Todesglocken. Eine Erzählung für das Schweizervolk nebst einer Standrede auf den Henker von Robert Weber: ELTeC Ausgabe Weber, Robert (1824-1896) ELTeC conversion Automatic Script 42 17730

2021-12-14

Transcription UB Basel Scan UB Basel Todesglocken. Eine Erzählung für das Schweizervolk nebst einer Standrede auf den Henker von Robert Weber Weber, Robert Druck und Verlag der Vereinsbuchdruckerei Basel 1879

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Toadesglocken.

Alle Rechte vorbehalten.Vorwort.

Als ich noch ein kleiner Knabe und die Stube meine einzige Welt war, da erzählte mir meine Mutter einst die Geschichte vom „armen Schweizerseppli“. Ich weiß nicht, ob sie von Christoph Schmid oder von unserm Vater Scheitlin herrührt; aber das weiß ich: die Geschichte des armen Knaben ergriff mich so im Innersten, daß ich eine lange Zeit einzig darin leibte und lebte. Die Mutter erzählte mir sie nur stückweise; jeder Tag brachte mir von dem armen Büblein, das arm und verlassen durch's Land lief, etwas Neues. Meine Phantasie war so rege und mein Gefühl so tief, daß ich heiße Thränen vergoß über das Schicksal des armen Schweizerseppli; ich fühlte mit ihm das traurige Verloren- und Verlassensein und schmiegte mich enger an das Herz der Mutter; ich hungerte in Gedanken mit ihm und bettelte mit ihm vor den Thüren der Menschen herum, ich lag mit ihm auf dem harten Stroh, auf das ihn ein mitleidiger Bauer gebettet, ich hatte eine unbeschreibliche Freude, als er Helfer fand in der Noth, und ich war über die Maßen glücklich, wie er selber, als ihm endlich die Sonne einer bessern Zukunft aufging. Die große Lehre aber dieser kleinen Geschichte,die Lehre vom Menschenleiden auf Erden und von der Menschenliebe, welche das Leiden mindert und besiegt, hat sich mit unverlöschlichen Zügen schon in dieser zarten Jugend in meine Seele eingeprägt!

Ein paar Jahre später, als ich im ersten Monat zur Schnle ging, daheim aber das Mütterchen immer um nene Geschichten plagte, da sagte die Gute:

„Du mußt jetzt fleißig sein und bald lesen lernen. Die Buchstaben habe ich dir ja zu Hause gelehrt und die Silben kaunst du alle auch schon anssprechen; du kommst jetzt schnell vorwärts und so bald du lesen kannst, kaufe ich dir ein schöues Buch, worin herrliche Geschichten stehen, die du dann alle selbst lesen darfst.“

*) Diese Erzählung wurde schon vor Jahren geschrieben. Sie erscheint hier aber vollstündig umgearbeitet, mit einem Vorwort versehen und mit neuen Motiven ausgerüstet, die ich zum Theil der jüngsten Diskusston über die Todesstrafe in den eidgenössischen Räthen und der einschlagenden Broschürenliteratur entnommen und verarbeitet habe. Die poetische Form mußte an mancher Stelle dem batriotischen Zweck geopfert werden; in der Republik darf die Kunst nicht Selbstzweck bleiben,hesonders wo es gilt, für große Wahrheiten einzustehen.

D. B.Wie aus den Wolken gefallen staunte ich die Mutter au. „Wer macht denn die Bücher?“ brach ich endlich aus meiner Verwunderung los.

„Siehst du dort jenen freundlichen Mann“, antwortete sie nach einigem Besinnen, „der zwischen den beiden andern Bildern an der Wand hängt?“

„Freilich, Mütterchen, aber er kann ja nicht laufen, er hat ja nur einen Kopf und ein Herz, aber keine Beine!“

Die Mutter lächelte. Dann sagte sie: „Bei den Menschen, mein Kind, kommt es immer mehr auf den Kopf und das Herz an, als auf die Beine. Darum malt man sie auch meist ohne Beine, besonders die, welche man Ursache hat als große und gute Menschen zu betrachten. Sieh', jener Mann war ein besonders weiser und edler Mann; er hat viele Bücher geschrieben, hat viele Herzen erfreut und ist ein rechter Lehrer für die Menschen in allen Ländern geworden.“

„Auch für die dort über dem Etzelberg und über dem Speer und dem Säntis?“

„Ja nud weiterhin, bis über das Meer.“

„Was ist das Meer, Mutter?“

„Ein großes, großes Wasser.“

„Größer als der Zürichsee ?“

„Viel tausend und tausend Mal größer.“

„Sind auch Fische darin?“

„Ja, so groß wie die Pappelbäume vor dem Haus.“

„Gibt's dort am Meer auch Menschen und lernen sie alle anch lesen und schreiben?“„Ja, das sollen alle Menschen, damit sie gut und einsichtig werden!“

„Und hat sie alle jener Mann dort an der Wand gelehrt?“

Die Mutter lächelte.

„Ach Mütterchen, du lachst immer; bin ich denn so dumm?“

„Nein, du bist nicht dumm, und wenn du brav nund fleißig bist, so magst du vielleicht einst auch die Lente lehren, wie jener Mann dort an der Wand.“

„Wie heißt er denn?“

„Heinrich Pestalozzi.“

„Pestalozzt? Das ist ein schöner Name, der gefällt mir.“

„Ja, und da fällt mir etwas ein von ihm ans seiner Jugendzeit, das will ich dir erzählen. Pestalozzi war ein sehr lieber Knabe. Als ihn seine Mutter einst sammt seinen Geschwistern malen lassen wollte, sagte der Kleine: „Ich will nicht bloß so leer auf einem Stuhl sitzend gemalt sein, sondern mit einem großen Haufen Bücher um mich herum.““

„Ach, Mütterchen, das ist schön; ich möchte auch so gemalt sein!“

Ein halbes Jahrhundert bald ist an mir vorübergezogen seit diesen Worten

Mütterchens, aber ihre Süßigkeit klingt mir heute noch im Ohr. Ich bin nie des mit, einem Haufen von Büchern um mich herum gemalt worden; aber ich stimme ein in die Worte des englischen Geschichtschreibers Macanley: Soweit ich zurückdenke,waren mir Bücher die besten Freunde; sie waren mir Trost im Unglück und Gesellschaft in der Einsamkeit; sie ersetzten wir in der Dürftigkeit den Reichthum, in der Verbannung das Vaterland, bewahrten mir inmitten von politischen Stürmen die Heiterkeit des Gemüths. Weder Vermögen noch Macht noch Raug würde ich tauschen für den Genuß, den mir meine Bücher dadurch gewähren, daß sie mir den Umgang DDDDD0Bahn zum Wahren, Guten und Schönen und mir das Vorrecht geben, zu verkehren mit dem Fernen und Unsichtbaren, mit dem Vergangenen und Znkünftigen!

