
Frau von Guldwang setzte sich mit Lilian an den Flügel. Heini stand hinter ihnen. Aber er hörte kaum,was gespielt wurde. Die leidenschaftlich zürnenden Blicke,mit denen Antoinette aus dem dunkeln Winkel, in den sie sich zurückgezogen, ihn verfolgte, verwirrten ihn von neuem. Wie reimte sich ihr Auftreten mit der gütigen Teilnahme ihrer Mutter? Wem sollte er recht geben?
Heini sann über all das nach, bis ihn schließlich doch die Musik und der Anblick der Spielenden davon ablenkten. Erst waren es die wohlgepflegten Hände der Hausfrau, die seine Blicke auf sich zogen. So eben, wie von Tavel,. Seinz Tillmann.
710
Viel tiefer als Heini Tillmann selbst hatte die Erbin von Prankenau das Weh über den Fall
des alten Tillmann ergriffen. Schrecklich, unerträglich schien ihr Heinis Schicksal zu
sein. Seinen eigenen Vater betrunken auf der Landstraße zu treffen? Am hellichten Cage.
Von
In einer Pause des Spiels erhob sich Frau von Guldwang, um andere Notenhefte zu suchen. Heini blieb sinnend an der Wand stehen. Tilian, welche glaubte, ihr Zuhörer hänge seinen trüben Gedanken nach, lehnte sich zurück und flüsterte ihm zu: „Wenn Sie jemanden brauchen, der bereit ist, mit Ihnen das Abstinenzgelübde zu teilen, so zählen Sie auf mich.Ich würde Ihnen so gerne beistehen.“ Heini war das Törichte dieses Anerbietens klar; aber er war hingenommen von der Freundschaft, die ihm das Mädchen damit bezeugte.
Antoinette, nun lässest auch du dich vielleicht gütigst herbei, uns deine Kunst zu zeigen. Hier wäre das vermißte Schumannheft.“ Mitten im Salon stehend, hatte Frau Dorothea das Antoinette zugerufen, in der selbstverständlichen Erwartung, daß ihr Wunsch sofort erfüllt werde. Es war kein rosiges Antippen gewesen. Trotzdem oder vielleicht deshalb versagte ihre Autorität.„Ich mag heute nicht spielen und singen erst recht nicht.“Das war alles, was die Mama zu hören bekam.
„Sehr artig!“ sagte sie spitz und setzte sich ans Feuer.
Der Rest des Abenss verlief still. Die Laune der Hausherrin war verdorben, und die
Gemütlichkeit machte leise hinter sich die Salontüre zu. Heini Tillmann, der keine Tust
verspürte, angetippt zu werden, lauerte auf
Aus Rand und Band vor Jugendoseligkeit trotz des trüben Tages, der hinter ihm lag wäre
Heini mit den sonnigen Blicken, die ihm Lilian mit auf den Weg gab, die Treppe
hinuntergesprungen; aber der Abschied von Antoinette hatte ihn vor ein Rätsel gestellt.
„Sie muß sehr schlechter Laune sein,“ sagte sich der Jüngling, und bald hatte er sich
zurechtgelegt, daß neben der Verstimmung über ihre Mutter Eifersucht gegen Lilian ihr Herz
ergriffen habe. Es war also eine Mädchenlaune, die er nicht tragisch zu nehmen
brauchte.Und was sollte er sich damit beschweren, jetzt, wo er in Lilian einen Engel
gefunden, der ihn durch die unheimlich düstere Zukunft geleitete und der nicht als ein
unfaßbares Phantom vor ihm her schwebte, sondern in Fleisch und Blut an seiner Seite ging?
Er konnte sich nur nicht erklären, warum trotzdem der zürnende Blick der Unerreichbaren
ihn nicht zur Ruhe kommen ließ.VIII.Im Pfrundgarten zu Dentenried saß, in die Medea des
Euripides vertieft, Pfarrer Dengeler. Ein Wust von Papieren und Büchern bedeckte den
Tisch, von dem
Herr Dengeler feilte am Schlußchor seiner MedeaÜbersetzung, da ... was war das? Durch das Summen und Cirilieren klang ein Con aus lang entschwundener seliger Jugendzeit. Deutlich hörte er: post jucundam juventutem, post molestam senectutem. ..“Pfarrer Dengeler blickte in die summenden Baumkronen und lauschte.
„Herr, mein Gott!“ entglitt es leise seinen Lippen.Da sprangen am Pfarrhaus auch schon
die Fenster und Türen auf, und aus allen Löchern stürzte die Freude heraus. „Der Franz!
Der Franz!“ scholl es uberall hervor. Die ganze Pfarrfamilie versammelte
Als das Freudenglöcklein nicht mehr Gefahr lief sich zu überschlagen, zog man in den Garten, wo Euripides den tannenen TCisch bald einem blinkendem Kollegium von Bierflaschen überlassen mußte. Marcel Delierre entwischte ob dem Anblick der griechischen Lettern ein für Pfarrgärten durchaus unpassender Ausruf.Papa Dengeler lachte hellauf, spielte aber im Namen des klassischen Altertums den Beleidigten und hob den Fehdehanoschuh kampfeslustig auf: „Ei ei, Herr Delierre,das ist ein Sakrilegium.“
Marcel, auf dessen hübschen Zügen die freudige Erwartung des freien akademischen Lebens das Übernächtige bereits verdrängt hatte, wies mit wegwerfender Gebärde auf die alten Bücher und sagte: „Diese Schiffe haben wir hinter uns verbrannt, die Quälerei hat ein Ende.“
Während sich, nur durch gelegentliches Zutrinken unterbrochen, ein Geplänkel zwischen dem Pfarrer und den Freunden seines Sohnes entspann, hatte der versonnene Heini Tillmann seine Nase in die „Medea“gesteckt.
Da klappte ihm Mirabeau, der sich schon unterwegs an seiner Träumerei gestoßen, das Buch zu, gab ihm einen Bor und rief unter dem zustimmenden Gelächter der kleinen Tafelrunde: „Du!“
Tillmann mußte selbst mitlachen, warf den Kopf in den Nacken und gönnte seinen müden Augen nun auch wieder die Herrlichkeit des Frühlings.
„Und Sie?“ wandte sich Pfarrer Dengeler an Heini,der die Frage nicht begriff und darob erst merkte, wie weit ab er mit seinen Gedanken gewesen. Auf ein erneutes Gelächter wiederholte der Pfarrer: „Es heißt,Sie werden sich der Cheologie zuwenden ?“
„Und er weiß schon eine Pfarrfrau,“ platzte Delierre heraus. Blutrot übergossen, antwortete Tillmann:„Ich hätte Lust dazu, aber ich weiß noch nicht ...“Man wartete nicht auf die Vollendung von Heinis Antwort. Das Gespräch sprudelte weiter, und Papa Dengeler machte sich einen Spaß aus dem entbrannten Streit zwischen Humanisten und Realisten. Wie ein gepolsterter Fechtmeister fing er spielend die Hiebe und Stiche es waren ja eigentlich mehr Huftritte von Mauleseln auf. Und wenn er einmal selbst ausfiel,so wußten die Jungen nur schlecht zu parieren. „Praktisch wollt ihr sein,“ sagte er. „Ihr meint, das bedeute Geld zusammenraffen; viel konsumieren heiße viel genießen. Ich aber sage euch: Stark lebt, wer wenig braucht. In vollen Zügen genießt, wer nichts hat.“
„Vide exemplum!“ rief der übermütige Mirabeau dazwischen, indem er dem Pfarrer das leere Bierglas hinhielt.
„Ganz recht,“ antwortete der alte Herr. Er erhob sich, in der Rechten eine Bierflasche.
Mit dem Zeigefinger der Linken suchte er seinen Worten Nachdruck zu verschaffen. Er sah
aus wie Einer, der seinem Hündlein den Zuckerbrocken hochhält, um ihm das
Männchen
24 machen beizubringen. Und während der Schaum aus der Flasche quoll und in großen Flocken auf den Tisch tropfte, fuhr er fort: „Sehr richtig, Mirabeau, aber was verschafft Ihnen den größern Genuß, der Besitz des Getränkes oder das gelassene Vertrauen, daß Ihnen von dem köstlichen Nektar, der hier zu Ihrer Augenweide überquillt, das bekösmmliche Maß zufließen werde?Geben Sie mir zu: die Erwartung die vertrauensvolle erquickt, während das unvermeioliche Zerfließen des Besitzes unter Ihren Händen Sie mit Bedauern und Sorgen erfüllen muß. Das eben ist die Tragik des materiellen Lebens, daß es seine Befriedigung nur im Verzehren, also eigentlich im Vernichten findet und immer das Ende nahen sieht. Unsere große Täuschung besteht eben darin, daß wir dieses verzehrende Genießen für das Leben halten, während das reale Leben in der Unabhängigkeit vom verzehrenden Genuß besteht,im Suchen und Schaffen unvergänglicher Werte.“
Die sungen Leute fühlten gar kein Bedürfnis über den Sinn des Lebens nachzudenken. „Was nützt,“sagte Mireabau, „das vertrauensselige Erwarten, wenn darob der köstliche Trunk sich in Schaum auflöst und zur Erde sickert ?“
„Bravo,“ rief Delierre. „Ich meine, was das Leben lebenswert mache, sei nicht das müßige Warten, sondern der Kampf um die Güter der Schöpfung.“
Franz Dengeler wurde bange um die Autorität seines Vaters. Er schlug vor, die Zeit bis
zum Mittagessen
In wenigen Minuten hatten sie den herrlichen Aussichtspunkt erreicht, auf dem der Schatten einer Linde zur Rast einlud. Hier blieb Heini Tillmann bei dem Pfarrer stehn, während die übrigen sich nicht enthalten konnten, an das Ufer des nächsten Sees hinunterzulaufen.
„Sie scheinen noch nicht so ganz entschlossen zu sein wegen der Cheologie?“ fragte Pfarrer Dengeler.
„Soweit es auf mich ankommt, doch, Herr Pfarrer.“
„Ist Ihr Vater nicht einverstanden damit ?“
„Ich habe es bis jetzt noch gar nicht gewagt mit ihm zu reden.“
„Oho!“ Sie vermuten also, daß Ihr Vater den Plan geradezu mißbilligen würde?“
„Ich fürchte, er würde für das, was Sie uns drunten im Pfarrgarten sagten, gar kein Verständnis haben.“
Der Pfarrer überlegte ein Weilchen, ob er Heini seine Hilfe anbieten solle. Dann sagte
er: „Setzen Sie sich zu mir her, junger Freund. Sehn Sie, es ist ein gar zartes Ding um
die Pietät gegenüber dem
Willen der Eltern. Aber in der Berufswahl kann nur eines entscheidend sein: der Zug des Herzens. Wer diesem Triebe Gewalt antut es geschehe in frommen oder genußsüchtigen Absichten der wird sein Leben lang nimmer zur Ruhe kommen. Darin, daß ein jeder bei dem Ausbau der Schöpfung an seine besondere Arbeitsstelle komme, besteht das Reich Gottes. Sie verstehn nun wohl auch, was es bedeutet, wenn Leute in frommer Aufwallung Sense und Hobel, Pinsel und Feder wegwerfen, um predigen zu gehen. Das ist Desertion, denn Gott braucht zur Offenbarung seiner Herrlichteit Bauern und Handwerker, Künstler, Gelehrte und Staatsmänner.“
Heini CTillmann kam es vor, als wollte ihn der Pfarrer vom Theologiestudium ablenken. Erstaunt warf er deshalb die Frage in seiner Rede Fluß: „Demnach wären wir im Irrtum, wenn wir mit Bewunderung lesen: Und sie verließen alles und folgten Ihm nach?“
„Durchaus nicht,“ antwortete der alte Herr schlagfertig. „„Sie verließen alles‘ will nur
sagen: es galt ihnen nichts mehr. Dessen können Sie ganz gewiß sein,mein lieber Freund. Im
Maßstab des Wachsens Ihrer Gotteserkenntnis verblaßt Ihr Interesse für das Vergängliche.
Sie werden Ihren Beruf als Pfarrer oder als Ingenieur nur noch im Hinblick auf die
Vollendung des Gottesreiches daher aber auch in vollendeter Zweckmäßigkeit ausüben. Also,
mein Lieber,überlegen Sie sich die Berufswahl in aller Gelassen
Der Nachmittag wurde mit Herumstreifen und Schwimmen zugebracht, und noch ehe sich am andern Morgen das unabsehbare Heer der Blütenkelche dem Frühlicht geöffnet, wanderten die vier muli singend und disputierend zwischen dem auf der höchsten Zinne sanft erglühenden Stockhorn und den schlummernden Wäldern des Zwieselberges dem Oberlande zu. Keiner von ihnen wog seine Worte, und mancher Hieb wurde mit arglosem Lachen hingenommen. Keinen quälte auf dieser seligen Morgenwanderung die Sorge der Berufswahl,trotzodem ein jeder von großen Dingen träumte. Heini nahm es als selbstverständlich, ja sogar recht willlommen hin, wenn bald dieser, bald jener ihn aufzog: „Du,Tilly, Ingenieur werden darfft du nicht, sonst verlierst du dich in der Kanalisation der Wolken oder du wirfst uns ganze Kiesfuder von der Milchstraße herab.“ Immer fröhlicher wurde die Wanderung unter der Mischung von Wohlbehagen nach überstandener Eramennot und himmelstürmender Zutunftsfreudigkeit. Man steigerte die Wonne des Entronnenseins durch unermüdliches Auffrischen der schlimmsten Schulerlebnisse. Man tauchte in die Nacht jener Widerwärtigkeiten, die den Brävsten die Jugend vergällen, um desto bewußter aufzufliegen in den rosigen Morgenhimmel der akademischen Freiheit. „Thalatta! Thalatta!“ jubelten die vier Wanderer,
X als zu ihren Füßen die in tausend Sternen flimmernde Blaufläche des Chunersees sich enthüllte. Er war ihnen das liebliche Symbol des Meeres, das nun eines jeden Kiel in eine neue weite Welt tragen sollte. Sie sehnten sich nach freier Fahrt, aber auch nach Sturmgeheul und Wogenprall.
Und hier trennten sich ihre Wege.
Auf freier Höhe sangen sie im Morgenwind ihr letztes gemeinsames Lied. Beifällig bestätigte das Echo des Bergwaldes ...... et habeat bonam pacem qui sedet post fornacem.“
Marcel Delierre wanderte Interlaken zu, Franz Dengeler und Mirabeau kehrten heimwärts und Heini Tillmann wanote sich nach Westen, um über die nächste Anhshe nach Elsigen zu marschieren. Die langersehnte Freude, seinen Vater mit dem Maturitätszeugnis überraschen zu können, beflügelte seinen Schritt. Heini hatte ihn absichtlich im Glauben gelassen, daß das Eramen eine Woche später stattfinde.
Das Geräusch plumper Schritte schreckte den einsamen Wanderer auf. Es war ein Trupp von Arbeitern,die rasch den Berg herunter kamen. Sie trugen ihr ärmliches Handgepäck und blickten finster.
Jawohl vermöchten sie's,“ hörte Heini den ältesten unter ihnen sagen, „aber sie meinen, sie verdienen nicht genug an unsereinem. Jüngere brauchten sie, heißt es.
Aber der Wit ist, daß ihnen die CTschinggen halb umsonst schaffen ...“ Das Weitere
verstand Heini nicht
Heini trat einige Schritte zurück, während sein Vater über den Meßtisch gebeugt, seine
Kontrollarbeit fortsetzte. Aber das Warten gestaltete sich hier recht unbehaglich. Einen
Schritt nach links kam er dem Meß-gehilfen in den Weg, zu seiner Rechten liefen auf
knarrenden Brettern die mit Schubkarren hastenden Teute. Zu sinnendem Betrachten gab's
hier keinen Raum. Handanlegen als erakt eingeschaltetes Glied in der rasselnden Kette oder
fort! Daß Hans Cillmann sich nicht die Freiheit gönnte, seine Arbeit zu unterbrechen, war
von weitem zu erkennen. So trat
Der gewaltige Schatten des Niesen hatte den Fluß überschritten, und ein scharfer Abendwind umfing den Träumenden, als ein Stein dicht an ihm vorbei in die Wellen schlug. Des Vaters derbe Hand hatte ihn geschleudert, weil Heini alle Zurufe überhört hatte. Vater Tillmann winkte, und nun stiegen sie über Kieshaufen und schwankende Bretter zur Tanöstraße hinüber, die das Dörflein Elsigen streifte. Auf dem Wege dorthin merkte Heini, daß sein Vater während der Arbeit doch noch einige Gedanken für ihn erübrigt hatte. Sobald die Straße das Nebeneinandergehen gestattete, hub Hans Tillmann an: „Es trifft sich gut. Morgen kommt der Oberingenieur, da können wir gleich erfahren, wie man's anstellen muß, um im Polytechnikum das richtige Trom zu erfassen. Es ist lang gegangen mit dem Examen.“
Heini schwieg.
„Hast du dich erkundigt, wo man sich anschreiben muß ?“„Man braucht sich nur auf der Kanzlei einzutragen,“brachte der Junge mühsam heraus.von CTavel, Seinz Tillmann.
Nach einer Weile sagte Vater Tillmann mehr zu sich selber als zu Heini: „Man muß bloß sehen, was zu machen ist, daß du mit dem Militärdienst mõglichst wenig Zeit verlierst.“
Erquickend fiel dann in das mit immer gleichartigen Erwägungen fortgesetzte, fast nur einseitig geführte Gespräch das liebenswürdige Geplauder der Wirtin zum „Wilhelm Tell“, für die Heini aus seiner Crübsal heraus sofort eine dankbare Neigung erfaßte. Fast glaubte er, der Abend werde sich noch zum Bessern wenden, als sein Vater der lustigen Oberländerin erklärte, heute gelte es, einen guten Cag zu feiern, man wolle das Examen seines Sohnes ein wenig begießen. Der Vater freute sich also doch. Aber ... war nun diese Freude nicht anders kundzugeben? Ein verstohlener Blick auf das wetterbraune Gesicht und die eigentümlich geröteten Augen des Unternehmers machten Heini bange. Im guünstigsten Fall wurde nach dem Abendessen der Vater etwas gemütlicher, und vielleicht fand sich dann auch ein Augenblick des Alleinseins, in welchem es sich wagen ließ, von Neigung und Begabung zu reden.
Die Wirtin ließ sich's Mühe kosten. Gut und reichlich ward aufgetragen, und Heini würde
es mit Genugtuung erfüllt haben, daß seinethalb so vergnügte Gesichter auf den Tisch
blickten. Es waren noch Angestellte der Unternehmung da: Zeichner und Buchhalter.Man trank
dem jungen Herrn Tillmann zu, und die
Nachdem das Essen abgetragen war, ließ Hans Tillmann sich behaglich in eine Sofaecke plumpsen, hieß Heini neben ihn kommen und bat die andern Herren noch zu einer Flasche. Es sah alles höchst gemütlich aus, von den ausgestopften Vögeln und alpinen Nagern an den rohtannengetäferten Wänden bis zum zufrieden leuchtenden Gesicht Hans Tillmanns, der ohne Zweifel über den Tisch weg seine Zukunftspläne spann.
„Bub, du machst mir Freude,“ sagte er einmal und schlug mit seiner schweren Hand Heini auf den Oberschenkel, daß es knallte.
„Wenn doch diese Laune anhielte, bis ich ihn allein habe!“ dachte Heini. Aber dazu war wenig Aussicht,denn der Vater fuhr fort: „Trink aus, Heini, es langt noch zu einer Flasche!“
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Vater Tillmann war von gewaltiger Kraft, und das Leben an der frischen Bergluft machte ihn ohne Zweifel noch widerstandsfähiger. Aber in der Erinnerung an jenen traurigen Sonntag in der Känelmatt wurde Heini doch bange, und er beobachtete mit Sorge,wie die geröteten Augen zusehendos glasiger wurden.Er merkte, daß die Wirtin seine Befürchtung teilte,und hätte ihr um den Hals fallen mögen, als sie in später Stunde, nachdem die andern Gäste sich verzogen hatten, wieder hereinkam und mit einem Blick auf die Wanduhr mahnte: „Herr Tillmann, morgen ist auch ein Cag und die Herren von Bern kommen wohl schon früh. Stören will ich nicht, aber .....“
„Cja!“ rief Cillmann und schnellte auf. Und nun sah Heini deutlich, daß seines Vaters mächtige Gestalt nicht mehr fest auf den Füßen war.
Wild klopfte dem Züngling das Herz, als er dem Vater auf der schmalen Treppe in den obern
Stock folgte. Er würgte an seinem Geständnis. Nun trat der Vater in sein Schlafgemach.
„Gut Nacht, Bub!“ sagte er und zündete die Kerze auf dem Nachttisch an. Als er, des
Winozugs wegen, die Cüre zuwerfen wollte,stieß diese an Heinis vorgeschobenen Fuß.
„Vater,“würgte der Junge heraus, „ich wollte dir noch etwas sagen. Ich ... was würdest du
dazu sagen, wenn ich statt Ingenieur Pfarrer studierte?“ Es war heraus. Heini staunte
selber. Er fühlte sich nur noch halb vor Aufregung. Seine Hand zitterte an der
Türfalle. Unheimlich blinkte das Kerzenlicht in des Vaters Augen.
„Mach', daß d ins Bett kommst, Bub! Gelt!“
Ein glucksendes Lachen erscholl aus dem Weindunst hauchenden Munde. „Gelt, so viel ‚Glacier' hast noch nie getrunken, Bub. Gut Nachtt“ Damit drückte Vater Tillmann die Türe ins Schloß. Heini wankte seinem Zimmer zu. Ja, soviel Wein hatte er noch nie getrunken, sonst würde er heute Nacht nimmermehr dem Schlaf in die Arme gefallen sein.
Als' der Mulus am andern Morgen nicht mit dem allerfrischesten Kopf erwachte, war sein Vater längst fort. Während des Frühstücks, bei dem ihn Frau Thönen mit rührender Fürsorge bediente, hörte man schon wieder die dünne Pfeife der Feldlokomotive und das Rollen der Schotterzüge. Die Wirtin zog ihren jungen Gast in ein Gespräch, wobei sie mit sichtlicher Anteilnahme nach der Familie, nach der Känelmatt und namentlich nach der Krankheit und dem Code der Mutter Tillmann sich erkundigte. Sie wollte auch wissen,was Heini nun vorhabe. Er werde jedenfalls in des Vaters Fußstapfen treten, meinte sie. Und das sei auch recht. Wenn er, Heini, wüßte, wie stolz der Vater auf ihn sei und was alles er von ihm erwarte,so könnte er sich wohl was darauf zugute tun. Potz tausenod!
Heini überlegte sich seine Antwort wohl. Sollte er der Frau, die offenbar einen gewissen Einfluß auf den
Vater ausübte, seine Sorgen anvertrauen? Nun,etwas mußte gewagt sein, und so platzte er heraus:„Ob mein Vater auch in Zukunft mit mir zufrieden sein wird, ist eine andere Frage. Ich will nämlich Pfarrer werden.“ Da wußte sich die Wirtin nicht zu fassen vor Erstaunen. „Ja nun,“ sagte sie, „das ist schließlich auch ein schöner Beruf. Hab' doch manchmal gedacht, wenn ich Söhne hätte, es müßte mir einer Pfarrer studieren. Aber Herr Tillmann wird sich wundern über Ihren Entschluß.“
Frau Chönen lud Heini ein, doch ja im Sommer mit seiner Schwester nach Elsigen heraufzukommen.Und heute sollte er jedenfalls sein Mittagessen hier einnehmen, es solle ihn nicht gereuen, sie könnten dann noch eins brichten miteinander. Mittags komme gewöhnlich Herr Tillmann nicht herauf. Wahrscheinlich esse er drunten mit den Ingenieuren.
Heini versprach wiederzukehren. Dann wanderte er langsam dem Werlplatz zu. Es war kein leichter Gang,denn heute noch mußte er mit der Sprache herausrücken.Er wollte den Arbeitsplatz umkreisen und den richtigen Augenblick erspähen und sollte es bis zum Abend gehen. Der Vormittag verstrich, ohne die erwünschte Pause zu bieten. Als aber mittags das Signal „Ende Arbeit“ erscholl, schritt Heini behende jener Stelle zu,wo sein Vater vom Damm herunterkommen mußte.Er fand ihn auch richtig dort.
„Kommst endlich auch zum Vorschein, Sieben
Kleinlaut schritt Heini an des Vaters Seite, der ihn fragte, was er den lieben langen Morgen hindurch getrieben habe. Nun rühmte der Jüngling die Liebenswürdigkeit der Wirtin.
„Jawohl ist sie liebenswürdig,“ lachte Hans Tillmann derb heraus. „Das hat seinen guten Grund.Donner auch! Du darfsft es eigentlich auch wissen,Heini. Weißt, Frau Thönen hat nur einen Gedanken:Heini Tillmanns Stiefmutter zu werden. Und ich sag's dir grad frei heraus: Sie gefiele mir nicht schlecht. Ist eine tüchtige Wirtschafterin, wohldenkend, und daß sie eine gefreute Lebensgefährtin sein würde, hast du wohl selber gemerkt, was? Aber weißt, warum ich mir's versage und allein meines Weges weitergehe, trotzdem es mir manchmal verdammt schwer wird?“ Tillmanns Stimme hatte einen ganz besonders ernsten Klang bei diesen Worten. „Deinetwegen und deiner Schwester wegen. Ihr sollt nicht eine Stiefmutter ertragen müssen, nur weil ich es nicht fertig brächte,meinen Weg allein zu gehen.“
„Aber, Vater,“ versuchte Heini einzuwenden, „so schlimm würde es uns wohl dabei nicht gehen.“
„Der Mensch hat nur eine Mutter, und die ist nimmermehr zu ersetzen. Die Stiefmutter nähme euch auch noch den Vater weg. Und dann ..... Nein, es bleibt dabei. Viel vermag ich euch nicht zu hinterlassen.Aber daß ihr wenigstens einen Vater, einen ganzen,treuen Vater gehabt habt, sollt ihr einst wenn es uberhaupt ein Wiedersehn gibt der Mutter bezeugen müssen. Will's Gott, wird mein Wagen, Sorgen und Schaffen nicht umsonst sein. Dir, Heini, will ich einen guten Weg ebnen. Du wirst mir's einmal noch danken.Jetzt verlange ich von dir nichts als ein bißchen Vertrauen. Schau, ich kenne Welt und Menschen und will dir's gut einrenken. Vorderhand schenk mir nur Vertrauen und werk' mir nichts in die Quere. Mein Lebenswerk ist darauf zugerichtet, daß du kraft deiner besseren Ausrüstung es vollendest. Versagst du, so habe ich umsonst gelebt. So, da sind wir. Maattei, stellen Sie uns auf dem Wagen eine Kiste zurecht! Wir fahren mit.“
Auf einem leeren Bahnwägelchen wurde ein Sitz hergerichtet. Dann stiegen sie auf und
fuhren mit einer Schar bestaubter Arbeiter auf der holperigen Dienstbahn Spissendorf zu,
wo Heini Tillmann von den npeieen wertvolle Winke für „seinen“ Studienplan
erhielt.
IX.Nacht war's, eine dunkle laue Maiennacht. Unverhüllt glitzerte das Heer der Sterne. Kaum ließen sich die riesigen Walme der uralten Alleen unterscheiden,mit deren geheimnistiefem Rauschen sich stoßweise,fernem Donner ähnlich, die Brandung am nahen Ufer mischte.
Auf einem Außenposten der Kaserne von Colombier schritt ein junger Füsilier mit geschultertem Gewehr auf und nieder. Warum Heinrich Cillmann seine militärische Lehrzeit just hier absolvierte? Es war seines Vaters Wille. Zur Infanterie! hatte sein Entscheid gelautet, weil sich in dieser Waffe der Dienst in der kürzesten Zeit ableisten ließ. Nach Colombier! Weil sich dort Gelegenheit bot, durch die Üübung im Franzs-sischen praktischen Autzen aus der unvermeidlichen, Zeitvergeudung“ zu ziehen. Heini selbst hatte sich nicht widersetzt, dachte er doch, daß der längere Dienst in einer Spezialwaffe, in die ihn die Caufbahn des Technikers gewiesen hätte, erst recht verlorene Zeit geworden wäre, falls es ihm doch noch gelang, zur Cheologie einzulenken. Er war ein schöner und braver Soldat,ein gutes zuverlässiges Element in der Gesellschaft der WelschJurassier. Aber die Instruktoren glaubten, er habe Heimweh, weil er oft nicht bei der Sache war.Der Dienst bot Heini nur zu viel Gelegenheit, seinen
Gedanken nachzuhängen. Nächtliche Wachen wurden zu Stunden des Leidens. Seine Pläne waren über den Haufen geworfen; aber vernichtet waren sie nicht.Hätten sie nur in seinem Kopf gelegen, gestützt durch das Verlangen nach den Außerlichkeiten des Pfarramtes, so hätte der junge Mann den Verzicht darauf sicher zustande gebracht. Aber jetzt fühlte er, wie tief das Sehnen nach einer Lebensarbeit in ihm wurzelte,die das, was seine Seele ausfüllte, sich fruchtbar auswirken ließe. Statt dessen mußte er nun mit auf dem Rücken gebundenen Händen gehen, die Last eines aufgezwungenen Berufes tragen. Nicht einmal aufsehen durfte er unter dieser Last. Warum? Weil ein Durchsetzen seines Willens heute schon ihn von seinem Vater getrennt hätte. Heini wollte und mußte an des Vaters Seite bleiben, weil in ihm die Mutter mit ihren gottwärts gerichteten Blicken fortlebte und weil der Vater am Rande eines Abgrundes schritt.
Im schwarzen Schlunde der Allee kollerten Kieselsteinchen, menschliche Tritte verratend.
Heinis Gewehr flog in die Fertigstellung. „Halte,qui vive?“ scholl kräftig sein Ruf in das Föhnsausen.
„Ronde!“ antwortete es zwischen den Stämmen.
„Mot d'ordre!“
„Persévérance.“
„Passezl!“
Bald hatte das Windesrauschen die Schritte verschlungen. Heini durchlief ein seltsamer
Schauer. Blitz
*Unter dem wunderlichen Barokgiebel eben jenes Cores mit dem schönen Wahlspruch standen
an einem Samstag abend zwei Gestalten, die sehr ungleich in den feudalen, moosbewachsenen
Rahmen paßten. Der Humor des Zufalls hatte die schlanke Frau Dorothea
„Der Herr Hauptmann scheint ja sehr vergnügt zu sein,“ sagte der Arzt, der sich die heitere Miene des alten Herrn ganz anders erklärte. Frau von Guldwang hatte nämlich den Arzt für ihren von schlaflosen Nächten gequälten Onkel rufen lassen und war sehr aufgebracht gewesen, als Onkel Scip sich dem Besuch durch einen Streifzug in den Wald entzogen hatte. Statt auf des Arztes komische Drohgeberde zu antworten, deutete der Herr von Prankenau mit seinem Spazierstock auf die Inschrift und sagte: „Da trägt jedes von euch beiden die richtige Überschrift. Es fehlt bloß noch die gemeinsame reservatio mentalis: Soweit es mir konveniert.“
Frau von Guldwang und der Arzt blickten sich etwas verblüfft an, als wollte jedes das andre fragen: „Willst du ihm herausgeben?“ Über das schlecht rasierte, gedunsene Gesicht des Arztes glitt eine schalkhafte Neugier. Sein schmallippiger Mund zog sich in die Breite.Falten legten sich in rundem Schwung um die Mundwinkel, und die Äuglein zwinkerten unter den wulstigen Deckeln. Er freute sich auf die Antwort seiner schönen Partnerin. Was die betraf, so gab er Herrn Scipio in seinem Herzen recht. Ob er sich zugestand, daß auf ihn selbst die boshafte Bemerkung ebenso sicher zutraf?
„Onkel Scip, Sie sind sehr unartig mit uns,“schmählte Frau Dorothea. „Ich gebe mir so viel Mühe mit Ihnen, und der Dolktor, der doch auch kein Jüngling mehr ist, kommt von Kilchwehrlen heraufgelaufen..“
„Ist ja auch gar nicht umsonst gekommen. So unhöflich bin ich nicht, daß ich ihm das zumutete. Da,Doktor, kontrollieren Sie das alte Pumpwerk!“ Herr Scipio hielt dem Arzt seine hagere Hand hin. „Und wenn meine Zunge Sie interessiert...“ Damit sperrte der alte Herr seinen Mund weit auf und schnitt dem Doktor eine Grimasse, deren Wirkung er vor fünfzig Jahren im übermütigen Kreise der jungen Diensttameraden ausprobiert hatte.
„Wenn Sie nun aber wieder nicht schlafen, Onkel,so mag ich dann keine Klage hören.“
„Klagen? Haben Sie mich je jammern gehört,Dorothea ?“
„Nun, wie Sie eben zu jammern pflegen. Richtiger wäre es schon zu sagen: aufbegehren und sogar ...“
„Doktor,“ unterbrach sie Herr Scipio, „lassen Sie sich auch von meiner Nichte die Zunge zeigen, aber schnellt Übrigens, damit Sie nicht umsonst gekommen sind, sollen Sie meine Diät genehmigen. Das Rezept gegen Schlaflosigkeit weiß ich noch aus früheren Jahren auswendig: Bewegung in frischer Luft und vor dem Zubettgehen ein Glas Vittorio oder zwei,kredenzt von schöner Hand. Kommen Sie, Doktor,es wäre mir doch lieb, wenn Sie die Mirtur zu aller
Sicherheit noch selber kosteten.“ Der Spaßvogel bot dem Doktor den linken, seiner Nichte den rechten Arm und wollte sie ins Schloß führen; aber beide wichen ihm aus.
„Ich danke, Herr Hauptmann,“ sagte der Arzt.„Da Sie meiner überhaupt nicht bedürfen, will ich wenigstens die nicht warten lassen, die sich weniger gut aufs Doktern verstehen. Und da ich ohnehin grundsätzlich .....“
„Aha ja ja. Natürlich! Sie sollen ja noch meinen lieben Nachbar, den Saufbold in der Känelmatt,retten. Also viel Vergnügen, lieber Doktor! Hahaha hahaha ...“
Der alte Herr zog einen Zweig des üppig blühenden Fliederbusches von der Umfassungsmauer an die Nase und spazierte dann dem Schloß zu. „Mille tonnerres?‘,sagte er halblaut vor sich hin, „die Welt ist doch gar nicht so, wie die meinen. Da läßt der liebe Gott solche herrliche Sachen wachsen, und nun gehn sie und gründen Vereine, um sich einzureden, daß man so was meiden soll! Hahaha. Statt solche canailleuse Kerls ruhig ihrem Schicksal entgegenreifen zu lassen! So was korrigiert sich von selbst.“
Frau Dorothea war verstimmt. Sie hatte freilich den Arzt um ihres Oheims willen rufen lassen; aber die Hauptsache war ihr gewesen, daß er ihr über seinen Besuch bei Hans Tillmann berichten sollte. Nach längerer Beratung mit Herrn Fernand war sie nämlich zum
Entschluß gekommen, den alten Arzt in die Känelmatt zu senden, um, wenn moglich, den gefährdeten Nachbar zu einem Abstinenzgelübde zu bewegen. Sie hatte es damit sehr ernst genommen, war es doch ihr Vorsatz,durch ein gutes Werk an Heini ihrem Leben einen Inhalt zu geben. Sie wollte gewissermaßen diesen gut veranlagten Menschen dem lieben Gott erhalten. Und selber wollte sie das tun. Darum mied sie den Rat der erfahrenen Blaukreuzleute, die ihr vermutlich das Werk und damit auch Verdienst und Genugtuung aus der Hand gewunden hätten. Nun hatte ihr der Arzt eben erzählt, wie er vorgegangen. Vorsichtig tastend und freunöschaftlich ratend hatte er sich einmal auf dem Weg von der entfernten Bahnstation nach dem Dorf Kilchwehrlen an Tillmann herangemacht, von dem hohen Nutzen des Blauen Kreuzes gesprochen und dann versucht, den Gefährdeten zum Anschluß zu bewegen. Hans Cillmann, der den Arzt sehr schätzte, war zu dessen Verwunderung mit vollem Verständonis auf die Sache eingegangen. Er bestätigte, daß die Abstinenzbewegung namentlich für die Arbeiterschaft von unschätzbarem Wert sei. Er gab sogar zu, daß das gute
Beispiel der leitenden Personlichkeiten Wunder wirken müßte, ermangelte dann aber nicht
beizufügen, daß er selber vorderhand sich zu nichts verpflichten könnte,weil ihm die
Enthaltsamkeit in seinen geschäftlichen Connerionen sehr hinderlich wäre.Aber wahr bleibt
es,“sagte er, bevor sie auseinandergingen, wobei er dem
Doktor Muffler beschränkte sich darauf, Frau Dorothea von den vernünftigen Anschauungen Tillmanns zu erzählen. „Aber ich muß Sie bitten, mir das weitere ganz zu überlassen. Wir dürfen eins nicht vergessen:Ein freier Mensch läßt sich nicht gern von einem leiten,der nicht unter den gleichen Lebensbedingungen steht.Und ehe wir einen Mann gefunden haben, der wenigstens einigermaßen die Verhältnisse Tillmanns teilt, werden wir kaum zum Ziele kommen.“
Damit verabschiedete sich der Arzt, und Frau Dorothea kehrte mißvergnügt in den Schloßhof zurück.**
*
Herr Scipio von Guldwang saß an seinem Frühstückstisch auf der Terrasse des Schlosses.
Die gelb gestreifte Marquise dämpfte das Geglitzer des kostbaren Geschirrs. Draußen aber
flutete das Sonnenlicht, durch
Frau Dorothea hatte ihr Gesangbuch auf den Tisch gelegt, stand am Rande des Perrons und knüpfte sich die Handschuhe ein, während Antoinette ihrem Großonkel auf dem Glutbecken der „Servante“ Brotschnitten bähte.„Also!“ sagte Frau von Guldwang mit einem letzten prüfenden Blick auf die beiden zurückbleibenden TCischgenossen. Diese verstanden, was in dem Worte zusammengefaßt war, nämlich: „Ich verlasse mich darauf,daß ihr beiden schön brav seid.“ Eine laute Antwort bekam Frau Dorothea nicht; aber vier gesenkte Augendeckel schrieen ihr ein sehr gedehntes „Ja“ zu. Und weil nunmal selbst eine Siegerin kein Behagen daran findet, wenn ihre rauschende Schleppe mit dem Groll ihrer Lieben beschwert ist, so trat die Gestrenge nochmals dicht an ihren Oheim heran uno blickte ihn mit dem ganzen Spielzauber ihrer dunklen Augen an, als wollte sie sagen: „Willst du wohl wieder artig sein,Brummbär?“ Aber Herr Scipio zuckte mit keiner Wimper, worauf Frau Dorothea ihren Sonnenschirm mit einem dumpfen Knällchen spannte und dem Ruf der Glocken folgte.von Tavel, Heinz Tillmann.
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Um Gottes willen! sagte sich Onkel Scip. Wie recht hat sie! Aber soll ich nun gar noch Beichtvater spielen? Seine Blicke streiften den in der Sonne liegenden Jagohund, seinen täglichen Gefährten. Mit dem mußte man nie über Dinge reden, die einem so schlecht lagen.
„Ach,“ sagte er, „deine Mama meint es herzlich gut. Vielleicht ist es besser, wir fügen uns in ihre Cau... in ihre ... in ihre Wünsche. Sie will ja unser Bestes.“
Enttäuscht erhob sich Antoinette und begab sich an das andere Ende des Tisches, wo ihre
Mutter die
„Ja, bitte,“ sagte der alte Herr, der mit seinem Blick den Hund zu sich heran gelockt hatte. Während Antoinette den Tagestert las, kriegte das bettelnde Tier einen Klaps auf die Schnauze und legte sich wieder in die Sonne.
Nach einigen Minuten bemerkte die Leserin, daß ihr Zuhörer das Haupt auf die Brust sinken ließ.
Unwillkürlich dämpfte sie ihre Stimme, und als nach ein paar weiteren Sätzen ein leises
Schnarchen verriet, daß der mitleidige Cag dem Greise spenden wollte, was ihm an
Erquickung die laue Sommernacht vorenthalten, ließ Antoinette den Schall ihrer Stimme
vollends erlöschen. Dann stand sie geräuschlos auf und schlich sich in ihr Zimmer hinauf.
Noch nie hatte das junge Mädchen so deutlich das Gefühl des Gefangenseins empfunden wie in
diesem Augenblick, da der Morgenglanz des duftenden Frühsommers ihr vornehm ausgestattetes
und zugleich so trauliches Gemach erfüllte, worin so zu sagen jeder Span des weißen
Getäfers von der schrankenlosen Selbstherrlichkeit vergangener Tage sprach. Es fehlte
nicht viel, so hätte das Heimweh nach einem ganz schlichten Menschen sie verführt, dem
Mäochen, welches eben das Zimmer aufräumte, etwas von der Not ihres Herzens anzuvertrauen.
Aber noch ehe sie ein Wort dafür fand, war
Antoinette trat an das weitgesffnete Fenster. Herrlich lag der blühende, duftende, in Springbrunnengewisper und Vogelsang jubilierende Garten vor ihr,herrlich das blaßgrün verschwimmende Hügelland. Wie Ahnung reiner Gottesfreude leuchteten durch den rosigen Dunstschleier die Hochfirne der Alpen. Und über allem dehnte sich, vom goldenen Fernschein des Horizontes ins unergründliche Blau des Zeniths sich vertiefend,der woltenlose Himmel.
Plötzlich glitzerte in der Ciefe, wo am Waldrand ein steiler Abkürzungspfad von der
Straße abzweigte,etwas in der Sonne. Ein Mann bewegte sich, energisch ansteigend, unter
den Buchenzweigen. Auf hellblauem Kaput blinkten Metalltnöpfe. Rote Kragenpatten
leuchteten.Antoinette eilte durch den Garten hinunter. Durch die Dämmerung des
Kastanienhains flog sie, und wie aus den Wolken geworfen stand ihre leuchtende Gestalt auf
dem Pfad zwischen dem bläulich wogenden Roggenfeld und den breitfächernden Ästen der
Parkbäume.Heini stand verblüfft. Antoinette durchzuckte eine
Mit der Frage, woher und wohin begrüßte Antoinette den aus seinen Träumen Gerissenen. Er las aber sogleich in ihren Augen, daß ihr die Auskunft über seinen Urlaub und den Besuch bei der Schwester durchaus Nebensache war. Die unerwartete Begegnung, die sich ebenbürtig an das Erlebnis auf der Mütternachtswache reihte, gab ihm zu denken. Fast gebieterisch winkte sie dem jungen Wehrmann, ihr in das Dunkel der Bäume zu folgen, wo sie ihm ebenso bestimmt den Platz auf einer Steinbank neben sich anwies.
„Ich will Sie nicht um das Zusammensein mit Ihren Angehörigen bringen,“ sagte sie. „Nur das eine möchte ich wissen, Heinz: Wie steht es nun um Ihre Zukunftspläne? Hat Ihr Vater sich entschließen können,Ihrem Wunsche zu willfahren?“
Heini ward verlegen. Nach kurzem Besinnen sagte er:„Er weiß noch nichts davon.“
„So ist die Entscheidung noch nicht gefallen?“
„Doch.“
„Wieso? Werden Sie bei Ihrem Entschluß bleiben ?“
„Ich bitte Sie, Fräulein Antoinette,“ bat Heini nach abermaligem Zögern fast unwillig, „machen Sie mir's nicht noch schwerer, den Weg zu gehen, den ich gehen muß.“
„Sie haben also Ihr Ideal preisgegeben? Ohne auch nur einen Versuch gemacht zu haben?“
„Es hätte nichts genützt. Ich fand aber auch nicht einmal die Gelegenheit dazu.“
Da faßte Antoinette des Soldaten Hand überm Gelent und sagte mit eindringlichem Ernst: „Heinz Tillmann, das ist Feigheit.“
Heini schoß auf: „Sie tun mir unrecht. Am Mute hat's mir nicht gefehlt; aber ich weiß, warum ich an meines Vaters Seite bleiben muß.“
Noch einmal faßte sie Heinzens Rechte, diesmal mit beiden Händen. Und mit einem fast ängstlich flehenden Blick fragte sie: „Und Sie verzichten enogültig auf Ihre hohen Ziele? Wollen Sie über ihrem Vater alle andern leidenden Menschen vergessen?“
Schmerzlich zuckte es um des jungen Mannes Mund,als er antwortete: „Es gilt meines Vaters Wohlergehen.“
Ein weher Blick aus den herrlichen blauen Augen traf ihn. Dann wanöte sich Antoinette ab und ging,das Haupt in den Nacken geworfen, langsam weg.
Tange noch verfolgte Heinz starren Blickes die weiße Gestalt. Als das Laub des Parks sie völlig verschlungen hatte, trat er in den Fußpfad hinaus und wanderte,seine Verwirrung niederkämpfend, der Känelmatt zu.Immer wieder hemmte etwas seinen Schritt, immer wieder wollten seine Augen die Entschwundene suchen.Aber Heinz Tillmann machte seinen Nacken steif und zwang seine Schritte heimwärts.
Lautlos war Frau Dorothea auf die Freitreppe des Schlosses hinausgetreten. Der Frühstückstisch stand mit all seinem blinkenden Durcheinander da, genau wie sie ihn verlassen hatte. Ihr aufflackernder Unwille verflog indessen ob dem Anblick des schlafenden Greises. Ein banger Gedanke durchzuckte sie. Behutsam tat sie ein paar Schritte gegen den in sich Zusammengesunkenen.Er atmete, aber nicht erquicklich. Etwas Beengendes zuckte auf seinen Zügen, und es sah aus, als ränge er nach Atem zum Reden. Ihn zu befreien, trat sie näher und rief: „Onkelchen!“ Da war die Angst weg. Aber Herrn Scipios Augen blickten stier nach dem Garten,aus dessen äußerster Baumgruppe eine weiße Gestalt dem Hause zustrebte.
„Onkelchen, ist Ihnen nicht wohl?“ „Wollen Sie etwas trinken?“ fragte Frau von Guldwang, und ohne eine Antwort abzuwarten, goß sie von dem kalten Kaffee in des alten Herrn Tasse. Nur um ihre Besorgtheit zu heben, tat er einen Schluck. Er bewegte sich frei und sicher, aber sein Blick blieb düster.
5*Als Frau Dorothea sich umwandte, bemerkte sie Antoinette, die sich von der andern Seite der Freitreppe näherte. Auf ihrer Mutter Frage nach Aufschluß über den seltsamen Zustand des alten Herrn,erwiderte Antoinette mit erzwungener Gelassenheit:„Er ist mir über dem Lesen eingeschlafen. Da dachte ich ...“„Man darf ihn nie allein lassen,“ tadelte Frau von Guldwang.
Mit einem Ächzen, das nicht ernst genommen sein wollte, erhob sich Herr Scipio und
trippelte, von seinem Hunod umkreist, in den Partk hinunter. Der Traum, der ihn um des
Schlafes Erquickung gebracht, hatte etwas mit dem großen gelben Kuvert zu tun, das droben
auf seinem Schreibtisch lag. Es enthielt neben dem Begleitschreiben seines Sachwalters
zwei Kaufsangebote für die Schloßdomäne. Das eine kam von der Finanzdirektion des Staates
Bern, das andere von den „Oberländischen Kuretablissements.“ Beide hatten Herrn von
Guldwang in Entrüstung gebracht, und er wußte schon ziemlich genau, wie seine Antwort an
den Sachwalter zuhanden der Käufer lauten sollte. Nette Auswahlt! Pprankenau ein
staatlicher Unterschlupf für schiffbrüchige Exristenzen oder dann Batzenfalle für ein
Konsortium oberländischer Fremdenmarder! Da würde man sich denn doch noch
besinnen.
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Hrüben im kleinen Gemüsegärtchen der Känelmatt saßen zur selben Stunde die Geschwister Tillmann auf der alten Bank, wo sie oft mit der Mutter geplaudert hatten. „Ist die Freundin von Antoinette nicht mehr bei Guldwangs?“ fragte Heini seine Schwester, und Röseli wußte zu berichten: „Sie haben sich, wie es scheint, gar nicht mehr vertragen, Antoinette und Lilian Merle. Lilian ist nach Genf verreist.“
Der harmlos weiterplaudernden Schwester fiel auf,daß Heini ihr nur noch halb zuhörte. Den ganzen Cag blieb er zerstreut. Und als er gegen Abend wegging,lehnte er Röselis Begleitung ab. Er müsse eilen, sagte er, und schlug den Fußpfad über die Prankenauer Zelg ein. Aber gar so eilig schien er's doch nicht zu haben,als sie ihm von der Taube aus nachblickte.
X.
Er stand wieder da, auf dem vom Schlunde des Tunnels ausgespienen Kiesdamm, der sich
südwärts in den Schleier der unaufhörlich niedergehenden Regenschauer verlor der bärtige
Mann mit dem triefenden Kalabreser. Heute machte er den Einoruck, nicht so recht bei der
Sache zu sein. Der Höhepunkt der Bauarbeit war überschritten. Sie ging mit dem
erlöschenden Sommer ihrer Vollendung entgegen. Alles, was für die Aufnahme des
Bahnbetriebes unerläßlich, war nahezu
In einen mißfarbenen Kautschukmantel gehüllt stieg er über den Bergrücken nach dem an den Seehalden gelegenen Nieseten hinab. Mit den Herren vom Konsortium mußte er reden. Er trug einen Brief in der Tasche, den zu schreiben Herrn Fernand von Guldwang sehr viel Überwindung gekostet hatte. Wohl drei Monate lang hatte Frau Dorothea ihre gelegentlichen,wohlberechneten Anläufe auf das Gewissen ihres Mannes wiederholt und allmählich verschärft. Je mißtrauischer der Nachbar in der Känelmatt sich geberdete, desto unwiderlegbarer sollte ihm das Wohlwollen der Prankenauer nachgewiesen werden. Um Heinis und seiner Schwester willen sollte nichts unterbleiben, was der kleinen Familie drohendes Unglück vom Leibe halten konnte.
„Wenn es dir so sehr zuwider ist, dem Tillmann zu schreiben, so könnte ich es ja selber tun.“ Und schon lag ein schiker Briefbogen auf dem Schreibtisch der Frau von Guldwang.
„Um Gottes willen! Nein, also, da muß ich nun bitten. Wenn irgendwo, so muß hier dem Herzensdrang ein vorsichtiger Zügel ...“
„Nun denn! Wenn's überhaupt nur noch rechtzeitig geschieht!“
Und so würgte sich Herr Fernand den Brief an den „werten Herrn Nachbar“ ab, eine einöringliche Empfehlung, doch ja um der Kinder willen vorsichtig zu sein und nicht allzuviel von dem in bewundernswertem Fleiß und klugem Haushalt sauer genug erworbenen Vermögen auf eine Karte zu setzen. Die Hotelindustrie hätte ja gewiß ihre gewinnbringenden Perioden, aber kein Gebiet des Geldmarktes erfordere soviel fachmännische Feinfühligkeit, wie gerade dieses.
Frau Dorothea fiel es nicht leicht, den Brief zu genehmigen. Sie wünschte einen
deutlichen Hinweis auf das spezielle Unternehmen, das hier in Frage stand.Auf den Einwand,
Tillmann werde am besten wissen,wo er sein Geld angelegt habe, und je allgemeiner die
Warnung, desto weiter reiche sie, wußte sie nichts zu erwidern. Dagegen hätte sie es doch
sehr schön gefunden,wenn zur Begründung des Schreibens neben dem Pflichtgefühl des
erfahrenen Finanzmannes auch ein diskreter Hinweis auf die christliche Liebe angebracht
worden
Bureau des Herrn Ueltschi trat. Nach sehr kurzer, seine
Unruhe erst recht verratender Einleitung rückte Tillmann gleich mit dem Wunsche heraus, sein Geld aus den oberländischen Kuretablissements zurückzuziehen.
Daß einer plötzlich Geld haben mußte, war dem Chef des Unternehmens durchaus geläufig, weshalb er seine Seelenruhe nicht einen Augenblick verlor.
„Wenn Sie Geld brauchen,“ sagte er, die Hände
„Ich brauche weiter kein Geld,“ unterbrach Tillmann den Behäbigen, „aber mein Geld möchte ich zurückziehen.“
Das freilich wird so leicht nicht zu machen sein,es wäre denn, daß jemand Lust hätte, seine Partiale durch Auskauf der Ihrigen zu vergrößern. Aber warum wollen Sie denn Ihr Geld herausnehmen?Das wäre doch unklug.“
„Ich habe das Vertrauen in die Sache ein wenig verloren, und sehen Sie, wenn man wie ich .....wenn ..... kurz, ich fürchte zu viel auf eine Karte gesetzt zu haben.“
„Da kann ich Sie beruhigen. Wenn nicht alles täuscht, werden wir gut schaffen. Und überdies, Herr Tillmann, sind Sie als Ingenieur bei der Sache ganz speziell interessiert. Es versteht sich doch von selbst, daß wir bei der Begebung der Arbeiten in erster Linie diejenigen berücksichtigen, die das Risiko tragen helfen.Den Vorteil haben Sie uns andern gegenüber voraus.Aber, wie gesagt, ich verstehe Ihr Mißtrauen durchaus nicht.“„Es ist ja auch nicht eigentlich Mißtrauen. Mir ist nur nicht mehr so recht behaglich dabei, seitdem das zusammengelegte Kapital nicht mehr dem ursprünglichen Zweck dienen soll. Sie wissen ja, daß es sich seinerzeit nur um den Ankauf von Prankenau handelte.
Da hätten wir doch etwas in Händen gehabt, das seinen Wert niemals ganz einbüßen würde.
„Ganz richtig, Herr Tillmann! Aber Sie haben ja der Aktionärversammlung beigewohnt, in welcher beschlossen wurde, dieses Projekt in zweite Linie zu stellen. Und wie richtig diese Vorkehr war, das zeigt sich heute erst recht. Das wird Sie interessieren. Vorige Woche waren wir in Bern bei dem Notar des Herrn von Guldwang. Der alte Herr war auch da. Zuerst hatte es den Anschein, als wollte die Sache glücken.Es lag ein Angebot der Finanzdirektion vor. Das gefiel dem alten Herrn gar nicht, besonders als es hieß,der Staat würde eine Armenanstalt in dem Schloß unterbringen. Das kann man ja verstehen. Der Notar wollte uns Gelegenheit geben zu einem höhern Angebot, und wir legten zehntausend zu. Da ließ sich der alte Herr unsere Papiere vorlegen. Auf einmal sieht er verwundert auf. „Was ist das für ein Tillmann?“fragt er den Notar. Und Freund Ryter antwortet statt des Notars: Den müussen Sie kennen, Herr äh von Guldwang. Der wohnt ganz nahe bei Ihnen.“
Jetzt schaut er verwundert von einem zum andern,als ob wir Hörner hätten. Der Tillmann in
der Känelmatt, der ..“ Ich will nicht wiederholen, was er Ihnen für einen Titel zudachte.
So? Der? Dann will ich Sie nicht länger hinhalten, Messieurs,“sagt er, steht auf und geht
ins andere Zimmer. Auf der Schwelle dreht er sich nochmals um und sagt:
Prankenau ist mir überhaupt noch nicht feil. Und bumps! war die Türe zu. Wir mit hängenden Ohren ab. So liegen die Sachen, Herr Tillmann. Nun heißt's vorwärts machen. Das Geld muß schaffen.“
„Nun also,“ antwortete Hans Tillmann, „wenn euch mein Name hinderlich ist, so ...“
„So ist uns Ihr Geld doch nicht hinderlich. Nur ruhig Blut! Wir werden auch ohne das Schloß Prankenau zu einer schönen Rendite kommen.“
Tillmann hatte das Gefühl, bei diesem Manne werde er nichts erreichen, und empfahl sich. Die Einladung zu einer Flasche lehnte er ab. Ingrimms voll stapfte er langsam durch den Nebel nach Elsigen hinauf. Sein Geld lag in einer schlimmen Rinne, sein ganzes mühsam erarbeitetes und erspartes Vermögen, mit dem er einst Prankenau auf den Kopf hatte stellen wollen!Und wollte er nicht Gefahr laufen, es ganz zu verlieren und zuletzt seinen Kindern einen Bettelstab zu hinterlassen, so blieb ihm nur die Wahl, entweder mit diesen geriebenen Schelmen von den „Kuretablissements“ unter die gleiche Decke zu schlüpfen und sich mit ihnen strupellos um die zweifelhafte Beute zu balgen oder sein Geld wieder heraus zu bringen. Zu letzterem entschloß er sich, selbst auf die Gefahr schwerer Einbuße hin, als er abends im „Wilhelm Tell“ vor sich hinbrütete. Durchfroren, hatte er eine Flasche starken Weines mit sich auf sein Zimmer genommen. Immerfort plätscherte draußen die Dachrinne, und die
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Fensterscheiben liefen an. Der Schnee konnte nicht mehr weit sein. Nein, das sollten die Kinder Hans Cillmann nie vorhalten können, daß er ihnen das Leben durch zweifelhafte Spekulationen verdorben habe. Es war ihm, ohne daß der Junge ein Wort davon gesagt, klar bewußt, daß er Heini das Opfer seines Sehnens durch die väterliche Autorität abgezwungen und damit auch den Herzenswunsch seiner verstorbenen Frau totgeschwiegen hatte. Solche Opfer vermochte nur die erfolgreiche Durchsetzung seiner Pläne zu rechtfertigen.Aber nun schien sich alles wider diese Pläne zu verschwören. Wieder und wieder durchging er die Erlebnisse des heutigen Tages. „Meine Christenpflicht und meine langjährige Erfahrung in Geldsachen...“Hans Tillmans Hände ballten sich zu drohenden Fäusten.Ein grimmiger Fluch entrann seinen Lippen. „Das ist's eben,“ knurrte er, „wo unsereiner die Hand ausstreckt nach . ..“ Durch das Dunkel seiner Gedanken flitzte sternschnuppengleich die Erinnerung an Frau Schraners Warnungen: „In braver Leute Händen kann's zum Unglück ausschlagen.“ Warum aber gelang es denn immer denen, die ohnehin herrlich und in Freuden lebten einem dicht vor der Nase?
Der einsame Mann schüttete hastig ein Glas des feurigen Wallisers in einem Zug hinunter,
als könnte er damit die Glut seines Grolles dämpfen. Statt dessen schlug in seinem Herzen
hoch auf die Lohe des glimmenden Hasses gegen seine glücklichen Nachbarn, bevon Tavel,
Heinz Tillmann.
CTillmann hatte Briefpapier zurechtgelegt, um an den Bankier Ryter zu schreiben. Weg damit! Auge in Auge mußte mit dem geredet werden. Es koste, was es wolle. Sein Geld wollte er heraus haben, und dann wollte er noch einmal alle Kräfte einsetzen.
In einen Klubsessel versenkt hockte Hans Tillmann andern Tages in der Wechselstube von
Ryter K Co. Kalt und klar leuchtete draußen der erste richtige Herbsttag. Der Schnee
reichte, wie erwartet, bis tief in die Maiensäße herunter. Nur auf den Hochfirnen noch
besannen sich zu Wolken geballte Nebel. Tillmann fühlte sich in dem allzu behaglichen
Fauteuil entkräftet.Seines Mangels an geschäftlicher Gewandtheit bewußt und von dem
gestrigen Wein aller frischen Stimmung beraubt, hatte er sich vorgenommen, den
Harthölzernen zu spielen. Und zu dem Zweck hätte er heute früh sich mit mehreren Schnäpsen
versteift. Aber der Erfolg war das Gegenteil von dem, was er gewollt. Hatte es ihm schon
gar nicht gelingen wollen, sein Begehren mit der Wucht vorzubringen, die auf dem Werkplatz
aus jedem seiner Worte einen ehernen Befehl machte, so ärgerte er sich jetzt über die
Impotenz, mit der er dem Geldmenschen zuhörte, der da vor ihm mit einem silbernen Crayon
spielte und mit beleidigender Gelassenheit uber den schief auf der dicken Nasenspitze
reitenden Gold
Seines Laubschmuckes zum größten Teil beraubt,zeichnete das niemals verstümmelte Geäst
der Kastanienbäume von Prankenau eine fein ziselierte Riesenurne vor den blutroten
NovemberAbendhimmel, und auf dem sanft glühenden Spiegel des Teiches schwammen,leblos
treibend, Hunderte von dürren Blättern. Schon
Auf der Zelg unterhalb des Parkes von Prankenau waren Gräben gezogen. Ab und zu erhob sich daraus der flickenbedeckte Rücken eines Arbeiters. Gesenkten Hauptes stand, den einen Fuß auf einen Erdhaufen stemmend, Hans Tillmann daneben. Seine Bewegungen verrieten Ungeduld. Schon mehrere Tage hatte er nun verloren mit dem Aufsuchen der Wasseradern, welche die Zelgwiesen versumpften und deshalb abgeleitet werden sollten. Ein Auslassen der baufälligen Schloßteiche, welches die Feststellung erleichtert hätte, war,wie zu erwarten stand, nicht gestattet worden.
Zudem trug Tillmann einen Brief von Ryter in der Tasche, der ihm klipp und klar meldete, daß eine Zurückziehung seines Geldes aus den Kuretablissements zurzeit unmöglich sei. Trübe Aussichten!
Ein heller Punkt bewegte sich dem Waldrand entlang. Ein Hund. Niemand achtete sich seiner
und ebensowenig des Mannes, der ihm langsam folgte. Die Arbeiter ächzten im Graben. Als
der Wanderer den kleinen Fußpfad längs des Parkes über der Zelg hinschritt,erkannte man
ihn. Der dicke Pelzrock über den dünnen Beinchen gab dem Schloßherrn ein fast komisches
Aus
Auf einmal wedelte „Diana“ um den Graben herum.Das schöne Tier schnupperte an der auf dem Erdhaufen liegenden Provianttasche eines Arbeiters und stieß mit der Schnauze das Ding über den Erdhaufen. Da beugte sich Hans Cillmann zur Erde. Er hob eine harte Scholle und warf sie mit einem Fluch nach dem Hund, der aufwaißend davonhinkte.
Kaum war das geschehen, so stand Herr Scipio von Guldwang dicht neben Tillmann. Unwillkürlich hatte er das Gewehr gelockert, als er rief: „Was hast du meinen Hund zu schlagen, du verdammter Rüpel?“
Hans Cillmann rührte sich nicht. Er maß nur den Jäger mit Blicken der Verachtung. Aber sein Blut wallte in Haß, während all die bösen Empfindungen der letzten Zeit in tollem Flug durch seinen Kopf jagten.
„He?“ keuchte Herr Scipio. Nimm dir noch einmal so was heraus!“ Unglücklicherweise hatte er in seinem Zorn das Gewehr so gefaßt, als wollte er mit dem Kolben nach Tillmann stoßen.
Da schoß Tillmann etwas in die Glieder. Er wußte plötzlich nichts mehr von sich, nicht, was seine Hände taten.Herr Sceipio von Guldwang lag stöhnend im Gras.Hans Tillmann gewahrte in seinen eigenen Händen die Flinte und warf sie weg. Wie zu Stein geworden stand er vor dem hingestreckten Gegner.
Unbeholfen kamen die Arbeiter, einer um den andern, aus dem Graben gekrochen. Scheu betrachteten sie den am Boden Liegenden, dessen Glieder sich in Zuckungen dehnten. Ihre verstohlenen Blicke streiften die zitternde Gestalt ihres Meisters. Lange dauerte es,bis er ihnen befehlen konnte, im Schloß Hilfe zu holen.Einer trottete davon. Die beiden andern folgten. Noch hörte Tillmann, wie sie, vom Grausen gepeitscht, den Part hinaufrannten. Er selber wollte warten, bis die Leute wiederkamen; aber auf einmal packte ihn eine gräßliche Angst. Er lief davon, kaum wissend, wohin.Der UNebel, der aus dem KänelmattTälchen herabhing,verschlang seine wankende Gestalt. Nun war niemand mehr bei dem Herrn von Prankenau als die treue Hündin. Die streckte sich ins Gras, legte den Kopf auf die schlanken Vorderfüße und blickte unverwandt auf ihren Herrn.
Die Sonnenscheibe berührte den Horizont. Eine letzte rötliche Lichtwelle rieselte über die Zelg. Die breite Front des Schlosses rötete sich. Die Fenster leuchteten matt durch das nebelumflorte Gezweige des Gartens. Dann erlosch alles in einem schaurigen Nachthauch. Ein langgezogenes Heulen des Hundes zerriß die Stille. Bald darauf raschelten Schritte. Zweige knackten,Taubhaufen knisterten. Verhaltene Stimmen näherten sich. Dunkle Gestalten brachen aus dem Saum des Kastanienhaines. Sie scharten sich unter Ausrufen des Entsetzens um den regungslosen Körper, und bald be
42*wegte sich ein Knäuel von schleppenden Menschen gegen den Hain und durch den schweigenden Park hinauf.
Während sie Herrn Scipio über die Freitreppe hinauftrugen, ward in der Känelmatt eine Türe zugeworfen. Von der Laube glitt Hans Tillmanns Blick über den Hügelwalm. Da ragte, eine versteinerte Anklage, vor dem dunkeldämmernden Himmel der Dachknauf von Prankenau aus dem schwarzen Boden.
Eine halbe Stunde später schrillte am Doktorhause zu Kilchwerlen die Glocke. Als der Arzt heraustrat,rief eine heisere Stimme: „Kommen Sie schnell nach Prankenau hinauf! Ein Unglück. Ich habe den alten Herrn erschlagen.“ Im trüben Licht des Hausgangs erkannte Doktor Muffler das entstellte Gesicht Cillmanns. Blitzschnell fügten sich des Arztes Gedanken in einen Zusammenhang. Ohne Worte zu verlieren, packte er seine Instrumente zusammen und eilte, von Tillmann gefolgt, bergan.
Fast atemlos erreichte der Arzt das Schloß. In der Gegend der Känelmatt hatten sich hinter ihm die Schritte seines unheimlichen Begleiters verloren. Allein betrat er das Haus. Ohne von den herumstehenden Leuten Notiz zu nehmen, eilte er in das Schlafzimmer seines alten Patienten. Es war in arger Unorönung. Am Bette machten sich Dienstboten zu schaffen, unter ihnen Frau Schraner.
Der Arzt winkte die Leute weg und befahl einem Mäochen, ihm mit der Lampe zu leuchten.
Aber Mädi,
LCaßt sehen!“ Der Arzt begann den Kopf des wild um sich blickenden Patienten zu betasten. Er fand nur eine starke Beule, aber aus einem Ohre sickerte Blut.Der Puls, bei der Unruhe des Patienten schwer zu fassen, war schlecht. Nach und nach nahmen die heftigen Armbewegungen ab.
„Habt ihr Bescheio gemacht in die Stadt?“ fragte der Arzt. Als man ihm berichtet, daß an
Herrn Fernand Bericht abgegangen sei, setzte er eine Depesche um ärztliche Hilfe auf.
„Wird zwar bei dem Alter des Patienten nichts mehr nützen,“ sagte er sich, „es sei denn,
daß seine zähe Soldatennatur auch das noch überwinde. Haben überhaupt keine Wahl.
Trepanation oder Tod!“Nachdem ein junger Bursche mit der Depesche nach Kilchwerlen
abgesandt war, schickte der Arzt alles weg,was sich aus Neugier im Schloß eingefunden
hatte.Einzig Frau Schraner, die als alte Vertraute für den Winter wieder in des Herrn
Dienste gezogen worden,behielt er bei sich. Den Kopf in die Hand gestützt, saß er im
gedämpften Licht der Lampe an dem runden Tisch, der mit Papieren, Rauchmaterial und
allerhand Gegenständen übersäet war, deren der alte Herr sich im täglichen Leben bedient.
Dann und wann lockte ein Blick auf die im Halbdunkel nur schwer erkennbaren
Stunden flossen dahin. Ab und zu verfiel der Verwundete in Krämpfe und schlug um sich, so
daß der Arzt und die alte Hüterin alle Kraft anwenden mußten,um den Ungebärdigen auf
seinem Lager zu halten. Endlich hörte man einen Wagen rollen. Cautlos traten bald darauf
Herr Fernand und Frau Dorothea ein.Es geschah gerade in einem Augenblick der
Konvulsion.Das Schreckhafte des Anblicks drohte Frau von Guldwang zu überwältigen. Man
mußte sie hinausführen.Als der Patient in Erschlaffung fiel, wurde sie wieder gerufen. In
Angst und Mitleid bebend, setzte sie sich dicht an das Bett und ergriff des Kranken Hand.
Sein Blick ruhte auf ihr, aber er schien sie nicht zu kennen.Zärtlich streichelte sie die
hagere Hand, um ihm, wenn msöglich, zum Bewußtsein zu bringen, wer da sei. Bald schien
ihr, die Augen des alten Herrn belebten sich
3wieder. Da verspürte sie in seiner Hand ein Zucken.Ein kurzes Röcheln folgte, ein Zusammenziehen des Gesichtes, ein angstvolles Aufsperren der Augen, ein hauchendes Geräusch aus dem sich öffnenden Munde.Dann lösten sich die Züge aus dem Krampf zu feierlicher Ruhe. Augen und Mund waren offen geblieben.Herr Scipio von Guldwang, der letzte Herr auf Prankenau, hatte seine irdische Behausung verlassen. Während die Freundin, unter dem furchtbaren Einöruck des Todes aufschluchzend, in den Lehnstuhl sank, auf dessen Lehne sie so oft mit dem Einsamen in erheiternder Anmut gespielt, trat der alte Arzt an das Sterbelager und schloß der in Schönheit erstarrenden Leiche Mund und Augen.XI.
Wiederum jagten schimmernde Frühlingswolken über das Land hin. In dem weitläufigen Schloß
Prankenau warf bald da, bald dort der Wind einen Fensterladen oder einen Türflügel unsanft
in den Rahmen. Man war's gewohnt, und so erschrak auch jetzt niemand, als die Haustüre
hinter den leichten Schritten von Frau Dorothea so schwer ins Schloß fiel, daß es wie ein
Kanonenschuß in dem hochgewölbten Gang öröhnte.Wenn sie nur gut abschloß! Was sie eben
gesehen,trieb die zarte Frau in den nächstbesten stillen Winkel.Der Mann, dem man die
schöne „Diana“ geschenkt,
Frau von Guldwang setzte sich in einem der obern Zimmer, wo niemand sie suchen würde, hinter geschlossenen Läden auf ein altmodisches Kastensofa mit geblumten Kissen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Endlich Besitzerin, war sie doch nicht und wurde es nie Eigentümerin des Schlosses. Die Erbin trieb sich drunten, am erwachenden Waldsaum herum und gab sich dem kindischen Vergnügen hin, Veilchen zu suchen, während in den geschützten Rabatten der Cerrassen Hyazinthen und Krokus in allen Farben glühten.So kindisch war sie, ja. Aber wo man bei ihr auf kindisches Begehren rechnete, da versagte sie. Von ihrem Großonkel zur alleinigen Erbin eingesetzt, hatte sie sich dem Verkauf der Schloßdomäne nicht einen Augenblick widersetzt. Ein wunderliches Geschöpf! Wäre es etwa Frau Dorotheas Sache gewesen, ihrem Mann in die Quere zu kommen, als er die Rentabilität des
Schloßgutes und die Reparaturbedürftigkeit der Gebäude in kühler Berechnung dem Ertrag gegenüberstellte, der sich mit dem Verkaufspreis erzielen ließ?„Ich könnte es nicht verantworten, Prankenau zu behalten.“ Das war sein Schlußergebnis. Und Antoinette als wären all die herrlichen CTage ihrer Jugendzeit vergessen fügte sich ... ein Schaf! Frau Dorothea warf ein Kissen, an dem sie herumgezupft, auf das gegenüberstehende Himmelbett, so daß sich die grünseidenen Umhänge blähten. Freilich, für sie selbst war der Charme dieses Lanositzes dahin, seitdem da drunten hinter den großen Maronniers die ruchlose Tat geschehen. Aber welch ein Königreich würde sie sich trotzdem aus Prankenau gemacht haben! Auch ohne die vielen Hunderttausende zur freien Verfügung zu haben, die nach Herrn Fernands Meinung nötig wären,um das Schloß den modernen Ansprüchen auf Komfort anzupassen. Man könnte sich auch mit dem alten Apparat behelfen. Gerade das hätte seinen Reiz.
Frau Dorothea dachte das, indem sie an dem mit Glasperlen bunt bestickten Klingelband riß. Sie tat es mit spöttischer Neugier, und wunderte sich, als auf das altmodische Geklirre hin wirklich ein Mädchen erschien. Nachts freilich hätte sie vergeblich gewartet, denn da hätte die Dienerschaft auf einen Spuk geschworen,und eher das Haus verlassen, als einen Gang in das obere Stockwerk zu wagen.
„Rufen Sie Fräulein Antoinette herauf!“ befahl
„Wirst du dich endlich herbeilassen, mit mir deine Schätze zu durchgehen?“ fragte Frau von Guldwang.„Eine dankbare Erbin bist du eigentlich nicht, das muß ich schon sagen. Aber vielleicht wirst du später, wenn du selbst einen Haushalt führst, anders denken lernen.“
Antoinette wußte in der Tat diese Leinenvorräte nicht zu würdigen, die, schon bei der dritten Generation im Gebrauch, noch fast keine Schäden zeigten. Aur der funkelnde Silberschrank machte ihre Augen aufleuchten, und dann und wann ein besonders stilvolles Moöbelstück oder ein liebes Bild. Aber ganz weg brachte dieser Dinge keines den wehmütigen Schimmer aus den blauen Augen.
„Du hast recht, liebe Mama,“ antwortete Antoinette, „ich fühle mich sehr unwürdig. Causend andere würden mich beneiden. Aber das ist es ja gerade, was mir einen Schatten .....“
„zweiundzwanzig, oreiundzwanzig, vierund ... 3wei ganze Dutzend und noch keine spröde Stelle drin. Bitte,zähle mal diese Überzüge!“
Antoinette zählte ein Dutzend Kissenbezüge ab,spannte sogar einen gegen die Sonne, als
suchte sie schadhafte Stellen. Dann redete sie hinter dem aufgespannten Tuch weiter: „Und
bei alledem wird es mir nicht leicht werden, zu erkennen, was man mehr liebt,meinen
Reichtum oder mich selbst. Ich wäre sicher
„Du weißt etwas von der Welt, du!“ höhnte Frau Dorothea. „Man sollte dich wirklich eine zeitlang zu armen Leuten in Pension geben. Ich wollte doch sehen,wie lange es ginge, bis dich das Heimweh nach der Gesellschaft, in der du aufgewachsen bist, ankäme. Du würdest dann wohl einsehen lernen, wie schön es ist,wenn man die Mittel hat, Gutes zu tun.“
„Ach ja, gewiß ist das schön für den, der geben darf; aber wenn man sich in die Haut der Empfangenden denkt, so erlischt all die Freude.“
„Antoinette, ich kann nicht sagen, wie sehr du mich heute enervierst. Geh lieber wieder Veilchen suchen,wenn du so fortfahren willst!“
Frau von Guldwang wollte eben ihrer Tochter neue Arbeit zuschieben, als man ihr meldete, es wären wieder Herren da, die das Schloß zu sehen wünschten, Baumeister oder dergleichen. Sie hätten Pläne und Meß-stäbe mit. Ein ärgerlicher Laut entfuhr den Tippen der Gereizten.
„Ich will die Leute empfangen,“ erbot sich Antoinette, und sie entwischte, bevor ihre Mutter sich widersetzen konnte.
So verstrichen die Frühlingstage, kaum einer, der
Eines Tages es war in der Zeit des jungen
Buchenlaubes schürfte der Pflug seine Furchen in die Zelg. Der dunkelbraune Grund dampfte im hellen Sonnenlicht. Auf dem blanken Fell der schwer stapfenden Schimmel lag der goldgrüne Widerschein des Waldrandes, wo die mächtigen silbergrauen Stämme sich aufreckten in einen fächelnden Dom von grünschillernden Wöõölbungen. Unter diesen schwamm alles in sanften Tönen wie unter einem Seespiegel und doch freiatmend,sonnig und licht. Und wenn abends der Golostrom der sinkenden Sonne in die smaragdenen Hallen brach und Rosenblut über das Geäst sprengte welch ein Schweben ward da aus dem Gehen in der Abendmüde!
Antoinette wußte: das erneuerte sich XX geschah draußen in der weiten Freiheit, das gehörte allen mochte der Park mit seinen altersgrauen Künsten im Moder zusammensinken! Und sie wußte,wollte wissen, daß sie da in der wunderbaren freien Weite das liebende Herz fand, das im Sehnen nach den ewigen Zielen mit ihr für die draußen Wohnenden schlug.
Auf der vom Tal ansteigenden Straße schlugen Hufe auf leichte, spielende. Geschliffene Scheiben blitzten zu beiden Seiten eines Kutschbockes. Im offenen Wagen saßen zwei Herren. Papa und wie war das möglicht Marcel Delierre.
„Ha, komm nur, Freund! Aber du wirst umsonst nach meinem Herzschlage horchen.“ Antoinette
eilte dem Acker entlang gegen den Bühl hin, um den die Straße sich wand und von dessen
Kuppe man ankommenden von Tavel, HSeinz Tillmann. 14
Wie man dem Spiel eines Wiesels zuschaut mit verhaltenem Atem so blickten die Eltern, jedes hinter einem offenen Fensterflügel stehend, den Heraufsteigenden zu. Und als diese so nahe an das Haus gekommen waren, daß das Fenstergesimse sie verdeckte,fingen sich die freudvoll verstehenden Blicke des Elternpaares. Unwillkürlich traten sie aufeinander zu und tauschten zärtliche Küsse. Dann erzählte Herr Fernand seiner Frau von den klugen Ansichten, die der junge Mann auf der Fahrt geäußert habe. „Dem ist die große Perspektive über die Verbindung zwischen Technit und Kapital aufgegangen. Der Mann hat eine verheißungsvolle Zukunft. Ich bin überzeugt, Liebste,daß er würdig wäre, deinen heroischen Verzicht auf diese alte Herrlichkeit hier, mit seinem Genie zu befruchten. Er wäre der Mann dazu, uns aller Reue zu entheben.“
Frau Dorothea leuchtete auf. Dann glitt wieder ein leiser Schatten über ihr Gesicht. Ein Bedenken schien sie zu beschäftigen. Plötzlich aber erhob sie ihr Haupt wieder frohgemut und sagte: „Ach, ich glaube eigentlich auch, daß er nicht so ganz ohne Verständnis wäre für die religissen Bedürfnisse Antoinettes.Meinst du nicht ?“
„Unter allen Umständen wird er sie respektieren,und wenn Antoinette klug ist, so wird sie ihn zu führen wissen.“
Bald darauf war die kleine Gesellschaft an der Mittagstafel vereinigt, wo Marcel neuerdings Gelegenheit fand, seine Gastgeber durch kluge Reden in Staunen zu setzen. Dabei half ihm Antoinette selber in den Sattel, indem sie ihn fragte, ob er nichts von Heinz Tillmann wisse. Ohne diese Frage würde es Delierre nicht gewagt haben, den Namen Tillmann zu nennen. „O ja,“ sagte er, „der arme Mensch dauert mich unsäglich. Man versteht wirklich nicht, warum ein so guter Kerl so viel Widerwärtigkeiten ertragen muß.Ich frage mich, wie er durch das hindurch kommen wird, was seiner noch wartet. Der alte Tillmann ist wirklich solcher Treue nicht wert. Erst zwingt er seinen Sohn in einen Beruf hinein, in dem er ganz sicher zeitlebens unglücklich sein wird ...“
„Glauben Sie das wirklich? fragte Frau Dorothea.„Kein Zweifel,“ fuhr Marcel fort. „Nie und nimmer wird er auf einen grünen Zweig kommen. An Intelligenz fehlt es ihm nicht; aber an rücksichtsloser Energie.Er ist zu wie soll ich sagen? zu lieb. Mir kommt er immer vor wie ein Wagen. der quer auf dem Geleise steht.
Herr Fernand schien tief nachzudenten. Dann sagte er: „Und zu allem andern wird der arme
Zunge
„Er ist tief, tief zu bedauern,“ meinte Delierre.„Schade, daß er sich nicht von dem Alten losmachen kann.“
„Aber das wird er nun doch vielleicht, wenn sein Vater ins Zuchthaus kommt,“ antwortete Frau Dorothea.
Mit schlecht versteckter Erregung fragte Antoinette:„Papa, glaubst du wirklich, daß er ins Zuchthaus kommt ?
Herr Fernand zog die Schultern hoch. „Etwas anderes hat er doch wohl nicht verdient.“
„Man sollte aber doch einen Versuch machen, dem Heinz zu helfen.“ Mit diesem Vorschlag wanöte sich Frau von Guldwang an ihren jungen Gast. „Wollen Sie nicht versuchen, mit dem armen Menschen zu reden,Herr Delierre? Man muß den richtigen Augenblick erfassen. Etwa nach der Gerichtsverhandlung. Da stößt er doch vielleicht eine rettende Hand nicht zurück. Nicht wahr, Papa, für die theologischen Studien kommen wir auf? Und damit es ihm nicht zu schwer fällt, es anzunehmen, bringen Sie es ihm bei, Herr Delierre. Von einem Freund läßt man sich so etwas eher gefallen.Und Sie brauchen ihm gar nicht einmal zu sagen. daß wir dahinter stecken.“
„Das wäre mir lieber,“ sagte Herr Fernand. „Ich möchte nicht, daß uns die Sache noch falsch ausgelegt würoe.“
„Wollen Sie es übernehmen, Herr Delierre?“wiederholte Frau Dorothen.
„Von Herzen gern,“ versicherte Marcel.
„Aber Sie müssen ihm ernstlich zusetzen.“
„Ich werde nichts unterlassen, was zum Ziele führen kann; denn es läge auch mir sehr daran, den guten Kerl in einem Beruf zu sehen, den er ersehnt hat und der ihn auch glücklich machen wird.“
Antoinette hatte an diesem Gespräch gar nicht teilgenommen; aber sie benützte hernach einen Gang durch den Park, um darauf zurückzukommen.
„Herr Delierre ...“
„Ach bitte!“ unterbrach er sie, „warum nicht mehr Marcel“, wie ehedem ?“
„Also, meinetwegen Marcel. Wenn Ihnen gelingt, was Sie übernommen haben, so werden Sie es nicht bereuen. Nur soviel sage ich Ihnen.“ Und als sie in des jungen Mannes Augen eine lächelnde Verwunderung bemerkte, fügte sie hinzu: „Einer solchen Heimsuchung kann ich nicht kalten Blutes zuschauen.“
„Sie haben recht, es ist furchtbar traurig.“
Ohne viel zu reden, wandelten sie weiter bis an eine Tücke des Parkgeheges. Da bemerkte Marcel den herrlichen Saum des Buchenwaldes. „Welche Pracht!“rief er aus.
„Das ist mein besonderer Spaziergang,“ sagte Antoinette, „meine Studierstube, mein Heiligtum.“
„Gehen wir hinüber!“ Delierre wollte auf den
Zelgpfad hinaustreten; aber Antoinette wandte sich lächelnd gegen den Garten und ließ sich entwischen:„Nicht mit Ihnen.“
Kopfschüttelnd folgte er ihr zum Schloß hinauf.
XII.
Ein schwüler Maientag neigte sich seinem Ende zu.Hoch lag seine öde Helle über brütenden Gassen und ließ ohne Uhr die Stunde nicht erraten. Aus der Türe des alten Rathauses vom Äußern Stand traten ab und zu Leute, die es in der Stickluft des überfüllten Schwurgerichtssaales nicht mehr ausgehalten hatten. Andere standen schon lange auf den gegenüberliegenden Crottoirs herum. Sie erwarteten mit wachsender Ungeduld das Urteil in der TotschlagsVerhandlung Tillmann,welche den ganzen letzten Winter hindurch an allen Wirtshaustischen und auf zahllosen Ofentritten des Werlentales erörtert worden war. In den Gesellschaftsschichten, denen die Familie Gulowang angehörte, verfolgten nur wenige Leute den Prozeß mit Spannung.Sie hatten sich aufgeregt an den Einzelheiten des Verbrechens. Heute gab schon der Verkauf des Schlosses an den Staat mehr zu reden.
Kopf an Kopf drängten sich hinten im Zuhörerraum die Neugierigen. Wie eine Schulklasse im Examen saßen die Geschworenen da. Ihre Augen hingen an der
Gestalt des Verteidigers, der von seinem Pult aus über den Angeklagten hinweg an das Mitgefühl der zum Klumpen zusammengedrängten Volksmenge appellierte.Aus diesem hundertköpfigen Ungetüm wollte er die Schwingungen herauslocken, denen die Geschworenen erliegen mußten. Die Richter lehnten, scheinbar gleichgültig, in ihren Fauteuils. Niemand kam ihnen nahe genug, um in ihren Augen die Belustigung über die Trapezkünste des Anwaltes zu bemerken. Ab und zu,wenn ein Murren oder ein beifälliges Gemurmel jenseits der Schranke vernehmbar wurde, wandte der Präsident sein Haupt mit abmahnendem Blick dem Volke zu.
Hans TCillmann hatte den Gerichtssaal als gebrochener Mann betreten. Mehr noch als alles,
was hier zu seinen Gunsten in berechneten Worten vorgebracht wurde, hatte sein Mitleid
erweckendes Aussehen bei Volk und Geschworenen ausgerichtet. Er war sich dessen nicht
bewußt. In den qualvollen Tagen und Nächten seiner Untersuchungshaft hatte die Reue
vollständig die Oberhand gewonnen über alles, was er sich zu seiner Rechtfertigung mit
Hilfe des Advokaten zurechtgelegt. Dieser hatte ihm vieles von seinem Schuldbewußtsein
hinweggeredet; aber die Erinnerung an gewisse Worte seiner verstorbenen Frau, an Warnungen
von Frau Schraner und den Gedanken an die Zukunft der Kinder vermochte niemand und nichts
zum Schweigen zu bringen. Und auch jetzt wieder war es ihm, als
8 füllen trachtete, und einen Jüngling, der zu den schönsten Hoffnungen berechtigt, um so mehr, als der Vater jedes Opfer auf sich nimmt, um die glänzenden Gaben seines Sohnes durch entsprechende Bildung zur Entfaltung zu bringen. Ein grausames Schicksal entreißt dem Angeklagten die Gattin in dem Augenblick, da die Erziehung der Kinder einer Mutter am allerwenigsten entbehren kann. Der seiner Lebensgefährtin beraubte Mann arbeitet unverdrossen weiter. Gerne würde er eine zweite Ehe eingehen, um sich und seinen Kindern ein trauliches Heim zu erhalten wahrlich ein Lebensanspruch, den ein in so harter Arbeit stehender Mann wohl hegen darf, um so mehr, als ihn seine Berufspflichten wochen, ja monatelang vom Hause fernhalten.Eine junge Witwe von trefflichem Charatter findet sich bereit, ihm die Hand zu reichen, seinen Kindern eine Mutter zu sein. Er versagt sich dieses Glück, weil er um der Kinder willen seine Familienverhältnisse nicht komplizieren will. Er verzichtet darauf, weil seine Kinder ihn zur Hoffnung berechtigen, daß sie bald mit ihrer eigenen Arbeitskraft ihm zur Seite treten und das Werk mit Erfolg krönen werden, das er ihnen zulieb auf sich genommen.