Von den Lippen der Mutter empfing ich, wie ich eben erzählt, anch die erste Anregung zu meiner spätern Begeisterung für jene zweite große Lehre: Volksbildung ist Volksbefreiung, und je älter ich wurde, um so mehr ward mir die Pflicht klar, daß Jeder in seinem Kreise gehalten und verbunden ist, an sich selbst und an der geistigen Hebung des gesammten Volkes zu arbeiten. Menschenliebe und Bildung, Humanität und Aufklärung, das sind, nach der Auffassung der größten und edelsten Söhne unseres Landes, die Grund- und Ecksteine unsers Daseins, die Leitsterne unseres Staates, ohne welche wir der eigenen Vernichtung,dem wesenlosen Schattenlande zusteuern! Denn die Demokratie, wenn sie gedeihen und nach und nach ein Eigenthum aller Völker werden soll, stellt höhere Anforderungen, als jede andere Staatsform an den Menschen. „Sie ist sittenstreng, arbeitsam, fordert viel Tugend, schent den Lärm und verlangt zum Leben auch die Vertiefung des Geistes und der Seele, nicht bloß den öffentlichen Platz und das Wirthshaus.“Das Schweizervolk hat seit 1798 eine langsame geistige und politische Wiedergeburt erfahren. Es verdankt dieselbe hauptsächlich dem unter allen Stürmen und Gewittern nie ganz erloschenen Glauben an die hehren Ideale der Gerechtigkeit, der Bruderliebe, der allgemeinen Bildung. Er ist schön dieser Glaube, unsere Großväter hatten ihn noch, und er ist rührend ausgesprochen in Art. 4 der helvetischen Verfassung vom 12. April 1798, wo es heißt: „Die Auftärung ist dem Wohlstand vorzuziehen“, aber er ist uns heute, in der Zeit des herzlosen Manchesterthums,des heillosen Gründerschwindels und des frivolen Jagens nach bloßen Kenntnissen ohne sittliche Fertigkeiten, zu einem guten Theil ab Handen gekommen.

Es läßt sich nicht läugnen, daß in Folge davon eine gewisse Fänulniß, eine Zersetzung der gesunden Säfte im Organismus unseres Volkslebens begonnen hat.Aber was theils auf die schon genannten Ursachen, theils auf die lange Periode der geschäftlichen Krisis, auf den dadurch gesteigerten Nothstaud in allen europäischen nnd überseeischen Ländern und auf die großen sittenverwildernden Kriege, auf mangelhafte Erziehung und vernachlässigte Herzens- und Verstandesbildung der Einzelnen zurückzuführen ist, das werfen heute die Gegner der Demokratie, welche die ganze verschrobene Romantik des alten Patrizierthums wieder herauf zu beschwören hoffen, und mit ihnen die, welche in ihrer parlamentarischen Klugheit den Glauben au die Hochherzigkeit und die Einheit unseres Volkes verloren zu haben scheinen, den von uns mit der Muttermilch eingesogenen Prinzipien und Idealen der liberalen Republik vor! „Die Verbrechen“, rufen sie, haben furchtbar zugenommen.Daran trägt der „Humanitätsschwindel“, der „Aufklärungsdusel“ der Demokraten die Schuld. Es gibt kein anderes Mittel dagegen, als die Wiedereinführung der Todesstrafe. Das muthwillig weggeworfene Richtschwert soll der „Obrigkeit“ wieder in die Hände gedrückt und Volk und Land gerettet werden durch den Henker!“Die eidgenössischen Räthe haben in dieser Angelegenheit bereits gesprochen, aber in einer Weise, die es jedem Unbefangenen zur Pflicht macht, zur Belehrung des Volkes, das nun über diese hochwichtige Sache in nächster Zeit zur Abstimmung gerufen werden soll, sein Möglichstes beizutragen. Ich thne es meinerseits mit der oorliegenden Erzählung. Ich weiß nicht, welche Wirkung das schwache Wort eines Einzelnen hat; aber ich wünsche von ganzem Herzen, daß sich der Ausspruch unsers großen Geschichtsschreibers Joh. v. Müller bewähre: „Die Schweizer waren stets ein gutes und redliches Volk, am größten aber in großen Gefahren!“Und in einer großen Gefahr stehen wir gegenwärtig: in der Gefahr, die Ehre unsers Landes, den Ruhm unserer Geschichte und die Ideale der Zukunft zu verlieren!

Der Waldbenz und seine Mutter.

Ueber dem Bantiger graute der Morgen. Auf den Straßen, die von allen Seiten der Landschaft nach Bern führen, herrschte ein reges Leben. Allenthalben wirbelte von jenen zahllosen kleinen Fuhrwerken, auf denen die Landleute ihre Waare zum Verkauf bringen, ein dichter Staub empor. Es war heute nur ein gewöhnlicher Markttag; aber Feld und Wiese lagen zum ersten Mal unter einem wolkenlosen Himmel im Frühlingsschmuck vor aller Augen, der Wald hauchte seine Harzdüfte erfrischend in jede Brust, und Mancher, der seit Wochen die luftigen Arkaden der Hanptstadt nicht mehr gesehen, wurde vom schönen Wetter verlockt, die beschwerliche Feldarbeit zu Hause für dies Mal einzustellen. Als jetzt die Sonne ihre ersten Strahlen über die stahlblauen und grünen Bergrücken in die Welt hineinsandte und der goldene Tag die Herrlichkeit der jungen Saat enthüllte, da athmete manch' ein Menschenherz auf und wurde froh im Innersten, weil es nach den Täuschungen der vergangenen Jahre wieder einen reichen Ertrag an Banum und Feldfrüchten hoffen konnte. Sichtbar erheiterten diese Gedanken au eine sorgenfreie Zukunft hier das Gemüth eines schwachen, kranken Weibes, das die ersten Veilchen und Maiglöckchen in einem Korbe stundenweit zur Stadt trug; dort den gedrückten Geist eines weißhaarigen Alten, der sein mühsam zusammengelesenes Holz auf einem elenden Karren dem kanm stärker bemittelten Kunden zuschleppte. Im Ganzen aber schien der bunte Troß der meisten Landlente, die sich in der Frühe aus dem entlegenen Thal von Goldwyl zusammenfanden, doch nicht bloß von dem Eindruck der günstigen Witterung beherrscht zn werden. Wenigstens ertönte heute der fröhliche Jodler, oder ein weithinschallender Jauchzer aus ungeübter Kehle seltener, als sonst, aus den eifrig geführten Besprächen der Marktleute herans. Das hoffnungsreiche Anfwachen der Natur konnte auch nicht Ursache davon sein, daß die stämmigen, schwarzgebräunten Männer, ebenso wie die rothbackigen weiblichen Wagenlenker, so hitzig ihre Thiere antrieben, rechts und links ohne sich zu grüßen vorüberstoben und einander fast Rad und Achse abfuhren, um nur so bald als möglich die Wipfel der hundertjährigen Lindenbäume und den Münsterthurm in Sicht zu bekommen, der majestätisch über die Felsen der Plattform in die reine Luft dieses klaren Apriltages hineinragte.

In der That, etwas Anderes führte heute so vieles Volk zu Fuß und zu Wagen nach Bern. Es wurde der Menge wieder eines jener blutigen Schanspiele gegeben, die ihre dämonische Anziehungskraft auf die rohern und sinnlichern Naturen immer noch beibehalten haben, es fand eine Hinrichtung statt.

In dem mehrere Stunden von Bern entfernten Thale von Goldwyl war das Opfer geboren, das heut auf dem Richtplatz verbluten sollte. Es war ein noch junger Mann von zweiundzwanzig Jahren, den man in der ganzen Umgegend nur unter dem Namen „Waldbenz“ kannte. Die Geschichte des Unglücklichen fällt zusammen mit derjenigen aller Verbrecher überhaupt, von denen konstatirt ist, daß sie meist alle schon in ihrer frühen Kindheit die Mutter oder den Vater oder beide Eltern verloren, oder daß Vater oder Mutter oder beide Eltern Verbrecher oder Säufer oder sonst liederliche und verkommene oder geistig gestörte Menschen waren. Es ist traurig,aber die Anklage muß hente mit allem Nachdruck erhoben werden, daß die menschliche Gesellschaft selber durch ihre sträflichen Unterlassungssünden einen großen Theil der Verbrecher erzengt, welche ihre Sicherheit und ihre Existenz bedrohen, dieselbe Gesellschaft, die sich das Recht anmaßen will, einem Mitmenschen zur Sühne seines Verbrechens das Leben zu nehmen!

Schon die Mutter des Waldbenz verkam als ein Opfer der Schlechtigkeit des ersten Vorstehers von Goldwyl. Das Lisabethli war armer Leute Kind gewesen und früh ein Waislein geworden. Die Gemeinde hatte das Mödchen einer geringen Taunerfamilie übergeben, bei der es aufwuchs, ohne zu einer bestimmten Arbeit oder zu einem ausschließlichen Beruf angehalten zu werden. Für die Landarbeit taugte es nicht viel; nicht weil es faul war, aber es wurde auf dem Feld bei der kleinsten Anstrengung bald müde, obgleich es Backen hatte wie Rosen und aussah wie die Gesundheit selber. Es war eine schnell und hoch aufgeschossene Blume; als es unterwiesen wurde, ragte es um einen ganzen Kopf unter seinen Gespielinnen hervor.Dabei hatte es ein angenehmes, munteres Wesen; seine großen, dicken Zöpfe schlenkerten ihm anmuthig über den Rücken herunter und seine schwarzen Schlehenangen lugten klug und fröhlich in der weiten Welt herum.

Nun traf es sich, daß einige Wochen nach Ostern der Postbote der weit umherzerstreuten Gemeinde das Zeitliche segnete. Er war nicht mehr gnt herumgekommen,der alte Pandur; Viele hatten längst gemurrt über seine sprüchwörtlich gewordeue Langsamkeit und Saumseligkeit und es war ihnen recht, daß der Postdienst jetzt von jüngern Beinen besorgt werden sollte. Nun gab es wohl einige alte Bränzer, die sich darum bewarben; aber es konnte von diesen schlaffen, verserbelten Lumpen keine Rede sein und jüngere Bursche schämten sich, dazu sich herzugeben. Da kam der Tauner auf den Einfall, das Lisabethli könnte vielleicht den Dienst besorgen und damit ein hübsches Stück Geld verdienen; auf dem Feld könne man es doch nicht brauchen und man müsse ihm Zeit lassen, sich auszuwachsen, sonst habe es nächstens die Schwindsucht am Hals. Beim Botendienst könne es hübsch herumspazieren, das sei ihm gesund; auf den entlegenern Höfen erhalte es zu essen und zu trinken in Hülle und Fülle, dann sei zu Hause ein Maul weniger zu füttern nud das Kostgeld habe er dann halb umsonst; auch komme es so in der halben Welt herum und werde zuletzt eine lebendige Chronik, so daß das zu seinem fernern Glück vielleicht ein erster Schritt sei. Mit diesen Gedanken wanderte unser Taunerlein, ohne dem Lisabethli Etwas davon zu sagen, schnurstracks zum gestrengen Ammaun der Gemeinde.

„Er sei eigentlich noch etwas verwandt mit dem Lisabethli“, meinte der Ammann, „so aus der siebenten Suppe ein Tünklein; er wolle dem Kind nicht vor dem Brod sein; es sei hübsch und manierlich, fast wie ein Herrenkind aus der Stadt,und seinetwegen könne es die Stelle haben. Treu und verschwiegen werde es wohl auch sein, denn das gehöre dazu; es gebe Sachen, die nicht Jeder zu wissen brauche,und wenn man in alle Häuser komme, so sei es gar nicht nöthig, daß man Alles,was man sehe und höre, wieder regelmäßig herumsage.“

Der Tauner rühmte das Lisabethli gar hoch und auf den Antrag des Ammanus machte der Gemeinderath das achtzehnjährige Mädchen zur Bötin. Es vergingen aber nur ein paar Jahre, bis es, grundverdorben und durch die Schuld des genannten Vorstehers in's Unglück gestürzt, die Stelle, die es nie hätte antreten sollen, wieder verlor. Im Anfang machte sich Alles gut, denn das Lisabethli war ein gelenkes,windschnelles Ding, das seine Aufträge pünktlich ausrichtete. Mit der Sicherheit in seinen Verrichtungen und der Zufriedenheit der Leute stellte sich indessen bei ihm nach und nach ein gewisses Gefühl geistiger Ueberlegenheit über Seinesgleichen ein,während auf der andern Seite der ewig gleiche Lauf seiner Tagereisen ihm schon nach einigen Monaten langweilig vorkam und irgendwelche Zerstreuung forderte. So geschah es, daß sein Zünglein bald mehr als nöthig sich in Bewegung setzte und sich in der verschiedensten Beurtheilung der Dorfbewohner erging. Wenn es einen weiten Weg in einen der entlegeuern Höfe gemacht, setzten ihm die Leute fast regelmäßig ein Glas Brauntwein und Brod vor, wohl etwa auch ein Restchen von einem Schinken oder so Etwas. „Trink' nur“, hieß es dann, „und iß; du bist jetzt müd' und mast sauft; sei nicht so dumm und ruh' ein wenig aus, du hast ja nicht mehr viel Briefe in der Tasche und kommst wohl noch herum.“ Und daun wurde gefrägelt und geplandert und erzählt, daß es eine Art hatte. Nur leise, wie mit Sammetpfotchen wurden diese Unterhaltungsgegenstände aufäuglich berührt; aber je weiter man dieselben spann, je länger man sich kannte und je öfter man zusammen kam, um so gründlicher wurden sie verhandelt. Es konnte nicht fehlen, daß das Lisabethli nach kurzer Zeit wirklich die lebendige Chronik von Goldwyl wurde. Dabei gefiel ihm der Schnapps immer besser und ging ihm bald ein wie Wasser; es fühlte sich wohl und glücklich in der heitern Aufregung und rosigen Stimmung, die er ihm verschaffte, und bei dem spöttischen Muthwillen, womit er ihm die Zunge löste, so daß es auf Alles eine Antwort hatte und sie Keinem, der es foppen oder necken wollte, schuldig bleiben mußte.

Jedermann hatte zu dieser Frist noch das allezeit fröhliche Lisabethli gerne.Mauch kecker Bursche that ihm schön und suchte sich mit ihm einzulassen; aber das Meitschi lachte sie aus und ließ sie wieder laufen. Und doch ward immer mehr klar,daß der stets häufiger genossene Branntwein bei ihm in anzüglichen Redensarten und unbändigen Mauieren wie ein unheimliches Feuer emporflackerte und daß eine mächtig erwachte Sinnlichkeit verzehrend in seinem Innern brannte. Niemand hatte das so schnell heraus wie der Ammann von Goldwyl, der alte Sünder. Ein verschmitzter, hinterlistiger Kopf war er, das mußte ihm auch der Neid lassen. Schon vor zwanzig Jahren, als er noch Knecht beim alten Pfarrer war, hatte er ein Mädchen aus dem Dorf zum Opfer seiner Lüsternheit gemacht und war, da er es nicht heirathen wollte, nach Amerika ausgewandert. Nach längerer Zeit, als Gras über die Geschichte gewachsen war, kehrte er als ein geriebener Schlaukopf zurück und schwang sich langsam und auf Schleichwegen zu seiner jetzigen Stellung empor, heirathete eine wohlhabende Frau, die aber starb, nachdem sie ihm zwei Töchter geschenkt.Er war jetzt schon seit zehn Jahren Wittwer, besaß Haus und Hof und betrieb eine im Herbst und Winter sehr gangbare Wirthschaft, die aber im Sommer Tags über,hesonders zur Zeit der Heu- und Kornernte, leer stand und dann wie ausgestorben war. Da der briefliche Verkehr mit dem Ammann der Gemeinde einer der regsten im Dorfe war, so kam das Lisabethli natürlich alle Tage in's Haus. Es mußte alle Briefe im Hinterstübli beim Ammann selber abgeben, der immer sehr freundlich mit ihm that, sobald es Niemand sah. Oefters, wenn seine Töchter dranßen auf der Wiese mit den Knechten und Mägden gabelten und zappelten, wenn kein Gast im Hause und der Ammann mutterseelenallein im Hinterstübli war, holte er eine 10 Flasche Pworner und ein Stück Käse oder Schinken aus dem Keller, nöthigte das Lisabethlt zum Essen und zum Trinken und führte gar verwunderliche Reden.Schmeichelet und tückische Wohlmeinenheit verbargen anfänglich sein unehrliches Gelüsten; aber immer wüster brach dasselbe aus der wildlustigen Stimmung hervor,in welche der Wein die Beiden von Zeit zu Zeit versetzte. Das Lisabethli erlag endlich wehrlos dem Audrängen des Wüstlings, und die Frucht einer dieser unseligen,einsamen Stunden war der Waldbenz.