Was tun nun seine vornehmen Nachbarn? In heuchlerischem Erbarmen für die Halbwaisen
benützen sie die häufige Abwesenheit des Vaters, um sich in die Familienangelegenheiten
einzumischen und den Sohn im Augenblick, da er die Fachstudien beginnen soll, die
Und mehr noch! Die pietistisch selbstgerechte Herrschaftsfamilie findet es auch notwendig, ihr Seelenheil zu erkaufen mit einem ‚guten Werk an Vater Tillmann selber. Sie hält ihn für einen Trunkenboid und will ihn retten. Sie schickt ihm einen Arzt auf den Teib. um ihm ein Abstinenzgelübde abzuringen.
Der in allen Sätteln der Finanzwelt gerechte Neffe des Schloßherrn von Prankenau weiß die Projekte des mühsam um sein Vorwärtskommen ringenden Mannes zu hintertreiben. Nicht genug daran, daß er den Schloßbesitz von Prankenau, der ohnehin veräußert werden soll, in eines andern Käufers Hände spielt, um den Angeklagten eines mõöglichen Gewinnes zu berauben,warnt er diesen hinterdrein noch vor gewagten Spekulationen. Aus Christenpflicht will er gehandelt haben.Hören Sie, meine Herren Geschworenen, was man in diesen frommen Kreisen unter Christenpflicht versteht!
Nachdem der Advokat dem glotzenden Saal jenen Brief des Herrn Fernand vorgelesen, fuhr er fort:
„Glauben Sie aber nicht, der alte Herr auf Prankenau sei an diesen Herausforderungen
unbeteiligt geblieben. Nicht imstande, sich auf dem Rechtswege der Drainierung der Zelg zu
widersetzen, deren Versumpfung er durch den mangelhaften Unterhalt seiner
hochherrschaftlichen Wasserkünste verschuldet, macht sich der
Hat auch der Angeklagte durch all diese Schikanen,die geeignet waren, ihm das Leben zu verbittern, sich zu keiner feindseligen Handlung bestimmen lassen, so erklären sie doch zur Genüge die Gemütsverfassung,welche die Voraussetzung zu der übereilten Tat eines so rechtschaffenen ruhig seinem Beruf lebenden Mannes bildet.
In dieser überreizten Stimmung sehen wir ihn am verhängnisvollen 10. November seine Arbeit antreten.Sie war hart und unerfreulich, diese Arbeit, das Wetter kalt und feucht. Dies veranlaßte ihn, wie die Zeugen übereinstimmend aussagen, seiner Feloflasche öfter zuzusprechen, als ihm beksmmlich war. Meine Herren Geschworenen, ich bitte Sie, das nicht außer acht zu lassen.Wäre der Angeklagte der rettungsbedürftige Alkoholiker gewesen, um den die Familie Guldwang sich bemühen zu müssen glaubte, so würden ihn die paar Schlücke gebrannten Wassers nie und nimmer in jenen Zustand verminderter Selbstbeherrschung versetzt haben.
Man hätte selbst bei raffiniert ausgesonnener Provokation eines Raufhandels nicht
erfolgreicher gegen TCillmann vorgehen können. Als der Tag sich neigte, ohne ein
befriedigendes Resultat der Arbeit gezeitigt zu haben, muß es sich der Angeklagte gefallen
lassen, daß das überflüssigste Geschöpf der ganzen Umgegend, der
Wer von Ihnen, meine Herren, würde sich da enthalten haben, dem herrschaftlichen
Hundevieh einen Fußtritt zu versetzen? Und nun erfolgte die letzte Provokation, die allein
schon schwer genug nur noch den Tropfen darstellt, der das Maß voll machen mußte.Darf sich
ein rechtschaffener Mann in leitender Stellung vor seinen Untergebenen um eines
überflüssigen Hundes willen von einem notorischen Nichtstuer beschimpfen lassen, unter
dessen Launen die ganze Gemeinde zu leiden hat? Ich glaube, wir alle würden uns zur Wehr
gesetzt und vielleicht nicht einmal, wie Hans Tillmann es tat, die tätliche Bedrohung mit
der geladenen Schießwaffe abgewartet haben. Erst auf diese hin, entreißt der Angeklagte
seinem Gegner die Waffe, nicht um sich zu rächen, wozu er Grund genug gehabt hätte,nicht
um einen lästigen Störer und Feind seiner nützlichen Arbeit zu beseitigen das alles nicht,
trotz seines erregten Zustandes und der durch Alkoholgenuß verminderten Selbstbeherrschung
sondern nur, um sich gegen den Angriff eines ganz unberechenbaren ehemaligen Troupiers und
aristokratischen Abenteurers zu schützen, um seinen Kindern den Vater zu
erhalten.Zugunsten Tillmanns spricht auch sein ganzes Ver
Während dergestalt Berni Bärs Vater Hans TCillmanns Bußfertigkeit erfolgreicher
niederkämpfte als die Gegenargumente des Staatsanwaltes, bemühte sich Mirabeau, seinen
düster blickenden Freund Heini durch die Versicherung aufzuheitern, daß es seinem Vater
gelingen werde, eine Freisprechung zu erwirken. Beide warteten in der Schreibstube des
Anwalts auf den Bureaudiener, der ihnen Bericht bringen sollte. Entweder würde der
Freigesprochene selbst Heini abholen kommen oder dann wollte Dr. Bär ein kurzes
Zusammentreffen zwischen Vater und Sohn auswirken. Die Qual des Nachmittags wollte kein
Ende nehmen. Als es vom nahen Turme sieben Uhr schlug, trat Heinz Tillmann wieder einmal
an das offene Fenster, um nach dem Gerichtsgebäude zu spähen. Ihn dünkte, es stünden etwas
mehr Leute herum als vor einer halben Stunde es waren erst zehn Minuten verstrichen,
seitdem er das letztemal hinausgeschaut. Aber es mochten nur solche sein, die zum
Nachtessen heim sollten, und im Weggehen lauschten, ob nicht vielleicht jetzt gerade die
Beratung zu Ende ging. Nun wollte Heinz nicht mehr vom Fenster weg. Er setzte sich auf das
Gesimse und
Heinz überhörte die Frage. Seine fieberigen Blicke folgten drei Gestalten, die sich die Straße hinunterbewegten: Antoinette von Guldwang zwischen ihrem Vater und ja ja, das war er Marcel Delierre.Und am Ende der Gasse wartete der Guldwangsche Wagen. Heinz kannte die Pferde und den Kutscher.Durch seine Brust wühlte etwas, das noch stärker angriff als die Spannung auf das Urteil. Nie und nimmer hätte Heinz das irgendwem zugegeben; aber es war da und brachte in seine Seele neue Gärung und Verwirrung. Er verfolgte Delierre und Antoinette mit solch gespannter Schärfe, daß ihm der Bureaudiener entging, der beflügelten Schrittes die sich mehrende Menge ourchschritt.
Berni riß seinen Freund los mit dem Ruf: „Da ist er. Komm!“ Er zog den erschreckten Heinz vom Fenster und reichte ihm den Hut. Heinz war wie betäubt. Also nicht der Vater selbst kam. Das bedeutete ...
Mit zitternden Knien stieg er hinter Berni die Treppe hinunter. Im Hausgang begegneten
sie dem Diener, der Heinz meldete, Dr. Bär erwarte ihn im Vestibül des Gerichtshauses.
Hinauseilend hörte er den Diener zu seinem. Freunde sagen: „Achtzehn Monate.“Heinz bohrte
sich durch den summenden Menschenstrom,
Dr. Bär war ein gewaltiger Redner und bot, wenn es galt, einer tobenden Volksmenge die Stirne; aber wo der Schmerz aus Abgründen schrie, versagte sein Mut. Er ließ die zwei mit dem Tandjäger allein, den die Amtspflicht zwang, einem Erlebnis standzuhalten,das ihm die blinkenden Cränen über die wetterharten Wangen jagte.
Als Heinz Tillmann das Gebäude verließ, bemerkte er kaum, daß die Menge sich so ziemlich
verlaufen hatte.Er war sich überhaupt nicht recht klar, was mit ihm vor sich ging. Zwei
Menschen hatten ihn in ihre Mitte genommen und führten ihn langsam über die Straße.Der
eine redete mit lieber Stimme auf ihn ein. Worte wie: sich nicht unterkriegen lassen, auf
die treuen Freunde zählen, mit frischem Mut den Beruf ergreifen, den einzig
Die Tandjäger zerrten den Widerstrebenden durch den sich neu bildenden Auflauf hinweg.
Die jungen Leute standen starr, bis Heini mit erstickender Simme zu Antoinette sagte: „Ich kann nicht!“und, sich losreißend, davonstürmte.von Tavel, Seinz Tillmann.
15
XIII.Auf dem Bannwartenstein, wo vor kaum einem Jahre noch Herr Scipio von Guldwang
pirschend geweilt,hockte heute Hans Cillmann. Die leergelöffelte Gamelle neben sich, ließ
er seine Blicke über die im AugustSonnenglast zu seinen Füßen liegende Landschaft
schweifen. Westwärts zog sich das Cannenmeer des Lindentals, aus dessen Schattseite der
Felshügel mit der Karthause ins helle Mittagslicht heraussprang. Nordwärts gewährte der
Einschnitt über dem Dörfchen Krauchtal einen Ausblick nach den in blauer Ferne sich
dehnenden Jurakämmen. Wunderherrlich wär's gewesen,das Cräumen über dem schlummernden
Gewirr von Waldhügeln und den Cälchen, durch deren reizende Heimlichteit sich weiß
leuchtende Wege schlängelten,hätte nur nicht die nächste Umgebung den Rastenden an die
Ereignisse gemahnt, die ihn hierher geführt. Da lagen dicht hinter ihm, im Schatten des
überhängenden Felsens, hingeworfenen Zementsäcken gleich, die Schicksalsgenossen, die
unter seiner Leitung ein neues Fahrsträßlein anzulegen hatten. Da pfiffen keine
Tokomotiven, rasselten keine Krähne. Ein Kleinbetrieb war's,darauf eingerichtet, die
vorhandenen Arbeitskräfte solange wie nur möglich zu beschäftigen. Mit den Sträflingen
pflegte Hans Tillmann so wenig Gemeinschaft als es irgend anging. Näher stand er dem
Pro
Wenn der helle Sonnenschein ihn umgab und man über Tal und Hügel blicken konnte, gingen Hans Cillmanns Gedanken in die Zukunft, und trotziger Mut erfüllte sein Herz. Er gab sich noch nicht verloren. NAur dort drunten in der nächtlichen Zelle kam zuweilen etwas anderes über ihn. In der Einzelhaft der ersten Tage mußte er oft die wehleidigen Anläufe niederkämpfen. Die Erinnerungen an Frau und Kinder, an die einfältige Frau Schraner, an die Wirtin vom „Wilhelm Tell“ peinigten ihn furchtbar. Er wünschte sich hundertmal in schlaflosen Nächten den Cod. Aber mit dem ersten leisen Cagesgrauen in der Fensterverschalung/ die nur ein kärglich Riemlein Himmel freigab, erwachte gleich wieder der Gedanke: Hätten sie mich nur machen lassent So wie Dr. Bär es dargestellt, so verhielt es sich in Wirklichkeit. Er gehörte von Rechts wegen nicht hierher; darum, bildete er sich ein, behandelten ihn hier alle mit Schonung, vom Direktor bis zum letzten Wärter.
Und je heller der Cag wurde, desto entschlossener wandte sich Hans CTillmann der Zukunft
zu. Er mußte.Schwebte nicht sein Vermögen in Gefahr? Wenn ihm die Menschen schon übel
mitgespielt und ihn wehrlos
Das Glöcklein der Strafanstalt das verdammte,das ihm nachts die Stunden mit so unerbittlicher Pflichttreue vorzählte zog plötzlich die Aufmerksamkeit des Träumenden nach der Karthause. Ein Hund bellte. Und richtig, dort drunten verließ, über den schmalen Damm schreitend, der an Stelle der alten Corbrücke getreten war, der ablösende Profoß die Veste. In wilden Freudensprüngen umtreiste ihn einer der Wolfshunde, die auf Menschenfang dressiert waren. Aber mit dem Profoßen ging ein schlanker junger Mensch, und gegenüber, am Rande des Waldhanges, stand ein Paar. Nun kamen sie alle vier zusammen und redeten miteinander. Der junge Mann, der mit dem Profoßen ging, zeigte nach dem Bannwartenstein. Dann verschwanden sie alle im Wald.Hans Tillmann wurde das Herz unruhig. Wenn das nicht seine Kinder waren! Zerstreut nahm er mit seinen Gefährten die Arbeit wieder auf. Plötzlich war ihm das Peinliche auf die Seele gefallen, daß seine Kinder ihn in der Sträflingskleidung sehen sollten.
Seine scharfen Augen hatten ihn nicht getäuscht.
Tags zuvor hatte ein Jahreskurs der Haushaltungsschule zu Kilchwerlen mit einem
festlichen Eramen abgeschlossen. Bei den Zuhörern hatten diesmal die Herrschaften von
Prankenau gefehlt weil Roöseli Tillmann unter den Schülerinnen saß. Dafür war Heinz,
„Franz!“
„Was denn?“
„Weißt du nicht? Ihr Vater ist ja ...“
„Wegen Totschlags im Gefängnis. Eben just drum.“
Das war es ja gerade, was in Franz Dengelers Augen einer Annäherung ganz besondern Reiz
verlieh.Und als heute früh Tante Nilpferd neben den würzigsten Konfitüren aus der
Haushaltungsschule einen Turm von nächtlich ausgebackenen Argumenten unter dem Teewärmer
zurechtgestellt hatte, war der verliebte Neffe schon droben in der Känelmatt, ja er hatte
mit dem Hammer seiner Burschenlaune bereits eine Ecke von Röselis Unnahbarkeit
abgeschlagen. So wanderten die stillen Geschwister mit dem frohen Gesellen durch die
Wälder dem Lindental entlang. Heinz war glücklich über das Zusammentreffen, denn ihm hatte
vor
„Lieber letzteres,“ sagte Franz und sang weiter.Jeden andern Sänger hätten Heinz und Röseli verwünscht; aber aus dieses Gesellen frohem Lärmen sprach so deutlich die Wonne, liebebedürftigen Menschen etwas sein zu dürfen, daß sie sich über alles freuten. Heinz Tillmann zwang auch die schmerzlichen Gefühle nieder,die der Freund mit dem Geplauder über seine Studien,Professoren und Kollegen in ihm weckte. Doch wies er ein leises Gelüsten nach Umkehr in der Berufswahl nicht von sich. Je nach der Verfassung, in der er den Vater traf ...
Als sie vor der alten Veste anlangten, beschwor Heinz die beiden Begleiter,
zurückzubleiben. Ehe Röseli den BDater zu sehen bekam, wollte er selber wissen,unter
welchen Umständen man ihn sprechen konnte. Der Direktor gestattete Heinz mit dem
ablösenden Aufseher auf den Werkplatz zu gehen. Dorthin wollte Heinz seine Schwester nicht
mithaben. Er sanöte sie mit Franz in den Wald hinauf und versprach, sie zu rufen, falls
der Vater sie sehen wollte.
4
Der Profoß hieß Heinz in einer Einbuchtung des Weges warten und lief voraus. Es dauerte nicht lange,so kamen zwei Männer vom Werlplatz herunter. Da faßte ein entsetzliches Weh den Harrenden. Herrgott! Nein nein nein! schrie es in ihm bei dem Anblick des Vaters, der plötzlich, kahl geschoren und glatt rasiert, in den braun und grau gestreiften Sträflingskleidern vor ihm stand. Wie einer, der des Gegners Feuer unterlaufen will, rannte er auf den Vater zu und drückte, um ihn nicht sehen zu müssen,das Gesicht an seine Brust. Der entsetzliche Anstaltsgeruch des Kittels benahm ihm erst recht den Atem.
Der Profoß, der Tillmann begleitet hatte, ging unterdessen weiter.
Hans Tillmann zitterte einen Augenblick und fühlte seine Augen brennen. Diesen Anfall von
Rührung niederpolternd, schalt er: „Dummer Bub! Taß doch das Geheul. Sörst? Es nützt ja
doch nichts. Warum kommst denn, wenn du's doch nicht ertragen kannst? Setz dich daher!“
Hans Tillmann drängte den Sohn sachte von sich weg an die Böschung. Als Heinz sich an
diese hinlegte und sein Gesicht ins Gras drückte, glaubte der Vater, ihm auf andere Art
aufhelfen zu müssen. „Wart'!“ sagte er und schlich mit plumpen Schritten das Bord hinan,
gegen eine Wettertanne, deren mächtige Wurzelschlangen eine kleine Höhlung bildeten. Bald
darauf stand er wieder vor Heinz und hielt ihm ein häßliches kleines Glas voll stark
Heinz schnellte auf. Eine zornglühende Frage lag auf seinem Gesicht. Einen Augenblick blieb es totenstill zwischen den beiden.
Dann richtete sich Heinz vollends auf, riß das Glas an sich und warf es ins Gestrüpp.
„Vater, hast du dem auch hier noch nicht abgesagt?
Du weißt doch, wie übel dir das mitgespielt hat.“
Hans Cillmann zwang sich zu lächeln. „Wenn du wüßtest, was arbeiten ist und was Gott erspar dir's Gefängniskost bedeutet ...“
„Vater, nun sollst du's wissen: bis ich sicher bin,daß du dich davon losgemacht, rühr'
ich keinen Tropfen geistigen Getränks mehr an. Dat“ Er bot dem Vater seine Rechte. Aber
Hans Tillmann schlug nicht ein. „Hör jetzt, Bub. Wir wollen unsre Zeit nicht mit derlei
Zeug verplempern. Also, wie stehts um deine Studien?“Heinz berichtete genau und konnte
seinem Vater die Gewißheit geben, daß er keinen Tag verloren gehen lasse.„Gut so,“ sagte
der Vater, „es wird dich nie gereuen. Auch ich versäume nichts. Sie sollen nicht
meinen,sie haben mich aus der Welt geschafft. Donnerwetter nein. Einen Mann, der auf zwei
Füßen steht und einen Kopf hat wie ich, erwürgt man mit Einsperren noch
„Vater! Das wird doch nicht dein Ernst sein!“Heinz starrte den Alten wie versteinert an. Der aber lachte kalt und fuhr fort: „Ja, Bürschli, siehst, das Leben ist kein Kinderspiel. Entweder man rührt sich und nimmt alle Kraft zusammen oder dann darf man nicht verwundert aufglotzen, wenn einem die lieben Leute ihre dreckigen Stiefelabsätze auf der Nase umdrehen. Mit dem Heulmeiern kommt man zu nichts.“
„Aber Vater, das Haus, wo wir alle unsre lieben Erinnerungen und das Andenken an die Mutter .. *
„Alles recht. Aber für des LTebens Kampf hat das keinen Wert.“
„Das fragt sich, Vater.“
„Wer's vermag, gut. Aber für mich ist das Lurus.
Überhaupt, es gibt gar nichts mehr zu brichten drüber. Das Haus ist so gut wie verkauft.
Gib dich
„Ja, Vater, das weiß ich, weiß es vielleicht besser als du. Und von nun an sollst du mich nimmer flennen sehen. Du sollst erfahren, daß nun auch ich auf 3wei festen Füßen stehe und einen Kopf habe. Du hast's so gewollt. So sei's.“
In Hans Tillmanns Augen lag etwas wie Belustigung, als er erwiderte: „Endlich! Endlicht So möcht'ich dich ja just haben.“ Aber in der Helle seines Blickes webte doch eine leise Verblüfftheit. Es war nicht durch und durch wahr mit dem: „So just möcht' ich dich haben.“ Vater und Sohn drülckten sich die Hand und schauten sich in die Augen. „Also,“ sagte Heinz noch einmal, „es bleibt dabei, Vater. Ich trinke keinen Tropfen mehr, bis ich weiß, daß du in Sicherheit bist.“
„In Sicherheitt“ murmelte der Vater vor sich hin, und als er den JZungen durch das Gebüsch bergan steigen sah, lachte er gezwungen: „Dich werd'ich schon wieder einfangen, Heinerli.“
Franz und Röseli waren erstaunt, Heinz schon wieder
„Soll ich kommen?“ rief sie ihm entgegen.
„Nein, um Gottes willen nicht,“ keuchte er im raschen Heraufsteigen. Und auf die fragenden Blicke antwortete er kurz und hastig: „Du würdest es nicht ertragen.“
„Geht's ihm schlecht? Ist er krank?“ wollte Röseli wissen.
„Nein ..... Aber ..... Geht nur weiter. Ich muß erst wieder ein wenig zurechtkommen.“
Zögernd gingen sie weiter. Röseli verschluckte Tränen,und der Theologe blieb auch stumm. Heinzens Ausdruck verriet mehr Aufregung als Traurigkeit, und deshalb vermuteten sie, Tillmann werde Ischlecht behandelt.
Nach einer Viertelstunde erreichten sie die Bergkuppe und wanderten, leichter atmend, durch den Hochwald einer Lichtung zu. Da lag ein Stück Heideland voll Erika und Brombeerdickicht, und darüber hinweg sah man in sommerlicher Blässe die Schneeberge das weite Hügelland überragen. Die große feierliche Stille ließ es zu, daß ein jedes tiefer und tiefer in seine besondern Gedanken hineintastete. Wie in schweigender Verabredung setzten sie sich auf eine gefällte CTanne.
Nach geraumer Zeit sagte Heinz zu sich selbst:„Möchte nur wissen, was dabei herauskommen soll.
Da sondert man diese Unglücklichen ab von den übrigen Verbrechern denn nach dem Maßstab der göttlichen Gerechtigtkeit gemessen sind wir doch alle Verbrecher sondert die ab, die weniger Selbstbeherrschung, weniger Erziehung und mehr gefährlichen Mut,mehr Temperament haben und sperrt sie alle zusammen,wirft sie mit all ihren gefährlichen Anlagen an einen Haufen, daß es gären muß unter dem Druck der aufgestappelten Fäulnis. Und nun bildet man sich gar noch ein, sie sollen hernach besser herauskommen.“
„Natürlich ist es ein Unsinn,“ bestätigte Franz.„Man zerbricht sich auch redlich den Kopf über die Ziele der Gefängnis und Strafrechtsreform. Aber für uns liegt die Frage anders. Wir sagen: kein Mensch macht den andern besser, auch keine menschliche Einrichtung. Bessern kann nur Gott. Darum müssen wir uns fragen: Was kann geschehen, um Gott besser zu Wort kommen zu lassen? Es ist natürlich ein Unsinn,zu glauben, die sonntägliche Predigt richte im Gefängnis mehr aus als im freien Leben draußen. Nicht predigen,aber alltäglich aus Gottes Wort vorlesen sollte man.So käme Gott zum Wort, bald tröstend, bald strafend.Die Stunde des Zusammenbruches ist für jeden einzelnen das Entscheidende, und die schlägt wohl manchem weit außerhalb seiner sogenannten Strafzeit.
„Eben das ist's, der Zusammenbruch.“ Heinz nahm seiner Schwester Hand und sagte ihr
leise: „Mit dem Vater müssen wir noch lange Geduld haben.“
30
Röseli vermochte lange nicht zu reden. Als sie ihre Herzensnot ein wenig niedergelämpft hatte, brachte sie,den Kopf an Heinzens Schulter legend, mühsam heraus:„Dennoch! Zum Glück sind wir unser zwei.“
Da blickte Franz Dengeler sie aus seinen dunklen AÄuglein gar bittend an und fragte: „Wirklich nur zwei? dDarf ich nicht mithalten?“ Und Röseli fühlte, daß da, im Duntel ihres Leides, einer hinzutrat, der mitzutragen bereit war. Sie konnte das nicht ausschlagen und empfand es auch gar nicht als unerwünschte Einmischung. Dankbar blickte sie ihn an und sagte: „Das ist lieb von Ihnen.“ Und als sie bald darauf wieder weiter wanderten, wie drei Menschen, die schweigsam an einer einzigen Last tragen, da ließ Röseli es geschehen, daß der häßliche Student mit dem herzguten Gesicht sie recht zärtlich an sich zog und den Arm um sie legte. Noch manches Tränlein kugelte ihr im Wandern nieder und blinkte wie ein verlorener Edelstein im grunen Moos. Die zwei trotteten in stiller Seligkeit voraus. Schon fiel die Sonne schräg in den Wald,und die Augen ermüdeten sich ob dem Hinwandern uber die unzählbaren Stammschätten, die Füße stolperten über Wurzeln, und darob stellte sich allmählich wieder ein leises, glückliches Lachen ein.
Weit hinter den beiden ging Heinz grabend,ringend, betend. Die da vorn hatten ihr Glück
gefunden. Wie eine Windsbraut war es gekommen und doch nicht flüchtig. Dazu ging Franz
einer Lebensauf
Heinz Tillmann hatte die beiden aus den Augen verloren, suchte sie auch nicht; er wollte sein Weh nicht ihrem Glück an die Fersen heften. Wo der Pfad über das Herrenvogelhölzchen gegen die Känelmatt abzweigte und der Tannwald durch das lichte wogende Meer der Buchen begrenzt ward, schreckte ihn in der Waldesdämmerung ein heller Schein auf. Und wie er hinsah, stand wenige Schritte vor ihm Antoinette von Guldwang. Jäh durchzuckte ihn des Vaters drohende Warnung vor „denen ob der Zelg“. Antoinette vertrat ihm den Weg, genau wie damals, als er aus dem Militärdienst in Urlaub kam. Sollte er sich ihr entziehen mit einer schäbigen Phrase von nicht Zeit haben oder von erwartet sein oder gar mit schroffer Zurückweisung den letzten Faden zerreißen? Nein,noch ehe sie ihn angesprochen, wußte Heinz, daß dieser nach Hilfe schreiende Blick ihn doch nie mehr zur Ruhe kommen ließ. Aber des Vaters Warnung! Heinz warf unwillkürlich die geballten Fäuste hinter sich, als zerrisse er einen Strick über das Knie. Nein, des Vaters törichter Haß fesselte ihn nicht länger. Frei und stark wollte er handeln, wie die Liebe zu dem Vater ihn handeln hieß.
Antoinette verstand die ungestüme Geberde nicht.Hastig redete sie Heinz an: „Ich habe
Ihnen etwas zu sagen. Den ganzen Tag, seitdem ich Sie mit
Als wollte er mit der Gequälten weiter von den Menschen abrücken, verließ er den Pfad, und sie folgte ihm in die tiefe Waldesdämmerung hinein. In einer verschwiegenen Bucht blieb er stehen.
„Heinz,“ sagte sie. „Sie ahnen nicht, wie schwer es mir fiel, Sie hier aufzusuchen.“
Scheu rückwärtsblickend und lauschend, hielt sie inne, faßte Heinzens Hand und zog ihn
noch ein paar Schritte tiefer in die Buchtung hinein. „Aber wenn ich Ihnen nicht enolich
anverirauen kann, was mich Tag und Nacht verfolgt, so halte ich dieses Leben nicht mehr
aus. Tassen Sie mich reden. Ich weiß schon, was Sie mir entgegenhalten wollen. Es ist
wahr, man trägt mich auf Händen, man umgibt mich mit unendlicher Sorge;aber das ist's
eben, was ich nicht mehr ertragen kann.Ich bin nun einmal denken Sie nicht, daß ich fromme
Phrasen mache ergriffen von der Liebe zu den leidenden Menschen. Verstehn Sie mich, ich
will nicht Krankenpflegerin werden oder dergleichen, nur frei werden von dieser
erstickenden Umsorgung. So, wie ich bin, und mit allem, was mir gehört, möchte ich denen
wohltun, die einsam ihres Weges ziehen. Nein,nein, ich will nicht in ein Diakonissenhaus
und auch nicht als alte fromme Jungfer die Armen um mich scharen. Aber ich weiß wohl: was
ich möchte, das kann ich allein nicht, das kann ich nur durch einen
Plötzlich hielt sie inne. Sie hoffte auf irgend ein Zeichen der Zustimmung; aber Heinz blieb stumm. Da wandte sie sich ab, empört darüber, daß er die Preisgabe ihres Innersten, mit der sie ihm eine Brücke zu bauen gedachte, nicht würdigte. Schon wollte sie den Rückweg antreten, als Heinz endlich das Schweigen brach: „Ich muß meinen Weg gehen.“
„Welchen Weg?“ fragte sie.
„Den die Sorge um meinen Vater mich gehen heißt.“„Und die andern alle, denen Sie das Heil bringen könnten, wollen Sie warten lassen?“
„Ja,“ sagte er in plötzlicher Erleuchtung, „wie der,der die neunundneunzig in der Wüste ließ, um dem einen Verlorenen nachzugehen. Wenn ich den einen geborgen haben werde, so werde ich die Herde weiden,die Gott mir zuweist. Meinen Vater kann ich nicht verlassen.“
„So gibst du miich preis.“ hauchte eine Stimme tonlos.
Und aus dem stummen Wirrsal der Stämme antwortete es ehernen Klanges: „Will Gott, daß unsre Wege sich einen, so werden sie sich einen. Ich sehe nichts mehr um mich als Nacht, aber ich folge meinem Glauben an den kommenden Morgen.“von Tavel, Heinz Tillmann.
16
Antoinette wollte fliehen, aber sie fand keinen Weg.Strauchelnd griff sie nach dem nächsten Stamm und schürfte sich die Hand. Da fühlte sie Heinzens kräftigen Arm um sich gelegt. Er führte die Zagende, behutsam tastend, zwischen den Bäumen hindurch bis an den Waldsaum. Hier flimmerte vor ihnen über dem schlafenden Berge der Sternenhimmel. Als ihre Fuße das helle Band des Weges betraten, sagte Heinz leise:Glaube, wie ich glaube!“ und ließ sie vorangehen.
XIVV.
Es war des Staunens kein Ende, als, wiederum an einem brütenden Augusttage, Heinz
Tillmann tapferen Schrittes auf das Chalet an der Spiezerbucht zugeschritten tam, wo nun
die Familie Guldwang die Sommermonate zubrachte. Frau Dorothea wunderte sich des
Freimutes, mit dem der junge Mann von neuem in ihren Gesichtskreis trat, nachdem der
Vertauf der frühern Heimstätten die einstigen Nachbarsfamilien vollends auseinander
gebracht. Blitzschnell reihten sich die AÄberlegungen, wie sie eben dem Bewußtsein ihrer
gesellschaftlichen Stellung entsprangen.Hatte vielleicht der Ruin des väterlichen
Vermögens den Studenten, der doch von etwas leben mußte, mürbe gemacht? Wer weiß, ob Frau
von Guldwang ihn empfangen hätte, wäre sie nicht bei ihrer Handarbeit
So war denn Frau von Guldwang eitel Huld und Hoflichkeit, und es kam ihr nicht bloß von der Zungenspitze, als sie nach der Begrüßung sagte: „Herr Tillmann, das lob' ich mir.“
Darüber wunderte sich Antoinette nicht. Warum hätte Mama ihren frühern Schützling nicht gut empfangen sollen! Wie aber sollte sie Heinzens Besuch in Einklang bringen mit dem, was er vor einem Jahre im Walde zu Prankenau ihr gesagt? Daß sich ihre Augen in banger Erwartung weiteten, konnte Heinz nicht entgehen. Föhnheiß leuchtete das tiefe Blau ihrer Sterne. Das war Liebe. Eine seltsame Verwirrung kam über den jungen Mann. Fast wollte es ihn reuen,daß er gekommen. Und doch! Warum sonst wäre er denn hergereist? Nur um der Familie Gulowang zu melden, daß er auf Geheiß seines Vaters nach Culebra verreise, um eine gut bezahlte Stelle am Bau des Panamakanals anzutreten? Das hätte er ja in einem Brief berichten können, wenn sie's überhaupt wissen mußten. Nein, jetzt wollte ihm keine Selbsttäuschung mehr gelingen. Heiße, tiefe, zwingende Liebe zu der „Unerreichbaren“ hatte auch ihn gezwungen.
Er mußte sie noch einmal von Angesicht sehen, mit seinen Augen ihre herrliche Gestalt messen, ihr Bild sich einpräggen. Und darum war er nicht unbefangen gekommen, sondern in der Erwartung, Frau Dorothea werde sich mit der ganzen Schärfe ihres Widerstandes vor Antoinette hinstellen. Das konnte immer noch tommen, trotz ihres „das lob' ich mir“. Heinz freute sich auf diesen Widerstand, denn sein Glaube sagte ihm,daß er ihn einst besiegen werde.
„An den Panamakanal?“ fragte Frau von Guldwang. „Ja, aber ...?“
„Sie wundern sich darüber, daß ich jetzt schon vor Beendigung meiner Studien hingehe ohne Diplom.“
„Allerdings. Werden Sie denn das nachholen?“
„Ich hoffe es. Jetzt erträgt der Entschluß keinen Aufschub. Es steht leider zu befürchten, daß mein Vater,wenn er seine Freiheit wieder erlangt, aller Mittel beraubt sein wird. Darum habe ich mich auch hierin seinem Wunsche gefügt. Ich unterlasse nichts, um ihm den Glauben zu erhalten, daß er mich immer an seiner Seite finden werde.
„Es wäre aber doch schade,“ meinte Frau von Guldwang, „wenn Sie Ihre Studien nicht zum Abschluß bringen könnten.“
„Ich kann es vielleicht später nachholen, und dann * mir die praktische Erfahrung nicht
zum Schaden ein.“
Es blieb nicht bei dieser Anerkennung. Heinz erkannte aus der ganzen Art, wie Frau Dorothea heute mit ihm umging, daß er ihre Achtung besaß. Das hatte er auch nicht anders erwartet. Was ihn aber zu beunruhigen begann, war die Gelassenheit, mit der die Dame ihm begegnete. Er wartete von Minute zu Minute auf den Schachzug, mit dem sie ihm Antoinette entziehen würde. Statt dessen zeigte Frau Dorothea immer größeres Vertrauen in ihn. Sie war sogar freigebig mit Zeugnissen der Bewunderung für seinen Fleiß, seine Sohnestreue, seine Ansichten.
Seinen Gipfel erreichte Heinzens üÜberraschung, als Frau Dorothea ihn bat, zum Mittagessen zu bleiben und vorschlug, er solle mit Antoinette noch eine kleine Ruderfahrt unternehmen. Er mußte sich Gewalt antun,um nicht allzu naive Freude darüber an den Cag zu legen.
Aber nun gesellte sich zu diesem Rätsel ein zweites:der fast angstvolle Ausdruck in Antoinettes Blicken.Schweigend folgte er ihr ans Ufer. Und als er ihre hohe geschmeidige Gestalt, den Rhythmus ihres leichten Ganges so ganz für sich hatte, da faßte ihn ein tiefes Weh. Aber er zwang's nieder. Nichts sollte ihn in seinem Entschlusse schwankend machen.
„Ich denke, wir rudern?“ fragte Fräulein von Guldwang, auf den kleinen Mast mit dem
gerollten Segel hindeutend. Heinz zog den Baum an sich und
„Warum so emsig?“ sagte Antoinette. Sie saß zuhinterst im Boot und schien über die Kraftverschwendung belustigt.
Aun mußte auch Heinz ob seinem Übereifer lachen.Er wollte sich mäßigen. Aber es gelang ihm nicht recht.Antoinette hatte den Eindruck, er wolle sich durch die Hast seiner Ruderzüge des Redens entheben.
Nehmen Sie's doch gemütlicher!“ sagte sie. Wohin wollen Sie denn noch vor Mittag?“
Sie lachten beide. Aber Heinz kraftete weiter.
„Passen Sie auf! Mehr links! Nein, nicht so! Nach dieser Seite, meine ich.“
Das Schifflein glitt aus der Bucht in den offenen See hinaus.
„Jetzt kommen wir in den Dampferkurs,“ sagte Antoinette. „Geben Sie acht! Sehn Sie, dort kommt auch schon das Mittagsschiff von Merligen her.“
„Sie müssen mich mit Ihren Augen leiten.“ Heinz hatte das gesagt, ohne sich etwas dabei zu denken. Als aber Antoinette, leicht errötend, darauf einging, ward er inne, daß er seinen zielsichern Vorsätzen untreu geworden.
Er mußte nun den Winken ihrer Augen folgen,ihrer schönen großen Augen, die ihn zugleich anklagten und bewunderten. Heinz steuerte nach links und nach rechts in wunderlichem Zickzack; er ruderte langsamer,läßiger, wurde verwirrt und konnte doch nicht loskommen von den seltsamen Blicken seiner Steuermännin.Wunderliche Gedanken schossen ihm durch den Kopf.Er hörte den hämmernden Schall der Dampferschaufeln näher kommen. War er im Bann einer Verzweifelnden? Aber es lag gar nichts von Verzweiflung in ihrem Gesichte. Eher schien sie zum Spaßen geneigt.
Antoinette bemerkte seine Unruhe. Er blickte doch ab und zu rückwärts nach dem Dampfer. „Sie trauen mir nicht recht,“ sagte sie heiter.
„Doch,“ sagte er. „Blindlings.“
„Ist's wahr ?“
„Sie dürfen mir jede Probe auferlegen.“
„So versuchen Sie's! Legen Sie die Ruder ab und schließen Sie die Augen, bis ich Ihnen erlaube,sie wieder zu öffnen.“
Da ließ Heinz die Griffe fahren, reckte den Kopf hoch und schloß die Augen fest.
Antoinette summte ein Tiedchen, als wollte sie ihn
Heinz hörte den Dampfer näher und näher kommen. Was tat sie? Er versuchte zu lächeln und verriet damit seine Angst.
„Ich habe Ihnen noch nicht erlaubt, die Augen zu söffnen. Die Probe ist noch nicht
bestanden.“
Heinz hörte, daß Antoinette Ruder einlegte. Aber sie schwieg stille, indes er den Kopf senkte, wie einer,der den Streich des Henkers erwartet. Die Schaufeln des Dampfers hieben mit wachsender Wucht in die Wellen. Mächtig schwoll das Rauschen. Man hörte Stimmen. Ein Schatten verdunkelte den Seespiegel.Brausend und donnernd nahte etwas Ungeheuerliches.Der Nachen tanzte auf und nieder. Ein Gefühl des Schwindels ergriff den freiwillig Blinden. Stimmengewirr und Singen, Tachen und Rauschen, Brausen und Stampfen umgaben ihn. Das Schifflein schien sich in dem Getöse zu bäumen, schien Spitz voran in die Ciefe fahren zu wollen. Da flutete das Licht wieder.Der Lärm nahm ab.
„Jetzt ?“
Heinz blickte geblendet auf. Hundert Schritte hinter ihnen fuhr, durch seine Rauchfahne verschleiert, der Dampfer. Sie schaukelten im smaragögrün aufquirlenden Kielwasser. Vor allem suchte Heinz in den Zügen seiner schönen Prüferin zu lesen. Sie leuchteten.
„Sie haben's bestanden,“ sagte sie. Note eins.Aber nun müssen wir wohl wenden, sonst kommen wir zu spät. Ich will wieder mit meinen Augen steuern.“
Heinz ruderte kräftig, doch gönnte er sich ab und zu eine Kurve, als wollte er das anmutige Spiel der leitenden Blicke recht auskosten.
„Eigentlich möchte ich doch wissen,“ sagte Antoinette, „was Sie sich vorhin dachten, als wir den
Dampfer kreuzten. War Ihnen nicht unbehaglich dabei ?“
„Ich wußte doch, daß ich mich auf Sie verlassen könne.“
„Kam Ihnen auch nicht einen Augenblick der Gedanke, ich könnte Sie mit mir ins Verderben reißen ?
Heinz lachte gezwungen auf: „Dafür kenne ich Sie zu gut. Sie gehören nicht zu denen, die das Leben von sich werfen. Und hätten Sie durch Ungeschicklichkeit das Unglück heraufbeschworen, nun .... .“
Antoinette war zufrieden. Sie wußte, was ihr wichtig war. Daß sie Heinz mit jedem kleinsten Schritte weiterer Annäherung Qualen bereiten würde, las sie in seinen Zügen. Redlich versuchten beide durch harmloses Plaudern von See und Bergen und Wetter sich aus dem Geschlinge ihrer tieferen Empfindungen loszuwickeln.
Antoinette verriet sich noch einmal. Während sie das Boot ankettete und Heinz, die steif gewordenen Beine wachstampfend, sich mit derben Händen den Vock zurechtzog, sagte sie: „Also bleiben Sie dabei, die neunundneunzig in der Wüste zu lassen?“
Fast mit der Härte seines Vaters antwortete er:„Ja.“
Schweigsam stiegen sie das Bord hinan. Als sie sich dem Hause näherten, blieb Antoinette
einen Augenblick stehen, spähte dem Weg entlang, als suchte sie etwas. Dann schritt sie
rasch auf einen Rosenstamm
Frau Dorothea empfing die beiden mit unverminderter Tiebenswürdigkeit. Und die Arglosigkeit, mit der sie bis zum Abschied mit ihrem Gast und Schiüitzling über dessen Pläne und Aussichten sprach, brachte Heinz in immer tiefere Verwirrung. Allmählich ergriff ihn ein seltsames Bangen. War sein Glaube an das Schwinden der Unerreichbarkeit doch ein Wahn? Wenn ihn nicht seine Sinne betrogen, so las er beim Abschied am Gartentor in Antoinettes Augen dasselbe Bangen. Ihr Mund zuckte schmerzlich, da sie ihm die Hand reichte. Als Frau von Guldwang ihre guten Wünsche beendigt und ihr letztes „Gott behüte Sie“gesprochen nicht ohne Rührung war Antoinette schon wieder an der Creppe zur Veranda, von wo sie dem Scheidenden noch einen Blick zuwarf.
Frau Dorothea fand ihre Tochter nicht in der Veranda, wo sonst die beiden Damen ihren
Nachmittag zubrachten, und sie wartete umsonst darauf, daß Antoinette kam, um, wie
gewohnt, des Tages Erlebnisse mit ihr zu besprechen. Da dämmerte ihr etwas auf,und dieses
Aufdämmern warf einen klärenden Schein rückwärts auf allerlei kleine Wahrnehmungen der
vergangenen Jahre. Frau Dorothea entdeckte etwas Roman
Als Antoinette kam, um den Nachmittagstee aufzugießen, hatte sie verweinte Augen. Sie fühlte, wie der Mutter neugierige Blicke sie in jeder Bewegung verfolgten, und wäre gerne geflohen. Aber das ging nicht wohl an. So setzte sie sich hin und suchte durch Vertiefung in ihre Handarbeit Mamas Wissensdrang zum Erlahmen zu bringen. Für einige Minuten hielt das vor. Dann war's mit der Geduld schon aus,und Frau Dorothea sagte mit sehr lustigen Augen:„Coinon ?“
Antoinette fühlte, wie die mütterliche Neugier ihr unter die langen Wimpern schlich und wanöte sich leicht ab.
„Voyons!“ setzte Frau Dorothea von neuem an.„Man sollte wirklich glauben, dieser départ ginge dir sehr nahe, Kind!“
Antoinette hüllte sich in Schweigen.
„Hm?“ mahnte nach einem Weilchen die Mutter.Der Trotz reizte sie. Es lag ihr schon auf
den Lippen,durch einen willkürlich gesteigerten Ausbruch des Erstaunens ihre Tochter in
jähe Ernüchterung zu stürzen,und wäre sie ihrem natürlichen Empfinden gefolgt, so hätte
Antoinette ein für allemal erfahren, daß man
Frau Dorothea ermaß nicht, wie weit diese Wahrheit über die Wurfweite ihrer Berechnung hinausreichte; daß aber ihr überlegtes Einlenken sein naheliegendes Ziel erreichte, konnte sie bald wahrnehmen.Antoinette ging auf die unerwartete Zärtlichkeit ein,und den ganzen Abend hielt eine Stimmung an, die wohltat wie ein warmer Gewitterregen.
Erst verwundert über das verständnisvolle Eingehen der Mutter auf ihre Gefühle, gewöhnte
sich Antoinette bald daran und fand es schließlich ganz natürlich. Sie machte sich
Vorwürfe, daß sie in den vergangenen Jahren so mißtrauisch gewesen gegen ihre Mutter, die
offenbar
24*
„Landen“, und hätte es für Sünde gehalten, nicht dankbar dafür zu sein.