Der Ammann hatte dem Lisabethli Berge Goldes versprochen, wenn es schweige.Es hielt auch wirklich reinen Mund, obgleich der wahre Sachverhalt ziemlich offenkundig war. Wer wollte den allmächtigen Vorsteher, dessen lederfarbenes Gesicht so gescheidt lächelte und dessen pechschwarze Haare so kluge, stechende Augen beschatteten, zur Rede stellen? Solche ehrgeizige und schlechte Vorgesetzte vermögen eben sehr bald eine ganze Ortschaft zu verderben; ganz heimlich und langsam schleicht das Gift der bösen Nachahmung durch die Gemeinde und der gefräßige Wurm einer bloß geheuchelten Zucht und Ehrbarkeit bohrt sich tief in's Herz anch der kommenden Geschlechter!

Das Lisabethli kam jetzt durch die weise und salbungsvolle Fürsorge seines weitläufigen Vetters und Beschützers mit seinem Kinde zuerst in den Gemeindespittel.Es erhielt aber vor dieser wohlthätigen Anstalt einen so heiligen Respekt, daß es mit Zusammenraffung all seiner Kraft es durchsetzte, wieder bei der Taunerfamilie wohnen zu dürfen, wo es für sich und sein Büblein das Kostgeld bezahlte. Um dieses zu erübrigen, wurde es Bötin nach Bern, krämerte und grämpelte daneben lustig auf allen Märkten des Kantons herum und führte von nun an immer mehr das wechselvolle Leben einer zügellosen Dirne. Von der frühern jugendlichen Anmuth seines Gesichtes waren nur noch geringe Spuren vorhanden; seine Züůge streiften mehr und mehr an Frechheit und das Laster der Trunksucht verhunzte vollends seinen schwachen Charakter zum traurigen Zerrbild eines völlig verloren gegangenen Menschen.Sechs Jahre später fand das Lisabethli an einem verkommenen, prahlhansigen Elsäsferkrämer einen ihm ebenbürtigen Lebensgefährten. Als ihn der Ammann fragte,ob er glaube sich mit dem Lisabethli durchschlagen zu können, gab der struppige Blonsenmann, aufgebracht über eine so ehrenrührige Rede, zur Antwort: „Gott verdummi, ich wärd' doch khönne en Froü ärrholte!“ Damit war die Sache abgethau.Der Krämer steckte die sechzig Thaler, womit ihm die Goldwyler ein für allemal auch das Kind Lisabethli's, den kleinen Benzli, zur Aufnahme in seine elsässische Heimatsgemeinde überbanden, vergnügt in den Sack und klimperte damit auf der Straße und im Wirthshaus, als ob er ein Fabrikant oder ein reicher Müller wäre.Um dieses Geld war es offenbar dem Elsässer hauptsächlich zu thun; es reichte gerade hin, einige Schulden zu bezahlen und mit dem kleinen Rest sich über die Hochzeitstage gütlich zu thun.

Wieder ein Jahr war vergangen seit der Abreise Lisabethli's in's Elsaß, da langte eines Abends in Goldwyl mit der Post, von einem Landjäger aus Bern begleitet, ein Büblein an, das der Gemeinde gehöre und als Bettler und Vagabund in der Nähe von Basel aufgegriffen worden sei. Polizeiliche Nachforschungen hatten ergeben, daß es das Kind Lisabethli's war. Da der Krämer die von den Goldwylern erhaltene Summe für Verpflegung des Knaben in seinen eigenen Sack gesteckt und nach der Heirath sich jeder weitern Verpflichtung für enthoben gehalten, so hatte die elsässische Gemeinde das Büblein abgewiesen und dessen Aufenthalt nur unter der Bedingung gestattet, daß ein Heimatschein für dasselbe eingelegt werde.

„Das werde jetzt bim Donuerschieß öppe nit so pressiren“, meinte das Lisabethli. „Das Geld ist fort und ich muß mich schämen wie ein Hund, wenn wir das Kind jetzt schon der Gemeinde zuschicken oder von ihr Schriften begehren.“ So blieb der Benzli einstweilen bei seinem Stiefvater im Elsaß. Von Erziehung war da freilich keine Rede. Der Krämer behandelte ihn übel; wenn seine Frau allein auf den Märkten herumschlampete, so bekam der Benzli von ihm zu Hause mehr Schläge als zu essen; bisweilen sperrte er ihn in ein feuchtes Kellerloch und ließ ihn erst am folgenden Tag wieder heraus. Waren beide Ehelente fort, so blieb das arme Kind sich selbst überlassen; mitleidige Nachbarn gaben ihm zu essen, wenn es hungerte, und die Worte, die dabei ausgestoßen wurden, fielen bei dem Knaben, so jung er war, auf fruchtbares Erdreich. Wunderbar kräftig entwickelten sich bei ihm die bösen Triebe, und welch' muthiger Wille in dem siebenjährigen Büblein steckte,das zeigte sich erst, als dasselbe nach einer neuen harten Züchtigung durch seinen Stiefvater eines Morgens auf- und davonlief und sich bettelnd von Thüre zu Thüre durch's Land trieb. Es fand bald da bald dort aus Barmherzigkeit der Leute einen längern oder kürzern Unterschlupf; es plagte sich in den Ställen beim Vieh kümmerlich durch die Welt, geschnpft und gestoßen, bald da bald dort von der Polizei aufgegriffen, mit Verbrechern und Vagabunden zusammengebracht, was Wunder, daß es in erschreckend kurzer Zeit verwilderte und verlotterte! Als es vom Landjäger nach Goldwyl gebracht wurde, hatte es seit Jahresfrist in keinem Bett mehr gelegen.

Ist vielleicht dieses arme Wesen das einzige im Land, das durch die Lieblosigkeit der Seinen jämmerlich verkümmert und in spätern Jahren zum Verbrecher wird?Und meint man solche Schäden unsers gesellschaftlichen Lebens durch das Henkerbeil zu heilen? Sind nicht im letzten Jahr aus einer einzigen Gemeinde des St. Gällischen Rheinthals von vierzig Schülern sechsundzwanzig in's Schwabenland gewandert, um sich dort über den Sommer zu verdingen, darunter neun 7sgjährige Büblein? Zu allem Unglück aber kommt noch (so klagt man mit Recht), daß ein geistiger Verkehr zwischen ihnen und ihrer Heimat nicht besteht. Kein Brieflein wechselt zwischen Mutter und Kind; sehr selten kommt ein Bericht aus Deutschland,es sei denn etwa der Todtenschein von irgend einem Kind, das fern von elterlicher eiebe erkrankte und starb. Unsere erwachsenen Töchter, die wir in's Welschland schicken, erkranken oft am Heimweh; sie weinen die halbe Nacht bei gespickten Koffern,bei Schinken und St. Gallerwürsten; am Morgen werden fie von der „Madame“getröstet und von lustigen Gespielinnen erheitert, und von Hause kommen Briefe voll süßer Trostesworte; aber das sieben- bis achtjährige Büblein steht mutterseelenallein auf ferner, fremder Aue und hütet die Gänse! Und wie auf dem Lande, so gibt es auch in unsern Städten Eltern und Vormünder, die, statt das geistige und körperliche Gedeihen ihrer Pflegebefohlenen in's Auge zu fassen, nur darnach trachten, den Besitz der ihnen Anvertrauten möglichst zu kapitalisiren; es gibt Rabeneltern,welche die Kleinen hinausstoßen in die kalte Welt, um das Erbarmen der ihnen begegnenden Mitmenschen zu erregen, welche dieselben, wie sie zu sagen pflegen, in's Verdienen schicken, nur um zu Hause in aller Gemüthsruhe bei diesem einträglichen Geschäft allen Lastern zu fröhnen! Gibt's in unserm Lande keine Leute, die Brod und Arbeit hätten für solche Kinder und die ihnen die Segnungen der Schule nicht vorenthalten würden? Protestanten und Katholiken opfern jährlich Hunderttausende von Franken für Zwecke, die ihnen nicht klar sind; warum vergessen sie über der Noth jenseits der Berge und jenseits der Meere das Elend in der Nähe? Als Benzli mit dem Landjäger nach Goldwyl zurückkam, war großer Aerger im Land. Aber was nützte das? Die Versteigerung der Waisenkinder an die Meistbietenden war gerade wieder vor der Thür und so traf denn auch den Benzli dieses Schicksal. Das Loos verschlug ihn zu blutarmen Leuten, in eine schmutzige Hütte,die draußen wie ein böses Gewissen am Rande des großen Gemeindewaldes lag.Hunger leiden mußte er hier nicht; so viel Verstand hatten seine Pflegeeltern, welche Beide als Taglöhner streng arbeiteten und gewohnt waren, regelmäßig ein ordentliches Essen einzunehmen. Aber von einer Erziehung und Wegleitung war weiter keine Spur. Der Knabe war, wie früher, fast ganz sich selber überlassen; die Schule besuchte er kaum die Hälfte Zeit. Am liebsten machte er müßige Streifereien in das einsame Feld oder in die Tiefe des Waldes, für welche er bald einen in der Nähe wohnenden ältern Knaben, den Peter Christen in der Moosrüti, zum Kameraden erhielt. Verwegen bis zur Tollkühnheit schreckte der Waldbenzli (so nannte man ihn allgemein) schon jetzt vor keinem Wagniß zurück. Er saß rittlings am Rande des Abgrunds auf dem spitzigen Felsblock, auf den er mit Lebensgefahr sich hinaufgeschwungen. Von dort schaute er ohne zu schwindeln in die furchtbare Tiefe,wo das Auge den Boden nicht mehr erkannte und der Ton des an der Waud sich losmachenden Gerölls ungehört verhallte. Sah er irgendwo auf höchster Wettertanne ein Nest, das seine Neugierde reizte, er mußte hinauf, wenn gleich die schwankenden Aeste über dem gähnenden Schlund irgend eines grausen Tobels hinhingen, um die Brutstätte der armen Vögel als todbringender Ränber zu überfallen.Hatte er mit den ausgenommenen Eiern eine Zeit lang gespielt, so zerschmetterte er sie, wenn ihn zufällig ein in die Augen fallendes Ziel reizte, nubarmherzig am nächsten Felsen. Waren es Junge, die er, noch nackt und unbefiedert, in seine Gewalt gebracht, so riß er ihnen wohl die kleinen, noch ungefügen Glieder wie prüfend auseinander, um sie gleich hernach den jammernden, mit stürmischem Flägelschlag amherflatternden Alten kaltsinnig nachzuwerfen. Die rohe Freude an derartigen GHransamkeiten ließ das wenige Gute, das Schnle und Kirche in sein verhärtetes Herz zu streuen vermochten, nicht aufkommen; es erstickte unter den Dornen der Verwilderung.

Nur einmal vielleicht in seinem Leben erwachte im Waldbenz für kurze Zeit eine höhere seelische Stimmung, welche die Rohheit seiner Sitten etwas zu mildern schien. Er zählte achtzehn Jahre und war inzwischen zu einem strammen Burschen aufgeschossen; er war der Schule und Kirche glücklich entronnen, um jetzt mit seinen pflegeeltern da und dort zu arbeiten, denn als Knechtlein wollte ihn Niemand ansttellen. Gleichwohl kam das Gefühl der Freiheit, die er jetzt so recht in vollen Athemzügen empfand und genoß, mit einer Kraft über ihn, welche seine Tage zum ersten Mal mit einem schwachen Schimmer von Glück verklärte. Und nun zog auch noch die Liebe ein in sein armes, junges Herz, unerwartet, wie ein greller rother Blitz, der in schwüler Sommernacht über die Wälder hinzuckt, und den dunkeln Hintergrund eines ganzen Thals für einen Angenblick unheimlich erleuchtet.

Es war an einem Samstag Abend im Sommer, als Benz allein im Wald eine abgestorbene junge Tanue fällte. Der kräftige Schlag seiner Art widerhallte weit in die Runde und die Amseln sangen dazu ihre tiefen, flötenstimmigen Lieder.Müde von der Arbeit hatte Benz sich eben niedergesetzt und sein Abendbrod verzehrt,als auf einem der engen Waldwege vom Dorfe her ein Zigeunermädchen schritt, das alsbald vor dem Burschen still stand, ihn mit großen Augen betrachtete und ihn endlich fragte: „Soll ich dir wahrsagen?“

Ja“, versetzte der Waldbenz, „aber etwas Gutes.“

„Zeig' mir deine Hand“, sagte sie und trat ganz zu ihm heran.

„Du hast böse Tage erlebt. Du bist ein ächtes Waldkind, wie wir, frisch und frei, wie der Vogel in der Luft; der böse Wind und der Regen und Schnee haben dich abgehärtet.“

Des Burschen Augen leuchteten auf und seine Hand zitterte leise in der des schoöͤnen Mädchens.

„Zwar“, fuhr sie fort, „deine Lebenslinie hier ist kurz; aber habe guten Muth,du bist zu etwas Höherm geboren. Du wirst Soldat und, wenn ich recht sehe, gar General werden. Aber hier sehe ich Blut, o weh, nicht auf dem rauchenden Schlachtfelde, du wirst es in einem Hinterhalt verspritzen für die Andern, die nicht so muthig und so tapfer sind, wie du.“

„Woher weißt du denn das Alles?“„Hier steht's geschrieben in deiner Hand und so wird's kommen, so wahr ich's gut meine mit dir.“

„Du gefällst mir; wie heißest du?“

„Mira. Hast mich gern? Schenk' mir was!“

„Ich habe kein Geld.“

„Aber Wein dort im Krug; ich habe Durst.“

„Wein nicht, Brauntwein. Hier, trink' ein Glas, und da ist Brod; setz' dich auf diesen Holzblock und erzähl' mir etwas von dir und deinen Leuten. Wo sind sie und wo kommt ihr her?“

Mira erzählte von ihren Zickzackmärschen aus Ungarn herauf, von den Sitten ihres Volksstammes, vom Tod ihrer Mutter, die sie vor ein paar Monaten verloren und die im Vorarlberg in einem großen Wald begraben liege. „Wir haben keine Heimat; die ganze Welt ist unser, die Sonne scheint überall, die Winde wehen, die Wolken ziehen und die Sterne leuchten wieder, wenn sie vorübergezogen.“

Der Waldbenz hatte Zeit, während dieser Erzählung, die er öfters durch Fragen unterbrach, die Reize des trotzigen Naturkindes zu bewundern. Mira hatte siebenzehn Sommer; ihre schlanke Gestalt, ihr pechschwarzes Haar, das in wildem Gelock die Schultern umflatterte, ihre großen, feurigen Angen, die feingeschnittene Nase und der üppige Mund mit der glänzenden Perlenreihe von Zähnen, dazu das beredte Zünglein und die Aumuth ihrer ganzen Erscheinnng übten einen berauschenden Einfluß auf den Burschen. Plötzlich sprang er auf und wollte sie in glühender Leidenschaft umschlingen; aber sie entschlüpfte ihm, blitzschnell, wie ein gehetztes Reh. „Komm zu uns herüber“, rief sie ihm aus der Ferne zu, „dorthin, ... dorthin, eine halbe Stunde von hier“, dann verschwand sie im Gebüsch.