Der Winter und der Rückzug in die Stadt änderten nichts an dem erquickenden Einvernehmen. Erst die Weihnachtsferien trübten den glatten Spiegel des Stilllebens ein wenig. Mareel Delierre tauchte wieder auf und ward der tägliche Gast des Hauses. Er war ein mustergültiger Kavalier auf jedem Partkett, und Antoinette hätte sich ihm nicht leicht entziehen können,ohne ihm unrecht zu tun. Jedes Ausweichen und Ablehnen nahm er als reizende Kaprice hin. Dieses beharrliche Werben entging der jungen Welt nicht, und bald galt es als selbstverständlich, daß die zwei zusammengehorten.
Es gab freilich stille Nachtstunden, in denen Antoinette die Unwahrheiten des gesellschaftlichen Lebens deutlich vor die Seele traten. Dann flohen ihre Gedanken über den Ozean. Tiefes Weh packte sie, und sie wünschte, daß die Ferien bald zu Ende gingen,damit das Leben wieder in ruhigen Fluß käme. Sie gingen endlich auch zu Ende; aber das änderte nichts.Delierre erschien trotz dem eisernen Fleiß, mit dem er sein letztes Semester durcharbeitete, zu jedem Ball in Bern, und Antoinette erkannte, daß sie einem Entschlusse nicht lange mehr würde ausweichen können.
Der Schnellzug BernInterlaken verließ eben die dunkle Bahnhofhalle von Chun. Der Wirrwarr
der ein und aussteigenden Menschen hatte sich gelegt, und man erkannte in der
wiederkehrenden Helle, wer um einen her saß. In einem Coupé zweiter Klasse hatten auf der
Seeseite Frau von Guldwang und ihre Tochter die Fensterplätze inne. Neben Antoinette saß
ihr Vater,neben Frau Dorothea dessen Associe, Herr dOr. Die Finanzmänner benützten den
strahlenden Maientag zu einer Besichtigung der Bauten im Ruhsetal, wo ein
Elektrizitätswerk angelegt wurde. Am gegenüberliegenden Fenster saß ein Mann allein.
Trotzdem der Zug sonst stark besetzt war, blieben die drei übrigen Plätze des Abteils
leer. Ob der einsame Mann schon von Bern an dort gesessen, hatten die Mitreisenden nicht
beachtet, da bis Chun der Wagen überfüllt gewesen war. Jetzt fiel er auf. Herr Fernand
fühlte sich von seiner Tochter sachte getreten, und wie er sie mit den Augen fragte, was
das zu bedeuten hätte, ward er ebenso stillschweigend nach dem einsam Sitzenden
hingewiesen. Der saß nach dem Fenster gedreht. Aber aus der Haltung seines auf starkem
Nacken und breiten Schultern sitzenden Borstenkopfes ließ sich erraten, daß er aufmerksam
horchte. Sein Gesicht bekamen die Mitreisenden nicht zu sehen, kaum daß ab und zu der
sproßende Vollbart ein wenig aus dem Schattenriß des Kopfes heraustrat. Herr von Guldwang
hatte den Mann schon lange beobachtet, ließ sich aber auch jetzt
In Spiez stiegen die Herren Ueltschi und Ryter mit qualmenden Zigarren ein. Hoflich grüßten sie nach links, wanöten sich, Platz suchend, nach rechts, wo der einsame Passagier sich umgedreht hatte und, in die Ecke rückend, die Eintretenden zum Sitzen einlud. Sein Gruß wurde durch ein flüchtiges Berühren der Hüte erwidert. Dann eilten die zwei Oberländer Herren weiter.
Die kurze Begegnung hatte Antoinette und ihrem Vater vollends Gewißheit gebracht. Die seltsame Veränderung im Gesichte Hans Cillmanns machte auf beide einen peinlichen Eindruck. Woran lag es nur? Blasser als früher sah er aus. Haupthaar und Bart waren kurz und mit vielen grauen Stoppeln durchsetzt. Wegen des kurzen Bartes erkannte man die Gesichtsbildung etwas deutlicher. Aber es war etwas Erloschenes, künstlich Gebleichtes in den Zügen. Antoinette mußte an Pflanzen denken, die lange unter einem Stein hinkümmern. Daß aber in dem ergrauten Kopf das alte Feuer noch keineswegs erloschen war, das hatte der kurze Augenblick verraten, in dem Tillmann sich nach seinen Geschäftsfreunden umgewanöt.
Die Unterhaltung der kleinen Reisegesellschaft war vollständig verstummt. Um ihr wieder aufzuhelfen, fing der Associé des Herrn von Guldwang, durch den Blick von Tavel, Heinz Tillmann.
7
Der Bahnhof von Interlaken brachte diesmal nicht nur ungeduldigen Touristen Erlösung. Die überragende Gestalt Hans Tillmanns stand wie ein Pfahl in dem quirlenden Getümmel der Aussteigenden. Er schien nach jemandem auszuspähen und blieb in sichtlicher Enttäuschung stehen, bis sich die Menge vollständig verlaufen hatte. Dann ging er, immer um sich blickend, auf den Platz hinaus und verschwand.
Erst als der BrienzerseeDampfer die Aare verließ und die Fahrgäste sich an ihren Plätzen
festgelegt hatten,erhielt Herr d' Or Aufschluß über den Zweck jenes Fußtrittes. „Ich
fürchte,“ so schloß Herr Fernand seine Aufklärung, „dieser Tillmann sei noch nicht am Ende
seiner schlimmen Erfahrungen. Wenn es nicht seinem wackern Sohn gelingt, ihn
herauszureißen, so geht's sicher noch weiter bergab mit ihm.“
„Und dieser Sohn steht zu ihm?“
„Er bringt ihm jedes Opfer. Sogar das Opfer seines Berufs hat er ihm gebracht.“
„Der arme Kerl.“
„Ja, ich fürchte, daß er's nie zu was Rechtem bringen wird. Aber wer weiß! Geht's dir nicht auch so: Manchmal frag' ich mich im Stiilen, was wir denn eigentlich von unsern mũhsam errungenen Erfolgen haben. Vielleicht schließt einer, der unten durch muß undo sich zuletzt sagen darf, daß er für andere sich hingegeben, doch besser ab als wir. Tiebe eines Kindes.die so wenig verdient ist, kann nicht unbelohnt bleiben.“
„Du hast recht. Wer sich sagen darf, daß er seiner Eltern Freude gewesen...*
Herr dOr blickte in völliger Geistesabwesenheit auf Antoinette, während er diese Worte, die ihn in eine ferne Vergangenheit führten, aussprach. Antoinette wußte sich den sonderbaren Blick nicht zu erklären.Glaubte Herr d'Or, ihr eine Wegleitung geben zu müssen? Das war sonst gar nicht seine Gewohnheit.Aber gerade deshalb machte die hingeworfene Äußerung um so tiefern Eindruck auf sie. Sie ging von den Herren weg und ließ, am Heck des Dampfers stehend,das Cräumen über sich rommen. Der leise Ärger ob der hintendrein hinkenden Aufmunterung des Herrn d'Or war bald verflogen. Wenn er sich nur nicht später, nachdem sie ihr Opfer gebracht haben würde,noch einbildete, ihm verdanke Papa etwas davon!
XV.„Nicht weinen, Mandi, Mandi! Wollen wir ja klein Mandi schön machen. Denk, Onkelchen kommt aus Amerika, weit, weit her übers Meer. Onkelchen, das Mandi noch gar nie gesehen hat.“ So sprach Frau Rosa Dengeler, die Pfarrfrau von Hilbligen, zu ihrem ungeberdig strampelnden Nestbuz, während ihr kehrum der dreijährige Fränzi und das zweijährige Röseli mit allerhand Begehrlichtkeiten am Kittel hingen. Nachdem sie all die süßen Geduldsproben, die ihr Tag für Tag auferlegt waren, auch heute wieder einmal bestanden und ihre kleinen Plaggeister befriedigt hatte, begab sie sich in die Küche, um dem Herrn Pfarrer den ZehnuhrImbiß zu rüsten.
Die Gemeinde Hilbligen hatte den richtigen Namen.Ihr sanftes, mit stattlichen Bauernhöfen
übersätes Hügelgelände war in weitem Umkreis von wohlgepflegten Waäldern umgeben, die als
breiter Schutzgürtel die Wucht der Winde brachen und, wie man glaubte,die heranfegenden
Hagelschauer in segensreiche Regengüsse verwandelten. In einer besonders lieblichen
Talsenkung zu Füßen des Kirchhügels lag inmitten üppiger Obstgärten das alte Pfarrhaus,
dessen Krautgarten durch einen heimelig murmelnden Bach von den dunkelerdigen Äckern
geschieden war. Wie die Gemeinde innerhalb des Waldgürtels, so bildete das Pfrundgut
Es gab im Pfarrhause gewisse Dinge, welche die junge Hausmutter an die dunklen Tage ihrer Kindheit erinnerten. So stand auf einer Kommode in der Wohnstube jene kleine Vase, die der Vater einst samt den Blumen achtlos unter den Cisch geworfen. Kam die Pfarrfrau mit diesen Dingen ins Zwiegespräch, so blickte sie allemal aufatmend nach dem Walosaum, der sogar gegen die Vergangenheit eine Schranke bildete,und dankte in ihrem Herzen Gott für die glückliche Wendung, die ihr Leben genommen. Immer mehr ward ihr die Wieseninsel zum Sonnenlano, alles aber,was jenseits des Waldes lag, zu einer Fremde, in deren dröhnendes Grauen sie nimmermehr zurückkehren wollte. Und dieses Glück des Geborgenseins strahlte auf ihren Mann über, daher denn fast alle seine Predigten von Lob und Dank gar lieblich widerhallten.
Die Hilbliger wußten das zu schätzen. Solche Dank
1 barkeit konnte nur aus einem kristallauteren Herzen kommen. Die guten Leute wußten nicht, daß Franz Dengeler eine Art Friedenstyrann war, der mit seinen Lobgesängen die Gewissensnöte seiner Frau luftdicht einzudecken sich bemühte. Gewissensnöte? In der Brust dieser allzeit fröhlich summenden Biene? Ja,warum hatte sie eine solche Scheu vor allem, was jenseits des Waldes lag? Der Herr Gemahl hatte über seinem Schreibtisch einen selbstgemalten Wanöspruch hingehängt: „Bene vixit qui bene latuit.“ Ei, was wußte er nicht alles über das Glück des Lebens im Verborgenen zu sagen. Verdächtig viel. Und just weil ihm das Gewissen zuraunte, das Losungswort schicke sich besser für eine Weinbergschnecke als für einen tapfern Winzer in Gottes Rebberg, so kritzelte er es erst recht auf jeden noch unbeschriebenen Fetzen Papier.
Frau Rosa duckte sich in den Hausfrieden; aber sie sah dem angekündigten Besuch ihres Bruders mit eigentümlich gemischten Gefühlen entgegen. Erlösung erwartete sie von ihm, und doch bangte ihr davor. Den ganzen Tag sann sie auf Mittel und Wege, ihren Mann auf den Augenblick der Ankunft ans Haus zu fesseln,damit sie die ersten paar Schritte von der Posthaltestelle wenigstens allein mit Heinz gehen könnte. Aber es fiel ihr nichts Vernünftiges ein. Der Pfarrer schien auch etwas nervöser zu sein als sonst. Beim Mittagessen kamen sie überein, man wolle das ganze volle
Hausglück so recht erstrahlen lassen. Wohl werden müsse es darin dem arbeitsharten Amerikaner. Er müsse in der Sonnenflut des Pfarrhausidylls untergetaucht werden. Schon bald nach dem Essen wurde unter dem alten Gallwilerbaum, der hinter dem Haus aus einem dichten Haselhag in die LTuft ragte, der Kaffeetisch gedeckt. Man schleppte die bequemsten Stühle herbei, belegte sie mit Kissen, und der Pfarrer stellte neben den mit Gebäck und Konfitüren beladenen Tisch noch seinen mit viel unnützen Ziernägeln und Kettchen geschmückten dreibeinigen Rauchtisch. Er selber warf sich in die Garnitur des Behagens, stopfte sich eine Pfeife mit meterlangem Rohr und setzte auf sein rotblondes Lockenhaupt eine gänzlich überflüssige Samtmütze. Als wollte er, der Himmel weiß wem, ein lebend Bild von anno dazumal stellen, wandelte er paffend den Kiesweg längs der Hofstatt auf und nieder.Da hörte man das Pöstlein klingeln. Fast gleichzeitig entschlüpfte die gelbe Kutsche der feierlichen Fichtenmauer des Walogürtels, um, ein leichtes Staubwölklein hinter sich herschleppend, bald wieder hinter dem Kirchhügel zu verschwinden. Die Postablage und das Wirtshaus standen am jenseitigen Abhang.
Das Ehepaar Dengeler erreichte gleichzeitig mit dem Postwagen die Haltestelle.
Man begrüßte sich voll wehmütiger Freude. Das schweizerisch Heimatliche des Ortes übernahm zugleich mit dem Wiedersehn der Geschwister den Heimkehrenden.
Frau Rosa war fast befangen ob Heinzens Erscheinung.Wie der seinem Vater zu ähneln anfing!
Das mußte sie ihm sagen. Auf dem Weg zum Pfarrhaus blieben sie einen Augenblick bei der Kirche stehen. Im weichen blauen Glanz des Sommernachmittags lag das Eiland von Hilbligen vor ihnen ausgebreitet. Franz Dengeler glaubte, Heinzens Augen folgten seinem Pfeifenrohr, mit dem er erklärend auf Höfe und Weiler zeigte. Der Amerikaner war aber mit seinen Gedanken ganz anderswo, begehrte auch gar nicht zu wissen, ob der Lorhaldenbauer ein wohlgesinnter Mann und der Besitzer des hilben Bodens eine Stütze der Gemeinde sei. Tiebevoll, glückstrahlend und doch nicht ohne Scheu betrachtete die Pfarrfrau den träumerisch blickenden Bruder. Er brütet etwas,was ihm wehtut, dachte sie und wollte ihn losreißen.
„Nein,“ schmeichelte sie, „wie du dem Vater gleichst!
Tießest du deinen Bart wachsen, man könnte dich mit ihm verwechseln.“
Ein sehr verwunderter Blick traf die Schwester.
„Ich meine, mit dem Vater, wie er in der Känelmatt aussah, als wir noch alle daheim waren.“
„Hat er sich stark verändert?“ fragte Heinz.
Frau Rosa errötete und der Pfarrer verdoppelte seinen CiceroneEifer.
„Er ist gealtert,“ sagte die Pfarrfrau. Dann drängte sie, vorangehend, zum Abstieg in den
Garten. Sie brannte vor Ungeduld, die Kinder herauszuholen. Die zwei ältern
Dem ahnungslos Plaudernden stockte der Atem,indes die Kinder sich aufschreiend hinter die erbleichende Mutter flüchteten. Heinz war jäh aufgesprungen, zornglühend. Wie er da wieder dem Vater glich, dem Vater Tillmann in der Kraft seiner guten Jahre!
„Eben,“ donnerte er los, „gerade so treibst du's,so treibt ihr's beide. Behaglich abseits
und wohlge
Franz Dengeler fühlte etwas wie eine Schlundlähmung. Mit vor Zorn zitternden Händen zupfte er an seinen Manchetten, am Rockkragen, am Tischtuch,auf dem, mit roter Baumwolle gestickt, ihn der Spruch anlächelte: Ost und West, daheim das Best'. Rascher als er hatte seine Frau sich gefaßt. Mit beiden Händen ihre Kinder streichelnd, sagte sie mit erzwungener Ruhe:Aber Heinz, du weißt doch! Nein, wie kannst du nur so was sagen; ich schrieb dir doch .. *
Ja, Röse,“ fuhr der ergrimmte Bruder fort. „Was haft du mir geschrieben? Jeder deiner Briefe war ein Klagelied über den Vater. Daß er auf nichts hören wolle, daß er sich nicht davon abbringen lasse, den aussichtslosen Prozeß gegen die Hallunkenbande zu führen,die von seiner Gefangenschaft profitierte, um seinen Vermögenseinsatz in ihren verfehlten Unternehmungen zu verlochen. Daß niemand sich an die einflußreichen Herren heranwage, hast du mir berichtet, daß es aber der arme Vater auch denen unmsglich mache, ihm beizustehen, die ihm wohlgesinnt wären, indem er sich immer mehr dem Trunk ergebe.“
Heinz Tillmanns Stimme war in Zittern gekommen.Es schien, als wollte er Atem schöpfen, um zu einem weitern Schlage auszuholen. Wild rollte er die Augen in seinem mißfarbenen Gesicht.
„Aber Heinz,“ stammelte die Pfarrfrau, „es war ja doch so, und ...“
„Es war ja doch so!“ schrie Heinz. „Das brauchst du mir nicht erst zu beteuern. Deinen Briefen zu glauben, war bei Gott keine Kunst. Wenn man den Vater kennt. Natürlich ist es so, und zwischen den Zeilen hab' ich noch viel mehr gelesen. Kann mir wohl denken, wie er zu Werke ging. Diplomat war er nie.Aber er gehört zu den Menschen, die man entwaffnet,indem man einen Faustschlag hinnimmt und mit tapferer Tiebe beantwortet. So hat's die Mutter mit ihm gemacht. Lebte sie noch ... o Gott im Simmel! Ja,lebtest du noch, Mutter! Es wäre nicht so weit gekommen.“
Nach einer Weile tiefen Schweigens wandte er sich scharf gegen seinen Schwager: „Statt ihm mutig unter die Augen zu treten, habt ihr beide reißaus genommen,habt euch des verkommenden Mannes geschämt und euch hinter der Entschuldigung verkrochen, es sei ja doch nichts zu machen.“
„Bitte!“ fuhr jetzt der Pfarrer, vor Zorn bebend,auf. „Nimm dich in acht, was du sagst? Du scheinst eben doch nicht alles zu wissen ...“
„Oder du vielleicht nicht,“ donnerte Heinz. „Davon wenigstens“ keuchend brachte er das heraus, indem er seine Blicke zwischen den Geschwistern hin und her rollen ließ „habt ihr nichts gemeldet, daß sie den Vater ins Armenhaus gebracht haben, nach Prankenau.
Ah ah!“ Heinz preßte beide Fäuste an die Schläfen.
Frau Rosa fiel auf ihren Stuhl zurück und barg unter Schluchzen ihr Gesicht in den Händen.
Wußten sie um den Aufenthalt des Vaters oder war seine Mitteilung neu für sie? Heinz erriet es noch nicht. Franz Dengeler ergriff ihn beim Arm und sagte mit mühsamer Überwindung: „Aber so kommt doch wenigstens ins Haus! Ist's denn notwendig, daß die ganze Gemeinde hört, was hier geredet wird?“ Seine Frau lief hastig voran, indes Heinz ihm zögernd ins Studierzimmer folgte. Erst suchte der Pfarrer seine Frau zu beruhigen, die sich in krampfhaftem Schluchzen auf das Sofa geworfen hatte. Er strich ihr mit weicher Hand über den Scheitel. Heinz war ans Fenster getreten.In seinen glühenden Zorn hinein tat es ihm leio, daß er seiner Schwester schon in der langersehnten Stunde des Wiedersehens so weh getan. Er wandte den beiden den Rücken und ließ seine Blicke über den Garten hinschweifen. Nun hörte er den Pfarrer im Zimmer auf und abgehen. Plötzlich stand er neben ihm. Man hörte ihm deutlich an, daß er sich zur Ruhe zwang, als er anhob:
.Darf ich nun auch sagen, was ich von der Sache weiß und denke? Für's erste hat dir ja Köse nicht alles schreiben können. Es ist eine lange Leidensgeschichte, und du weißt nicht, was alles wir in diesen letzten Jahren, die doch die schönste Zeit unsres Tebens hätten werden können, gelittenhaben um des Vaters
44 27 willen. Ist's nicht so?“ fragte er seine Frau. Die nickte bestätigend. Und der Pfarrer fuhr fort: „Ich kann dir versichern, Heinz, wir haben viel durchgemacht.Wie oft haben wir ihm zugesprochen und durch andere zureden lassen, er möge von dem Prozeß lassen. Aber du solltest gehsrt haben, was er darauf antwortete.Wir mußten es aufgeben, um ihn nicht vollends außer sich zu bringen. Denn weißt, Heinz, es war uns darum A damit er doch wenigstens noch an einem Ort eine Heimstätte finde. Wir wollten es ihm nicht unmöglich machen, unsre Liebe anzunehmen. Wie oft haben wir ihn eingeladen, ganz hierher zu ziehen und hier in der Stille ein neues Leben anzufangen. Aber er hat es schroff abgewiesen. Es war, als wollte er mit aller Gewalt in sein Verderben rennen. „Um euretwillen kämpf' ich's durch“, sagte er, dem Heinz bin ich's schuldig.“ Und als es die Advokaten längst aufgegeben hatten, da hat er immer neue Anläufe genommen, ist den Gegnern zu Leibe gerückt, hat sie bedroht und ihnen aufgelauert. Und weil er leider Gottes dazu häufig einen bösen Wein getrunken und nirgenos mehr recht daheim war, haben sie zuletzt Mittel und Wege gefunden, sich vor ihm zu schützen. Und jetzt ist er zusammengebrochen. Vor zwei Monaten noch haben wir den letzten Versuch gemacht. Die Wirtin von Elsigen hat uns geschrieben. Aber er wollte nichts von uns wissen. Und dann ist's geschehen.“
„Franz, Franz! warum hast du mir das nicht gesagt?“ unterbrach ihn die Pfarrfrau.
Heinz, der während der Rede seines Schwagers starr durch das Fenster geblickt hatte, so daß man nicht wußte, hörte er eigentlich zu oder nicht, horchte plötzlich auf und wandte sich, neuen Zorn in den fragenden Augen, den Geschwistern zu.
„Was sollte ich dir verschwiegen haben?“ fragte Franz.
„Daß sie den Vater nach Prankenau gebracht haben.“
„Das behielt ich für mich, weil ich dir's ersparen wollte und weil das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen ist. Ich hoffte immer noch ... ..“
„Franz! Wenn ich das geahnt hätte! Keine Stunde länger wäre ich hier geblieben. Ich wäre gelaufen .... .
„Bin ich ja auch. Aber so einfach ist die Sache nicht. Der arme Vater hat sich der Verhaftung mit Gewalt widersetzt und hat nun noch Strafe zu gewärtigen. Und damit ihr beide ja alles wißt: er liegt in Prankenau krank darnieder. Du kannst mir glauben, Heinz, ich würde nichts versäumt haben, was zu Vaters Gunsten geschehen kann.“
Heinz raunte vor sich hin: „Das glaubst wohl du selbst.“
„Heinz!“ brauste der junge Pfarrer auf.
Dem Amerikaner lief ein galliges Lächeln um die
Munodwinkel.„Cäusche dich nicht, Franz!“ sagte er kalt. „Du
Franz Dengeler starrte fahlen Gesichts auf seinen Schwager. Frau Rosa wollte mit einem besänftigenden Wort dazwischen treten; aber Heinz drängte sie mit gebändigter Kraft zurück und sagte scharf und bitter zu Franz: „Du kannst dir nun weiter Zeit nehmen.Ich bin ja jetzt da und werde handeln. Unterdessen mögt ihr ruhig auf eurer Friedensinsel bleiben und um einen guten Ausgang beten. Behüt euch Gott!“
Die Bitterkeit der letzten Worte lähmte Franz und seine Frau derart, daß Heinz die Türe
hinter sich ins Schloß zog, ohne eine Antwort auf seinen Abschied vernommen zu haben.
Geraume Zeit blieb der Pfarrer,den Kopf auf die Ellbogen gestützt, über sein Stehpult
gelehnt. Mechanisch lasen seine Augen die Golöpressungen auf den Rücken der vor ihm
aufgestellten Bücher.Als er sich endlich wieder aufrichtete, schwamm die ganze
Studierstube im Gold der scheidenden Sonne.Da lag neben ihm auf dem Pult das zierliche
schwarze Samttäpplein, zugleich Spielzeug und Sinnbild pfarrherrlicher Wurde. Franz
Dengeler ballte es zu einem kleinen Knäuel und warf es unter das Pult. Dann setzte er sich
neben seine weinende Frau, zog sie fest in die Arme und sagte: „Du, vergib mir. Ich wollte
dir ja nur neues Leid ersparen. Gelt, du läßt nichts zwischen uns kommen.“ Dabei glitten
seine Blicke
Der Amerikaner folgte der Poststraße bis an den Walosaum. Dort verließ er sie. Dreifach schwer verwundet, lief er stracks durch das raschelnde Taub ins Dickicht des nächsten jungen Cannenbestandes, wo das Licht der sinkenden Sonne nur spärlich über den weichgrünen Moosboden hereinschlich. Und wo es am allereinsamsten ihm vorkam, warf er sich hin. Er konnte sich in seinen Gedanken nicht zurechtfinden. Bald kam's über ihn, er müsse zurücklaufen, wenigstens bis an den Waldrand, um das Pfarrhaus zu sehen, das er zum Schauplatz einer schlimmen Tat gemacht. Er hatte es ja nicht beabsichtigt; aber was vermag einer wider den Trieb seines Schmerzes? Jetzt hatte er seiner Schwester grausam wehgetan und vielleicht sogar ein häusliches Glück zerschlagen. Kaum aber hätte er sich erhoben,so sah er wieder Franz Dengeler in seiner pappigen Pfrunöseligkeit vor sich, mit der Kiesenpfeife in der Hand und dem albernen Käpplein auf dem rotblonden Lockenfuder. Da fühlte er wieder, wie seine Fäuste sich krampften.
Diese eine Wunde, die jüngste, mochte weiter bluten.Wenn sie sich schon nicht so schnell
schloß, was tat's?Heinz lief weiter. Bald lichtete sich der Wald. In der
Sonne beschienene Bergkuppen. Zu ihren Füußen lag,nur durch eine Dunstschicht verraten, die Stadt.
Fort! Weiter! Als die Sterne zu flimmern begannen, durchquerte Heinz das letzte Tal. Jenseits schlummerte schon der ihm so vertraute Schloßwald von Prankenau. Er durchstieg ihn und wandte sich dann ostwärts bergan, bog über dem Herrenvogelhölzchen um die Bergkante und fand endlich das einsame Scheuerlein, das ihm von der Bubenzeit her genau bekannt war. Dort wollte er sich, weitab von allen Menschen und doch seinem unglücklichen Vater ganz nahe, zur Nachtruhe hinlegen. Eben noch hatte er, einem riesigen Katafalt ähnlich, das Schloßdach tief unterhalb des Fußpfades gesehen. Die Dachknäufe ragten ins Dunkel.Gedämpfte Lichter schimmerten aus den großen Fenstern.Jetzt lag zu seinen Füßen die schwarze Furche der Känelmatt lichtlos. Ein Hund bellte in der verschwommenen Ciefe.
Bald hatte Heinz Tillmann den Einschlupf auf den Heuboden des Scheuerleins gefunden. Codmüde ließ er sich in das frisch duftende Heu fallen. Er war so erschöpft, daß es ihm ganz einerlei gewesen wäre, in irgend eine Grube hinunterzustürzen, aus der ihn keines Menschen Hand errettet hätte. Er schlief auch alsobald ein. Aber lange konnte er nicht geschlummert haben.Denn als er wieder erwachte und zwischen den Hölzern der Bühne hinausspähte, fiel ihm sogleich der breite Lichtschein auf, die „Stadtheiteri“, vor der sich der
Amselberg scharf abzeichnete. Das erblicken und tief hinabtauchen in die Erinnerungen der
Knabenjahre war eins. So hatte es an jenem Abend ausgesehen,als die Mutter, mit ihm vom
Schloß heimkehrend,dem Geschwätz der Dorfbasen entrann. Die Mutter,die Mutter! Gott, warum
mußte sie so früh sterben! Heinz sah sich in dem zur Kapelle umgewandelten Speisezimmer
des Schlosses neben Antoinette sitzen. Er sah die dunklen Olbilder, die silbernen
Leuchter,sah den alten Pfarrer. Er hörte die Stimme der Frau v. Gulowang uno suchte sich
das sehnsuchtsvolle Lied zu rekonstruieren; aber er brachte es nicht zustande.In der
Erinnerung an die Melodie fielen ihm bloß noch die Worte ein: „und ohn' Ermüden will ich
ihr näher gehn“. Von der goldenen Stadt handelte das Lied vom Ziele der Sehnsucht aller
leidenden Menschen, dessen entsann er sich noch. Indem er dem nachdachte, geriet Heinz ins
Cräumen und duselte ein, bis ihn die Heuhalme wieder weckten. Wieder durchwanderte er
vergangene Jahre. Seinen Verzicht zugunsten des Vaters durchlitt er von neuem. Hatte er
etwas genützt? Ein dichtes, dumpfes Nebelgewoge lag die Zukunft vor ihm. Wie dem Vater
geholfen werden sollte, war ihm völlig unklar. Wohin sollte er ihn bringen, da er ja
sicher nicht ins Pfarrhaus zu Hilbligen wollte? Und was sollte nun er selbst beginnen?Als
KleinUnternehmer in des Vaters Fußstapfen treten und ihn zu sich in die Arbeit nehmen. Es
wäre
Erst das durch alle Offnungen einstrsmende Frühlicht weckte ihn wieder. Nun galt es, die letzte Geduldsprobe zu bestehen, die langen Morgenstunden bis zum Einlaß in das Armenhaus. Heinz fühlte sich matt und hungrig. Aber die Nüchternheit des Morgens befreite ihn von vielen lastenden und irreführenden Gemütsregungen. Wie er's nun anfassen sollte, wußte er noch immer nicht. Er wollte sich führen lassen. Durch wen?Seinen guten Stern, einen glücklichen Zufall, einen auftauchenden Ratgeber? Dem allem traute er nimmermehr. Heinz wußte, was seiner Mutter Kraft gewesen.Und so warf er sich auf die Knie, um Gott anzurufen,nicht mit Geberden, nicht einmal mit überlegten Worten.Nein, aber was sich aus dem Dunkel seines abgetämpften Herzens in den lichten Morgen schwang, war der Schrei: „Ich bin zu Ende. Neues Leben schaffen kannst nur du, Herr, mein Gott und Schöpfer. Sprich du dein ,Werde und schaff's!“
Er trat ins Freie, streifte sich die Spuren seines
Nachtlagers vom Rock und stieg noch weiter den Berg hinan bis in jene Waldlichtung, wo er einst mit Franz Dengeler und Röseli gesessen hatte. Als sich in der Tiefe das Leben zu regen begann, raffte sich Heinz auf und schlug den Weg nach der hintern Känelmatt ein.Im obersten Hause, wo sich das NeßlernMädi nach dem Verkauf von Prankenau eingenistet hatte, trat er freimütig in die Küche, die ihn in ihrer Rußschwärze anheimelte, und bat die alte Hausfreundin um ein Kacheli Warms.
Mädi wußte sich vor Staunen nicht zu fassen und rief einmal über das andere: „Ei der Tag aucht Wo kommt jetzt Ihr her, so früh am Cag? Hab' gemeint. Ihr seid in Amerika.“
„Bin ich auch gewesen“, sagte Heinz, sich zur Geduld zwingend. Um der Neugierigen alle Fragen abzuschneiden, erzählte er ihr, auf dem Holzstock neben dem Herde sitzend, in kurzen Worten, was ihn des Weges führe. Dann schloß er: „Und nun tut den Gottslohn an mir und gebt mir Leibesstärkung auf den Gang, der mir zu tun bleibt.“
Um TCeibesstärkung bat er; aber er meinte etwas anderes. Und Mädi verstand ihn. Sie sagte nichts,dachte aber: was ich dir zu geben vermag, sollst du haben. Die Alte trug auf, was an Speis und Trank ihre Küche enthielt. Und indem er sich's schmecken ließ,mußte sie ihm erzählen, was sie von seines Vaters Schicksal wußte. Als er satt war, schob er Tasse und
Teller weg, stützte den Kopf in die Hand und sann vor sich hin. So blieben sie lange schweigsam. Endlich tat Heinz einen tiefen Seufzer und griff nach seinem Hute. Da sagte Mädi: „Lücht daß ich Euch etwas drein zu reden hätte; aber mir ist doch, als müßte ich das sagen. Es geht doch merkwürdig zu in der Welt. Eure Mutter, Heinz Tillmann, war auf der guten Fährte und hat sterben müssen, Euer Vater war auf der lätzen und findet sich nimmermehr zurecht. Aber glaubt mir,lebte die Mutter noch, so wären die beiden noch uneins geworden, und ihr hättet alle zusammen das gute Trom verloren. Aber jetzt ist die Mutter draus und weg, und was Verkehrtes der Vater angefangen, ist zerbrochen. Jetzt kann's wieder gut kommen, wenn ihr der Mutter Weg einschlagt.“
Warum ballten sich Heinzens Fäuste, als er bald darauf am alten Stöcklein in der vordern Känelmatt vorüberschritt, als er, über den Walm steigend, den Dachtnauf des Schlosses aus dem Boden auftauchen sah, als er durch den wappengeschmückten Corbogen in den ach so schauerlich nüchtern gewordenen Hof trat?
„So, zum Tillmann wollt Ihr?“ fragte in seinem vertabaktten Bureau der Verwalter, ein vierschrötiger,derber Mann, der mit einem seiner kalten, grauen Augen leicht nach außen schielte. „Es ist nicht Besuchstag: aber ..... Wer seid Ihr?“
„Sein Sohn.“
Der Verwalter staunte.
„Und ich will den Vater zu mir nehmen. Ich kann jetzt für ihn sorgen.“
„Cja. Das wird seine Haken haben. So mir nichts,dir nichts kommt keiner hier zum Tor hinaus.
„Wer hat ihn hierher gebracht ?“
Der Verwalter blätterte in einem Folianten, setzte eine Brille auf und sagte mit einem Blick über die Gläser: „Die Heimatgemeinde. An die müßt Ihr Euch wenden.“
„Gut, das werde ich tun.“
„Aber wißt, Euer Vater hat da übel vorgesorgt. Au, wenn Ihr der Gemeinde die Kosten abnehmt ...Es ist nämlich da etwas passiert. Offen gestanden“ der Verwalter trat vertraulich an Heinz heran „ich kann's ihm nicht einmal so übel nehmen. Als der Notarmenkassier mit ihm herkam, hat er draußen im Hof zu ihm gesagt: „So, Tillmann, jetzt seid Ihr ja, wohin Euch solange gelüstet hat. Da ist Euer Vater dem Kassier mit der Faust unter die Nase gefahren, daß er beinah den Geist aufgeben mußte. Und er war doch schon damals ein kranker Mann, Euer Vater.“
„Darf ich ihn sehen?“ fragte Heinz.
„Wie gesagt, es ist eigentlich nicht Besuchssstag, aber wenn Ihr ertra weither gekommen seid ...“
Damit führte der Verwalter den Gast in den gewoölbten Korridor. Gott! Diese alten
herrschaftlichen Gänge, in denen sich nun der atembeklemmende Arme
Heinz war ohnehin auf Schlimmes gefaßt, so daß ihm die wie Entschuldigung klingenden Worte seines Führers nicht einmal besondern Eindruck machten. Was ihm in diesem Augenblick noch mehr das klare Denken benahm, war die hier oben aus jedem Winkel ihn anfallende Erinnerung, in deren Mitte fantomartig und blitzschnell die herrliche Gestalt Antoinette von Guldwangs trat. Hinter dieser dunklen Eichentüre da, an der er eben vorbeiging, hatte das schöne liebe Mädchen manchen Tag seiner glänzenden Jugend zugebracht;hier hatte es vielleicht in stillen Stunden an Heinzens Leiden mitgetragen, hatte es wohl sogar für ihn auf den Knien gelegen. Heinz fühlte, wie sich seine Kehle zu schnüren begann.
Da floß plötzlich helles Licht in den Korridor. Der Verwalter hatte eine andere Türe
geöffnet und trat,mit der Hand den Türflügel gegen den Windoruck stemmend, zur Seite. Ein
Schwall widerlicher Gerüche strsmte in den Gang. Trotz der offenen Fenster, durch die der
Blick in die weite blaue Pracht des Sommertages flog, schwehlten Arzneidüfte,
Ausdünstungen absterbender Menschenleiber und zerwühlter Betten träge durcheinander. Der
Raum war ein letztes Überbleibsel seiner einstigen Herrlichkeit hoch und hell.
Seinz drückte den Greisenkopf mit ungestümer Inbrunst an die Brust, bis die hageren Hände des Kranken sich gegen die allzu kräftige Tiebkosung zu wehren begannen.„Heinz, Heinz,“ kam es endlich von zitternden Lippen, „was suchst du hier?“ Dann sank das ermüdete Haupt in die Kissen zurück.
„Dich, Vater,“ rief Heinz, der sich auf den Bettrand gesetzt hatte und unverwandt in den
fahlen Zügen des gänzlich gebrochenen Mannes zu lesen suchte. „Dich
Aber des Alten Gesicht liefen Cränen. Er bewegte den Kopf hin und her und machte mit der rechten Hand eine wegwerfende Bewegung, als wollte er sagen:„Laß nur. Hier ist nichts mehr zu holen.“
Heinz streichelte lange seines Vaters Hände und fing an mit ihm zu reden, wie man mit einem kranken Kinde spricht. „Glaub' mir's nur, Vater. Es ist mir ernst. Jetzt werde ich dich heimholen, und dann wird alles wieder gut.“
„Wohin? Wo wohnst du denn?“ fragte Hans Tillmann staunend.
Da ward Heinz es inne, daß er ja selbst noch nicht hatte, wohin er sein Haupt legen könnte. Er zauderte einen Augenblick mit der Antwort. Dann sagte er:„Laß mich nur sorgen, Vater.“ Dabei richtete er sich auf und reckte die Arme, als wollte er auf seine Kraft hinweisen.
Einen Augenblick ruhten des Vaters Blicke mit sichtlichem Wohlgefallen auf dem Sohne. Dann kam wieder ein tiefer Schatten auf das welle Gesicht.Schmerzlich zuckte es um die Mundwinkel, ehe er sagen konnte: „Verdirb dir dein junges Leben nicht weiter mit Sorgen und Mühen um mich. Ob ich hier oder anderswo den letzten Atemzug tue, hat nichts zu sagen.Jetzt kommt deine Zeit. Du mußt's halt in Gottes
Namen wagen ohne mich. Aber du kannst's. Geh,Heinz, nimm dir das Weib deiner Wahl und baue dein Glück. Aber hüte dich vor den vor den Menschen!“ Des Alten Stimme erstickte, da er Heinz jählings ins Weite blicken und mit Tränen kämpfen sah.
Nach einigen tiefen Atemzügen hub er wieder an:„Ach Gott, ach Gott, was habe ich um dein Glück gerungen; aber ich bin zu Schanden geworden. Geh von mir, Heinz, ehe ich dich mit in das Verderben reiße. Was meine Hände anrühren, ist dem Fluch verfallen.“
„Vater, ich bitte dich, nicht so!“
„Ja ja, so ist's,“ keuchte Hans Cillmann. Seine zitternde Hand zeigte stumm durch das Fenster. „Siehst du,“ fuhr er, mühsam sich meisternd, fort, „siehst du dort den alten Saarbaum hinterm Walm, der unser Haus vor dem Blitz schützte? Der klagt mich Tag für Cag an: Hättest du deinem Weibe gehorcht, als es dich vor Prankenau warnte!“
„Nun weiß ich, Vater, daß wir ein Neues pflügen können. Wenn du deinen Fehler eingesehen hast, so hat auch die Buße ihr Ende.“
„Geb's Gott? Nun du's weißt und mir vergibst, kann ich auch ruhig sterben.“
„Leben, Vater, leben!“
„Du, ja, du sollst leben, und zwar nach deinem und der Mutter Sinn. Gehe du deinen Weg
getrost. Ich will dir nimmermehr dawider sein. Nur mußt du mir
„Du hast recht, Vater,“ sagte Heinz, „Gnade und Rache sind Gottes. Überlaß das alles ihm und gehe deines Weges weiter.“
Eine Weile noch sprachen Vater und Sohn zusammen, mehr auf die Schritte einlenkend, die zu des Alten Befreiung aus dem Armenhaus bei den Behörden zu tun sein würden. Als Heinz sich endlich losriß und der Türe zuschritt, fielen ihm erst die Bettnachbarn seines Vaters auf. Der eine hatte, halb aufgerichtet,ihr Gespräch aufmerksam belauscht. Jetzt stieß er, kaum verständlich, unter freundlichem Grinsen wohl zehnmal die Worte aus: „Ja ja heigah.“ Der andere lag platt auf dem Rücken, wandte sein verblödetes Gesicht nickend gegen Heinz und lachte: „Gäll gällt Himmelvater, gäll.AÄhä, ähä, Himmelvater ...“ Dazu zeigte er mit dem Finger gegen die Zimmerdecke.
Heinz blieb an der Türe stehen. Er biß sich auf die Lippen und drückte die Hand aufs
Herz. Seine Blicke konnten sich nicht von der zusammengesunkenen,schluchzenden Gestalt
seines Vaters trennen. Auf einmal
8 trat er raschen Schrittes wieder an das Bett.,Vater,“befahl er mit gedämpfter Stimme, „steh auft Kleide dich an!“
Hans Tillmann tat, als verstünde er Heinz nicht.
„Kasch!“ wiederholte der. „Wo hast du deine Kleider? Da, sitz auf! Vorwärts!“ Heinz suchte selber die Kleidungsstücke zusammen, nur Schuhe, Rock und Hose. Der Vater wollte Heinz die Flucht ausreden;aber der Sohn hatte kein Ohr mehr dafür. Er drängte und half dem Steifgewordenen in die Hosen, wobei er in seiner Hast nicht allzu schonend verfuhr. Als der Alte die eiserne Entschlossenheit seines Amerikaners zu fühlen bekam, gab er nicht nur den Widerstand gegen die Entführung auf, sondern er verbiß tapfer die Schmerzen, welche ihm das Einzwängen seiner geschwollenen Füße in die ungewohnten Lederschuhe verursachte. Plötzlich erkannte sich Hans Tillmann in seinem Sohne wieder, und darob glomm in seinem Herzen ein Fünklein der fast erloschenen Tatkraft wieder auf, die ihm von jeher müßiges Zusehen verbot. Wenn denn etwas gewagt werden sollte, so mußte es mit Ausgabe der letzten Kraft geschehen. An Mißlingen dachte ein Tillmann nicht, bevor er zerschmettert am Boden lag.
Enolich waren sie soweit fertig, daß man es hätte wagen dürfen, den Weg ins Freie zu
suchen. Da kniete Hans Tillmann nieder und langte mit einer Hand unter die
Bettlaode.
„Was willst, Vater ?“
Meine Papiere,“ flüsterte der Alte. „Hast ein Messer bei dir?“
Ach laß doch den Plunder! Ist denn was Kostbares dabei?“
„Die laß ich nicht hier, Heinz. Meine Rechtsansprüche sind noch nicht erloschen.“
Mit zitternden Händen führte er das Messer von unten ins Matratzengestell und grübelte endlich mit des Sohnes Hilfe ein dickverstaubtes Bündel Briefe heraus.Heinz behändigte es. Dann zog er den mühsam Gehenden zur Türe. Aber nun erst beachtete er, daß sein Unterfangen die Neugier der Stubengenossen geweckt, ja daß es sogar einige aus ihren Betten gelockt hatte. Barfuß,in schlotternden Hosen, mit herabbaumelnden Hosenträgern und offener Hemobrust kamen ihrer zwei nachgelaufen. Alle grinsten mit neugierig aufgerissenen Augen, einzelne machten Bemerkungen, riefen: „Wohin die Reis? Wann kommst wieder?“ Die Bettnachbarn Hans Tillmanns verwarfen die Hände und gaben Töne von sich, die man als Freudenausbruch, als Hilferuf, als Alarm, als Abschiedsgruß, als Schreckensausdruck, kurz als alles Erdenkliche auslegen konnte. Schon drängten die zwei halb Angekleideten zur Cüre. Da stellte sich Heinz ihnen drohend in den Weg: „Ob ihr euch still haltet? Ins Bett! sag' ich, oder ich hole den Verwalter.“
Es trat eine Stille der Verblüffung ein.
„Wenn wir im Gang jemanden antreffen, so bist du auf dem Weg zum Abort. Verstanden?“ flüsterte Heinz seinem Vater zu. Dann schob er ihn durch die Türe, faßte ihn fest unter den Arm und schritt, so rasch es ging, mit ihm der Treppe zu, immer mit gespitztem Ohr. Es war alles still. Jedermann schien an seiner gewohnten Vormittagsarbeit zu sein. Im Erögeschoß durchliefen sie den Quergang, der auf die Freitreppe nach dem Garten führte. Scharf zeichnete die Junisonne den Schatten des prachtvollen Barockgeländers auf die Fliesen des Vorplatzes. In den Gemüsebeeten des prosaisch abgeteilten Gartens knieten zwei Anstaltsinsassen. Links außerhalb der nun sauber entmoosten und mit Zement erbarmungslos ausgebesserten Parkmauer wendeten auf der Zelg ihrer ein Dutzend das Heu. Der Teich auf der untersten Terrasse war ausgefüllt und verebnet, von dem Kastanienhain stand nur noch spärliches Ranogestrüpp. Gräßlich! Aber Heinz hatte keine Zeit zu Betrachtungen. An der letzten Creppe des Terrassenweges lud er sich den Vater huckepack auf den starken Rücken, lief mit ihm den kleinen Wiesenpfad entlang, und schöpfte erst wieder Atem, als der grüne Riesenwall des Buchenwaldes Antoinettes Wandelgang ihnen den Rücken deckte.
Hier ließ er seine teure Last zur Erde gleiten. Seine Augen leuchteten vor Genugtuung,
als er sich den Schweiß aus dem glühenden Gesicht wischte. Vater Tillmann aber zitterte am
ganzen Leibe. Er lachte vor Schwäche,
*88 fast unheimlich, und dabei liefen ihm Tränen in den Bart. Wortlos sank er auf einen Baumstrunk nieder.Was mochte in ihm vorgehen, als er da auf die Zelg hinausblickte, über die Schollen, auf denen er vor Jahren mit dem Feind sein eigenes Glück zertrümmert hatte?Seine Blicke richteten sich wieder auf den Sohn, der ihn jetzt eben hart an der Stätte des Fluches vorübergetragen. Sie schienen zu fragen: „Und jetzt?“
Heinz verstand die stumme Frage, und er hatte nicht sofort eine Antwort darauf. Erst jetzt ward er inne, was es eigentlich hieß, einen alten, kranken, steif und matt gewordenen Mann in durftiger Kleidung,die von weitem den Anstaltszögling verriet, am helllichten Cag durchs Land zu bringen. Aber TillmannStarrsinn und junge Tillmannskraft reichten sich die Hand, so daß es Heinz bald gelang, im Cal ein Fuhrwerk aufzutreiben und den Weg nach dem Wieseneiland von Hilbligen einzuschlagen.
XVI.Im feierlichen Halbdunkel des hohen Lesesaales der Berner Stadtbibliothet saßen viele
Wissensdurstige über ihre Bücher gebeugt. Sie verwehrten mit ihren schweren Häuptern den
gestrengen Herren Schultheißen,die über der Galerie aus goldenen Rahmen in die
Schatzkammern des Wissens hinabschauten, den Blick
Gottesgelehrtheit geworfen hatte. An der ganzen Universität genoß zurzeit kein Mensch soviel Sympathie wie dieser Tillmann. Wer unter den Professoren irgend ein Türschloß unter Händen hatte, sperrte es ihm auf.Erst immatrikuliert, ging er schon dem Ebraicum entgegen. Zu der Achtung, die man dem braven Sohne zollte, tam die Teilnahme wegen der dem Vater geopferten Studienjahre und ganz besonders bei den Theologen eine stille Bewunderung für die Lebensreife des jungen Mannes, der unter den Arbeitern des Panamakanals die soziale Frage praktisch studiert hatte.
Diese offenen Arme hatten Heinz Cillmann in das Haus des Pfarrers Jeanmaire geführt. Bei
ihm, der dem jungen Mann aus lauter Ceilnahme und Bewunderung unentgeltlich
HebräischUnterricht angeboten,hatte Heinz sich eingemietet. Eine ideale Bude hatte er in
dem alten, sonnseitigen Junkerngaßhause gefunden.Eigentlich war er nicht bei dem Pfarrer,
sondern bei dessen Untermieterin im obern Stockwerk, Frau Boß,untergebracht und kam mit
dem liebenswürdigen, alten Herrn nur in den Hebräischstunden in Berührung. So hatte es
auch geschehen können, daß Heinz erst nach einer Woche einen Hausgenossen entdeckte, der
in die ersprießliche Ruhe seines neuen Lebens störend eingriff.Schon in den ersten Tagen
zwar hatte er einmal im Dunkel des innern Korridors bei Jeanmaire eine weibliche Gestalt
sich bewegen sehen, die ihm ein Kätsel aufgab. Bald darauf war es gelöst. Auf der Treppe
„Frau Boß“, hatte er noch gleichen Abends seine Philisterin zur Rede gestellt, „was ist's mit der jungen Dame, die drunten bei Pfarrer Jeanmaire ein und ausgeht ?
In den Augen der Frau Boß flackerte etwas auf.Esel! schalt sich Heinz, konntest du dich nicht enthalten? Nun hab' ich natürlich der Alten Neugier geweckt. Aber er ließ sichs nicht anmerken und nahm mit möglichst kaltem Gesicht den Bericht entgegen, das heimat und elternlose Fräulein sei schon vor Jahren oft hier gewesen, sei vom Pfarrer Jeanmaire konfirmiert worden und nun nach dem Tode seiner Frau zu ihm gezogen,um dem alten Herrn die Haushaltung zu besorgen.
Seit jenen Mitteilungen der Frau Boß war Heinz Tillmann mit der Frage beschäftigt, ob er
nicht besser tun würde, eine andere Wohnung zu suchen. Da es ihn aber verdroß, seine Zeit
an solches zu verschwenden und er kaum irgenowo eine Behausung finden würde,die ihm besser
behagte, so hatte er die Sache rutschen lassen. Heute nun, als er von einer
Morgenvorlesung
Jetzt lief Heinz, die Hände in den Rocktaschen, mit vor Kälte glühendem Gesicht, dem Waldsaume des Bremgartens entlang. Immer von neuem rief er sich die Erlebnisse der letzten Monate ins Gedächtnis, um nachzuprüfen, ob er seine Richtlinie genau innegehalten habe. Dabei durchzuckte sein rückwärts lauschendes Ohr immer von neuem jener Verzweiflungsruf des Vaters:„Nimm dir das Weib deiner Wahl und baue dein Glück!“ In der Aufregung des Augenblicks hatte er den Schmerz dieses unbeabsichtigten Dolchstoßes nur wie in einer Betäubung empfunden. Zu seiner vollen Glut entbrannt war dieser Schmerz erst, als Heinz den Vater mit Franz Dengelers Hilfe bei einem braven Bauersmann versorgt hatte. Da auf dem einsamen Rückweg in die Stadt war ihm das Herz in Bitterkeit versunken. Mit aller Kraft hatte er sich der Anklagen erwehren müssen, die es wider den Vater erhob, der durch seinen Starrsinn und seine unselige Kachsucht ihm den Weg zum Weibe seiner Wahl und zu seinem
63*erkorenen Lebensberuf verlegt. Auf ewig blieb ihm nun die einzige, die mit ihm litt und stritt, versagt.Seinen Lebenszielen nachzugehen freilich fühlte er sich von jener Stunde an frei, und er hatte das einst so heiß ersehnte Studium mit der Freude und dem Ernst ergriffen, wie sie nur aus wahrer Herzensnot erblühen können. Nicht Lust am wissenschaftlichen Streben trieb ihn, sondern der Jammer der Menschen, an dem er so früh und so hart mitgetragen. Für sie wollte Heinz an den Quellen des ewigen Erbarmens schöpfen und aussprengen, soviel er sein Leben lang zu fassen vermochte. Suüß war ihm dabei der Gedanke, daß er damit den Wunsch seiner der Last erlegenen Mutter erfüllen konnte.
Warum mußte nun Silian Merle, die eine der schönsten Erinnerungen seiner Jugend verkörperte, von neuem seinen Weg kreuzen? Sollte er ihr den süßen,trotzig gehegten Schmerz um Antoinette opfern? Das wäre eine tapfere Selbsternüchterung, ein Stück Reinigung seines Strebens, so mußte sich Heinz sagen,und drum konnte er sich nicht entschließen, ihr von vornherein auszuweichen. Er nahm die Einladung für dies eine Mal an.
Bei der Nachmittagsarbeit ertappte sich Heinz über allerhand Unachtsamkeiten. Eine frohe Ungeduld plagte ihn, und er lächelte über seine wieder erwachende GymnasianerEitelkeit, die ihn nötigte, endlich wieder einmal seinem Äußern Aufmerksamkeit zu schenken.
Erleichtert und frohgemut klopfte er abends an die Korridortüre des untern Stockes, ganz dazu aufgelegt,neue, praktische Wege einzuschlagen. Er wurde aufs Liebenswürdigste empfangen, und der Abend verlief unter lebhaften Gesprächen mit andern Studenten für Heinz um so schneller, als er selber zum Gefühl berechtigt war, er sei der Mittelpunkt der Gesellschaft.Die stille Bewunderung seiner Kommilitonen wuchs noch unter dem Eindruck dessen, was er auf immer neue Aufforderung hin von seinen amerikanischen Erlebnissen erzählte. Zu besonderen Gesprächen mit Lilian kam es nicht, doch merkte Heinz, daß er an ihr einen aufmertsamen Zuhsrer hatte. Ohne irgendwelche Antnüpfungsversuche gemacht zu haben, fühlten sich die beiden jugendlichen Hausgenossen, als sie sich beim Abschied die Hand drückten, wieder näher gerückt.
Heinz stopfte auf seiner Bude noch eine Pfeife und überließ sich allerhand Streifereien
in Vergangenheit und Zulkunft. Lilian hatte von ihrer Anmut nichts eingebüßt. Im
Gegenteil, die Reife stand ihr sehr gut.Dazu lag in ihrem Ausdruck, wie Heinz dünkte, die
Teilnahme heischende Melancholie der Heimatlosen.Schon tastete da etwas nach seinem
Herzen, und ihm war, als müßte er sachte hinwegrücken, um sich nicht an einen neuen Zauber
zu verlieren. Aber je mehr er sich darum bemühte, desto deutlicher und gewinnender
erschien ihm Lilians liebliche Gestalt. Als ob es gestern erst gewesen wäre, ward ihm
jener verliebte Abend nach
Wenige TCage später ward Heinz Tillmann auf das Advokaturbureau Bär KeSohn gerufen, wo
ihn sein Kamerad Berni in seinem besondern Kabinett empfing.In dem weiß getäferten
Hofzimmer standen so viele mit Aktenwust überladene Tische, Pulte, Kommoden und Gestelle
herum, daß dazwischen nur noch schmale Gänglein blieben. Heinz ward auf ein Wachstuchsofa
gewiesen, dessen Sitz er mit einem Berg von Zeitungen teilte, während Dr. Bär jun. eine
Wolldecke über die Knie ziehend, sich in den Lehnstuhl vor seinem Schreibtisch fallen
ließ. Zwischen dem Chaos von Papieren hockte ein ausgehöhlter Sanösteinbär, in welchem
Heinz
„Ja, du“, begann der Advokat, „was ich dir zu sagen habe: Mir scheint, es wäre nun an der Zeit,daß du deinem Alten ah pardon deinem Vater tlar machtest, daß in seinem Handel mit den Kuretablissements gar nichts mehr zu holen sei. Das ist gewiß ungemein schmerzlich; aber an der TCatsache ist nicht zu rütteln. Jeder weitere Schritt hat nichts mehr zur Folge als unnütze Kosten.“
„Ich dachte doch“, warf Heinz staunend dazwischen,„er habe die Sache längst aufgegeben.“
Berni Bär drückte auf eine Klingel und befahl der eintretenden Schreiberin: „Bringen Sie mir doch das Dossier Tillmann kontra Kuretablissements.“
„Da, sieh mal her“, sagte er dann, die Papiere entgegennehmend, „8. November, 3.
November, 25. Oltober, 10. Oktober, 4. Oktober, 15. September, wart nur, noch mehr! 1.
September, und diese drei vom August, also alles seit der Befreiung aus Prankenau
geschriebene Briefe, in denen er immer von neuem, aber immer auf erledigten Argumenten
basie
Unter lebhaften Zeichen des Unwillens hoörte Heinz dem wortreichen Nachweis der traurigen Sachlage zu,bis das Celephon den Vortrag unterbrach.
„Hier Bär, Sohn. Jawohl, ich selbst. Aha. Sehr gut, sehr gut. Fein. Lesen Sie mier den letzten Passus noch einmal. Wollen Sie nicht, Proletariat“ durch, Arbeiterschaft ersetzen? Aha. Ganz recht. Also, meine Zustimmung haben Sie. Als erster Votant? Meinetwegen. Gut. Zählen Sie auf mich. Adieu.“
Den Kopf auf die Sofalehne gestützt, hatte Heinz zugehört. Die nun in seinen Augen liegende Frage rasch beantwortend, sagte Berni Bär: „Ja, ja, mein Lieber. Dem wirst auch du nicht lange mehr entgehen.Heutzutage muß jeder denkende Mensch zu den sozialen Problemen Stellung nehmen. Und mich dünkt, am allerersten sollte den Cheologen das Verständnis dafür aufgehen.“
„Laß mich in Ruh. Jetzt habe ich anderes zu tun.“„Ganz recht. Studiere nur erst fertig. Aber ich meine, ein Mann wie du, der den Übermut der kapitalistischen Gesellschaft am eigenen Leibe zu spüren bekam, der durch sie aus der Bahn geworfen wurde und als Arbeiter unter Arbeitern fühlen lernte, kann unmöglich in den Tag hineinleben.“
„Sei nur ruhig, Berni, ich werde nach meinem Gewissen handeln.“
Dann ist mir nicht bange. Wer es mit dem Christentum ernst nimmt, kann doch wahrhaftig nicht anders,als den Forderungen der Entrechteten zuzustimmen. Aber weißt, Heinz, damit ist's nicht getan. Das sind die Verabscheuenswürdigsten, die in ihres Herzens Grunde den Unterdrückten recht geben und dabei in aller Seelenruhe ihr Schifflein vom Strome der kapitalistischen Gesellschaftsordnung tragen lassen. So bist du nicht. Das weiß ich, ich kenne dich zu gut.Wenn du, in diesem gottverlassenen Schiff sitzend, den Heiland auf den Wogen draußen wandeln siehst, so wirst du hinausspringen, und dein Glaube wird dich tragen. Du wirst die Sache der Enterbten mutig vertreien. Im Strome treibend, würdest du mit tausend andern untergehen. Über die Wasser schreitend, wirst du Licht verbreiten. Dich brauchen wir.“
Heinz hatte, ein feines Lächeln des Wohlbehagens um den Mund, zugehört. Nun richtete er seine lautern,grauen Augen voll auf den gesprächigen Jugenöfreund:Wer braucht mich? Du gehörst doch nicht zu den Enterbten.“
„Ich erkläre mich solidarisch mit ihnen“, antwortete Berni schlagfertig. „Und du dienst ihnen am besten im Rahmen der Organisation. Individueller Einsatz gehört zu den Folterwertzeugen ins historische Museum. Das alte, christliche Barmherzigkeitsgeplänkel ist vor dem
Massenelend längst verpufft. Wem es ernst ist um die Liebe zum Volk, verzichtet auf die egoistische Wohltäterei und fügt sich als Rad in die große Maschine,die allein imstande ist, den Riesenklotz der Not zu zermalmen.“
„In dieser Maschine geht aber sehr viel Persönlichkeit verloren, die dem Armen zugute käme und auf die er ein Recht hat“, wandte Heinz ein. Er stand auf, knüpfte seinen Überzieher zu und wollte das Gespräch abbrechen, indem er sagte: „Du mußt mir Zeit lassen, darüber nachzudenken. Und was meinen Vater betrifft, so werde ich mein Moglichstes tun. Bis jetzt habe ich den Stahl noch nicht gefunden, der härter wäre als sein Starrsinn.“
„Das ist alles, was ich von dir verlange“, drang Berni Bär von neuem auf seinen Freund ein, „daß du deiner Pflicht, dich mit den sozialen Problemen bis auf den Grund auseinanderzusetzen, nicht ausweichst.Erfüllst du diese Pflicht aufrichtig, so gibt's nur eine Moglichkeit: mitmachen!“
Die TCürklinke in der Hand, sagte Heinz: „Das beste wäre, du kämest einmal mit zu meinem Vater,dann könnten wir ja unterwegs uns über die Weltverbesserung verständigen. Adieu, Berni.“
*Die Weihnachtsferien verbrachte Heinz im Pfarrhause zu Hilbligen. Mit andern Gefühlen war er dies
40 mal zu seinen Geschwistern hinausgewandert. Stand auch noch nicht alles, wie er sich's wünschte, so war ihm doch die schwerste Last vom Herzen geschafft, mit
Genugtuung durfte er zurückblicken, und vor sich sah er freie Bahn. Oft blieb er auf seinen Spaziergängen unwillkürlich stehen, um tief sinnend sich so recht zum Bewußtsein zu bringen, welches Glück ihm widerfahren sei. In dieser Stimmung fand er sich ganz gut mit dem noch vor kurzem so gründlich verschmähten Pfrundidyll ab. Er ertrug sogar die Tante Nilpferd, mit der er den Frieden des Pfarrhauses teilte. Ihre Gesellschaft war ihm lieber als die seines Schwagers. Gesund und selbstverständlich wie ein Kohlkopf im sonnigen Garten,saß sie in dem Hilbliger Glück und wehrte sich gegen das Gekrabbel der Kinder so wenig, wie der Kohlkopf gegen die Raupen. Den heiligen Abend vollends hätte Heinz um allen Reichtum in dieser Welt nicht hingegeben, denn der brachte den Geschwistern, was sie seit den Tagen ihrer frühen Kindheit nicht mehr erlebt:der Vater saß in ihrer Mitte, sehr still freilich, aber der Freude seiner Kinder nicht verschlossen. Und die Rolle des Großvaters schien ihm gar nicht schlecht zu gefallen. Heinz drückte hinterm Tannenbaum seiner Schwester die Hand, und dieser traten die Freudentränen in die Augen, als Hans Tillmann im traulichen Tichterglanz mit dem kleinen Fränzi ryti ryti Rößli zu spielen begann. Keines sagte ein Wort dazu, aber in beider Augen lag es ausgesprochen: „Jetzt ist's erstritten.“
Nein, wahrlich, jetzt hätte es Heinz nimmermehr über sich gebracht, den Burgfrieden anzutasten; er genoß seine Wohltat zu sehr. Und doch sollte das Jahr seiner Lebenswende nicht ganz ohne Sturm zu Ende gehen.
Es verstrich trotz Wind und Regen kaum ein Cag,an dem Heinz Tillmann nicht nach der
Lorhalde hinaus gewandert wäre, seinen dort verkostgeldeten Vater aufzusuchen. Man hatte
es längst aufgegeben, den alten Trotzkopf zur Übersiedelung ins Pfarrhaus zu bewegen.„Hat
mir das Leben den Ausmarsch nicht freigegeben,wie ich ihn gewählt,“ pflegte er zu sagen,
„so will ich wenigstens den Heimweg nach meinem Sinne wählen.“Und diese Rückzugslinie
steckte sich der Geometer straks durch die Einsamkeit ab. Teute, die ihm gelegentlich mit
gutgemeinten Lehren zurechthelfen wollten, hielt er sich weit vom Leibe. Da war ihm der
Lorbauer just recht, so ein stiller Mann, dessen Rückgrat seinen Krumb hatte und nicht
mehr wider das Joch seines Loses auffederte, der mit seinem Grund und Boden umging, als
wäre es Fleisch von seinem Fleische. Solch rechtschaffenem Kämpfer beizustehen, war eine
Freude.Auch die Bäuerin war ihm recht. Von der Härte der Arbeit in ihrem Äußern bis zur
Häßlichkeit hergenommen, ging sie ergeben ihres Weges, als predigte sie sich selber
immerfort: Nur noch ein Weilchen ausgehalten, das Gute kommt schon noch. „An der
Lorhalde,“ sagte Heinz einmal, zu seiner Schwester heim
Am letzten Tage des Jahres, als Heinz den Hohlweg zum Lorhaus hinaufging, hörte er den alten Bauer laut und gsatzlich reden. „Und ich tu's nit,“ sagte er.„Ich gehöre nicht zu denen, die nicht schlafen können,eh' sie alles in ihre Gewalt gebracht.“
„Wenn man aber zusehen muß, wie die Sache in eines ungeschickten Menschen Hand zugrunde geht?“antwortete Hans Tillmanns Stimme.
„So bleibt's dennoch seine Sache. Geh du hin und zeig ihm, wie er's machen soll. Ich will dir nicht davor sein. Und wenn's Gödis Gödel zum Vorteil ausschlägt, so will ich es ihm von Herzen gönnen.Ein hablicher Nachbar ist mir lieber als ein neidischer.“Heinz war aus dem Hohlweg getreten und sah jetzt oben über der Bordkante die beiden Männer. Als er zu ihnen trat, grüßte der Bauer schicklich, ging aber alsbald weiter und verschwand im Hause.
Hans Tillmann schüttelte den Kopf und klopfte sich mit der geballten Faust sachte an die
Stirne. „Ein braver Mann ist er,“ sagte er zu seinem Sohn, „aber versuch's, so einem etwas
beizubringen, das ihm nicht
„Nämlich ?
„Schau jetzt nur!“ Hans Tillmann zog seinen Sohn ein Stück weit hügelan, bis sie über First und Hofstatt ins Feld hinausblickten. Da siehst, wie die ganze Corhalde gegen die Wetterseite offen liegt. Da odrüben,grad als hätt' es einer dem Haldenbauer zuleid getan,ist eine breite Lücke in den Walodgürtel gehauen. Solltest sehen, wie's aus dieser Gasse heranfaucht, wenn der Wistelacher bläst. Eine wahre Hagelpforte ist's. Und dort, gleich links davon mit einer Ecke stößt es an meines Bauers Land liegt, platt wie ein Tisch und von zwei Seiten im Waloschutz, ein prächtiges Stück Wiesland. Gödis Gsödel, dems gehört, weiß nichts damit anzufangen, weil es nicht entwässert ist.Da hab' ich dem Alten gesagt: Kauf's doch. Es gilt jetzt wenig. Hernach drainieren wir's, und du hast dein Besitztum verdoppelt oder verdreifacht. Er sieht's ganz gut ein. Aber, was gilt's, er will nur nicht drauf eingehen, weil ich es ihm angegeben.“
Hans Tillmann wartete vergeblich auf eine Antwort. Sein Sohn blickte nach jener Waldwiese
hinüber und war doch offenbar nicht bei der Sache. Es ist doch noch nicht völlig
erstritten, dachte er, und seines Gedaächtnisses Auge ruhte auf den Dachknäufen von
Prankenau. Um aus dem peinlichen Schweigen heraus
Da er ohnehin heute die Absicht gehabt, nur im
Vorüberstreifen den Vater zu grüßen, verweilte sich Heinz nicht lange an der Lorhalde. Mißmutig wanderte er dem Pfarrdorfe zu. Beinah bereute er, nicht in der Stadt zu sein, wo das Silvestertreiben ihn doch ein wenig aus der ewigen Grübelei hinausgescheucht hätte.Hier war aber auch gar nichts, was an die Jahreswende erinnerte. Mattgrun lagen die Wiesen unter der träufelnden Wolkendecke. So richtig im toten Punkt zwischen Herbst und Frühling stand die Welt. Träge schlichen die Dunstschleier den Waldsäumen entlang, und wie sehr der Menschen Herz und der Gräslein müdes Heer im Sehnen nach einem Sonnenblick sich einten, nicht einen einzigen fadenscheinigen Fleck zeigte ihnen des Himmels graue Zeltdecke.
Genau so war Hans Tillmann im toten Punkt seines Lebens angelangt. Wie der Abgebrannte
mit einem Stock die Asche seines Hauses durchstochert, um noch etwas Brauchbares
herauszufinden, durchstöberte er, was hinter ihm lag, fand nichts und wußte auch mit der
Zukunft in aller Gotteswelt nichts anzufangen,am wenigsten mit seines Sohnes neuen Wegen.
Ach,daß doch ein Leichentuch sich senkte, ein reines, weißes,draußen über Halm und Scholle
und auch über ihn!Aber mit unerbittlicher Ausdauer harrte das Leben vor seiner Türschwelle
und wollte etwas von ihm, und
Als Heinz ins Pfarrhaus kam, meldete ihm die Schwester, halb verdrießlich, halb lachend, es warte jemand auf ihn.
„Wer denn?“
„Geh' nur hinauf, du wirst's gleich sehen.“
„Ach, sag's mir doch gleich! Ich bin so gar nicht aufgelegt.“
„Geh nur.“
Als er in den obern Flur trat, entfuhr Heinz ein aufrichtiges „o Gott im Himmel! Auch das noch!“.Dann mußte er doch beinahe lachen, denn er dachte an die Cante Nilpferd. Aus des Pfarrers Studierstube scholl, gleich dem Geräusch einer Hauptbrunnstube, die Stimme Berni Bärs. Er hatte den guten Franz schon fest dran. Nicht ganz ohne Schadenfreude lauschte Heinz einen Augenblick auf der Schwelle. Dann trat er ein,von Doltor Bär mit burschikosem Geschrei empfangen.„Eigentlich,“ sagte der Advokat, „bin ich auf dem Wege zu deinem Vater, Heinz. Ich wollte dich hier abholen.....“
„Nur „eigentlich‘ bist du auf dem Wege dorthin.Du würdest also mit dir reden lassen, wenn .....“
„Jawohl, wenn gute alte Freunde mich zu Gast laden, wie es soeben geschehen. Offen
gestanden, ist's mir heute trotz dem grämlichen Wetter mehr ums Tuftschnappen als um
Geschäfte zu tun. Wie wär's,von Cavel, Seinz Tillmann. 290
„Lüterswil,“ sagte Heinz halblaut. „Aber mir gefiele es besser auf einem einsamen Berg. Und der Frieswilhubel ?“
„Gut, sehr gut! Dann neujahren wir drunten in Ortschwaben oder wie heißt's doch, da, weißt, wo das Trineli herkam, da das fidele Huhn im untern Jucker“.“
Franz Dengeler atmete erleichtert auf. „Ich wünsche euch beiden einen vergnügten Bummel.“
„Was?“ fragte Bär, „euch beiden. Du wirst dich doch nicht drücken wollen ? Oder mußt erst deine Weibsleute fragen ?“
„Guter Mann,“ lächelte Franz, „du vergißt, daß morgen ein wichtiger Feiertag ist.“
„Was hat's denn damit auf sich?“
„Ei, daß ich Predigt halten muß.“
„Daran wird dich niemand hindern.“
„Hoffentlich nicht. Aber zu einer guten Predigt gehört eine ordentliche Vorbereitung, und überhaupt ...“
„Potz Donnerwetter, hört mir den an!“ schrie Berni Bär. „Vorbereitung! Hab' gemeint, so
ein Mann Gottes sei Geistes voll bis zum Zerplatzen. Du,du,“ schrie er noch lauter auf
Dengeler ein, „da sieht man's ja grad, was mit euch ist, ihr Staatspfründer.Sakerment.
Wenn ich Pfarrer wäre, ich wüßte, was
„Wo hast deinen Kanzelrock?“ brüllte Bär und machte Miene, den nächsten Wanöschrank aufzureißen.„Lass' sehen, wie mir das Zeug stünde!“
Franz drängte den Ungestümen auf das Sopha zurück. Der Advokat weidete sich an des
Pfarrers Unbehagen, lenkte dann aber zu ruhigerem Gespräch ein und sagte: „Nein, aber Spaß
beiseite! Daß euch,Cheologen, die Vorbereitung einer Neujahrspredigt Bauchweh macht,
beweist gerade, daß euch der Geist fehlt, von dem ihr mit einem gewissen Recht das Heil
der Welt erwartet. Heißt's nicht irgendwo: Er wehet,wo er will, du hörest sein Sausen
wohl; aber du weißt nicht, von wannen er kommt und wohin er fährt? Hä, Dengeler, gelt, ich
hab' weniger vergessen als du meinst. Dieweil ihr mit Händen und Füßen an eurem
Webstühlchen klappert und ein seidenes Predigtlein mit allerhand Blümelein und Arabesken
zusammenwebt, wallt's ganz anderswo, in den Herzen der Mühseligen und Beladenen, auf und
rauscht, daß es donnert
„Du,“ unterbrach Dengeler den Eifernden, „das Zitieren darfst du immerhin noch uns überlassen.“ Mit fliegendem Schlafrock eilte er nach dem Pult, seine Bibel herunterzureißen.
Bär blieb wie angewachsen auf dem Sopha sitzen und lachte: „Laß nur, laß nur! Deine alten Schmöker brauch' ich gar nicht erst. Was ich dem Sinne nach erfaßt habe, bleibt in mir lebendig, ob auch die Worte längst nicht mehr mit dem Koder sich decken mögen.“
Eben stürmte Franz mit aufgeschlagener Bibel auf den lachenden Kameraden los, den blonden
Schopf über der glühenden Stirn ordentlich gesträußt, als Frau Röseli eintrat. Jetzt
gefiel ihr Franz. Als brennenden Dornbusch hatte sie ihn noch nie gesehen.Gerne hätte sie
dem offenbar entbrannten Zweikampf zugehört; aber ihren Schritten folgte der Küchelduft
aus dem Eßzimmer und ermächtigte sie zur Mahnung.daß ein jeglich Ding seine besondere Zeit
habe. Ein homerisches Gelächter sprengte die Schwierigkeit des Augenblicks, und der
geistsprühende Töwe Sozialdemo
Wer aber den Einbruch des roten Wolfes durch den Waldfriedensgürtel von Hilbligen keineswegs erbaulich fand, war die Tante Nilpferd. Nicht daß sie von dem Disput etwas gehört hätte. Aber der Gast mit den flackernden Augen und dem wirren Krausschopf hatte sich während des Tischgebetes im Stuhl zurückgelehnt, den Schnauz gestrichen und ja, ja,sie hatte es trotz aller Andacht ganz deutlich gesehen spöttische Blicke üuber die fromm gesenkten Häupter streifen lassen.
Wie atmete sie auf, als nach Cisch. der wüste Geselle zum Aufbruch drängte und nach einem letzten vergeblichen Ansturm auf den standhaften Pfarrer mit Heinz allein abmarschierte. Die Tante machte aus ihrer Erleichterung kein Hehl, und als der Pfarrer ihr versicherte: „Ja weißt, Cantchen, in dem Manne steckt
0 eine Gärung, die vielleicht auch ihr Gutes hat dent, er liest sogar die Bibel,“ da meinte sie: „Mag sein, aber wozu!“
Vorerst schlugen die beiden Wanderer den Weg nach der Lorhalde ein. War der Advokat nun einmal in der Gegend, so sollte die Gelegenheit ausgenützt werden. Die Karrgeleise waren gefroren, und es lag kein Grund vor, am Straßenbord zu gehen. Dennoch tat Heinz, als müßte er sorgsam den Weg wählen.Es war ihm nur darum zu tun, nicht in einemfort reden zu müssen. Während Bär, voraus schreitend, seine Worte nicht zählte, sann Heinz schweren Herzens, wie sie am schonenosten seinem Vater die letzten Illusionen zerstören tönnten eine richtige Silvesterarbeit. Was hätte er nun um einen packenden Neujahrsgedanken gegeben! Als sie sich der Lorhalde näherten, hielt Heinz seinen Kameraden an: „Du,“ sagte er, „nun bitt' ich dich bloß um eins: Fang bei meinem Vater nicht von Politit ant Wir wollen ihm nicht, wenn die Wurzel seines Unglücks endlich ausgerissen sein wird, den Keim zu neuem Unfrieden ins Herz setzen. Ein still leuchtender Abend ist's, was ich ihm wünsche.“
Diesen Gedanken hatte Heinz die Sonne gegeben,deren rote Glut jetzt eben aus breiten Rissen den Horizont überströmte.
Bär lachte leise. „Morgenrot wäre mir lieber,“sagte er halblaut. Und im Weitergehen
raisonnierte er: „Weißt, Heinerli, Resignation darfst du bei unser
„Es ist aber hier nicht um Wiederaufbau nach außen zu tun, mein Lieber. Ich suche etwas anderes...“
„Schon recht. Lass' mich nur machen.“
Dicht vor der Küchentüre des Bauernhauses faßte Heinz den Vorwärtsstürmenden am Aermel und bat dringend: „Berni, nimm dich in acht!“
Bald saßen sie in der dumpfen Stube, und der Advokat erklärte vom warmen Ofentritt aus
seines Freundes Vater klipp und klar die Aussichtslosigkeit seiner Rechtsansprüche. Hans
Tillmann saß auf der Wandbank am Fenster und blickte starr nach dem Walde hinüber, in
dessen Wipfelmeer die Sonne versank. Er sprach kein Wort, tat keinen Seufzer. Sein grauer
Kopf aber war die in Erz gegossene Bitterkeit. Des Advokaten Worte polterten wie gefrorene
Schollen auf einen Sarg.Als der Abenöschein auf den gemalten Blumen des Wanoschrankes
erlosch und die drei Männer sich nur noch wie Schemen dasitzen sahen, kam Bär auch mit
seinen Ausführungen zu Ende. Da war es Heinz, als müßte er dem Vater, der in sprachloser
Verbitterung am Grabe seiner letzten Hoffnungen stand, mit einem lieben Wort an die Brust
fallen. Aber auch das war vorbei, die Zeit der jugendlichen Zärtlichkeit, jetzt, wo ihr
vielleicht der einst so harte Mann wieder zugänglicher gewesen wäre. Und da saß im
Halbdunkel der
Berni Bär konnte nicht anders. Er mußte Feuer schlagen, wo er einen Stein dazu fand. Aber die Funken entfachten keine Glut. Hans Tillmann blieb stumm.
Heinz war um nichts gesprächiger geworden, als er bei einbrechender Nacht mit seinem
Kameraden weiterwanderte. So hatte sich nun freilich der junge Advokat den Silvesterbummel
nicht gedacht. Zu der bedrückenden Einsilbigkeit seines Wandergefährten gesellte sich das
Schweigen der Tanöschaft, die mit jedem Schritt tiefer ins Dunkel versank. Da hockten
links und rechts, in herausfordernder Selbständigkeit, weitauseinandergerückt, die
Bauernhöfe, gleich Mutthaufen,aus denen mit glimmenden Äuglein das fette Behagen
Er wüßte etwas besseres, meinte Heinz, auflachend,man sollte die Hofhunde alljährlich gemeindeweise einziehen und ihnen unter dem Gesang der Marseillaise Gnagi austeilen. Dann kämen alle Teile auf ihre Rechnung, die Hunde zuvorderst, dann aber auch die Bauern, die Metzger, die Viehhändler, die friedfertigen Wanderer und endlich auch diejenigen Proletarier, um derenwillen die Hofhunde gehalten würden.
„Meiner Seel,“ antwortete Bär, „du hast mehr soziales Verständnis, als du zugestehen willst. Was wetten wir ?“
Vielleicht mehr als du, Berni.“
Heinz sagte das in einem ernsten, fast strafenden Con, so daß sein Kamerad nähere Erklärung verlangte.
„Wenigstens ich,“ sagte Heinz, nun auftauend,könnte mich mit dem negativen Trost, mit dem du meinem Vater aufgewartet hast, nicht zufrieden geben.“
Berni Bär blieb stehen und blickte erstaunt auf Heinz, der ruhig fortfuhr: „He ja. Was nützt es einem Schiffbrüchigen, wenn du ihm sagst: DDir ist nicht mehr zu helfen; aber sei getrost, deine Rivalen und Peiniger werden auch bald ersaufen“? Das ist ein Ausfluß jener kommunistischen Denkweise, die dem Stärkern das Werkzeug nimmt und es zerschlägt und deren Schlußresultat die allgemeine Tähmung ist.“
„Bitte,“ protestierte Bär, „so habe ich's nie verstanden. Ich möchte dem Starken, der es mißbraucht,das Werkzeug wegnehmen und es dem Schwachen geben.“
Mit dem Rollentausch ist nichts gewonnen. Nichts kann dem Ganzen verhängnisvoller sein als entwaffnete Intelligenz. Lasse dem Starken seine Waffen, aber zwinge ihn, sie für das Volk zu gebrauchen, und mache den Schwachen stark, damit er frei werde!“
„Auch gut. Siehst du, wir haben im grunde genommen dasselbe Programm.“
So wanderten die beiden, bald schweigend weiterspinnend, bald disputierend, durch die
Nacht. Sie
Sie redeten nichts mehr; aber jeder wußte vom andern, daß er entschlossen war, einer neuen Zeit, einer viel verheißenden, gläubig entgegenzugehen.
Als der letzte Ton verhallt war, trennten sie sich unter Glückwünschen, die einen ganz besondern, tiefen Klang hatten.
Dicht wirbelten die Schneeflocken um den bereits in weißer Decke schimmernden Pfarrhof, als Heinz rechtschaffen müde zu Hilbligen eintraf. So leise es ging, schlich er sich in sein Zimmer hinauf. Zu seinem Erstaunen fand er auf dem Tisch eine ansehnliche Kiste.Darauf lag ein von großzügiger weiblicher Hand adressierter Brief aus Bern. Klopfenden Herzens riß er ihn auf. Die Schriftzüge hatten ihn in einen Sturm seltsamer Gefühle versetzt. Nachdem er in atemlosem Staunen die Unterschrift gelesen, zwang er sich zu ruhigem Genießen des ganzen Briefes. Er lautete:
„Lieber Heinzt Denken Sie nicht arg von mir,weil ich mir diese Anrede vergebe. Aber es wäre wie ein falsch gegriffener Con, wollte ich diesen Brief mit Hochgeehrter Herr'‘ einleiten. Vielleicht ist es mein letzter an Sie. Darum soll er erst recht die Freundschaft zum Ausklang haben, eine wahrhaftige Freundschaft. Sie verstehen mich, nicht wahr?
Also, ich fühle mich Ihnen tief verpflichtet, da ich Ihnen mein Glück verdanke. Durch das
wahrhaft glän
Nun bitte ich Gott, daß er den Segen des Verzichtes uns beiden in gleichem Maße zuteil werden lasse.
Wie ich höre, ist ja nun Ihr Herzenswunsch auch erfüllt, und Sie konnten den Beruf doch noch ergreifen,den Sie Ihrem Vater zuliebe preisgegeben. Sie glauben nicht, wie sehr wir uns darüber freuen, Marecel und ich. Es ist bei uns ausgemacht, daß Sie in Zwischenflüh Pfarrer werden, sobald der alte Herr, der voet die Kanzel inne hat, seines Amtes müde ist. Wir haben sehr viele Arbeiter dort. Da sagt Marcel immer, für die wären Sie der richtige Seelsorger, weil Sie selbst unter den Arbeitern gelebt haben. Wie freuen wir uns auf den Augenblick, da wir Jugenöfreunde uns wieder die Hand reichen werden, um gemeinsam Gutes zu tun unter den Menschen.
Und nun machen Sie mir die Freude, als ein schwaches Zeichen meiner Dankbarkeit das kleine Kunstwerk anzunehmen, das ich für Sie anfertigen ließ in Erinnerung an den, der die neunundneunzig in der Wüuste läßt, um das eine verlorene Schaf zu retten.
Ich suchte ein entsprechendes Bild. Aber all die Bilder vom guten Hirten sind mir zu süßlich, zu weltfern.Sie sagen mir nichts. Nun glaube ich in nächster Nähe das Beste gefunden zu haben, indem ich einem unsrer Schnitzler den Auftrag gab, das darzustellen in gutem,derbem Bergholz, was mir vorschwebte.
Empfangen Sie mit meinen und meines Mannes herzlichen Glückwünschen zum neuen Jahre die freundlichsten Gruße von Ihrer Antoinette Delierre.“Heinz war, als müßte er wieder in das Schneetreiben hinaus. Aber er wußte, daß er den Aufruhr seiner Seele mit sich forttrüge, wohin immer er seine Schritte lenkte. Wieder und wieder las er den Brief,und so oft er ihn wieder hinlegte, stand er vor einem neuen Rätsel. Müde und verwirrt setzte er sich auf sein Bett. Er wollte sich zur Ruhe zwingen. Aber immer wieder klangen Antoinettes Worte gleich den Schlägen einer Sturmglocke an sein Ohr. Es war ihm, als hörte er ihre Stimme, als sähe er ihre schlanke Gestalt im Waldesdämmer vor sich. „Da ich Ihnen mein Glück verdanke ...!“ Ob sie denn nicht ahnte, was dieser Satz für ihn bedeutete? Und „Ihr Beispiel vor Augen, habe ich überwunden ...“ Plötzlich sprang er auf. „Das ist eine Lüge,“ rief er. „Sie lügt sich selber vor, daß sie überwunden habe, daß sie glücklich sei. Sie ist es nicht. Das beweisen die verschwommenen Zeilen da unten. O Antoinette! Antoinette! Armes Kind!“
7
Unfähig, sich aus dem Wirrsal seiner Mutmaßungen und Schlüsse loszureißen, begann er mit seinem Sackmesser den Kistendeckel zu lösen. Es ging mühsam, und das war ihm recht. Er arbeitete sich in Schweiß, trotz der Kälte des Zimmers. Da knacks brach ihm die Klinge die gleiche, mit der er am Panamakanal einst sein Leben erfolgreich gegen Aufrührer verteidigt. Sollte er vielleicht das Angebinde der geliebten Frau gar nicht sehen wollen? Nach kurzer Pause schlich Heinz in die Küche und holte sich ein Beil. Mit wachsender Ungeduld brach er die Kiste auseinander. Sie enthielt eine lebendig empfundene Holzstulptur, einen Geißbuben, der ein Lamm den Klauen eines Aodlers entreißt.
„Auch das trifft ja nicht einmal zu,“ sagte sich Heinz, nachdem er das Kunstwerk eine zeitlang betrachtet. „Ich habe ja meinen armen Vater durch den Verzicht nicht gerettet. Konnte ich ihn denn vor dem Zusammenbruch bewahren?“
Je mehr Heinz über die seltsame Verkettung all dieser Dinge nachsann, desto mehr kam es
ihm vor,als hörte er das Hohngelächter eines unsichtbaren Feindes. Eine dunkle unfaßbare
Macht schien mit ihm ein grausames Spiel zu treiben. War es vielleicht doch tindisch und
verkehrt, an einen Segen des Verzichtes zu glauben? Nur eines blieb in dieser
Neujahrsbescherung unbestreitbar: daß Antoinette ihre Liebe zu Heinz so wenig überwunden
hatte, wie er selbst seines Herzens tiefen Zug zu ihr.
20
XVII.Den Pfarrleuten zu Hilbligen gefiel Heinzens Wesen in den ersten Tagen des neuen Jahres gar nicht. Für ihn schien es keinen Unterschied zwischen Spazier und Stubenwetter zu geben. Besann sich Franz Dengeler,ob das Verlangen eines wunderlichen Kranken nach seelsorgerlichem Trost es auch wirklich rechtfertige, daß er seinen angegriffenen Hals der mußte doch für die Verkündigung des Wortes glatt bleiben den Unbilden der Witterung aussetze, so war Heinz längst im froststarrenden Waldrevier draußen. Zuhause war er so wortkarg, daß man fand, er hätte seine Ferien ebensogut in Bern zubringen können.