Das war die erste Liebe des Waldbenz, eine ungestüme, wilde Waldliebe, die ihn mit verzehrender Gluth erfüllte. Zehn Tage hatten sich die Zigeuner in der Gegend aufgehalten und jede Nacht war Benz ihrem Zeltlager gefolgt. Nur zu bald hatte er Mira wieder gesehen, die Gefallen an dem Burschen fand; beim Schrei des Uhu's kamen sie an abgelegenem Orte zusammen und ihre Sinnlichkeit loderte in wilden Flammen empor. Eine Zeit lang hatte der Waldbenz im Sinn, sich der Bande anzuschließen und mit ihr das Loos einer durch alle Schicksalsstürme verkümmerten Freiheit zu tragen; dann wieder wollte Mira, welche bei ihren Volksgenossen keinen näheren Verwandten mehr besaß und sich allen Zufällen preisgegeben glaubte, hier im Laude zurückbleiben und heimlich mit dem Waldbenz in eine andere Gegend, vielleicht nach dem Elsaß, entfliehen. Dieser letztere Plen wurde gutgeheißen und es ward verabredet, ihn am nächsten Tage schon auszuführen.

Aber ein altes Zigeunerweib war Mira nachgeschlichen, hatte die Liebenden belauscht und die ganze Geschichte dem Hauptmann verrathen. In der Nacht noch ceß dieser die Zelte abbrechen; Mira wurde auf einen Karren gebunden, und vorwärts ging es durch die vom Vollmond erlenchteten Wälder in weitem endlosen Marsche. Als die Sonne aufging, lag die Grenze des Kantons Bern längst hinter dem brannen Trupp, der noch vor dem Abend des angebrochenen Tages die Schluchten des Jura erreichte. Erst jetzt wurde das Mädchen seiner Fesseln entledigt, aber sorgsam bewacht, bis Zeit und Gewohnheit es augenscheinlich wieder in den gleichmäßigen Gang der frühern Lebensart zurückgelenkt hatten.

Für den Waldbenz lief die Sache nicht so glatt ab. Als er am folgenden Tag zur verabredeten Stelle kam und Mira nicht erschien, war ihm gleich Alles llar. Er hatte seine besten Kleider an und das wenige Geld, das er verdient, bei sich; die übrigen Habseligkeiten trug er in einem alten Wachstüchlein unter dem Arm.Was sollte er beginnen? Er eilte auf den frühern Lagerplatz der Zigeunerbande jenseits des Gehölzes; die Zelte waren verschwunden und nur Thierknochen, verkohlte Holzstücke und einige verdorbene Speisereste gaben noch Kunde von dem Aufenthalt,den die braunen Waldsöhne hier genommen. Wie ein heißer Blitzstrahl in brandende Uferwogen fiel es in Benzens Seele. Sehnsucht, Wuth und Verzweiflung tochten in ihm durcheinander; dann weinte er Thränen bittersten Schmerzes. Der schönste Traum seines Lebens war ihm entschwunden, wie ein verlorenes Gut.Eine ganze Stunde saß er wie gelähmt am Bord eines Grabens. Und jetzt tauchten die Worte Mira's wie rosige Wölklein am verdüsterten Horizont seiner Seele auf:„Du bist zu etwas Höherem geboren; du wirst Soldat, vielleicht gar General werden!“Sein Entschluß war gefaßt. Er schlug den Weg nach Bern ein, wo er nebst Andern einem Werber in die Hände fiel und Handgeld nach holländisch Indien nahm, da eben der Krieg gegen die wilden Atschinesen wieder ausgebrochen war. Er betäubte mit seinen neuen Kameraden sein Herz durch Wein, Schnapps und rohe Scherze;nur einmal schlich er sich bewegt hinaus, als Jene das Lied anstimmten: „Das hat ihr falsches Lieben vertrieben!“

Benz hielt es nicht lange aus auf Sumatra. Der Aufenthalt in einer vervallisadirten Waldfestung, auf welche die Atschinesen meist nur nächtliche Angriffe machten, bei denen regelmäßig ein halbes Dutzend Enropäer abgeschlachtet wurden,war allerdings nicht besonders einladend. Indessen galt der Waldbenz bei seiner Mannschaft als der tapferste Soldat; er war verwegen bis zur Tollkühnheit, lauerte halbe Nächte, Katzen gleich, in der Nähe der Festung, wenn man einen neuen Ueberfall befürchtete, alarmirte das Wachthaus und gab mehr als einmal den Entscheid im Gefecht, so daß er zum Unteroffizier befördert wurde. Warum starb er nicht draußen im Getümmel, unter dem Röcheln und Stöhnen niedergehauener Feinde?Warum floß sein Blut nicht in den Graben, der die ungesunde Waldfestung umgab?

Ungefähr ein Jahr war vergangen, da erkrankte daselbst der höchst verdiente deutsche Feldarzt. Weil derselbe für seine Gesundheit ein anderes Klima und bessere Pflege wünschte und auf's Bestimmteste verlangte, in die nächste Stadt, die ein paar Tagreisen entfernt war, zurückgebracht zu werden, woselbst er alle seine gemachten Ersparnisse bei einer holländischen Bank verwahrt hatte, so wurde Benz nebst ein paar handfesten gemeinen Soldaten zu dieser mit unsäglichen Gefahren verbundenen Expedition beordert. Nach vier Tagen brachten die Männer den Kranken glücklich an den Ort ihrer Bestimmung. Aber Jener war so hinfällig, daß er den Waldbenz kaum noch mit einer Vollmacht zur Rückforderung seines Geldes an das Bankhaus absenden konnte, um alsbald in einen ohumachtähnlichen Zustand zu verfallen, aus dem er zwei Tage lang nicht erwachte. Während dieser Zeit machte Benz Pläne für seine Zukunft; er faßte deun Entschluß zu desertiren und nach Europa zurückzukehren. Er hatte die fünfhundert holländischen Dukaten des Arztes in seinem Beutel;davon nahm er hundert für sich, die er als eine Belohnung für die gelungene, lebensgefährliche Ueberführung betrachtete, händigte die andern vierhundert dem Wirth ein,bei dem sie Herberge genommen, ließ sich von ihm dafür einen Schein ausstellen,den er den beiden Soldaten mit dem Befehl übergab, ihn dem Kranken vorznweisen,sobald dieser aus seinem todähnlichen Schlaf erwacht wäre. Daunn eutfloh er unter irgend einem Vorwande, kaufte sich andere Kleider, schlich sich auf ein eben abfahrendes Schiff ein und langte nach fast zweijähriger Abwesenheit wieder in seinem Vaterlande an. Hier traf er das Elend in einer neuen Gestalt, in der seiner Mutter.Das Lisabethli war während Benzens Abwesenheit nach Goldwyl zurückgekommen;sein Mann, der Elsässerkrämer, hatte es betrogen und war heimlich nach Amerika ausgewandert, ohne ihm einen rothen Kreuzer zu geben. Da stnund es nun, verlassen von dem prahlhansigen, schmutzigen Schelm, verlassen von Gott und der Welt, verlassen von sich selber! Es hätte können in den Boden hineinsinken; Tag und Nacht weinte es, daß ein Stein sich hätte erbarmen mögen. Darauf kehrte es bettelnd in seine einstige Heimatsgemeinde zurück. Die Verzweiflung trieb es geraden Weges zu seinem einstigen Freund und Vetter in's Hinterstübli. Es that jetzt nicht mehr so zimperlich wie ehemals; im Gegentheil, es brauchte sein Maul nicht übel, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Fenster zitterten und drohte dem Ammann, Alles und Jedes an den Tag zu bringen. Der Ammann hatte schon seit längerer Zeit sein Amt niedergelegt und war Kornhändler geworden;aber seine so viele Jahre zur Schau getragene Würde verließ ihn keinen Augeublick. Er erklärte dem Lisabethli mit strengen Worten, wenn es nicht ruhig und vernünftig sei, so werde er es in dieser Stunde noch durch den Landjäger verhaften und nach dem Elsaß zurückbringen lassen, denn in Goldwyl habe es jetzt nichts mehr zu thun, da mit seiner Heirath sein Bürgerrecht für immer verloren gegangen.