Es hängt, das laß ich mir nicht nehmen, mit dem geschnitzten Dings da zusammen, mit dem
Vogel,“ sagte Frau Röseli beim summenden Ceekessel zu ihrem Mann,und der brümmelte hellen
Criumphes vor sich hin:„Ja, ja, Heinerli, an deinem Herzen frißt noch was anderes als der
Eifer um des Herrn Haus.“ Der Frau Pfarrerin fiel auf, daß sie beim Aufräumen von Heinzens
Stube fast täglich zerknitterte und verbrannte Briefpapierfetzen fand, welche ihres
Bruders Schriftzüge trugen. „Aha,“ dachte sie, „der Dankesbrief an die vornehme Freundin
macht dem Brüderlein Sorgen.“Weder sie, noch ihr Mann ahnte, was Heinz auf seinem Herzen
forttrug, als er am Schluß der Neujahrsferien in
Vater Tillmann gab seinem Sohn von der Lorhalde aus ein gut Stück weit das Geleite. Als sie der von Tavel, Heinz Tillmann.
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Hans Cillmann schlug sich bei den letzten Worten vor die Stirn und begann weiterzuschreiten.
„Vater,“ sagte Heinz, „du hast in etwas recht.Aber ich glaube, auch du würdest tlug tun,
dich anders zu orientieren. In Gottes Namen von den Menschen ab! Es tut ja weh, wenn man
einem das Gutgemeinte nicht abnehmen will; aber denk' dran, daß einst einer über die Erde
gegangen ist, der nicht nur etwas Gutgemeintes bringen wollte, sondern den Menschen das
Gute hinstreckte. Und was haben sie gemacht? Angespien haben sie ihn und die Hände und
Füße, die das
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Gute trugen, haben sie ihm festgenagelt. Und solches tun wir heute noch.“
„Wir?“
„Ja, Vater, du und ich und wir alle.“
Eine Weile gingen sie schweigend auf den Karrgeleisen im knarrenden Schnee waldein. Dann blieb Hhans Tillmann plötzlich stehen, reichte Heinz die Hand und sagte: „So bhüt dich Gott, Heinz. Komm etwa wieder und vergiß mich nicht.“
„Leb' wohl, Vater. Verlier' den Mut nicht,“ antwortete Heinz.
Oft noch wandte er sich im Weitergehen um, bis die von den hohen Buchenkronen herniederrieselnden Schleier gelösten Rauhreifes seinen Augen die langsam hinschreitende Gestalt des Vaters entzogen.
4
3In emsigem Fleiß arbeitete sich der junge Cheologe durch die zweite Hälfte des Wintersemesters. Außerhalb der Hör und Bibliothetsäle sah ihn kaum jemand.Den Freund Bär mied er mit Überlegung. Nicht zwar,daß er befürchtet hätte, durch ihn am Studium gehindert zu werden; aber Heinz war seit der Neujahrsnacht durchaus nicht mehr geneigt, den Erwartungen,welche Mirabeau von ihm hegte, entgegenzukommen.Das widersprach den Gefühlen und Überlegungen, mit denen er an seine Zukunft dachte, und er wußte sehr wohl, daß er, einmal in Berührung mit Bär, dessen
Argumente nicht leicht zu widerlegen vermochte. Er besaß eine gewisse Macht über ihn. Der Student mied aber auch jemand anders, der häufig seinen Weg kreuzte.War Lilian Merle auf Gelegenheiten des Zusammentreffens bedacht, so wurde Heinz immer geschickter, ihnen auszuweichen. Bei alledem gewann nun zwar seines Herzens Frieden nichts, dafür destomehr seine Wissenschaft. Das HebräischEramen lag hinter ihm. Die kurzen Frühjahrsferien hatte er ohne besondere Erlebnisse bei den Geschwistern zugebracht, und jetzt stand man schon im Sommersemester.
Dem freunodlichen Anerbieten des Pfarrers Jeanmaire, seine kleine Gartenterrasse gelegentlich als Studierstube zu benützen, hatte Heinz Cillmann um so weniger widerstehen können, als die Luft seiner Mansardenstube oft auch gar so dumpf wurde. Und was gab es Schöneres als der trauliche Winkel, wo eine efeuübersponnene muschelartige Mauernische dicht am Hause die Terrasse gegen den Nachbargarten abschloß? Ein paar Flieder,leuchtend rote Feuerbüsche und Goldregenbäumchen umrahmten den heimeligen Ausblick nach dem gegenüberliegenden waldigen Aarebord, und in das melodische Rauschen des großen Wehres warf das Vogelgezwitscher lustige Triller.
Manchmal klang noch etwas anderes hinein. Aus den hochliegenden Fenstern scholl in
stillen Morgenstunden die weiche Stimme Lilians. In den ersten Tagen, seit Heinz die
Terrasse benützte, klang das ganz
Eines Morgens war dem singenden Hausmütterchen ein Staubtuch vom Fenster hinuntergefallen. Der Student hatte es nicht bemerkt. Auf einmal stand Lilian im hellen Sonnenglanz auf der Freitreppe. Freimütig wünschte sie ihm einen guten Morgen. Bestechend war ihr Bild, als sie mit schwebenden Füßen die altersgrauen Stufen herabstieg. Heinz war verwirrt. Erst als sie auf den Rasen hinaustrat und das Tuch aufhob, begriff er die Ursache des Besuches. Er stammelte etwas von schönem Sommerwetter, worauf sie in ungezwungenem Plaudern einging.
„Sie haben Reisepläne, Herr Tillmann?“
„Woraus schließen Sie das ?“
„Man brachte gestern einen Eispickel und einen Rucksack für Sie.“
„Ach so? Ja, es ist allerdings ein alter Plan.Wenn das Wetter sich bis zu den Ferien hält, so möchte ich mal ein wenig klettern gehn.“
„Über Eis und Schnee? Darum köonnte ich Sie beneiden. Haben Sie große Couren vor?“
„Das nicht gerade. Aber so ein wenig Gipfelein
Heinz hatte bei diesen Worten, die ihm entwischt waren, das unangenehme Gefühl einer leisen Blutwallung. Ob er wohl rot geworden? Sofort einfallend, hatte Lilian erwidert: „Ach, über den Sillernpaß? Dann reisen wir doch zusammen. Ich gehe mit Herrn Jeanmaire zu Anfang der Ferien nach Zwischenflüh.“
„Ah,“ zwang sich Heinz, möglichst gelassen zu sagen.„Sie werden Ihre Freundin, Frau Delierre, besuchen.“
„Jawohl.“
Aun wußte Heinz, daß er andere Wege einschlagen würde. Und Tilian sollte es gleich von Anfang an wissen.„So lieb mir Ihre Gesellschaft wäre,“ sagte er,„werden wir doch wohl getrennte Wege gehn. Ich gedenke von hier aus alles zu Fuß zu machen, in wachsenden Crainiermärschen. Und, um mit einem Ihrer Tieblingsdichter zu reden: „Lasse gern die andern breite,lichte, volle Straßen wandern.“
„Woher wissen Sie denn, daß das ein Tieblingslied von mir ist ?“
Heinz zeigte nach den Fenstern hinauf. „Das haben die mir verraten.“
„Ist doch ein herrliches Lied. Finden Sie nicht auch 7“
„Es ist ein schönes, stimmungsvolles Lied,“ sagte Heinz spröde, „aber keineswegs mein Fall.“ Und auf die staunenden Blicke Lilians hin ergriff er die Gelegenheit, um ihr scharf hinzuzeichnen, daß seine Lebensziele auf einer andern Linie lagen als das Sehnen ihrer Lieder. „Die tiefste Versenkung in Gott taugt nichts, wenn sie nicht dazu führt, daß man sich seinem Volke hingibt. So wenig, wie ich das Recht habe, mein irdisch Hab und Gut mir allein zunutze zu machen, so wenig habe ich das Recht, was ich an Herz und Geist besitze, meinen Mitmenschen vorzuenthalten.“
„Sie tun aber dem Dichter unrecht,“ wandte Lilian ein. „Hardenberg hat doch nur Hingabe an Gott im Auge, wenn er sagt: ‚,Wenn ich Ihn nur habe, wenn Er mein nur ist!“
Mit gewollter Härte erwiderte Heinz: „Gott hingeben können wir uns doch nur, indem wir den Menschen uns in Liebe opfern. Was ihr einem dieser Geringsten tut, das habt ihr mir getan. Oder wollen Sie lieber Schafe und Rinder auf einem Altar verbrennen? Mit frommer Beschaulichkeit bahnen wir dem Reiche Gottes den Weg nicht. Solange es noch einen Darbenden auf Erden gibt, ist es mit dem harmlosen Genießen im Angesicht Gottes aus.“
„Sie schauen mich an, als wollten Sie mich eines selbstsüchtigen Lebens anklagen,“ sagte Tilian lächelnd.„Ob meine Worte für Sie einen Vorwurf bedeuten,Fräulein, können nur Sie entscheiden. Mir liegt bloß
9 daran, Sie nicht im Unklaren zu lassen über meine Ziele.“
„Die sind mir interessant,“ versicherte Lilian, sich der Treppe zuwendend. „Ich hoffe, wir werden bald Gelegenheit haben, weiter darüber zu reden.“
Nun war auch dieser Vogel zum Schweigen gebracht,ohne daß jemand sich ihm zum Bau eines Nestes anerboten hätte. Lilian fand die harmlose Stimmung zum Singen nicht mehr. Heinz aber fühlte, daß er das Gegenteil von dem erreicht hatte, was seine Absicht gewesen. Die Schroffheit seiner Enthüllungen hatte Lilian zum Nachdenken gebracht, statt sie abzuschrecken.Ihr Einlenken ließ ihn eher ahnen, daß weitere Diskussionen sie einander nur noch näher bringen würden.So entschloß er sich nach wenigen Cagen, während der Sommerferien seine Zelte abzubrechen und auf das Wintersemester an eine andere Universität zu ziehen.
4
Heinz Tillmann war, seinem Vorsatz getreu, auf Schusters Rappen den Bergen zugewandert.
Den Seen entlang war er über Maienschachen hinaus gekommen.Das Wetter war nicht immer
blank gewesen, aber just so, wie's Einer braucht, den der Trutz landein treibt.Eine
Strecke weit waren die Bremsen dracksbös, als ließe der Teufel ihnen nur noch fünf Minuten
Lebenszeit. Dann gab's einen Regenguß, so dicht wie aus einer Schaumkelle. Crotzdem liefen
des Wanderers
„Zum Kuckuckd Warum soll ich, Heinz Tillmann,angehender verbi divini minister, nicht über diesen Bergbuckel, einen Blick tun in das Land, das mir Gott der Herr geben will, damit ich es baue zu seiner Ehre ?“
Die Schatten der Wettertannen zeigten nach dem Ziel seines Ganges, so daß er das Hochtal
im Vollglan der Abenosonne zu sehen bekam. Wo der Weg über die jenseitige Kante zu fallen
begann, gaben ihm die Tannenspitzen den Ausblick nicht frei. Drum bog er ab und klomm auf
einen Felsenvorsprung. Da lag nun die ganze Herrlichkeit vor ihm ausgebreitet. In
schwindelnder Tiefe, mit wenigen Bauernhäuschen übersäet, dehnte sich im weichen Schatten
des Bolgen der
33 4 flache Talboden. Zur Rechten fing die ungeheure, rote Bruchfläche der Achsenwand das
Sonnenlicht und warf es als weichen Ton in die Bläue des Abgrundes. Ihr gegenüber öffnete
sich zur Linken das einsame Gandeggtal, dessen herwärtige Flanke im tiefen Schatten
lag.Ihre gezackten Schlagschatten schoben sich langsam an den gegenüberliegenden Hängen
über die nach oben spitz verlaufenden, von zahlreichen Runsen zerrissenen Wälder empor in
das grausig zerklüftete, rot glühende Fluhgewirr des Dossen, aus dessen Kaminen
schmalgeschmolzene Lawinenzüge niederhingen. Dem Dossen gegenüber türmte sich, in scharfem
Scheidegrat auf-wachsend, der Gertenstock, dessen Firnschneide, wie von der Erde getrennt,
aus einem breiten, rötlichen Nebelkragen in den blauen Himmel schnitt. Der schäumende
Gletscherbach, der zwischen diesem Berg und der Achsenwand von rechts in den Talboden
stürmte, lag schon im Schatten. Dem Wanderer grad gegenüber, tief eingeschnitten zwischen
Dossen und Gertenstock, zog sich das wildromantische Ruhsetal in zahllosen Stufen hinauf
bis in die tief verhangenen Klüfte des Sillernpasses.Aus dem purpurnen Schoße dieses Tales
herunter ließ eine in Zickzack gelegte Kette weißschäumender Wasserfälle den Lauf der
Ruhse erraten. Im Halbdunkel dieser urmächtigen Talrinne war eine Gruppe heller Punkte
just noch zu erkennen. Das mußte das Pfarrdorf Zwischenflüh sein. Erquickend weich und
doch majestätischer Gewalt voll klang das in den Abend
„Wahrlich, hier hört man den Odem des lebendigen Gottes“, sagte sich Heinz. Wer da nicht aufgeht in der Verkündigung seiner Herrlichteit, verdient nicht,Mensch zu heißen.“ Kindlich fromme Freude kam über ihn. War nicht schon das übergenug, um sich nach einer so trüben Kindheit mit lautem Jubelruf den kommenden Jahren entgegenzuwerfen? Und doch war es nicht alles, was ihm entgegenlachte. Noch mehr, noch mehr! Hier warfen des Leibes trunkne Augen ihren ersten Blick in das gelobte Land. Aber sein Herz eilte voraus in das Himmelsland einer Weibesseele, nach der es in allen Fasern dürstete. War sie nicht die Perle in diesem Meere von Gottesoffenbarung?
Schweigend stand hinter dem Wanderer das Heer der Tannen, als vor ihm Woltken, Firn und Felsen im Scheideblick der Sonne aufloderten.
Stürmenden Schrittes mußte Heinz seinen Weg fortsetzen. Heute noch, heute noch in das
beseligende Ticht der Augen, die er suchte! Er sprang auf, wandte sich um und erblickte
die stumme Schar der Cannen und sann und erwachte. Da war ihm, als legte sich der Arm
seiner Mutter um seinen Hals und als blickte er in ihre fragenden Augen. Gesenkten Hauptes
lenkte er seine Schritte wieder gegen die scheidende Sonne. In Maienschachen wollte er
sich noch einmal
Als die Hähne krähten, schlummerte das Tal noch in seinen blauen Schatten. Aber auf den höchsten Kämmen lag rosiger Morgenglanz, und der Himmel wölbte sich wolkenlos. Auf! Bald marschierte Heinz Tillmann zuversichtlichen Schrittes dem Bolgen zu.Potz tausend, so hatte er sich in der Frische des Morgens ausgelacht, du willst ein Gottesbote und Heilsverkünder sein und fürchtest dich vor den Augen eines Weibes? Wie willst du denn durch das Leben kommen?Alles ist Euer.
Bald schon erreichte er die jenseitige Kante der mächtigen Talsperre. Aber heute blieb er
nicht stehen.In rüstigem Ausschreiten nur verglich er den Morgen mit dem Abend, und noch
herrlicher erschien ihm das Reich seiner Zukunft. Auf allem lachte der glare Sonnenschein.
Aus den blauen Einbuchtungen blitzten die silbernen Bäche, und zwischen den hohen
Felstürmen zu beiden Seiten des Haupttales zeichneten sich blinkende Firnkämme ab. Die
tiefe Talsohle durchwandernd, besah sich nun Heinz das, was ihn einst näher angehen
würde,die Menschen und ihre Behausungen. Die Häuser waren lieblich und trugen allerhand
leuchtenden Blumenschmuck.Kaum eines, in dessen sauberer Traulichteit man nicht gern sich
niedergelassen hätte. Aber die Wohnlichkeit vermochte doch das Auge dessen nicht zu
täuschen, der
Nach einer Schlucht, deren Grund das Sonnenlicht nur zu sehen bekam, wenn die Sonne im Zenith stand,weitete sich das Tal zu Weiden. Zur Linken lagen sie fett und krautig; jenseits aber hatte eine Lawine ihren öden Schuttkegel in roher Breite bis an den tosenden Fluß vorgeschoben.
Wieviel Gewalttat, wieviel Wunden und grausame Schürfung barg doch, von nahe besehen, das gotterfüllte
Landschaftsbild, das gestern und heute morgen noch Heinzens Augen trunken gemacht! Warum nur blieben die Menschen in solch unwirtlichem Lande? Warum zogen sie nicht weiter, wie die Zigeuner? Waren sie etwa durch Stärkere von den fetten Triften des Unterlandes bergan gedrängt worden auf das karge Erbteil der Verschupften? In Heinz erwachte Liebe zu dem verstoßenen Völklein. Das also, sagte er sich, wird meine Herde sein. Ja, ich will ihnen dienen, will sie an die Güte und Gerechtigkeit dessen erinnern, der sich Lob zur ichtet aus den Verheerungen der rohen Gewalt. Oder werden am Ende sie mich glauben und hoffen lehren?Wahrlich, es war eines Dieners der frohen Botschaft würdig, was Heinz bewegte, als er die breitere Talstufe erklomm, auf welcher plötzlich, an sanftem Hange das Dörflein Zwischenflüh sichtbar wurde. Das spitze Cürmlein der Kirche überragte kaum die Firsten der Dorfgasse. Auf einmal warod Heinz wieder enger um das Herz. Soll ich Kopf hoch, Blick gradaus, im Sturmschritt hindurch marschieren, stracks nach der Sillern?
Da waren schon die ersten Häuser, dunkel gebeizte Wände mit vielen kleinen Fensterchen.
Breite, mit Steinen beschwerte Schindeldächer, über denen sich Frühling und Herbst beinahe
die Hand reichten. Aus stattlicher Holzfassade sprang über einer steinernen Freitreppe ein
Wirtshausschild mit aufgemaltem Bären in
Heinz fand auch sie ein wenig verändert. Sie war etwas schlanker geworden, ihre elfenbeinerne Haut trug die Spuren des belebenden Berghauches. Das schicke Sportkostüm, welches sie täglich trug, um ihrem Manne auf den Gängen seines Berufes jeden Augenblick nachsteigen zu können, stand ihr zum Entzücken.
„Sie denken wohl, wir muten Ihnen eine bescheidene Kanzel zu,“ sagte Frau Delierre; „aber ich kann Ihnen
22 von Tavel, Seinz Tillmann.
„Das sind doch wohl meist Italiener, Katholiken?“wanote Heinz ein.
„Es sind viele Italiener dabei, aber auch Einheimische. Die Italiener machen uns keine Sorgen, aber die unsrigen sind verseucht. Ah, ich sehe, das Wort mißfällt Ihnen, Herr Tillmann oder darf ich Sie noch Heinz nennen? Aber glauben Sie mir, es hat seine Berechtigung, das häßliche Wort. Denken Sie ja nicht, daß ich kein Herz für die Arbeiter habe. Im Gegenteil, gerade deshalb liegt uns ja so sehr daran,daß Sie hierher kommen. Aber nun wollen wir in den Bären' gehen. Sie sind gewiß sehr hungrig. Wie weit sind Sie denn heute schon gegangen?“
„Ich komme von Maienschachen und will heute noch zum Sillernhospiz hinauf.“
„Ach, schon wieder weiter? Wirklich? Das wird Marcel leid tun; er kommt nicht zu Tisch. Es lohnt sich nicht, vom Galmersee, wo sie jetzt einen Stollen sprengen, herunterzukommen. Sie essen natürlich mit mir. Wenn Sie um 4 Uhr aufbrechen, kommen Sie noch tags auf die Paßhöhe. Ich werde Sie ein Stück weit begleiten, denn wir haben uns viel zu erzählen, Heinz.“
Ein Aufflammen in ihres Gastes Augen brachte plötzlich Antoinette zum Schweigen. Sie machte sich um die Oronung in dem kleinen SeparatEßzimmer,das der Bärenwirt dem Oberingenieur eingeräumt hatte,zu schaffen. Dann trat sie wieder zu Heinz: „Ist es Ihnen recht, wenn ich unsern alten Pfarrer mit zu CTisch bitte? Er kann Sie dann gleich ein wenig über Ihre künftigen Pfarrkinder aufklären.“
Es gelang Heinz nicht völlig, seine Enttäuschung zu verbergen; aber er zwang sich zu einem verbindlichen Lächeln und sagte: „Sie denken weit voraus,Frau Delierre. Aber selbstverständlich freut es mich,den alten Herrn kennen zu lernen.“
In der halben Stunde, auf die man sich trennte,kam Heinz die Gemütsverwirrung, in die er geraten,zum Bewußtsein, und er dankte Gott trotz aller Enttäuschung für Antoinettes rettenden Einfall.
Als sie dann zu dritt am Tische saßen, wurden Antoinette und Heinz es bald inne, daß der
Hüter,den sie sich in lobenswerter Selbstüberwindung verordnet hatten, kein scheidendes
Element war. Im Gegenteil. Der zahnlose alte Herr aß so entsetzlich langsam und
umständlich, daß sich zwischen den beiden andern Tischgenossen ganz von selbst ein
verständnisinniges Lächeln über den Graukopf hinweg einstellte, in welchem Antoinettes
Liebreiz zu voller Entfaltung kam. Mühsam kauend, richtete der Pfarrer Frage um Frage an
den jungen Gast. Von der Gemeinde Zwischenflüh war nicht
50 die Rede. Der alte Herr war so heißhungrig nach Neuigkeiten und Aufschlüssen aus der
Stadt, daß Heinz ihm nicht genugtun konnte. Man trank vom besten Tropfen des „Bären“, und
der alte Herr ward zusehends gesprächiger. Seine in der Bergeinsamkeit konservierte Art zu
denken und zu reden, mochte denselben Jahrgang haben wie der köstliche Wein, den noch der
Großvater des Wirts über den Sillernpaß gesäumert hatte.Natürlich ward auch die soziale
Frage gestreift, die damals, von Stöcker beleuchtet, die Cheologen lebhaft zu beschäftigen
begann. „Wenn ich die Zeitung läse,“sagte der Pfarrer mit spaßhaft beabsichtigter
Feierlichkeit, „so kommt mir vor, die Herren im LTande drunte sähe vor lauter Bäume den
Wald nicht. Und doch ischt die Frage seit mehr denn drei Jahrtausende gelöst.Wenn man nur
dem alte Weise Gehor schänke wollte!Sein Rat findet sich aufgezeichnet im fünfte Bueche
des lautet allda im vierte Värse: „Du sollscht dem Ochse,där da drischet, das Maul nicht
verbinde. Haha hahaha hahahaha.“ Einen solchen Tacherfolg hatte der alte Herr noch nie
erzielt. Als ob etwas in ihnen geborsten wäre, stimmten die beiden Hörer in sein
selbstzufriedenes Lachen ein. Nein, wie sie ihm dankbar waren für diese Erlssung“! Und sie
lachten und lachten. bis aus ihren schönen Augen die Tränen rollten und die Mägen sie
schmerzten. Warum denn? Ja, wer ihnen das hätte sagen können!
Den schwarzen Kaffee nahmen sie im „Garten“ ein,das heißt an einem rohgezimmerten Tische auf einem vom Hühnervölklein des Wirtes übel versperzten Wieslein zwischen drei mächtigen Wettertannen, hinter deren einer ein Haufen leerer Konservenbüchsen lag. Aber Zierpflanzen und Kieswege vermißte man hier so wenig wie befrackte Kellner. Auch hier stellten sich Gelegenheiten zur Entspannung in unverhältnismäßigem Lachen ein. Am schlimmsten wurde es, als der Pfarrer eine Ausdauer an den Tag legte, die alle Erwartungen längst überstiegen hatte. Dabei schien er auch gegen die gröbsten Winke zum Aufbruch gefeit. Es ging schon gegen 4 Uhr, als Antoinette zu Heinz sagte: „Ich will Sie nicht wegscheuchen, aber wenn Sie noch tags aufs Hospiz kommen wollen, so sollten Sie ans Aufbrechen denken. Der Pfarrer zog eine sehr hübsche altmodische Uhr aus der Westentasche, die er an einer langen goldenen Kette trug, und warf einen erstaunten Blick auf Antoinette. Diese kam einem Einwand zuvor mit der fadenscheinigen Erklärung: „Ich meine nur,falls Herr Tillmann den Umweg über die Gertenlimmi nehmen wollte...“
„Jaso,“ sagte der Pfarrer, dann freilich wäre es höchste Zeit.“
Als er Abschied nahm, fiel den Zurückbleibenden plötzlich auf, daß in des alten Herrn
Augen etwas lag,das mit der eben noch laut geworodenen guten Laune in seltsamem
Widerspruche stand. Sie begleiteten ihn
„Ach ja, 's ist wahr,“ meinte Heinz, „aber es ist uns zu verzeihen.“
Wollen wir aufbrechen? Wir können's dann etwas gemütlicher nehmen. Aber wenn Sie über die Gertenlimmi gehen wollen, so müssen Sie einen Führer mitnehmen, denn es gibt da ein Stück trügerischen Gletschers.“Heinz überlegte einen Augenblick, dann sagte er entschlossen: „Für diesmal ziehe ich die Straße vor.“
Antoinette schien sehr zufrieden. „Besser plaudern läßt sich's hier schon,“ sagte sie, „wir sind ja noch gar nicht auf unsre Rechnung gekommen.“ Sie machten sich marschfertig, und als sie sich vor dem Hause wieder trafen, griff Heinz mit erheucheltem Ernst zurück: „Im Grunde genommen weiß ich nicht, was ich nun hinter Ihrem Vorschlag, mich einst um die Pfarre Zwischenflüh zu bewerben, suchen soll. Wenn ich diesen alten Herrn betrachte ...“
„Sie werden mir doch nicht zutrauen, daß ich Sie auf Lebenszeit hierher verbannen möchte!
Wir selbst werden sa, sobald die großen Bauten vollendet sind,auch weiterziehen. Ich
meinte bloß, so ein oder zwei Jahre, die ersten im Pfarramt, würden Sie gewiß ganz gern in
der Bergluft zubringen. Wissen Sie, im
„Sehr richtig.“„Er soll in jüngern Jahren der Romantik zu viel Raum gelassen haben, der arme Mensch.“
Nun gingen sie eine Weile stumm nebeneinander her.
„Nein, sehen Sie,“ fing Antoinette wieder an, „Sie müssen mich verstehen. Es ist ja
wunoerschön hier, und ich habe kein Recht zu klagen. Wie manche Frau möchte mich beneiden,
weil ich so vom Klatsch unberührt meiner Familie leben kann. Im Sommer ist's gar nicht so
eintönig. Aber, was ich bitter vermisse, ist jegliche geistige Anregung, ein Mensch, mit
dem man ein wenig über den Alltag hinaussteigen kann. Marcel wäre sicher ganz empfänglich
für die Dinge, die Sie interessieren wenn er nur jemanden hätte, der es ihm nach Männerart
nahebrächte. Er fragt sicher nur nicht danach, weil er niemanden um sich hat, der es ihm
interessant machen kann. Er geht so in seiner Arbeit auf, daß er für alles andere nichts
übrig hat. Zudem ist er abends so müde,daß ihm ein irgendwie anstrengendes Gespräch gar
nicht zuzumuten ist. In die altbackenen Predigten unseres Pfarrers mag ich ihn nicht
nötigen. Er soll mir nicht vortäuschen müssen, daß ihm diese etwas sagen. Aber
„Was sagte er denn zum Beispiel zu dem Geschent, das Sie mir machten? Ich meine zu Ihrer Idee ?“„Sehen Sie, gerade das war so etwas. Ich habe versucht, ihm meine Idee beizubringen. Erst wollte er durchaus, daß ich ein Bild vom guten Hirten kaufe.Einen ganzen Stoß ließ ich mir vorlegen. Aber ich bitte Sie, alle diese sentimental frisierten Heilande, die um des schönen Faltenwurfs willen in ein orientalisches Hirtenhemd gesteckt sindt So kam ich endlich auf die Skulptur. Nun wollte er dem Schnitzler den Chorwaldsen Christus als Modell vorsetzen, und als ich mich dagegen wehrte und sagte: Nein, Abplanalp, einen derben Schweizerhirten sollen Sie mir machen, so und so,‘ da wurde Marcel ärgerlich. Wozu denn überhaupt der ganze HeilandsKrimskrams?“ sagte er. ‚Da hättest du ja einfach am Höheweg in Interlaten eine Jagogruppe kaufen können.““
„Er sieht eben die Sache nüchterner an. Vielleicht haben Sie mein Tun zu hoch eingeschätzt.“
„O keineswegs. Und Marcel dentt sehr hoch von Ihnen. Glauben Sie mir nur, er bewundert
Sie in
„Wir wollen nicht über ihn urteilen. Er ist eben ein einseitiger, dafür aber auch ganzer Mann.“
„O ja, das ist er; aber das sollte ihn doch nicht hindern ...“
Ein von der östlichen Berglehne herunter klingender Hornstoß lenkte plötzlich der beiden Wanderer Aufmerksamkeit nach der Gegend des hoch in die Felsen gebetteten Galmersees. Und gleich darauf rollte der Donner eines Sprengschusses in endlosen Echowellen talauf und ab.
„Marcels Gruß,“ sagte Heinz, während seine ehrlich erschrockenen Blicke Antoineites fallende Lider trafen.Da packte den Wanderer ein heißes Erbarmen mit der gequält vor ihm Stehenden. Beide fühlten, daß sie nicht mehr weiterreden konnten. Endlich raffte Heinz sich auf, ergriff Antoinettes Hand kräftig und sagte:„Leben Sie wohl und grüßen Sie Ihren Mann von mir.“Dann rannte er die Bergstraße hinan, ohne sich umzusehen. Er wollte und konnte nicht sehen, was er zu sehen fürchtete. Aber, was kommen mußte, sagte ihm sein Herz unerbittlich. Die ganze Nacht hindurch sah er die ihm so liebe Gestalt einsam in sich ringend das Cal hinunterschreiten.
XVIII.Hans Tillmann war kein Bauer. Lauf und Launen des Hilbliger Himmels kannte er noch
nicht. Aber seinem vorausblickenden Menschenverstand gab doch manchmal das Geschehen auf
dem Friedenseiland recht. War es diese Erfahrung, die ihm an jenem schwülen Maienmorgen
zuraunte: Es kommt? Er wußte nicht was;aber es stand ihm fest, es hing, wie die Bauern zu
sagen pflegen, eine Kuh in der Cuft. Und weil Cillmann sich nicht erklären konnte, was es
mit dieser bangen Ahnung sei, so dachte er ans Sterben. Ihn dünkte, als er, schon am
frühen Morgen bachnaß vom Schweiß, in einem Kartoffelacker jätete, so still sei es in
seinem ganzen Leben noch nie um ihn her gewesen.Aebenan, auf dem Roggenacker, wiegte sich
kein Halm,die blühenden Kartoffelstauden standen so andachtvoll in den feierlich
parallelen Furchen, der Walosaum schwieg, als wäre alles nur ein Gemälde und nicht eine
lebende, wachsende, schaffende Welt, die, gestern noch Keim, morgen Frucht werden sollte.
Es segelte keine Wolke am Himmel, und doch lag kein freundlich Blinken, kein labender
Schatten im Gebreite. Da bewegte sich etwas zwischen den Stauden, kaum wahrnehmbar, und
genügte doch, um zu beweisen, daß ein gewaltiger Atem die Riesenbrust der schlummernden
Erde bewegte. Ein Vögelchen ja, aber was für
Als Tillmann zum Mittagessen gerufen wurde,türmten sich über dem Walde blendende Wolkenburgen.In seine wehmütigen Gedanken vertieft, beachtete Hans Tillmann diese Veränderung im Tandschaftsbild so wenig wie die brütende Stille, die auch unter dem breiten Schirm des Hausdaches waltete. Es ging ja dort immer recht still zu, und bei den Mahlzeiten waren die Worte zu zählen, die nach dem Cischgebet ausgetauscht wurden. Heute jedoch bekam man auch gar nichts anderes zu hören als das leise Klirren von Geschirr und Löffeln. Um so deutlicher vernahmen die schweigsam Cafelnden das Rollen der Streitwagen, die über die Zugbrücken jener blendenden Burgen hinausfuhren.
Die Arbeit wieder aufzunehmen kostete Überwindung. Selbst die Pferde schleppten sich.
Jetzt sah man die Woltken auch vom Kartoffelacker aus. Sie wuchsen hoch über den Wald
herein. Causendstimmiger Unmut rollte dumpf und unbestimmbar im Fichtenheere. Ein paar
Vögel schossen in tiefem Fluge über die Wiesen hin. Unversehens war die Sonne erloschen,
der Himmel uüber und über grau, gegen Westen tiefdunkel. Es fielen Tropfen, und die Leute
zogen sich gegen die Höfe zurück.Winostsße fegten über die Felder, und das Wipfelheer
geriet ins Wogen. Silberhelle Schauer liefen über die Obstbäume, indem der Wind ihre
Blätter nach oben sträußte. Als Tillmann zum Hause kam, standen der Bauer und seine Leute
unter dem Scherm und blickten in banger Erwartung nach der Waldlücke. Dort bog und bückte
sich das Gestrüpp des jungen Nachwuchses in flimmerndem Wirrwarr. Aber nicht das schreckte
die Leute, sondern das grausige Fantom, das in weißlichgelbem Brodem, von Blitzen
durchzuckt, unaufhaltsam einherbrauste, begleitet vom Rauschen eines zermalmenden
Wassersturzes. Mit grauenhafter Wucht wälzte es sich durch die Bresche heran. Und ehe
Bauer und Bäuerin ein Wort gefunden, knallte es auf Dach und Wänden wie einschlagendes
Gewehrfeuer. In tollem Spiele sprühten auf der Bsetzi die weißen Körner nach allen Seiten.
Scheiben klirrten, Läden schmetterten.Haus uno Hofstatt schienen wie unter den Sturz eines
Gletscherstromes getaucht, so brauste und donnerte es
Aus der Mulde stiegen sie hügelan, und nun überblickten sie den Lauf, den das Unheil genommen. Wie der Meßschnur entlang war das Ungeheuer gewandelt.Durch die Waldbresche stracks gegen die Mitte des Eilandes. Und als ob es dort zur Einsicht gekommen,daß die Attacke scheitern müsse, hatte das weiße Millionengeschwader nach Süden abgeschwenkt und über dem Walde sich aufgelöst. Das einzige, was hier herum gänzlich verschont geblieben, war die einst versumpfte,von zwei Seiten durch Wald geschützte Wiese von Gödis Gödel. Dort lachten unversehrt die violetten Kartoffelblüten im tröstlich aufleuchtenden Abenosonnenblick.
Starr hielt der Lorbauer seine Augen dort hinüber gerichtet. Schweigend kehrte er um und
schritt an Tillmann vorüber seinem Hause zu. Während seine Frau bereits zur Haue gegriffen
hatte und, am erstbesten Ende anfassend, im Garten Ordnung zu schaffen begann, damit ihren
Pflanzen das Wiederaufstehen möglich würde, kam dem Bauer das Unglück zu groß vor.Ihn
däuchte, das Wiederanfassen lohne sich nirgends mehr. Schlurfenden Schrittes verschwand er
im Stall.Dort blieb er, den Kopf in die Hände gestützt, auf dem Bänklein hocken, auf dem
er den kalbenden Kühen zu wachen pflegte. Hans Tillmann ließ die Verheerung nicht Ruhe.
Nachdem er dem Hüterbuben Besen und Rechen in die Hand gegeben, er solle flugs um das Haus
herum Oronung schaffen, damit den Meister bald wieder der Glaube an den Heimfrieden
ankomme, warf
Als endlich sternenlose Nacht ihren Mantel über das Land breitete und alles wieder totenstill war, hörte Hans Tillmann durch die Ritzen seines Kammerbodens die Bäuerin auf ihren Mann einreden. Von Gödis Gödel hatte sie gesprochen, und das machte ihn aufmerksam. Es sei nicht zu verstehen, sagte die Frau, daß es so gehen müsse. Gerade als ob man noch gestraft würde dafür, daß man einem andern gegönnt, was man selbst hätte haben können. Nicht zu reden von der einstigen Wässermatte, habe das Wetter auf dem ganzen Nachbargut viel weniger arg gehaust. Und dabei wisse Gödis Gödel das Erbe seiner Väter gar nicht zu schätzen.Was er dran arbeite, sei nur gegäggelet. Tange antwortete der Bauer nicht. Endlich aber vernahm Hans
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Tillmann deutlich seine Worte, die er gsatzlich hervorbrachte, als ob er Setzlinge in guten Boden pflanzte:„Wir wissen nicht, was Gott vorhat, wenn er dem einen gibt und dem andern nimmt. Wo er austeilt,hat es Sinn und Zweck, und wehe dem Menschen, der ihm dreinreden will! Er versündigt sich an Gottes Gebäu. Was gilt vor dem Ewigen das zeitliche Gut!Wer nicht mit Hiob sagen kann: Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen,, bleibt seiner Lebtag ein armer Tropf und ein Narr. Wie ist's dem Cillmann ergangen? Hätte der zur rechten Zeit an Hiob gedacht, statt nach anderer Teute Glück zu schielen, so hätt' er im Frieden seinen Weg machen können. Nein, Frau, auf das, was Wind und Wetter zerschlagen können, kommt's nicht an. Wenn's schon wehtut, hergeben zu müssen, was man redlich erwerchet hat, die Hauptsache kommt doch erst jenseits. Je mehr des Menschen Händen zerschlagen wird, desto mehr geht in seinem Herzen auf.“
Um besser hören zu können, hatte sich Hans Cillmann so tief über sein Bett hinausgebeugt,
daß er sich mit der Hand am Boden aufstützen mußte. Als es stille blieb. drehte er sich
auf die andere Seite; aber den Schlaf fand er trotz aller Müdigkeit nicht. Schon mancher
Wohlmeinende hatte ihm Ähnliches gesagt, aber noch teiner, der so wie der Lorbauer am
eigenen Hab und Gut solch schweres Leid erlitten. Er hat recht, sagte er sich. Wahr ist's,
und es trägt nichts ab, es zu
Während der ganzen Nacht flammte der Widerschein von fernem Wetterleuchten in Tillmanns Kammer,und von Zeit zu Zeit erinnerte rollender Donner an die böse Stunde des gestrigen Cages. Bald raschelten Regenschauer über das knisternde Dach, bald stieß der Wind seinen Fuß übelgelaunt in die Fensterflügel. Und als endlich Diele und Wand den ersten Frühschein auffingen, hing der Himmel voll eintöniger Wolken, die kaum erkennen ließen, wo die Sonne vom Horizont sich löste. Regen hüllte das gemarterte Land in kühl rauschende Schleier. Aber weder des Himmels noch der Erde Antlitz zeigte auch nur den leisesten Zug, aus dem Zuversicht zu schöpfen war. Da hörte Hans Cillmann vor dem Hause Holzschuhe klappern. Der Bauer war's. Bedächtig ging er über Feld, blieb hier stehen und dort, bückte sich und griff mit der Hand in das zerschlagene Gewächs, als wollte er prüfen, ob es sich zu erheben noch Kraft besäße. Enttäuschung zeichnete sich in seinen langsamen Bewegungen.
Hans Tillmann stieß vor der Küchentüre zu dem Heimkehrenden. „S ist nichts mehr zu wollen,“ sagte er. Der Bauer antwortete nach verdrossenem Besinnen:
„Am Wollen soll's nicht fehlen, und das Jahr ist noch lang. Will den Roggen zuerst
umfahren. Bis das gevon Tavel, Seinz Tillmann. 23
Und wie er's sagte, so tat er's. Immer noch grollte in weiter Ferne der Donner, als nach dem Morgenimbiß der Lorbauer seinen Pflug in den Roggenacker setzte. Hans Tillmann führte ihm die Pferde.Und indem er mühsam durch den aufgeweichten Boden stapfte, zollte er dem Bauer in seinem Herzen Bewunderung.
Über der schweren Arbeit ging den beiden die Sonne auf. Wie Genesende schritten sie mittags dem Hause zu, aber nicht wie Menschen, die, kaum dem Tod entronnen, schon wieder tausend Pläne machen. Weit schon lag hinter den beiden die Jugend. Der Bauer freilich in seiner zähen Frömmigkeit ließ in allem den Zerschlagenen und doch in Vertrauen Siegenden erkennen,der jedem Tag sein Gutes abringt und nicht einmal des nächsten Mondes Geheimnisse zu erraten sucht.Hans Tillmann hingegen warod bald inne, daß für ihn weder Zeit noch Kraft mehr reichten, ein neues Leben anzufangen. Es konnte sich, so schien ihm, nur noch um eine Wandlung des Herzens handeln. Die wollte er ausreifen lassen. Und weil er die Wohltat dieser Reife zu fühlen begann, tam ihm der Gedanke, das müßte der Lebensabend sein. Immer deutlicher glaubte er sein Ende herannahen zu sehen. Zu Stille und Wehmut gesellte sich das Bangen.
„Bist du trank, Vater?“ fragte Heinz, als er, durch
„Krank? Nein, was man so krank nennt, nicht.Aber ich bin fertig. Wozu sollte ich länger leben wollen,weiß ich doch, daß ich mit neuem Zugreifen nur Unglück ins Getriebe bringe! Nicht einmal andern soll ich helfen durfen.“ Leise vor sich hin, so daß es Heinz kaum hören konnte, brümmelte Tillmann: „Jetzt geht der Lorbauer einen guten Weg. Er wird seines Glaubens mit großem Segen genießen. Hätt' er mir gehorcht, so zischten Neid und Haß aus seinen Fußstapfen,und sein Leben wär' vergiftet.“
Heinz ward unheimlich zumute. Gar so verwunderlich, dünkte ihn, wär's ja wohl nicht, wenn sein Vater nach allem, was ihm widerfahren, auf den Gedanken käme, seinem Leben ein Ende zu machen. Daß Hans Cillmann im Gegenteil einem geistlichen Zuspruch zugänglich gewesen wäre, ahnte sein Sohn nicht, und darum versuchte er, ihm den Vorhang von seiner eigenen verheißungsvollen Zukunft wegzuziehen. Daß er bald seine Studien vollenden und dann einer Lebensaufgabe sich hingeben könne, die ihn für alles Schwere reich entschädigen werde. „Eine Pfarrei ist mir sogar schon sicher, Vater, und dann wirst auch du wieder bessere Tage sehen. Nein, Vater, jetzt darfst du mir noch nicht davon. Die Freude habe ich noch von dir zu fordern.“
Ein kaum wahrnehmbarer Schein aufdämmernder Freude auf dem tiefgefurchten Gesichte des
Alten er
3munterte Heinz, weiter auf ihn einzureden. Schweigend hörte der zu. Dann fragte er: „Welche Gemeinde hast du in Aussicht ?
Heinz suchte den leisen Schreck, den ihm die Frage verursachte, zu verbergen und antwortete so harmlos wie möglich: „Zwischenflüh.“
Da lag auch schon der kalte Schatten auf des Vaters Gesicht. Er antwortete nur mit einem Hochziehen der Augenbrauen. Wer im Ruhsetal gut und schlecht Wetter machte, wußte Hans Tillmann genau, trotz dem Walodgürtel, der Hilbligen von der Welt trennte.
Heinz hatte die Mißbilligung vorausgefühlt und begann hastig zu reden: „Es ist freilich eine kleine,weltverlorene Gemeinde. Aber weißt, das schadet nichts.Ein wenig Bergluft nach so viel Bücherstaub wird mir wohltun. Und dann kann ich von dort Ausschau halten.Die Fakultät will mir wohl und wird ...“
„Du wirst dort mit den Guldwang in Berührung tommen,“ schnitt Hans Tillmann ab.
„Nur mit Frau Delierre, und dieser Verkehr kann mir nur von Nutzen sein, denn das wirst du zugeben wären sie alle gewesen wie die .. .!“
Der Vater machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung. „Laß gut sein!“ sagte er. Nach längerem Schweigen, wandte er sein Gesicht voll und warnend dem Sohne zu und sagte: „Heinz, nimm dich in acht vor dem Tillmann!“
Staunend blickte Heinz auf. „Du willst sagen vor den Gulo...“„Nein,“ sagte der Alte fest. „Ich habe mich nicht versprochen. Vor dem Tillmann in dir sollst du dich hüten. Graod das ist mir der Hauptgrund, warum ich dir schrieb, herzukommen. Nun hab' ich's dir gesagt.Ich hätte nicht ruhig sterben können, bevor ich es mir vom Herzen geladen. Nun ist's deine Sache. Cu', was du willst.“
Heinz schüttelte den Kopf. Er wollte nicht zugeben,daß er die Warnung verstund.
XIX.
Ein Jahr war seit dem Tage verstrichen, da Heinz von seinem Vater die Warnung vor der
Untugend seines Stammes empfangen hatte. Und Hans Tillmann war nicht gestorben. Er
arbeitete unverorossen auf den Äückern des Corbauers. Aber eines war doch anders geworden.
Der ergraute Mann, den die Nachbarn als den Knecht des Lorbauers kannten, war der freieste
Mann des Hilbliger Eilands. Seitdem ihm das Licht aufgegangen war über sein früheres
Leben, war er in der Verteidigung seiner innern Freiheit ebenso hartnäckig wie früher in
der Verfolgung seiner Ziele.Manchmal noch kam die Arbeitswut über ihn, aber aus andern
Gründen als früher. Potz Wetter, wie
*It emsig!? dachten die Leute um ihn herum und lachten in sich hinein, wenn sie den Mann
so „fausten“ sahen.Andere dachten, es sei etwas „lätz“ mit ihm. Jedes erklärte sich den
Eifer auf seine Weise. Am nächsten kam der Wahrheit die Lorbäuerin. Die sagte sich: Er
will Buße tun. In ihren Augen war ein TCotschlag mit ein paar Jährlein Zuchthaus noch
lange nicht gesühnt.Ganz auf den Gruno seiner Seele blickte aber niemand.Wenn Hans
Tillmann mit Art und Karst umging,daß Halm und Stiel krachten, so wollte er damit
gewissermaßen das Gelüsten nach seinem frühern selbstsüchtigen Teben kurz und klein
schlagen. Arbeiten, ja,das wollte er, bis zum letzten Atemzug, aber nicht für sich, auch
nicht für seine Kinder, denen er mit seinem Zeit und Kraftgeiz nur Unglück gebracht. Der
Unternehmergeist sollte seiner Seele fernbleiben. NAur eine den Tag wohl ausfüllende
Knechtesarbeit wollte er tun,um geringen Lohn und zum Nutzen des Bauers, bei dem er seinen
Frieden gefunden hatte, und etwas von dem, was ihm seine verstorbene Tebensgefährtin so
liebenswert gemacht hatte. O dieses Feiertägliche, das aus jedem Wort und Sang, ja auch
aus dem Arbeiten seiner Frau geklungen und das er nie hatte an sich herankommen lassen
Herrgott! Wenn er das wieder zu hören bekäme! Zuweilen war's ihm, als läge der goldlautere
Klang in der stillen Sommerluft über ihm.Dann hielt er in der Arbeit inne, stützte sich
auf den Stiel des Werkzeugs und lauschte. Er ahnte etwas
Wie er nun eines Abenös die Sense gewetzt hatte und über das blante Eisen hinweg studierte, glitt ein Schatten neben dem seinigen auf die frisch duftende Mahod. Hans Tillmann sah sich um. Da stand seines Sohnes Freund, der Aovokat Bernhard Bär, bei ihm.
„Für die paar Kuehli des Lorbauers dürfte das wohl langen,“ sagte der unerwartete Gast. „Hätten Sie nicht Zeit zu einem Abendschoppen?“
Was sollte nun das? Diese Stadtmenschen hatten doch auch gar keinen Begriff ...
„Ich habe etwas auf dem Herzen, Herr Tillmann.“
„Den „Herrn“ dürfen Sie nun für sich behalten.“
Bär lachte. Nach kurzem Gespräch fand sich Hans Tillmann wieder allein, mit einem Herzen voll Unruhe. Bis jetzt hatte ihm dieser Advokat noch nie angenehme Kunde gebracht. In einer Stunde sollten sie sich treffen im Wirtshause zu Rauchwil. Ob am Ende doch etwas mit Heinz nicht in Orönung war?Schon all die letzten Tage hatte Vater Tillmann sich mit der Frage gequält, ob sein Sohn die Warnung in den Wino geschlagen habe.
Aber es kam ganz was anderes.
„Herr Tillmann, Herr Tillmann,“ hub der Aovokat an, nachdem er die Gläser auf dem Taubentisch vollgeschentt und durch Anstoßen seinen Gast zum Trinken eingeladen, „es gibt Aufgaben, die nur einer lösen kann, der nun, wie soll ich sagen? von niemandem abhängig ist und den Mut hat 666h ...“
„Sie wollen sagen, der nichts mehr zu verlieren hat, nicht wahr?“
Berni Bär blickte befreit auf Cillmann. „Nun ja,“sagte er, „man kann's auch so ausdrücken.“
„Sagen Sie mir vorerst nur: Hat's etwas mit meinem Sohn gegeben?“
„Nein. Es hat gar nichts mit Ihrem Sohn zu tun.Der studiert ja, soviel ich weiß, in Basel.“
„Stimmt.“
„Nun gut. Unsere Sache spielt im Oberland, im obern Ruhselal.“
Hans Tillmann horchte auf.
„Wie Sie wissen, werden dort große Kraftwerke angelegt, Bäche zu Seen gestaut, Stollen
gesprengt und so weiter. Kurz, es ist ein kolossales Unternehmen, bei dem Tausende von
Arbeitern beschäftigt werden. Es ist zwar erst in den Anfängen; aber schon die Anfänge
lassen erkennen, daß da eine schamlose Ausbeutung der Arbeiter einreißen wird. Man wird
überall Italiener anstellen und damit die Löhne drücken. Wir sind bereits mehrmals
dringend aufgefordert worden, einzuschreiten.“
„Unsere Parteileitung.“
„Wissen Sie, wer hinter der Unternehmung steht ?
Bär zwinkerte mit den Augen. „Das ist's ja, was mir die Idee gegeben hat, mich an Sie zu wenden.“
„Ja, was soll denn ich dabei?“
„Was Sie dabei sollen? Sehen Sie, den Arbeitern muß geholfen werden. Wir dürfen es nicht dulden, daß sie von einer Gesellschaft ausgepreßt, verstlavt und geschunden werden, die keinen andern Zweck kennt als die Steigerung ihrer Dividenden. Aber die Sache muß mit Vorsicht und Energie angefaßt werden. Wie es scheint, gibt es da droben niemanden, der die Führung mit Sachtenntnis und kühlem Mut übernehmen würode.Wir haben uns den Kopf zerbrochen, bis mir plötzlich einfiel...„Daß da in der Lorhalde einer sei, der nichts mehr zu verlieren hat und seinen Buckel getrost hinhalten könnte.“
„Nicht den Buckel, Herr Tillmann. Wir suchen einen,der Herz hat für die Arbeiter und einen Kopf, der imstande ist, ein paar Zäune einzurennen. Spaß beiseite. Sie kennen die Verhältnisse und Gepflogenheiten bei solchen Unternehmungen. Sie kennen diese Unternehmer. Geben Sie zu, daß das eine Aufgabe wäre,ein Vertrauensposten, für den sich weit und breit niemano besser eignet als Sie.“
„Das möchte ich nicht ohne weiteres zugeben.“
2
Doch doch!“
„Sehen Sie, junger Freund, ich habe mir nun einmal vorgenommen, den Rest meines Lebens in der Stille zuzubringen. Ich habe genug vom Streit mit den Menschen. In der Einsamkeit habe ich meinen Frieden gefunden, und den gebe ich nicht wohlfeil.Meinen Kindern habe ich Leios genug zugefügt. Ich will nicht neues Ungemach auf sie laden. Will's Gott,tann ich meine Cage in Verborgenheit und Frieden beschließen.“
„Das alles verstehe ich sehr gut. Es hat seine Berechtigung, solange darob niemand zu kurz kommt.Aber denken Sie an die Hunderte von Arbeitern, an ihre Familien, an die Tausende von Eristenzen, welche der gewissenlosen kapitalistischen Ausbeutung schutzlos preisgegeben sind! Wie anders, mit wieviel größerer Senugtuung würden Sie einst Ihre Tage beschließen,wenn Sie sich sagen dürften, Ihre grausamen Erfahrungen, Ihre Menschenkenntnis, Ihre Gaben, Ihr Herz haben der Not von Tausenden einen Damm gebaut!Just weil Sie gegen sich selbst unerbittlich gewesen sind,haben Sie ein besonderes Recht, mitzureden.“
So ging das Gespräch hin und her, bis der Abgang des letzten Zuges nach der Stadt den
Aovokaten zwang, abzubrechen. Sie gingen noch ein Stück Weges zusammen. Dann riß sich
Berni Bär los, weil ihm der andere zu langsam schritt. Hans Tillmann wanote sich um,
vergaß dann aber das Weitergehen. Wie ein
In der Felsenwildnis oberhalb Zwischenflüh lagerte eine kleine Gesellschaft. Zwischen mächtigen Granitblöcken, in deren Spalten sich schlangenartig die roten Wurzeln zerzauster Kiefern eingruben, dehnte sich eine saftig grüne Mulde voll glühender Hahnenfußkugeln.Ringsherum bauschten sich blühende Alpenrosenstauden.Ein wolkenlos blauer Himmel wölbte sich über dem
*leise rauschenden Tale. Auf den Bergtämmen blinkten silberne Schneebänder, in schattigen
Gründen schäumende Bäche. Ein sprudelnder Quell warf seine Funken aus dem Gestrüpp, als
frohlockte er über das holoselige Bilo, das er in seinem Spiegel auffing. Mit ihren
rosigen, wohlgepflegten Händen tauchte Lilian Merle einen kleinen Suppenkessel in die
kalte Flut. Einige Schritte hinter ihr kniete glühenden Angesichts Antoinette und warf
dürres Gezweige in das knisternde Herdfeuer. Im Schatten einer geduckten Kieferkrone
breitete Frau Dorothea auf buntem Schal allerhand verführerischen Proviant aus. Ihre
raschen anmutigen Bewegungen standen in einem gewissen Gegensatz zu ihren silbernen
Haaren. Marcel Delierre, der seiner Frau ein Bündel dürren Holzes zugetragen hatte, stand
jetzt eben am äußersten Rand einer gegen das Tal vorspringenden Platte und spähte nach
seinem Werkplatz hinunter.Prächtig hob sich seine schlanke Gestalt vor dem fernen blauen
Hintergrund ab. In der grellen Sonne schien sein abgeschossener bauschiger Sammetanzug wie
mattes Gold. Das wetterbraune energische Antlitz mit den befehlenden Augen war
überschattet von einer blauen baskischen Mütze. Man konnte den Mann nur mit Wohlgefallen
betrachten. Auch Antoinette, die ihn täglich vor Augen hatte, ließ ihre Blicke mit einer
gewissen Genugtuung nach ihm hinübergleiten, weil ihr die Bewunderung nicht entging, die
Mama und Lilian ihm zollten.
„Aber es trifft sich schlecht,“ meinte Frau Dorothea.„Kommt Papa erst Samstag abends herauf, so wird er kaum Lust haben, schon am Sonntag wieder mit uns hinunterzufahren nach Maienschachen.“
„Was wollt ihr dort?“ Marcel, der sich lang hingestreckt hatte, hob kaum den Kopf, als er dies fragte.
„Ei, zu Heinz Tillmann,“ erinnerte ihn seine Frau,„in seine Probepredigt.“
„Ach ja, richtig. Das hätt' ich beinah vergessen.“
„Warum kann er eigentlich nicht hier in Zwischenflüh selbst predigen?“ fragte Lilian.
„Weil das scheint's nicht üblich ist,“ belehrte sie Frau Dorothea, „es ist nicht Brauch, Kandidaten zu Probepredigten herzuberufen.“
„Ich bin wirklich gespannt, wie das ausfallen wird,“wandte sich Lilian gegen den Ingenieur, „er ist enragierter Sozialist.“
„Heinz enragierter Sozialist ?“ Antoinette lachte gereizt, als sie dies sagte. Und auch die übrigen schienen erstaunt.
„Ich tann's euch versichern,“ sagte Lilian. „Mit
Nun wollte man bestimmt wissen, was Heinz gesagt habe; aber Lilian konnte das kurze Gespräch, das sie damals mit ihm auf der Gartenterrasse von Pfarrer Jeanmaire gehalten, nicht wiedergeben. Sie versicherte nur immer von neuem, es habe sehr sozialistisch geklungen. Antoinette und ihre Mutter schienen ihr nicht recht Glauben zu schenken, worüber Lilian in sichtliches Mißvergnügen geriet.
„Nun,“ meinte Frau von Guldwang, „so sehr verwunderlich wäre es schließlich nicht. Es scheint ja bei manchen jungen Theologen Mode zu werden. Von vielen Irrwegen, die ihnen offen stehen, ist es einer.Möchte nur wissen, was Jesus selbst zu dieser modernen Liebhaberei sagen würde.“
„Das kann ich mir schon denken,“ sagte Marcel.der platt auf dem Rücken lag und in den blauen Himmel hinauflachte, daß ihm der Leib wackelte.
Die drei Damen horchten auf. Nun ?“ forschte Antoinette, verwundert, daß ihr Mann überhaupt auf eine derartige Frage einging. Aber Marcel antwortete nicht.Er blies das Käuchlein seiner Zigarette steil in die Luft.
„Allons!“ rief Antoinette. „Heraus mit der Sprache!“Und als auch diese Aufforderung
erfolglos blieb, warf sie einen Kieferzapfen nach Marcels Zigarette, ohne sie zu treffen.
Erst als nun auch die Schwiegermama in den Wioerspenstigen drang, antwortete er: „Ei
nun,
Den Damen schien diese Anwendung des Kreuzeswortes sehr unangebracht, und sie lehnten sie zurechtweisend ab, worauf Marcel sich aufrichtete und fortfuhr: „NAu, was denn sonst? Ist etwa dieser sozialistische Eifer der Herren Pfarrer nicht lächerlich? Da meinen die guten Herren, die von Handel und Wandel gar teinen Begriff haben, sie müßten dem Treiben der Sozialisten ihre religiösse Sanktion geben, obschon diese nicht den geringsten Wert darauf legen. Es ist genau so, als wenn der Geißbub da droben am Galmersee zu uns sagen würde: ich billige eure Idee, die Wasserkraft des Sees auszubeuten. Brauche ich denn seine Genehmigung? Jodelt er vor Freude über mein Werk, nun gut, so mag er jodeln. Ich würde aber auch getrost fortfahren, wenn er darob flennte und fluchte.“
Cilian lachte beifällig. Die beiden andern Damen aber brachten durch ihr Stillschweigen Marcel wieder zum Verstummen.
Bald darauf kam Elvezio, der kleine Tessinerjunge,der bei Delierre Botendienste leistete, über die Blöcke hereingeklettert, um den Picknickkorb herunterzuholen.Das war für den Ingenieur das Signal zur Arbeit.
„Ja, glauben Sie wirklich, daß Heinz zu denen gehöre?“ fragte er beim Aufbruch Lilian.
„Dann müßte man sich's doch wohl überlegen, ob er hierher gehört.“
„Es wird am besten sein, Sie überzeugen sich selbst.“
Antoinette hatte schon eine beipflichtende Bemerkung auf der Zunge; aber da war etwas in ihr, was sie hinderte, unbefangen mitzureden. Durch den kräftigeren Händedruck, mit dem sie sich von ihrem an seine nicht gefahrlose Arbeit gehenden Manne verabschiedete, suchte sie ihm mitzuteilen, was ihr Herz bewegte. Auch ihre tiefernsten Augen schienen Marcel zu gerechter ÜÄberlegung aufzufordern. Ach, daß sie im Abstieg den gewohnten Plauderton wiedergefunden hätte“ Statt dessen ließ sie Lilian mit der Mutter vorangehen und hielt sich mehr denn sonst mit Blumenpflücken auf.o 3
Durch die hohen Bogenfenster des uralten Gotteshauses zu Maienschachen fielen die Strahlen eines blauen Sommersonntags. Scheinwerfern gleich beleuchteten sie manches graue Haupt, manch Röslein, das auf schneeweißem Linnen die frisch atmende Brust eines lebensfreudigen Mägoleins schmückte. Blonde Locken vergoldeten sie, selbst auf die Runzeln sorgenvoller Stirnen malten sie einen Freudenschein, ob es auch hinter der Stirnwanod tiefdunkel sein mochte. Das alles durfte man von der Kanzel aus sehen. Von dort aus durften auch die in Erwartung gespannten Gesichter Antoinettes und ihrer Mutter gesehen werden. Marcel Delierre freilich hatte sich dem Blick von der Kanzel zu entziehen gesucht; er wußte aus Erfahrung, daß ihn von Tavel, Heinz Tillmann. 24
*hier, im geschlossenen Raum, der Schlaf gleich einem gewappneten Mann überfallen werde. Da er aber keinen passenden Platz gefunden, hatte er sich mitten unter die Bauern gesetzt. Mochte man ihn einschlummern sehen,er hatte sich seiner gesunden Müdigkeit nicht zu schämen.Droben aber, schattseits neben der Orgel, durch das vorragende Schnitzwerk ihres Gehäuses halb verdeckt,wartete einer auf die Predigt, der nicht gesehen sein wollte. Der war des Wachbleibens sicher; aber niemand brauchte es zu sehen, wenn Rührung ihm allenfalls die Lider röten sollte. Sinmal während des Einläutens erhob er sich und blickte mit dem Auge eines pirschenden Jägers ins Frauenschiff hinunter. Eine Zorneswelle lief durch die Furchen seines Antlitzes. Da saß wieder einmal jemand im vollen Sonnenlicht vorne an, auf einem Platz und Rang, auf den er den ersten Anspruch gehabt hätte. Hans Tillmann kämpfte den alten Groll nieder und redete sich zu, daß nun ein neuer Gedanke sein Leben beherrsche.
Würde mit lebensfroher Jugend verbindend, betrat Heinz Tillmann im schwarzen Talar die
Kanzel. Jetzt einmal durchzuckte des Vaters und des Sohnes Kopf ein und derselbe Gedanke:
„Wenn die Mutter diesen Augenblick erlebt hätte!“ Nie hätte sich Hans Cillmann träumen
lassen, daß es ihm so tief ins Innerste greifen würde, die ersten Worte von seines Sohnes
Lippen durch die Kirche hallen zu hören. Wie ein Heroldsruf klang sein apostolischer Gruß
an die Ge
Die Predigt ward mit Kraft und Wärme, ja man möchte sagen: mit LTust vorgetragen Heinz
Tillmann trug sie einer großen Gemeinde von Menschen vor, die alle aus des Lebens Mühsal
heraus nach Erbauung sich sehnten; und doch sprach er eigentlich nur zu einem einzigen
Menschen darin. Zu einer schönen, edlen Seele sprach er mit der Wärme, wie sie nur in der
beginnenden Vermählung gleichgerichteter Herzen entsteht. Jedes bezog die Worte auf sich
und wunderte sich über den warmen Anschlag. Und niemand außer einem einzigen Zuhsrer
ahnte, daß er in dem berückenden Gebäude dieser Predigt einen seltsamen Umbau vor sich
hatte.Heinz Tillmann hatte seiner Probepredigt die Geschichte von David und Goliath
zugrunde gelegt. Die Worte Davios hatten es ihm angetan: „Du kommst zu mir mit Schwert,
Spieß und Schild; ich aber komme zu dir im Namen des Herrn Zebaoth.“ Der junge Pfarrer,der
schon so tief in die Welt geblickt, hatte den Mammonismus in die Gestalt Goliaths
gekleidet und eine Programmrede voll jugendlichen Feuers ausgearbeitet.Sie war nicht das
Erzeugnis weniger Stunden. Schon seit seiner Rücktehr aus Amerika hatte er in seinen
Gedankengängen daran gebaut, und er wußte auf dem Weg nach Maienschachen, daß er ein
gewichtig Werk in sich trug, welches seine Wirkung nicht verfehlen, ja
2 vielleicht mehr noch zu reden geben würde, als sein Überfall im Armenhause zu Prankenau. In freudiger Zuversicht sah er gestern abend noch dem großen Tag entgegen. Da fand er im Pfarrhause zu Maienschachen einen Brief, dessen Schriftzüge ihn um die Ruhe brachten.Noch überlegte er einen Augenblick, ob er den Brief nicht erst nach dem Gottesdienst öffnen sollte. Es war ihm, als könnte er Unheil bergen. Aber er hielt die Geduldsprobe nicht aus. Als die Frau des beurlaubten Ortsgeistlichen ihren Gast schon im Schlafe wähnte,vernahm sie ploötzlich in seinem Zimmer wieder Schritte Schritte Schritte. Das Treten währte länger als ihr Widerstand gegen den Schlaf.
Wieder und wieder hatte Heinz den Brief gelesen,ihn weggeworfen, wieder aufgehoben, ihn mit dem Gedanken: du meinst nicht was göttlich ist, sondern was menschlich ist, zerknüllt und weggeschleudert. Dann aber war ihm vorgekommen, als sähe er Antoinettes zürnende, bittende Augen oh diese unvergleichlichen,aus denen von jeher etwas nach ihm geschrien wie aus tiefer Not. Und etwas schrie in ihm selber. Ich muß ihr folgen, ich muß mit ihr gehen. Er glättete den Brief wieder. Er preßte ihn an die Lippen und flüsterte:„Ich folge dir.“
Der Brief war eine Warnung, eine aus Liebe geborene. Heinz kam zur Einsicht, daß es um
seine Berufung nach Zwischenflüh geschehen sei, wenn er diese Davids Predigt hielt. So
etwas ertrugen die kaum, die
Wesen seines Stammes, wie es wuchs und wucherte vom Vater zum Sohn, wenn ihm nicht das Winzermesser in den Weg trat. Ein Wundergefühl durchschauerte ihn. Er war erlöst. Es kam ihm zum Bewußtsein: das war ein Gotteserlebnis. Und da war auch die Kraft wieder in ihm, die er andern Tags von der Kanzel konnte ausströmen lassen.
Kaum aber hatte sich der Kämpfer zur Ruhe gelegt, so beugte sich etwas über ihn und überschattete das Geisteserlebnis: die Erwägung der sichtbaren Vorgänge, die ihm bevorstanden. Er sah die schöne Warnerin zu seinen Füßen sitzen, wartend auf das, was er ihr geben sollte. Konnte er diesem edlen Weibe den Rücken tkehren und Pfeile auf seinen Bogen legen, welche sie zum TCode verwunden mußten?
Nun standen die beiden Überlegungen scheinbar gleich start vor Heinz, und die Qual griff ihm tiefer und grausamer in die Rippen denn zuvor. Da tat er, was unreife Menschen tun, er suchte einen Mittelweg. und war erstaunt, daß er den erst jetzt sah, und weil ihm das so überraschend kam, so meinte er, noch Größeres zu erleben. Die Entdeckung des Ausweges war ihm erst recht Erlssung, und niemand sagte ihm, daß ein
Schlupfloch kein Kreuz ist und daß nur im Kreuze das Heil liegt.
Aur einen kleinen Schritt galt es zu tun, um vom Engern ins Weitere zu gelangen. Goliath
konnte statt als das Sinnbild des Mammonismus einfach allge
Unter lautem Orgelgetöne verließen die aus Andacht Erwachenden die Kirche. Einige gab es,
die wollten auch jetzt noch nicht gesehen sein, darum warteten sie,bis der Schwarm sich
verlaufen hatte. Als die Stiegenbretter unter Hans Tillmanns schweren Tritten
knarrten,ächzten diejenigen der gegenüberliegenden, sonnseitigen Treppe unter den glatten
Sohlen des Bankiers Ryter.In großem Staunen standen sich an der Kirchentüre die beiden
einen Augenblick gegenüber. Was mochte nun dieser Finanzmann hier gesucht haben? Hans
Tillmann konnte es nur ahnen. Dieweil er der Welt Lauf so ziemlich kannte, hatte er sich
die seltsame Erscheinung bald erklärt. Im obern Ruhsetal arbeitete neben dem
mittelländischen auch oberländisches Kapital,denn auf diese Weise pflegt man
Unternehmungen solcher Art zum Anwachsen im heimischen Boden zu bringen.Freilich paßte
diese Sorte von Menschen wunderlich zu
Als Vater Tillmann um die Ecke des Friedhofes bog, begierig seinem Sohn die Hand zu
drücken, sah er Heinz, immer noch im Calar, von den Guldwangs umgeben und sichtlich
bewundert. Einen Augenblick verwirrte ihn aufbrodelnder Groll. Dann aber raffte er sich
auf und schritt aufrecht und sicher der Dorfgasse zu. Und wie er's erhofft, so wirkte sein
Erscheinen. Auf seinem Antlitz stand deutlich geschrieben: mir gehört er,nicht euch. Die
Prankenauer verließen Heinz, der sich nun in freudigster Aberraschung seinem Vater
zuwanöte.Er begrüßte ihn mit um so größerer Seelenruhe, als er soeben mit Rücksicht auf
die Pfarrfrau eine Einladung Frau Dorotheas zum Mittagessen im „Wiloden Mann“ abgelehnt
hatte. Vater und Sohn setzten sich in bester Stimmung im Pfarrhause zu Cisch und verlebten
ein paar ungetrübte Stunden, da Hans Tillmann selbst es diesmal nicht über sich gebracht
hätte,seines Sohnes großen Tag mit abermaligen Warnungen zu stören. „Schon der Mutter
selig zulieb.“ dachte er.
XX.Ein Sieger, doch zwiespältigen Herzens, war Heinz Tillmann über den Bolgen hinein marschiert, nachdem ihn die Gemeinde Zwischenflüh auf mannigfache Empfehlung hin zu ihrem Seelsorger gewählt hatte. Drunten in Bern, an der Hochschule, schüttelten sie die Koöpfe.Wozu vergrub sich ein so hochbegabter Mann in der einsamsten Berggemeinde? Ist er lungenkrank? „Nein,“ versicherte ein graues Haupt. „Er geht auf vierzig Cage in die Wüste, um hernach in großer Kraft wieder unter die Menschen zu kommen. Hoffen wir's7 Ein Paradies auf Erden dünkte den jungen Pfarrer sein Amt. Nie konnte das Tal einen glücklicheren Wanderer gesehen haben. In schöner Freunoschaft erblühte der Verkehr zwischen dem Pfarrhaus und dem Ehepaar
Delierre, das nun in einem gemieteten Hause eigenen Haushalt führte. Antoinette nahm an allen Amtsgeschäften des Gemeindehirten teil. Sie kannte das ganze Völklein von Zwischenflüh, von der Ruhseschlucht bis zu den obersten Alphütten, sie kannte eine große Zahl on Arbeitern, und ihre Winke waren nach kurzer Zeit dem Pfarrer unentbehrlich. Selbst in seinen Predigten lebte Antoinettes große liebreiche Seele. Auch Marcel war zufrieden. Er verstand sich mit dem so anders gearteten Schulkameraden besser als er es je gedacht hatte. Er, dem einst nur die exakten Wissenschaften imponiert, lernte durch Heinz nach und nach einsehen,daß auch die idealen Gedanken ihren sehr praktischen Wert haben. Er glaubte sogar zu bemerken, daß der Pfarrer einen guten Einfluß auf die Arbeiter gewonnen habe, und faßte deshalb ein festes Vertrauen zu ihm.Daß der Wirkungskreis für seine frische Kraft zu gering war, merkte Heinz Tillmann kaum. Der schöne Sommer brachte viele Fremde in das TCal. Alltäglich rollten Kutschen voll erholungsbedürftiger Menschen uber den Sillernpaß, und manchen Wanderer aus der Stadt begleitete der Bergpfarrer pickelbewehrt über Fels und Gletscher. Das Leben in der Alpenluft kräftigte den großgewachsenen Mann so, daß er allen Besuchern als ein Bild strotzender Gesundheit in Erinnerung blieb.Als nun aber die Ferienzeit zur Neige ging und die Straße stiller wurde, kam Heinz das Mißverhältnis zwischen seiner jugendlichen Tatkraft und der Berufs
aufgabe zum Bewußtsein. Wie sollte das im Winter werden? In manchem Scherzwort war er von Studienkameraden und Bergbauern gefragt worden,wann die Pfarrfrau einziehen werde. Der Gedanke an einen richtigen Haushalt drängte sich ihm immer deutlicher auf. Heinz wich ihm aus, so oft er nur konnte,denn nun waro er es inne, daß er seine Freiheit eingebüßt hatte. In seinem Wirken und Denken lebte Antoinette. Er hielt es für unmõglich, daß eine andere Lebensgefährtin ihm irgendwie ersetzen könnte, was diese mit seinem Wesen schon so innig verwachsene Seele ihm war. In nüchternen Augenblicken erkannte er die Notwendigkeit eines Losreißens. Er mußte die Flucht ergreifen, wenn er mit seinem Gewissen ins Reine kommen wollte. Schon hatte er ihr die Mission geopfert, die er an den Arbeitern zu haben glaubte.Um ihres friedlichen Einvernehmens mit Marcel willen hatte er das preisgegeben; er wollte sie nicht unglücklich machen. Wie er seine erste Predigt umgebaut, so orientierte er nun sein ganzes Wirten, und der Erfolg der allgemeinen Zufriedenheit täuschte ihn eine zeitlang hinweg über die innere Zerrissenheit. Aber so bleiben konnte es nicht. Der äußerlich riesenstarke Heinz Tillmann fühlte seine Wioerstanoskraft schwinden. Er besaß nicht einmal mehr die Kraft zur Flucht. Wie sollte er einen Rücktritt vor der Gemeinde begründen? Und er wollte ja auch gar nicht fliehen. Er mußte anderswie sich zu befreien trachten.
In langen bangen Wochen, während welcher Antoinette ihm die Kümmernis aus den Augen gelesen,reifte in ihm der Entschluß, bei ihr selbst die Befreiung zu suchen. Ihrem edlen Herzen traute er das Größte zu. Sie mußte ihn verstehen. Er dachte sich seinen Plan aus, ohne zu merken, daß auch darin schon etwas anderes ihm Wegleitung gab als nüchterne Wahrheit.Auf einsamer Gratwanderung womõglich, zwischen Himmel und Erde, wollte er Antoinette die Beichte ablegen, sie bitten, mit eigener strenger Hand den Bann aufzuheben. Schon das Spiel seiner vorauseilenden Einbildungskräfte schuf ihm Erleichterung. Über den selten begangenen Norograt auf den Gertenstock führen wollte er Antoinette. Dann würden sie sich südwärts wenden über die wilde Zackenfirst des Gertengrates nach dem Sillernhorn. Zu einem Nebo werden sollte ihm diese firnumgürtete Felsenzinne. Da wollte er mit ihr hinuüberschauen in das Land einer reinen heiligen Freundschaft, an die keine Begierde rühren durfte. Auf ewig würden sie sich da das Wort geben, getrennte Wege zum höchsten Ziel einzuschlagen. Bei Gott! schwur sich Heinz, ich habe es nie anders gemeint, und ich will das Schönste, was mir auf Erden geworden, nicht durch ein Unrecht beflecken.
Derlei Gedanken spann Pfarrer Tillmann, alles andere darob vergessend, als er eines
Abends, von entlegenen Hütten heimkehrend, an der Kantine des Barackendorfes
vorüberschritt. Wie es seine Gewohn
Ein Lächeln in den Augen, hatte sich Hans Cillmann erhoben. „Gelt!“ sagte er nur. Dann folgte er dem Sohne stillschweigend zur Straße.
„Hast du auf mich gewartet?“
„Nicht einmal.“
„Ja, aber ... du kommst doch zu mir ?“
„Auch.“
„Auch? Zu wem denn sonst noch ?“
Jetzt log Vater Cillmann, mit einer Hano und Kopfgeberde nach den Arbeitern weisenod.
Heinz staunte.
„Wie soll ich sagen?“ erklärte der Alte. „Mit dem Herzen bin ich zu denen da gekommen, für dich behalte ich wenigstens ein Auge frei.“
Heinz forschte überrascht in des Vaters Zügen. Seine Gratwanderung flitzte ihm durch den Kopf, und es war ihm, als hörte er eine Stimme aus seinem eigenen Dunkel heraus, die wiederholte unablässig:„Gottgesandt, gottgesanot.“
Da stand eine wirkliche, nüchterne, erlösende Kraft in Mannsgestalt neben ihm. Der UNeboTraum war verflogen.
Eine Weile gingen sie schweigend weiter. Heinz hatte eine Frage auf der Zunge nach dem Sinn des seltsamen Satzes von Herz und Auge. Aber er schob etwas anderes dazwischen: „Wo hast du deine Sachen? Du kommst zu mir, Vater.“
„Eigentlich wollte ich draußen bleiben,“ log Hans Tillmann weiter, „bei den Arbeitern. Ich will dir nicht zur Tast fallen. Man sieht es vielleicht nicht gern,wenn ich bei dir wohne. Aber weil du so oft gesagt hast, ich solle dann einmal zu dir ziehen, wenn ...“
„Wo hast du dein Gepäck?“
„Es ist noch bei der Postablage.“
„Also, gut.“
Als sie nun nach dem Abendbrot auf der dämmerigen Laube des Pfarrhauses saßen, drang Heinz in seinen Vater um Aufschluß. Der wollte um keinen Preis mit dem wahren Grund seines Kommens herausrücken.
Es kam ihm jetzt klein und lächerlich vor, daß er dem Sohne unlautere Absichten zugetraut hatte. Bevor er mit eigenen Augen etwas Cadelnswertes wahrgenommen,wollte er darüber keinen Con von sich geben. So begann er denn vom andern zu reden und erzählte Heinz von Berni Bärs Besuch.
„Vater,“ sagte Heinz. „Daß du's ein für allemal weißt: Ich lasse dich nicht mehr unter
meinem Dach
Hans Tillmann lächelte leise. „Gelt,“ antwortete er, „das wär' dir wohl unangenehm, wenn ich den armen Teufeln da draußen ein wenig mit Rat an die Hanod ginge ?“
Das Dunkel hinderte Heinz, den forschenden Blick seines Vaters zu sehen, und doch fühlte er ihn. „Unangenehmt ... ja, es wär' mir unangenehm, nicht weil ich den Arbeitern ihr Bestes mißgönnte; aber es würde ganz krumm ausgelegt, wenn du dich in ihre Angelegenheiten mischtest. Es ist nämlich eine Lohnbewegung im Gang. Von Bern aus ist geguselt worden.Und wenn man nun gerade gleichzeitig mit dieser Treiberei dein Hiersein entdeckt, so lkönnte sehr leicht der Verdacht entstehen, 0 u seiest der Aufwiegler.“
Hans Tillmann legte begütigend seine schwere Hand auf des Sohnes Arm. „Sei nur ruhig, Heinz. Wenn ich überzeugt wäre, daß mit den paar Rappen höhern
Lohnes einem Menschen wahrhaft geholfen wäre, du würdest mich mit keinem Mittel hindern, dafür zu kämpfen. Aber ich habe Lebens zuviel hinter mir, um noch an das Glück zu glauben. Nein, ich werde dir das nicht zuleide tun. Will mich still halten und den LTeuten fern bleiben. Da hast du meine Hand örauf.“
Im Morgengrauen klirrten auf den Granitblöcken des Gertengrates Pickelzwingen. Schuhnägel kreischten leise. Zwei Gestalten stiegen schweigsam in dichtem Nebel von Stufe zu Stufe, die eine bepackt, groß,mächtig, die andere schlank und elastisch. Stundenlang währte der langsame Aufstieg, ohne daß ein anderes Geräusch laut geworden wäre als das Klirren der Pickel. Einmal nur drang aus dem grauen Geröll das Schnarren eines Schneehuhns, ein andermal aus ferner Tiefe das dumpfe Krachen eines Eisbruches. Auch das Rauschen des Tales war zurückgeblieben, verschollen.Es herrschte das große Schweigen der Höhe.
Aber nicht bloß die feierliche Stille der Umgebung und die Notwendigteit auf ihre Füße zu
achten benahmen den Wanderern das Wort. Beide wußten, daß sie einer großen Stunde
entgegengingen, die sie herbeigesehnt und nun doch fürchteten. Ihre Herzen arbeiteten
schwer, ihre Gedanken eilten durch dunkle Strecken zurück und voraus, wie die Bergdohlen,
die zu ihren Seiten über den nebelerfüllten Abgründen kreisten. Unablässig verfolgte Heinz
des Vaters Wort, daß er sich durch nichts hindern ließe, den Arbeitern kämpfend
beizustehen. Dem VBater stand die eigene Überzeugung im Wege. Ihn aber, Heinz, was
hinderte ihn, Wort zu halten und dem treu zu bleiben, was er sich und im Stillen seinen
Mitmenschen gelobt? Es war ihm, als stiege er mit jeder Felsstufe, die sein Fuß
überwand,tiefer hinein in die Ertenntnis, daß er sich losreißen
Die Dämmerung lichtete sich. Die Nebel ballten sich in der Tiefe zu wolligen Strõmen und Strängen. Die Schatten der Schluchten gingen aus dem Blauschwarzen in tiefes Violett über, die Felshänge jenseits der Kalten Ruhse rõoteten sich leise, und die zwischen den niederwärts sich verzweigenden Gräten eingebetteten Gletscherzungen schimmerten wie mattes Golo. Der Himmel begann zu blauen. Die Sterne erloschen, und auf einmal standen rings herum die Felsgipfel kupferrot. Eine Fülle von Farbentsnen, die in Ewigkeit keines Menschen Zunge benennen wirod, hauchte die starren Wände an und floß wie ein seliges Wohlbehagen über die Firnen.Mit dem dumpfen Brüllen ihrer tausendjährigen grünschillernden Kehlen jauchzten die Gletscher der aufgehenden Sonne zu. Feuersprühendes Glatteis klirrte von den aufatmenden Platten los und verklingelte niederrieselnd im Widerhall frohlockender Wasserstürze.Und üüber das Gipfelheer breitete sich die weltferne Gottesstille.
Staunend betraten die Wanderer den Firnkamm,der sie bis jetzt vom Tage geschieden.
Sentrecht zu ihren Füßen lag das breitgerissene Ruhsetal. Heinz Tillmann war tief
ergriffen. Bergandacht legte sich auf seine Seele.Aber nun erst drohten ihm in Bangnis und
Wonne die Pulse zu sterben, als er gewahr wurde, welches Wunder ihm die Sonne in seiner
Begleiterin enthüllt von Tavel, Heinz Tillmann. 25
Beiden waren ob der Schönheit des Augenblickes die trüben Gedanken verflogen. Aber Heinz hörte, als er Antoinette den Labetrunk aus seiner Feloflasche reichte, ein Raunen: „Du bist ein verlorener Mann.“
„Nein,“ schwur er sich, „bei meiner Seele Seligkeit und all dieser Gottesoffenbarung
nein, ich will und werde nicht unterliegen. Mit grimmer Wucht faßte er den Pickel zum
Weitermarsch. Er wollte ihr den Vortritt lassen, um sie beim Passieren der
wächtenbewehrten Firnschneide unter den Augen zu haben; aber sie wies ihn voran. Er gab
nach. Doch mußte sie sich's angesichts der trügerischen Wächten gefallen lassen, daß er
sich mit ihr ans Seil band. Es bedurfte weniger Worte;die Augen einigten sich auf die
Losung: beide zum Leben oder beide in den Tod. Und so stapften sie zwischen Himmel und
Erde zwischen Freude und Qual dem Gipfel entgegen. Der Gang erforderte alle
Aufmerksamkeit. Das war die Gratwanderung, wie sie heiden oft vorgeschwebt hatte. Wieder
und wieder riefen sie sich das ins Bewußtsein, um die Seligkeit solch symbolischen Tuns
voll auszukosten. Den Schatten aber,welcher der willkürlichen Erfüllung des Traumes
folgte,
Der Proviant war verzehrt. Man blickte, staunte und träumte, und die Herzen klopften
ihnen zuweilen,daß sie glaubten, es müßten darob Steinchen und Sand ins Kieseln geraten.
Antoinette saß aufrecht in der Wohlanständigkeit, die ihr in Fleisch und Blut lag.Heinz
hatte sich in eine Felskehle hingelegt und stocherte mit seinem Sackmesser in einer
Steinritze herum. Ohne aufzusehen, fing er mit leise bebender Stimme an:„Antoinette, nun
haben wir endlich die Distanz von Gaffern und Lauschern gewonnen, die uns nottat.
8
Jetzt tann ich's Ihnen bekennen: Ich muß einen andern Weg einschlagen, wenn ich auch in meines Lebens Bergwanderung den Gipfel erreichen soll. Ich habe doch eigentlich etwas anderes gewollt. Die nach uns schreien,tommen nicht zu ihrem Recht, wenn wir ... wenn wir uns nicht trennen. Es ist bitter; aber mir scheint.Gott habe es nicht gewollt, daß ...“
Heinz brach ab. Eine rasche Bewegung Antoinettes zwang ihn, hinzusehen. Sie hatte ihr Taschentuch aus den Falten des Kleides gesucht. Auch jetzt noch saß sie in königlicher Haltung da und blickte erhobenen Hauptes in die Ferne; aber die Tränen liefen unaufhaltsam uüber ihre ringenden Züge. Wenn er's noch nicht gewußt hätte, jetzt gab es keinen Zweifel mehr. Antoinette liebte ihn.
„Wir wollen uns aufmachen,“ sagte Heinz, „wollen tapfer sein und ...“
„Ja,“ unterbrach ihn Antoinette, „wir wollen tapfer sein. Aber sagen Sie nicht, Gott habe es so gefügt. Nein, es war nicht Gott. Ich bin's, Heinz, meine Corheit. Mein Kleinglaube hat mich irregeführt. Weil Sie Ihrem Vater das Opfer des Berufs brachten, glaubte ich damals, meinen Eltern ein gleiches bringen zu müssen, ein Opfer, das nie und nimmer hätte geschehen sollen.“
„Ich habe Sie irregeführt und werde das zeitlebens büßen.“
„Nein, Heinz, sagen Sie das nicht! Sie erwürgen
„Ihr Opfer wurde reinen Herzens gebracht.“
„Sie sollten eher sagen: in frommer Torheit. Oder ich würde besser tun, noch aufrichtiger zu bekennen: ich habe es gar nicht gebracht, das Opfer. Ich habe nur gehandelt, als hätte ich's gebracht.“
In tiefster Verwirrung starrte Heinz auf Antoinette.Als hätte er selber gar nichts mehr zu sagen, so fühlte er zwei Mächte in sich ringen. Mit dem Sturme glühender Leidenschaft drängte es ihn, sich auf die Gefährtin zu werfen und sie an sein Herz zu reißen.Aber noch bändigte ihn die vornehme Haltung Antoinettes. Sie mochte etwas fühlen von dem Ansturm,der ihn bedrohte. Abweisend, fast zornig, begegnete ihr Blick dem seinigen; aber nicht Sieg, sondern heißes Ringen verriet er.
Heinz hatte auf einen Augenblick Besinnung gewonnen. Wie in einem Krampf klammerte sich seine rechte Hand in das scharfkantige Gestein, so daß seine vom Klettern geritzten Finger ihn schmerzten. Die letzte Widerstanoskraft sammelnd, versuchte er's noch einmal mit seinem Entschluß: „Noch ist es nicht zu spät, Antoinette, von uns zu werfen, was unserem Teben die Lauterkeit genommen hat.“
Da schoß sie auf. Ein heiß schmerzlicher Laut entrang sich ihrer Kehle. Das edle Haupt in
den Nacken werfeno, trat sie einen Schritt vor, hart an den Ab
Ein schauerlicher Gedanke riß Heinz auf. In einem Sprung stand er an ihrer Seite und faßte mit derber Faust in die Falten ihres Kleides. In rascher Wendung riß Antoinette sich los. Seinen angstvollen Blick beantwortete sie mit einem stolzen Lächeln, als wollte sie sagen: Was traust du mir zu!