Betänbt stand das Lisabethli da. Weinen konnte es nicht mehr, die Zunge war ihm wie gelähmt, sonst hätte es weiter geflucht und lamentirt. Jetzt aber wurde ihm schwach und mechanisch ließ es sich an der Ecke des schweren eichenen Tisches auf die Bank am Feuster nieder. Der Ammaun sah es und zog etwas mildere Saiten auf. Er ging hinaus, holte ein großes Glas Branntwein, schnitt ein Stück Brod ab und stellte es dem Lisabethli vor.

„Da, nimm einen Schluck“, sagte er, „und iß, wenn du Hunger hast“.Dann legte er einen blanken Fünfliberthaler auf den Tisch und fuhr fort: „Hier hast Etwas für dein Anskommen; am Besten ist es, du gehst damit wieder in das Elsaß zurück, sie müssen dort für dich sorgen. Wenn du aber um Alles hier bleiben willst, so kannst du vielleicht den Botendienst nach Bern wieder versehen, wie früher; ich will dafür reden. Aber sobald ich höre, daß du das Maul wider mich aufreißest, so fahre ich mit dir auf eine Art ab, daß du daran denkst.“ Das war Lisabethli's Willkomm beim Ammann in Goldwyl.

Es hatte darauf ein Unterkommen gefunden bei Benzli's Pflegeeltern am Wald,die mitleidiger waren, als der Vetter Ammann. Und nun besorgte es wieder zwei Mal in der Woche den Botendienst nach Bern, um seinen Unterhalt zu verdienen.Aber du lieber Himmel, was war das für ein Leben! Ich will einen Schleier ziehen darüber und nur erzählen, was zum Verständniß dieser Geschichte durchaus nothwendig ist.

Es war an einem Markttag Abend, als der Waldbenz von Bern her dem Thale von Goldwyl zuwanderte. Seine Gedanken waren umflort, wie der Himmel,der sich langsam zum Regnen anschickte. Links und rechts standen die Bäume und das Gras matt und verstaubt an den Straßen; eine drückende Hitze hatte heut auf dem Lande gebrütet. Kein Wunder, daß die heimkehrenden Marktleute an jedem Orte, durch den sie kamen, wieder Halt machten, um den brennenden Durst mit einem neuen Trunk zu löschen. Eine halbe Stunde von Goldwyl entfernt liegt ein Wirthshaus an der Straße, dem jetzt auch der müde Benz mit immer kürzer werdenden Schritten zusteuerte. Es ging lustig zu da drinnen, denn von ferne schon hörte man Gesang, Gläserklang und wieherndes Gelächter. Benz trat in die große Stube, wo mehrere Gruppen von Landleuten unter allerlei Gesprächen an oerschiedenen Tischen sich gütlich thaten. Er setzte sich zu hinterst in eine Ecke, aus welcher er die ganze Herrlichkeit überschauen konnte. Der Mittelpunkt der schönen Unterhaltung dieser Gäste war ein Weibsbild, dem einige Bauern Schnapps zahlten, indem sie es beständig zum Singen aufforderten und sich dabei listig mit den Augen zubltnzelten. „Nimm umme, sagte der Eine, „Mach' us“, der Andere und „Du mast no eis“ der Dritte. Das Weib hatte ein rothes, aber verschrumpftes Gesicht, wie eine Birne im Winter; in seinem Ransch machte es ganz lächerliche, unbeholfene Bewegungen und wenn es nicht sang und dazn wie in tändelndem Blödsinn tanzte, stierte es mit glanzlosen Augen träumend in die Stube hinaus. Plötzlich schienen finstere Bilder in ihm aufzutanchen, denen es in bösen, affenartigen Grimassen Ausdruck gab; da sagte Einer der mit ihm Zechenden: „Jetzt mußt du noch die Geschichte vom Goldwyler Ammann erzählen!“Und die Züge des Weibes erheiterten sich wieder, aber nicht vor Freude, sondern wie von einem Rachestrahl; es schüttete in einem Zug ein großes Glas hinunter,dann fing es an zu singen und zu jauchzen und zu tanzen, und zwischen hinein antwortete es auf alle Fragen der Banern, schimpfte über den „Vetter Ammann“und rühmte sich in ausführlicher Schilderung frohlockend seiner Schande. Was thut der Mensch, wenn er im Schmutze des Lebeuns versunken ist? Jetzt erst erkannte Benz seine Mutter und vernahm zum ersten Mal mit einem innern Schander das Geheimniß seiner eigenen Herkunft!

Der Waldbenz sah auf diese Menschen hin wie ein Wolf aus dem Gebüsch auf eine Heerde weidender Ziegen glotzt. Plötzlich sagte einer der ausgelassenen Kerle, er glaube beim Douner, das dort sei der Waldbenz; die Augen und Statur habe er, der Bart verstelle ihn, aber er sei es sicherlich. Unter diesen Umständen fand die Gesellschaft für gut aufzubrechen; ein paar Minnten und die Gäste waren sämmtlich wie im Wind zerstoben. Ich will nicht erzählen, wie Mutter und Sohn, nachdem das Lisabethli in der Nebenstube seinen Dusel etwas ausgeschlafen,einander sich vorstellten und dann erst bei dunkler Nacht und bei strömendem Regen in der schmutzigen Hütte am Waldrand mit einander anlangten.

Anderthalb Jahre waren seit diesem Wiederfinden vorübergegangen. Benz war zu seiner Mutter gezogen. Er hatte auf dem Schiff, mit dem er nach Europa zurückgekehrt, Arbeit gefunden, indem mehrere Matrosen nacheinander an einem tückischen Fieber starben; so hatte ihn die Reise nicht viel gekostet und er brachte noch mehr als achtzig Dukaten in seinem Beutel heim. Da nun der Tauner am Wald aus seinem durch Arbeit und Sparsamkeit erübrigten Vermögen auf einer andern Seite der Gemeinde ein kleines Heimwesen kaufte, so überließ er dem Benz und seiner Mutter für das Geld, das jener noch besaß, die alte, baufällige Hütte sammt einem kleinen Stück Feld, welches aber nicht ausreichte, die Beiden zu ernähren. Indessen rief doch der eigene Kochtopf auch in ihrer Brust ein ächtes Heimatsgefühl wach.Benz ging daueben in's Tagwerk, Lisabethli besorgte seinen Botendienst nach Bern,und man mußte ihm nachsagen, daß es seit der Rückkehr des Sohnes sich in Acht nahm, allzuarg über die Schnur zu hanen. Die Leute glaubten, es hätte sich gebessert; aber es versäumte nicht, heimlich, so viel es konnte, seinen Begierden zu fröhnen und seine Gelüste zu befriedigen.

Nun kam aber ein für die Landwirthschaft ganz gefehltes, höchst unfruchtbares Jahr. Ueber den Herbst gab es für Benz wenig zu thun und im Winter stiegen die Kornpreise so hoch, daß das Brod für arme Leute kaum mehr zu erschwingen war. Mehrfach half der Peter ans der Moosrüti seinem Freund ans der bittersten Noth. Aber eines Tages sagte er zu ihm: „Du bist ein Narr, wenn du dich schämst.