Dann aber ließ sie es geschehen, daß Heinz sie in die Arme zog, sie umschlang, wie ein Kind, das er dem Tod entrissen, und sie mit Inbrunst küßte.
„Heinz, Heinz, was tun Sie!“ wehrte sie unter Tränen. Aber ihr Halt war gebrochen.
UÜbler der Bergwelt brütete die Stille des Mittags.Die Gletscher und Schneerinnen flimmerten. Aber den beiden Wanderern war etwas erloschen. Bald legte sich ihnen eine seltsame Winostille ums Herz, bald flackerte Leidenschaft in ihrer Seele auf. Als sie zum Abstieg sich rüsteten, war es Heinz, als hätte der Himmel sich uberzogen, und doch wölbte er sich in lichter Bläue uber ihnen. Heinz wußte, was diese Täuschung bedeutete.Er war an seines Kameraden Weib verloren, war für seinen Beruf, um den er so viel gelitten, verloren. Als er sich oben im Schlunde des Kamins verstemmte und das Seil, an dem sie hinunterkletterte, bremsend durch die Hände gleiten ließ, beschlich ihn einen Augen
4 blick der Wunsch, sie möchte ausgleiten, dann wäre es um sie beide geschehen, und alles weitere Unheil wäre abgeschnitten. Aber er wußte ganz genau, daß ihm weder Hände noch Füße versagen würden, daß er sie hielte, ob er's wollte oder nicht. Und seine Augen konnten nicht mehr lassen von der anmutigen Gestalt,jetzt am allerwenigsten, wo ihr herrliches Ebenmaß in allen Bewegungen zur Geltung kam. Sie kletterte nicht mühselig und anstandslos wie eine Hüttenbummlerin.
Immer deutlicher trat es vor ihn, daß er nimmermehr von ihr lassen konnte. Zuweilen wurde ihm schwarz vor den Augen. Daß doch ein Stein sich seiner erbarmte, ihn erschlüge, daß er in ihren Armen sterben könnte! Je näher der Talgrund ihnen entgegenrückte,desto furchtbarer erschien ihm alles Kommende. Was sollte er noch da unten? Bis heute hatte er sich zurechtgeredet, wenn ihm seine Liebe zu Antoinette zu einem Hemmnis für seine soziale Mission an den Arbeitern werden sollte, so würde er schlechthin den Kampf gegen die Sünde aufnehmen und das Evangelium von der Erlösung verkündigen. Und nun? Wie sollte er den Vorkämpfer wider die Sünde spielen? Wie ein kreuzlahmer Hund, der mit zwei Pfoten seinen siechen Leib zur Futterschüssel schleppt, kam er sich vor.
Ohne ein Wort zu verlieren, überquerten sie den Gertengletscher. Schweigsam trotteten sie an der Klubhütte auf dem Achsnollen vorüber.
Mitten auf der einsamen, mutz abgeweideten Nollen
„Heinz,“ sagte sie plötzlich, „nicht verzagent Wir wollen dem, der unsre Herzen füreinander schuf, vertrauen. Er wird uns unsern Weg finden lassen. Sollten wirs nicht fertig bringen, in Freundschaft nebeneinander herzugehen ?
Aufs neue betört, zog Heinz sie abermals an sich und küßte sie in Verehrung auf die Stirne, und da er sie in seinen Armen fühlte, konnte er's nicht lassen und küßte sie auch auf Mund und Wangen. Nun riß sie sich los und sagte: „Laß Heinz, jetzt erst beginnt der schwierige Teil unsrer Gratwanderung. Auf Seillänge Distanz genommen, mit straffem Seil!“
Das müdungläubige Lächeln, mit dem Heinz die Parole beantwortete, brachte ihr Antlitz in zornige Glut. „Heinz!“ rief sie und bedeutete ihm vor ihr her zu gehen. Nach ein paar Schritten wandte er sich zögernd um:
„Soll ich dich allein gehen lassen und über die Achsenalp heimkehren?“
„Wähle, welchen Weg du willst!“ trotzte sie, „ich
8*werde mit dir ins Dorf gehen. Ich wüßte nicht, wem wir die Stirne nicht bieten sollten.“
Alein sind die Fensterchen an den schwarzbraunen Häusern des Ruhsetals und mit mancherlei Maienstöcklein verdeckt. Aber kleine Fenster, böse Mäuler. Als Peter Ganodegger den Pfarrer und des Ingenieurs Frau mit Pickel und Seil vorüberwandern sah, sagte er zu seiner Frau: „Die hei eppen wohl denen Murmellen vorem Ynschlafen no os Paradies uf Ärden verchündiget.“
Sonst aber hatte niemand acht auf die Heimkehrenden.War diesen auf dem Abstieg nicht aufgefallen, daß zur gewohnten Stunde die Sprengschüsse ausgeblieben, so fiel es ihnen jetzt ein, da sie beim Wirtshaus und an andern Stellen die Arbeiter in großer Menge herumstehen sahen. Und doch liefen erst die Spitzen der Nachmittagsschatten über die schäumende KRuhse.
Gegenüber dem Wirtshaus hockte eine lange Reihe von einheimischen Arbeitern in trotzigem
Nichtstun auf der Kirchhofmauer, während draußen, gegen das Barackendorf hin, die
Italiener, in Gruppen stehenod,heftig aufeinander einredeten. Es sah unheimlich aus.Heinz
und Antoinette durchrieselte ein seltsamer Schauer.Ihren Worten weit voraus, hatten sich
ihre Blicke verständigt: Jetzt, sagten sie, ist der Augenblick da. Wie oft doch hatten sie
zusammen über die Not der Arbeiter gesprochen! Wie schön hatten sie sich im Entschluß
verstanden, gemeinsam für die Rechte der Armen einzu
Lieblich und einladend wie immer lachten die wettergebeizten Holzwände und der weißgetünchte Unterbau des Pfarrhauses den Gemeindehirten an. Die kleinen Fensier mit ihren Nelkenstöcken hießen den Heimkehrenden willkommen, und doch traf ihn aus ihrem tiefen Dunkel etwas wie der strafende Blick eines frommen Můtterleins.In wirren Gedanken betrat Heinz sein Haus. Er warf den Rucksack auf den Kuchentisch und fragte die alte Köchin nach dem Vater.
„Sie haben ihn heut mittag geholt, und seitdem ist er nicht wieder heimgekommen.“
„Wer?“
„Die Arbeiter.“
Heinz erschrack. „Was ist denn los?“ Er wartete keine Antwort ab, sondern lief, wie er
war, in seinen Codenkleidern und Gamaschen gegen das Barackenlager hinaus, wo die Arbeiter
in großer Menge müßig herumstanden. Halbwegs dorthin begegnete er dem Vater.Ohne ein Wort
zu verlieren, gingen sie beide ins Pfarrhaus zurück. Erst dort stellte Heinz den Alten zur
Rede:
„Wohl hab' ich,“ antwortete Hans Tillmann mit derbem Lachen. „Und nachgelaufen bin ich ihnen auch nicht. Aber, hol's der Kuckuck! Sie haben mich gefunden. Hier herausgeholt haben sie mich, als ob ich ihnen was schuldig wäre.“
Die Hände in den Rocktaschen, stand Tillmann in der Laube und blickte mit Kopfschütteln talwärts in die Ferne.
„Eigentlich,“ fuhr er fort, „müßtest du zufrieden sein mit mir, denn ich habe die Leute zur Vernunft gemahnt. Aber die Weit ist verschroben. Es ist einmal so hab's doch schon mehrmals erfahren wenn mal die Atmosphäre geladen ist, dann kann's hineinblasen in welcher Richtung es sei, das Wetter bricht los und schlägt ein, wo es will. Sagst du ihnen nein,so verstehen sie ja, sagst du ja, so hören sie nein. Ich kann nichts dafür.“
Mißtrauisch hielt Heinz den Blick auf seines Vaters Gesicht gerichtet. Hans Cillmann fühlte das. „Glaub mir's oder glaub' mir's nicht, Heinz, von der Leber weg hab' ich draußen bei den Baracken zu ihnen geredet. Aber probier's selber, wenn's einmal so weit ist.
Heute mittag hat die Unternehmung die Lohnerhöhung abgelehnt. Darauf ist die Nachmittagsschicht ausgeblieben.Die Rollbahnwagen haben sie umgeworfen und die Schmiedefeuer ausgehen lassen.“
Aber was wollten sie von dir, Vater ?“
Daß ich ihnen recht gebe. Da hab ich gesagt, was ich denke: „Kein verruchterer Wahn als der, die Menschen durch mehr Geld glücklicher machen zu wollen l
Ein erstaunter Blick seines Sohnes traf den Grautopf. „Ja,“ fuhr er fort und ballte beide Fäuste, „das ist so, das hab' ich am eigenen Leib erfahren. Glücklich ist der Gute, und durch alles Geld der Welt ist kein Abelwollender gut zu machen. Nicht die Armen allein müssen erlöst werden, Heinz, sondern vor allem die Vermögenden von ihrer Gelogier. Durch die Erlssung der Reichen allein ist dem Proletariat zu helfen.“
„Und das hast du ihnen gesagt 2“ Heinz lächelte.
„Ja, das hab ich.“
„Und was haben sie darauf geantwortet ?
„Bravo gebrüllt haben sie. Und dann hab ich weiter geredet: „Erlöst wird aber einer nicht dadurch, daß man ihn gewaltsam verhindert, seiner Gier zu frönen,sondern durch freiwilliges Begnügen.“
Immer mehr weiteten sich Heinzens Augen in Staunen.
„Und das sag' ich jetzt dir, Heinz“, ertklärte der Alte, „damit du verstehst, wie ich's
meine: frei macht nur der, welcher auf des Himmels Herrlichteit verzichtete, um in
Bettelarmut unter den Menschen zu leben und ihnen zu zeigen, wer glücklich ist. Aber das
ertrugen sie nicht, sie haben ihn umgebracht und werden
4*ihn doch nicht los. Gelt, Bub, das wundert dich,so was von deinem bösen Alten zu hören? Aber weißt,ein Leben wie das meine bringt schon einen Steifnackigen herum.“
„Ja. aber und nun? Was werden sie nun tun ?“
„Ei, was werden sie! Die sind nicht gescheiter als die hunderttausend andern. Fortfahren werden sie.Ihren Kopf durchsetzen werden sie und den Mord fort manchem der Daumen in die Hand fallen. Jeder neu in die Welt Tretende fängt wieder von vorne an. Für die Allgemeinheit fällt aus eines jeden Leben nur ein Sandksörnlein ab,aus jeder Generation eine Staubschicht. Tausend Jahre Schöpfergeduld braucht's für eine Steinlage. Aber einmal wächst es schon zur Kreuzblume hinauf. Nur wird das Ganze anders aussehen, als die Weltverbesserer es sich vorstellen. Baumeister wähnen sie zu sein und sind nur Gerüstpfuscher. Das Blut der Opfer ihres Sroßenwahns rinnt ihnen über die ungeschickten Hände.“
Selten noch hatte Heinz seinen Vater so gesprächig gesehen. Vor Jahren, in der Känelmatt, war Redseligkeit bei Hans CTillmann gewöhnlich ein schlechtes Zeichen gewesen; heute aber war sie nicht durch Alkohol geweckt. Er sprach wie Einer, der in verborgener TCiefe einen Schatz entdeckt hat, von dem er nicht länger schweigen kann. Über dem Nachsinnen vergaß Heinz das Antworten und brachte damit auch den Alten zum Schweigen. Tange noch saßen die beiden in der finstern
Caube, wo man nichts mehr horte als das ferne Cosen der Ruhse, die unterhalb des Dorfes mit ihren eisigen Wassermassen in eine Felsenkluft niederdonnert.
Antoinette hatte bei der Heimkehr ihre Wohnung leer gefunden. Das war freilich nichts
Ungewohntes.Marcel pflegte später heimzukommen. Hätten sich jetzt auch das alltägliche
Rollen der Schotterzüge, der Wioderhall der Sprengschüsse, das hundertfältige Klirren der
Pickel, das Scharren der Schaufeln in das Rauschen der Sturzbäche gemischt, so hätte
Antoinette trotz der Störung ihrer Herzensruhe sich der Erfrischung ihrer müden Glieder
hingeben und der Ruhe pflegen können.Aber die fiebernde Stille, welche sich um das Dorf
gelagert hatte, schreckte sie auf. Mit brennenden Füßen lief sie in den groben Bergschuhen
nach der Baustelle hinaus, wo Marcel in den letzten Tagen meist gearbeitet hatte. Aber
dort lag alles verlassen. Frau Deliere näherte sich einem Trupp Arbeiter, um sie zu
fragen, ob sie ihren Mann nirgends gesehen hätten.Es ward ihr aber weder Gruß noch Antwort
zuteil.Aur höhnische und erbitterte Gesichter begegneten ihr.Sie, deren Liebreiz und
Frauenwürde sonst jeden Mund und jede Türe öffneten, fühlte sich plötzlich inmitten dieser
Arbeiter, denen sie doch viel Gutes getan, vollkommen fremd, sa beinahe geächtet. In
dieses Unbe
Kaum witterte die Ringende einen Hauch der Be
Antoinette beugte sich aus dem Fenster. Er war es.Kein Zweifel. Gott sei Dank! Die herumschlendernden Arbeiter hatten sich verzogen, so daß Marcel die Dorfgasse leer fand und unbelästigt die Haustür erreichte,wo ihn seine Frau mit Ausrufen der Erleichterung empfing. Daß sie ihn trotzdem nicht küßte, wie sie es doch sonst bei jeder Heimkehr von längerem Ausgang zu tun pflegte, fiel ihm nicht auf, weil die Aufregung des Tages ihm noch zu tief in den Nerven saß. Bei dem Imbiß, der seiner unter der heimeligen Petrolhängelampe des Speisezimmers wartete, leistete Antoinette ihrem Manne Gesellschaft. Crotz ihrer Müdigkeit verlangte sie teilnehmend Auskunft über die Auflehnung der Arbeiter. Marcel erwartete nichts anderes von ihr. Daß Antoinette neben der Teilnahme an seinen Sorgen noch das Bedürfnis leiten könnte, ihn von Fragen nach dem Verlauf ihrer für eine Frau verwegenen Kletterfahrt abzulenken, kam ihm nicht in den Sinn. Das andere stand nun doch allzusehr im Vorodergrunde.
Nach der kurzen Mahlzeit drehte Marcel seinen Stuhl seitwärts, stützte den linken Ellbogen auf den Eßtisch und steckte sich eine Zigarrette an. Düster vor sich hinblickend, blies er die Rauchringel in den dämmerigen Raum. Dann richtete er sich plötzlich hoch auf:von Tavel, Heinz Tillmann. 26
„Antoinette, du könntest uns in der Sache einen wertvollen Dienst leisten.“
Antoinette blickte überrascht auf.
Weißt du, wer offenbar der böse Geist unserer Arbeiterschaft ist? Der alte Tillmann.“
„Du glaubst ?“
„Kein Zweifel. Bis vor wenigen Tagen war das Verhältnis zu den Arbeitern das beste, das man sich denken kann. Auch nicht das leiseste Anzeichen von Unzufriedenheit. Seitdem der alte Strolch da ist, mottet es überall.“
„Und du glaubst wirklich, er sei es, der ... B
„Was hat der Kerl hier zu tun?“
„Heinz hat ihn zu sich genommen. Das war ja schon lange sein Wunsch.“
„Catsache ist, daß der Alte mit den Arbeitern verkehrt. Und heute war er in den Baracken. Eine Rede gehalten hat er dort.“
Antoinette sann vor sich hin. „Daß der Mensch nicht von uns lassen kann!“ sagte sie halblaut. „Es ist, als ob er uns sein Leben lang auf den Fersen folgen müßte.“
„Er ist eben doch eine Verbrechernatur.“
„Aber, sag mir, Lieber, wie dentst du dir, daß ich euch dienlich sein könnte ?“
„Nun, du weißt, mit Polizeigewalt wegschaffen tönnen wir ja den Aufwiegler nicht. Es wäre
auch nicht klug. Aber Heinz ließe vielleicht mit sich reden.
Antoinette lehnte sich mit einem Seufzer zurück. Ihr Blick streifte durch das Fenster die Dorfgasse, in deren Abzweigung der steinerne Unterbau des Pfarrhauses im Monoschein schimmerte. In ihren Augen war freilich Hans Tillmann immer noch der rohe Geselle, an dessen Händen das Blut ihres Oheims klebte, der Mann, welcher die Herrlichteit von Prankenau zugrunde gerichtet, der brutale Mensch, der von seinem Sohn das Opfer des Berufes gefordert. Nein,sie hatte für ihn nichts übrig. Aber ins Pfarrhaus ging sie trotzdem nicht.
Marcel drängte nicht; doch fühlte Antoinette, daß er von ihr den gewünschten Dienst bestimmt erwartete.
„Es ist doch wohl besser, du sprechest selbst mit Heinz; aber ich will ihn rufen lassen und dir beistehen.“schlug sie vor.
„Warum nun auf einmal wagst ou nicht mehr,unter vier Augen mit deinem Freunde zu reden,
da du mir damit einen wichtigen Dienst leisten könntest? Antoinette schien etwas
Mißtrauisches in ihres Mannes Augen zu flackern, das sie bis jetzt noch nie bemerkt
hatte.„Gut“, sagte sie, „dir zulieb will ich's versuchen.“„Ich will dir nicht allzu
Schweres zumuten. Aber ich meine, von dir würde Heinz die Sache leichter annehmen kõnnen.
Gehst du nicht, so werde ich selbst mit
„Ich will's versuchen,“ antwortete Antoinette. „Bring ich ihn nicht dazu, so kannst du immer noch selbst an seine Freundschaft appellieren.“
„Es wäre sehr lieb von dir. Aber ..... es eilt. Magst du jetzt noch? Bist du nicht zu müde ?
„Ich bin müde, das ist wahr. Aber ich will's lieber jetzt noch wagen.“
Marcel nahm Antoinettes Kopf zwischen die Hände und küßte sie auf Stirn und Augen. Diese Augen waren es ja doch, diese wundervollen, welche von Heinz das Opfer verlangen würden. Dann ging er, um einen Boten ins Pfarrhaus zu senden, und zog sich auf sein Zimmer zurück, indes Antoinette in fieberiger Aufregung den Tisch abräumte.
Ihr drohte das Herz stillzustehen, als nach kaum einer Viertelstunde die hölzerne Creppe unter schweren Mannstritten ächzte. Man hatte Heinz, der im ersten Schlafe lag, rütteln und ihm in die Ohren schreien müssen, daß ihn des Ingenieurs Gattin sofort zu sprechen wünsche, so laut, daß es sein leicht schlafender Hater viel eher gehört hatte, als Heinz. Mit der ganzen
Müdigkeit des heimgekehrten Bergsteigers in den ungelenken Gliedern war er hinaufgestapft. Bange Aeugier schnürte dem Aufgeschreckten die Kehle und ließ ihn das Versagen seiner Leibeskräfte doppelt empfinden.
Aber nun war er wach, ganz, und trat gespannten Blickes in das Speisezimmer. Mußte er sich vor seinem Jugenofreunde rechtfertigen oder Antoinette in Schutz nehmen gegen ihn oder .....? Er fand sie allein.In einem Haustkleid, das auch die Umrisse ihrer Gestalt völlig verbarg, stand sie im schwachen Schein der Hängelampe.
Marcel hielt im anstoßenden Zimmer einen Augenblick den Atem an. Die Unterredung begann sehr leise.Er hörte, daß seine Frau den Herberufenen mit einer ihm neuen Bestimmtheit zum Sitzen aufforderte. Nach dem Schall der Stimmen zu schließen, kehrte Antoinette der Wand gegen Marcels Zimmer den Rücken. Sie sprach fast allein, ausgiebig und leise. Nach und nach nahm sie den Confall dringenden Bittens an. Heinz schien nicht zu antworten, denn nach jeder Pause vernahm Marcel immer wieder die Stimme seiner Frau. Endlich schien auch Heinz zu reden. Er sagte etwas von unbegründetem Verdacht, von Irrtum. Die folgenden Sätze Antoinettes beantwortete er nach und nach mit einer gewissen Energie. „Es fällt mir nicht leicht“, hörte Marcel ihn sagen, „ich habe lange genug an der Schmach getragen, daß ich meinem Vater nicht Heim noch Obdach zu bieten vermochte.“ Dann wieder:„Er ist aber nicht mehr wie ehedem. Was er mir genommen, steht er im Begriff, mir mit reichen Zinsen wiederzugeben.“
Antoinette hub wieder zu bitten an. Endlich ward
Die jäh ausbrechende Eifersucht verwürgend, ging Marcel lauten Schrittes zur Cüre und trat im Korridor dem zur Treppe schreitenden Pfarrer in den Weg.
„Willst du mir die Bitte erfüllen?“ fragte er mit erzwungener Ruhe.
„In der Erwartung“, antwortete Heinz, „daß du meinem Vater Gerechtigkeit widerfahren lässest, sobald du klar siehst.“
„Das werde ich auch“, versicherte Marcel, „aber ich glaube, das Opfer einer Täuschung seist eher du als ich. Ich habe deinen Vater mit eigenen Augen bei den Baracken gesehen, und ich habe den Beifall gehört,den er erntete.“
„Er hat sie zur Ruhe gemahnt.“
Marcel lachte häßlich auf. Aber um der Sache willen versagte er sich die höhnische Widerrede. die ihm auf der Zunge schwebte.
„Sie scheinen freilich meinen Vater nicht verstanden zu haben,“ ergänzte Heinz.
„Aber sag mir doch: Wie kommt überhaupt dein Vater dazu, in die Sache hineinzureden?“
„Die Teute haben ihn aus dem Pfarrhaus geholt,weil sie ihn für einen der ihrigen hielten.“
„Das ist sonderbar, bei dem Mißtrauen, das sonst die LTeute beherrscht.“
„Ich weiß es nicht. Vielleicht hat ihnen jemand geraten, meinen Vater beizuziehen, weil er sich in solchen Sachen auskennt. Mag sein, daß der eine oder andere Arbeiter ihn von früher her kannte.“
„Dann versteh' ich's erst recht nicht. Dein Vater war doch selber Unternehmer.“
„Ja, das war er. Das ist's vielleicht gerade. Die Leute kennen sein Schicksal. Des Lebens Mühsal hat ihren Fingerabdruck auf seiner Stirn zurückgelassen.Das weckt ihr Vertrauen. Und sein bißchen Italienisch,das gerade so schön langt zu ei nem gründlichen Mißverstehen ...“
Marcel lachte. „Also nicht wahr. Lassen wir's nun auch auf einen Irrtum meinerseits ankommen!“
Darauf reichten sie sich die Hand, und Heinz verließ das Haus. Marcel fühlte sich verpflichtet, seiner Frau den geleisteten Dienst durch irgend eine Zärtlichkeit zu verdanken; aber da war etwas in ihm, das ihn hinderte. Antoinette schien es zu fühlen, und so begaben sie sich schweigsamer als sonst zur Ruhe.
*
4 *Andern Tages schritten zwei Männer das Ruhsetal hinunter. Da die Poststraße schon im
vollen Sonnen
Da blieb Vater Tillmann, der voranging, stehn und blickte auf Heinz, der ihm den Rucksack trug, als wollte er ihn fragen: „Siehst du den da drüben?“
Froh über den Anlaß, endlich ein Wort reden zu können, sagte der junge Pfarrer, nachdem er das Wägelchen scharf ins Auge gefaßt: „Wenn das nicht Berni Bär ist ...!“
„Er ist's“, bestätigte der Vater. Was er weiter brummte, ging für Heinz im Rauschen des Flusses unter. Hans Tillmann sagte es auch mehr zu sich selbst: „Wenn der Teufel etwas anzettelt, so ist schon dafür gesorgt, daß es grad ganz krumm wird. Nun werden sie mir droben erst recht nicht mehr glauben.“
Es schien, als wollte er Heinz anreden, denn er tat einen Schritt näher zu ihm; aber plötzlich wanöte er sich wieder um und schritt kräftiger aus denn zuvor.
Als sie sich der Stelle näherten, wo der alte Saumweg mit der Straße zusammen in eine
Felsenklamm schlüpft, in der das Cosen des Flusses erst recht alles Reden zu eitlem
Bemühen macht, blieben beide, wie verabredet stehen, der Alte, weil er sich jetzt doch
noch etwas vom Herzen reden wollte, der Pfarrer, weil er dem Vater sagen mußte, daß ihm
Amtspflichten umzukehren geböten. „Also, Vater,“ sagte er, „wenn der Sturm sich gelegt
hat, hole ich dich wieder herauf, und unterdessen ...“ Er hielt plötzlich inne. Der Vater
hatte ihn derb an der Brust gefaßt und blickte ihm starr ins Gesicht. „Daß du's weißt“,
sagte er, „wenn sie dann kommen und sagen, ich sei von Bern hinauf geschickt worden: Der
Bär ist bei mir gewesen und hat mich dafür haben wollen, aber ich hab es ihm abgeschlagen.
Den Arbeitern helfen wollt· ich schon, aber nicht so. Diese sogenannten Führer trotten
allesamt hinter der Mammonshure her und sind um kein Haar besser als die verpönten
Kapitalisten. Die Rollen tauschen wollen sie nur, und dafür bin ich nicht zu haben. Aber
darum handelt sich's jetzt nicht.“ Derber noch faßte des Alten Faust in Heinzens Vock, als
er fortfuhr und in Kraft der Stimme mit dem zürnenden Fluß wetteiferte: „Heinz, Bubt du
bist nun wohl in Amt und Ehren, aber du bist nicht mehr der, der seinen
„Vater!“ Heinz suchte des Alten Hände von sich zu lösen; aber der ließ nicht ab, sondern fuhr zornglühend fort: „Und bist doch ein Priester Gottes. Ich sag' dir, kehr' um, bevor's zu spät ist. Das ist mein letztes Wort an dich. Denk dran!
Hans Tillmann schnallte sich den Rucksack um und wanote sich zum Gehen.
„Aber Vater ...“
„Dent an deine Mutter, Heinz!“
Das war sein letztes Wort, bevor er, rasch ausgreifend, in der Wölbung des Felsens verschwand.
Einen Augenblick besann sich Heinz, ob er dem Vater nachstürzen, ihn zur Umkehr bewegen sollte.Dann warf er sich, mit beiden Händen in den Haarschopf fassend, ins Gras. Aber Angst und Unruhe scheuchten ihn wieder auf. Wie ein Gehetzter lief er den Weg zurück.
Als er nach zwei Stunden hastigen Anstieges in
„Mit wem?“
„He, mit dem Oberingenieur, dem Delierre.“
„Was ist's mit dem ?“
„Erschlagen haben sie ihn.“
Heinz griff nach dem Treppengeländer. Was ?“keuchte er. „Ihr werdet mir doch nicht sagen ...“
Nun redeten mehrere auf den Pfarrer ein. Aus dem Gewirr klang immer wieder heraus: „Wäret ihr nur da gewesen, es wär' nicht geschehn.“
„Es ist Einer von Bern heraufgekommen, etwa vor einer Stunde. Aber es war schon zu spät. Der ist grad wieder weiter gereist, dem Paß zu.“
„Aber so sagt mir doch um Gotteswillen, wieso uno warum!“
Endlich kam der Gemeindepräsident wieder zum Wort: „Weiß nicht, wie das zuging. Aber heute morgen ist es wie ein Tauffeuer umgegangen, man habe Euren Vater fortgeschafft. Da hat's angefangen zu rumoren draußen bei den Baracken. Und als der Herr
Delierre hinauf ging gegen den Galmiboden, haben sie ihm den Weg verlegt und verlangt, daß man den Vater Tillmann wieder herauf hole. Da ist er, scheint's, böse geworden und hat ihnen gesagt, es gehe sie nichts an,sie sollen sich an die Arbeit machen, eher rede er nicht mit ihnen. Als er weiter ging, ist ihm der Haufe nachgelaufen. Immer die Italiener voran. Und neben der Straße her und vor ihm her sind sie gelaufen, haben gebrüllt und gedroht. Da ist er zuletzt stehen geblieben und hat einen Revolver aus der Casche gezogen. Aber zum Schießen ist er nicht gekommen. Die Nächsten sind auseinandergefahren. Einer ist rücklings gestolpert und hingefallen. Da haben sie von hinten Steine nach dem Herrn geworfen, ganz grobe. Und da ist's geschehen.“
Heinz vergaß die Amtsgeschäfte, um deren willen er so eilig zurückgekehrt war. Er ließ die Leute stehn und rannte nach Delierres Wohnung. Man ließ den Pfarrer ohne weiteres eintreten. Behutsam stieg er die knarrende Treppe hinan. Lysolgeruch schlug ihm oben entgegen. Die Türe zum Schlafgemach war nur angelehnt. Heinz öffnete sie nur wenig und spähte, den Atem verhaltend, hinein. Den Verwundeten sah er nicht. Eben beugte sich der Arzt über ihn und entnahm einer Schale, die Antoinette ihm hinhielt, Wattepfropfen.Bett und Boden zeigten Blutspuren. All das nahm Heinz kaum bewußt in sich auf. Ihn bannte die Gestalt Antoinettes, die, in äußerster Spannung, einer
Marmorstatue gleich, dastand. Es war, als hätte das Furchtbare des Augenblicks ihre Schönheit noch gehoben. Nichts an ihr schien zu leben als die großen Augen, die des Arztes Hantierung verfolgten. Das leise Knarren der Tür hatte sie auf eines Atemzugs Länge abgelenkt, und da hatte der Blick aus den dunkelblauen Sternen Heinz getroffen. Dann hatten sie sich zur Decke gerichtet, um ihn alsbald unter schmerzlichem Zucken wieder zu treffen, groß und starr. Keine Silbe ward laut, aber die Blicke schrien ihn an: Hilf mir,denn du bist mitschuldig an diesem Blute. Du hast mich den Weg zu Gott leiten wollen, nun bahne mir ihn!
Den Fuß in diesen Raum zu setzen, däuchte Heinz ein Frevel. Er wußte, welche Hilfe er Antoinette schuldete. Aber hier konnte er sie nicht leisten. In die Stille seiner Kammer trieb es ihn. Teise wandte er sich ab und stieg die Treppe hinunter. Es kam ihm vor, als schlösse das sonst so trauliche Pfarrhaus vor ihm Fenster und Türen. Wie einer, der, die Augen bedeckend,in einen Kampf sich stürzt, rannte er hinein, warf die Türe hinter sich ins Schloß. Mitten in seiner Stube,wo der Mutter Bild hing, fiel er auf die Knie. „Und du bist doch ein Priester Gottes!“ schrie es aus ihm.„Mutter, Mutter, sieh mich nicht an!“
Heinz betete kein Wort; aber seine Seele lag mit der Not von oreißig harten Lebensfahren vor Gottes Thron hingeschüttet.
Als die Nacht hereinbrach, wurde an die Haustüre geklopft. Durch das offene Fenster hörte Heinz, wie eine Mannsstimme der Magd trocken mitteilte, Herr Delierre sei soeben gestorben, der Herr Pfarrer möchte hinauf gehen, um das Nötige mit der Familie abzureden.
Bald darauf gab Heinz dem Sigristen einen Brief an Frau Delierre. Dann fah man den Pfarrer ohne Bergausrüstung den Weg nach der AchsnollenHütte einschlagen.
XXI.Marcel Delierre lag im Todesschlummer, hingestreckt mitten in seinem klug und kraftvoll geleiteten Tebenswerk, als Teiche noch achtunggebietend. Ein treuer Arbeitskamerad hatte soeben die Ehrenwache bei ihm angetreten und lauschte gesenkten Hauptes dem Nachtsang der fernen Wasser. Antoinette hatte sich zurückgezogen. In tiefster Einsamkeit lehnte sie am Fensterpfosten ihres Zimmers. Noch hielt ihre Hand den zerknitterten Briefbogen, auf dem zu lesen stand: „Ich bin deines Blickes nicht mehr wert. Laß einen andern den Freund begraben, dem ich das Beste geraubt. Ich will dort meine Sühne suchen, wo ich mein Unrecht Cat werden ließ. Lebe wohl.“
Das finstere Gewölbe des Leides war über ihrem Haupte geschlossen. Sie begehrte nach
keinem Licht mehr,
Lange währte es, bis sie sich wieder bewegte. Lautlos schritt sie hinüber. Unbeweglich stand sie am Tager ihres Lebensgefährten, als suchte sie in den erstarrten Zügen zu lesen. Der Wachende verließ das Zimmer. Als er nach einiger Zeit wieder einen Blick hineinwarf, sah er im flackernden Licht der Kerze Antoinette vor dem Bette knien. Sie legte des Toten Hände, die sie an ihre Lippen gezogen hatte, wieder ineinander. Einen Augenblick noch ließ sie ihren Blick auf dem Entschlafenen ruhen, dann wich sie rückwärts der Türe zu, den Blick starr nach dem fahlen Gesicht gerichtet. Plötzlich war sie verschwunden. Der Wachende trat ein. Er horte einige rasche Schritte im Nebenzimmer, dann im Korridor, und dann waro es still.
Stiller noch war es droben, auf der Nollenalp, wo nicht einmal mehr das Rieseln der
Wasser zu hören war. Über einer zwischen schwarzen Felsmassen ausgespannten, frischen
Schneedecke flimmerte in der verschwenderischen Pracht des Hochgebirgshimmels das
unabsehbare Heer der Sterne, da und dort von einer
In dieser Verlassenheit suchte eine mühsam schreitende Frauengestalt die Stufen, welche in langer Reihe den sanftgeneigten Firn. durchquerten. Mehrmals sank sie hin. Mit dem Rest ihrer Kraft raffte sie sich immer wieder auf. Wie fern ist doch der erbarmende Cod!Mehr als einmal beschlich sie die Versuchung, sich auf die matt schimmernde Decke hinzulegen und sich dem zu überlassen, der so jäh ihr gefährdetes Glück zerbrochen, noch ehe sie Zeit zu seiner Rettung gefunden.Aber zuvor noch mußte sie wissen, durch welche Pforte ihr Freund in die Vergessenheit gegangen. Plötzlich sah sie in der Ferne ein mattes Lichtlein. Das konnte kein Stern sein, es lag zu tief. Ob er in der Hütte geblieben? Die Möglichkeit, ihn lebend zu finden,spornte ihre schwindende Kraft.
Bald darauf war Heinz, er höre Tritte auf dem Geröll vor der Hütte. Im ausflutenden Lichtschein sank, dicht vor der aufgerissenen Cüre, Antoinette auf die rohbehauenen Steinplatten. Ein Schrei der Erlösung entrang sich der Brust des Entflohenen. Rasch hob er die Erschöpfte in seine Arme und trug sie in die Hütte.
Auf die Pritsche hingestreckt, hauchte sie: „Heinz ...Heinz, nimm mich mit. Ich ertrage es nicht.“
„Nein,“ sagte er sanft, doch sicher. „Wir kehren an der Schwelle um.“
Ihre Augen weiteten sich zu staunender Frage.
„Ich habe den Tod gesucht und habe das Leben gefunden,“ fuhr Heinz fort. „Auf dem Wege zu den unergründlichen blauen Tiefen ist mir meine Mutter begegnet.“
„Deine Mutter ?“
„Die Sterne, die herrlichen, haben nicht abgelassen,meine Blicke auf sich zu ziehen. Da ist ein Abend aus der schlummernden Ciefe meines Geoächtnisses heraufgezogen, jener Abend, der uns zusammengeführt. Da haben die Sterne auch so wundervoll geschienen, und der Mutter Freude darüber ist mir in der Seele geblieben.“
Heinz!“
„Erinnerst du dich des Abenos, da sie im Schlosse das Lied gesungen haben von den goldenen Gassen, das seltsame? Mein Leben lang hat es in mir fortgeklungen.Aber das Brausen der Welit hat es übertsnt. Jetzt erst,in dieser heiligen Stille, ist es wieder laut geworden und klingt, klingt ... Antoinette, hörst du es nicht?Ich muß dir's sagen, was ich höre, muß dir zeigen,was mir aufgegangen.“
Antoinette blickte starr nach der Glutpforte des kleinen Hüttenherdes. Erschauernd sagte sie tonlos vor sich her: „Ich höre nur Seufzen, Stöhnen, Röcheln.“
Heinz legte ihr eine Wolldecke um die zitternden Schultern und schob Holz in den Ofen. Dann setzte er sich neben Antoinette, die, an einen Pfosten gelehnt,unverwanodt in das aufprasselnde Feuer blickte.von Tavel, Heinz Tillmann.27
„Ich weiß jetzt, was uns irregeführt hat, es ist der Irrtum aller Menschen und die Wurzel all unserer Not. Wir haben das Sehnen unsrer Herzen nicht verstanden, wir sind ihm nicht gefolgt in die goldnen Gassen der Stadt Gottes. Denn, weißt du, dorthin zieht die Sehnsucht, die aller Menschen treibende Kraft ist. Und weil sie ihr Gewalt antun und ihr Verwesliches in den Weg legen, geraten sie wider einander in Neid und Streit.“
„Ach, Heinz, das törichte Sehnen nach dem ewig Unerreichbaren, das uns quält und martert, weil unsre Fuße doch nie hinüberkommen.“
„Die Stadt Gottes schwebt nicht auf flüchtigen Wolken, nicht in blauer Zukunft, sie ragt mit all ihrer Herrlichteit herein in unser armes vergängliches Leben.Wir stehen vor ihren Pforten und wagen nur nicht hineinzugehen, weil uns Coren vor ihrer Reinheit graut ünd weil wir uns nicht entschließen können, die Lumpen abzuwerfen, mit denen wir das Gsottliche in uns vermummen.“
„Laß doch die unmöglichen, unverständlichen Wahngebilde denen, welche sie in Verzückung des Geistes gesehen zu haben wähnten. Ich habe es, wenn ich ehrlich sein will, nie verstanden und werde es nie verstehen. Wie sollen wir uns nur eine Stadt vorstellen,die gleich hoch, wie lang und breit ist ?*
Das ist bloß der Ausdruck für die Vollkommenheit ihres Baues. Aber laß die Bilder, die
für den
„Blick einmal zurück auf unser Leben, wie es verlaufen ist und wie es geworden wäre, wenn
wir es in Lauterkeit gelebt hätten. Wäre mein Vater so tief zu Fall gekommen, wenn er
gegen sich und andere lauter geblieben wäre? Hätte ich meine Mission an den Arbeitern
verleugnet, hätte ich dein Glück zerstört,wenn meine Seele lauter geblieben wäre? Ich habe
den goldnen Gassen, in die ich andere weisen wollte,selber den Rücken gekehrt. Wäre ich
lauter gewesen,gegen mich und andere, wie meine Mutter es gewesen ist, nie hätte ich
solches Unheil heraufbeschworen. Sieh,das ist es ja, warum die ewige Stadt keinen Tempel
und kein Licht, weder Sonne noch Mond braucht. Gott wohnt in den lautern Menschen. Er ist
die Wahrheit ihres Wesens und Wandels. Darum sind dort die Kleinen groß, und es bedarf
keiner Firsterne noch CTrabanten.Glücklich, wem die Augen aufgegangen sind! Der sieht,
„Heinz, Heinz! Wir aber sind verdorben und liegen im Elend vor den Toren. Wer gibt uns die goldene Tauterkeit wieder ?“
„Vergiß nicht. Zwölf Tore sinds, nach jeder Himmelsrichtung drei. In heiliger Zahl stehen sie allen Völkern und Richtungen offen. Sie stehen ununterbrochen offen allen, die Verlangen nach den goldnen Gassen tragen.Aber siehe, wie fein! Ein jeglich Tor besteht aus einer einzigen Perle. Was sind die Perlen? Das schmerzgeborne Erzeugnis einer Wunde des Muscheltieres, das in der dunklen Tiefe lebt, das edle reine, sanft schimmernde Erzeugnis eines Herzeleides. Selig sind die Zerbrochenen,denn sie werden vollkommen sein in der Stadt Gottes.“
„Heinz, Heinzt Führe mich durch das Tor meines Schmerzes.“ Antoinette lehnte ihr Haupt an des Freundes Schulter. Tränen lösten sich labend aus ihren brennenden Augen und glitzerten über Heinzens Kleid nieder. „Warum mußten wir in die Irre gehn, Heinz?Wir hatten uns doch auf das Gute verbunden.“
„Weil wir uns nicht im Spiegel der göttlichen Lauterkeit prüften. Die sich im
Verweslichen suchen,finden sich im Verderben. Wir meinten das Gute zu wollen, aber wir
wandelten nicht in goldenen Gassen.Aun die Schranke gefallen ist, die uns trennte, solange
wir im Verweslichen uns suchten, laß uns aufeinander
„Ewig eins.“ Antoinette hüllte sich tiefer ein. Sie erschauerte trotz des Feuers. Aber aus ihren Augen leuchtete neues Leben.
„Brechen wir auf!“ sagte Heinz, die Glut des Ofens löschend. Noch haben wir ein gefährlich Stück Weges durch die Nacht. Aber der Tag soll uns bei der Pflicht finden. Du, gehe hin und gib der Erde, was von ihr genommen ist. Hinfür aber laß uns in Tauterkeit die Liebe Gottes kundtun. Ich weiß nun auch, was ich denen zu sagen habe, die mir anvertraut sind. Nicht mehr Kampf um Brot, Recht und Freiheit ist meine Losung, sondern offene Bahn zum LTeben in goldenen Gassen.“
„Laß mich's noch einmal hören, das Lied, damit es mir fortklinge als der Nachhall unserer zerbrochenen Liebe?Leise hub Heinz vor dem Abmarsch zu singen an,und bald klang es zweistimmig über das nächtliche Firnfeld:Ich bin zufrieden,
Daß ich die Stadt gesehn,
Und ohn Ermüden
Will ich ihr näher gehn
Und ihre hellen, gold'nen Gassen Lebenslang nicht aus den Augen lassen.
Der Himmel lichtete sich kaum merklich über den duntlen Zinnen der gegenüberliegenden Berge, und im Rauschen der Bäche schlummerte das Tal mit all seinem Leid, als Heinz sich von Antoinette verabschiedete. Er wandte sich talwärts, seinen Vater zu suchen.
Noch lag Morgenfrische auf Fels und Busch, als er nach mehrstündigem Marsch den Rücken des Bolgen erreichte. Wie staunte er, als er an der Stelle,wo er einst den ersten Blick in das Ruhsetal getan,seinem Vater begegnete!
„Ich wußte, daß du kommen würdest,“ antwortete der Alie auf seine Überraschung. „Ich habe mir vorgenommen, täglich hieher zu kommen, um dir meine Arme, die du doch wohl noch brauchen kannst, zu öffnen.“
„Vater, Vater, kannst du mir vergeben?“ Heinz hatte sich seinem Vater um den Hals geworfen. Nicht er vergoß Tränen, sondern der alte, in Leid und Sorgen hart gewordene Mann. Es dauerte ein Weilchen, bis er, aus der Umarmung des Sohnes sich lösend, es herausbrachte: „Hab' ich dir nicht gesagt, es werde noch Blut fließen? Hab' ich dich nicht vor dem Tillmann gewarnt?“
„Vater, vergib mir nur, so kann ich wieder zum Leben ausschreiten. Denn ich habe das
Leben entdeckt,wahrhaftig, erst jetzt, nachdem all mein Streben gecheitert ist. Gott hat
mir die Sehnsucht der Mutter offenbart, die große unverwesliche Kraft, die ich in ihrem
Schoße empfing. O Mutter, die Blume deiner
„Was hätte ich dir zu vergeben?“ antwortete der VDater. „Uns beiden hat die Liebe der
Mutter, die ich mit Füßen getreten, den Weg ins Leben gebahnt.“