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19 eiumal mit dem Ammann ein Wort zu reden und ihn, der durch seinen Kornhandel Hunderttausende verdient, um rechtschaffene Hülfe anzusprechen. Er ist dein Vater,das weiß die ganze Welt und du brauchst dir deßwegen keinen Vorwurf zu machen;das ist nun einmal, wie es ist und du kannst es nicht ändern. Halte dem Wucherer nur keck sein Sündenregister vor und du wirst sehen, wenn du recht keck mit ihm redest, so gibt er nach.“

Benz grübelte über diesen Worten, wo er ging und stand. Er wurde wortkarger als je und machte viele einsame Gänge; Tage lang war kein freundliches Wort aus hm herauszubringen. Er schlug sich noch ein paar Monate durch; als aber das Elend stieg, da stellte er den „Vetter“ Ammann, als er eines Abends mit gefüllter Geldkatze vom Kornmarkt heimkehrte, in einem vor Goldwyl liegenden Gehölz zur Rede. Was die Beiden mit einander gesprochen, ist nie ganz über Benzen's Lippen gekommen. Es entspann sich zwischen ihnen ein heftiger Wortwechsel, der bald in thätlichen Streit überging, in welchem der Waldbenz den Ammann mit einem dicken Knotenstock erschlug. Von dem Arm der öffentlichen Gerechtigkeit ergriffen, bekannte er ohne weiteres die Unthat, bestritt aber bis zu seinem Ende, daß er den Alten tödtlich habe treffen wollen. Mit einer Stimme Mehrheit wurde er zum Tode durch's Schwert verurtheilt. Das ist die Geschichte vom Waldbenz und seiner Mutter.

Alle diese Umstände waren den Bewohnern der Thalgegend, aus welcher der Waldbenz stammte, wohl bekaunt. Ein Theil derselben hatte sich, sei es aus bloßer Neugierde, sei es aus einem gewissen Mitleid, das sich aus dem frühern Zusammensein mit ihm und seiner Mutter herschrieb, schon um Mitternacht aufgemacht, um den Unglücklichen aus dem Leben scheiden zu sehen. Was ich soeben erzählt, bildete den Inhalt ihrer Gespräche. Sie durchgingen die frühere Lage des noch so jungen Verbrechers; Jeder wußte bei dieser Unterhaltung noch etwas Besonderes anzubringen,Jeder auf Etwas aufmerksam zu machen, warum es so habe kommen müssen. Gespaunten Ohres horchten die Andern, welche nach und nach aus den benachbarten Ortschaften sich augeschlossen, und Alle eilten, um die Zeit der Ausführung zum Richtplatz nicht zu verfehlen.

Der Gang zum Tode.Als die Marktkarawaue, die sich auf der Straße wie eine Lawine vergrößert hatte, bis auf eine Viertelstunde in die Nähe der Stadt gekommen, wurde sie plötzlich durch ein ans weiter Ferne ihr nachjagendes Fuhrwerk überholt, dessen Räder wie ein nahendes Gewitter donnerten und in ihrem blitzschnellen Ilug eine ganze Staubwolke aufwirbelten. Der Wagen war leer; vorne auf demselben stand ein Mann

2 von ungewöhnlicher Größe und Gestalt, der unaufhaltsam sein Roß mit der Peitsche antrieb. Wie ein Wagenleuker aus alter Zeit staud er da droben, wußte aus dem Knäuel der sich drängenden Fuhrwerke geschickt zu entrinnen und links und rechts auszubengen, ohne die eigenen, vom rasenden Lauf erhitzten Achsen zu beschädigen.Seine Kleidung erinnerte an nichts weniger als an das klassische Alterthum, denn er trug einen kurzen Rock von der bei den Berner Bauern so beliebten rothbraunen Naturfarbe, Hosen von demselben Stoff, eine schwarze Weste und einen breitkrämpigen Filzhut. Wie der wilde Jäger Türst jagte er daher. Wer ihn in dem Augenblick, wo er vorüberschoß, genauer betrachtete, der sah, daß seine Seele grollte; die vom Wein gerötheten Augen glühten in einem wilden Feuer und schossen Blicke der Verachtung auf die Menge herab.

„Seht“, rief eine Stimme, „das ist der Peter Christen ans der Moosrüti.Der hat auch Eile, um seinen Freund Benz noch einmal zu sehen.“

„Ja“, versetzte ein alter Mann mit stechenden, grauen Augen, „es wäre kein Schade, wenn alle beide denselben Weg gingen. Aber was nicht ist, kann noch werden; der Christen ist um keinen Heller besser als der Waldbenz.“

Jedensfalls, milderte ein Dritter, sei der Peter auf einem bösen Weg; aber man solle nicht solche Reden führen; es sei an dem einen Unglück schon genng und es lebe Gottlob noch Einer, der den Peter auf eine bessere Bahn bringen könne,wenn es sein müsse.

Wenn das möglich gewesen wäre, warfen ein paar redselige Weiber zwischen hinein, so hätte es wohl das Vreneli, seine Frau, am besten gekonnt; aber der Peter sei ein wüster, einen wüstern gebe es nicht. Er sollte sich nur besinnen, wie er das Vreneli bekommen, das würde ihm, wenn er noch einen Funken Ehre im Leib hätte,schon andere Gedanken machen; aber an ihm seien eben Hopfen und Malz verloren,man werde es noch erleben.

Manche Weiber haben eine böse Zunge und nehmen es nicht immer genau mit der Wahrheit. Lassen wir darum die Marktleute und sehen wir zu, was aus Peter Christen geworden.

Dort an der jenseitigen Höhe des Aarekessels, ans dem sich das stolze Bern mit seinen in der Morgensonne blitzenden Scheiben wie in einem silbernen Pauzer erhebt, sprengt er heruuter. Schon ist er beim neuen Bärengraben angelangt; schon hält er vor dem Stalle des Gasthauses zum Klösterli, wo er gewöhnlich einzukehren pflegt und überläßt einem der Knechte das Geschäft des Ausspannens, das er sonst selber verrichtet, mit dem Befehl, das vom Schweiß triefende Roß abzutrocknen. In einem Nu ist er in der Gaststube; mit ein paar Zůgen stürzt er eben so viele Gläser hinunter. In der nächsten Minnte eilt er mit starken Schritten über die große steinerne Nydeckbrücke. Die Armensünderglocke beginnt eben X länten. Inmitten einer hastenden Menge, die wie ein aufwärtsfließender Strom gegen den Zeitich glockenthurm hin ergießt, dessen Zeiger in diesem Augeunblick auf sechs Uhr stehen,macht sich Peter Christen mit auswärtsgestemmten Armen Bahn. Noch eine Minute und er hat sich durchgedrängt bis zum Käfigthurm; eine zweite, und ihn erwartet ein herzzerreißendes Schanspiel. Eine Abtheilung Militär hält mit Mühe das Volk zurück, das sich von der obern und der untern Stadt her wie zwei Keile in die Straße eingeschoben hat und fortwährend den freigebliebenen Raum noch verkleinert. Schulter an Schulter stehen sie da, dicht gedrängt, die Köpfe streckend; von Sekunde zu Sekunde steigt die Spannung der zusammengelaufenen Massen, die nicht vor, nicht rückwärts können. Die Fenster der Häuser am Bärenplatz und an der Spitalgasse sind in allen Stockwerken von oben bis unten besetzt; hundert Leiber dehnen,R Blicke sind nach dem bewachten Ausgang des Thurmes gerichtet; tansend andere schweifen an den festen Mauern des alterthümlichen Gefängnisses hinauf, dessen wenige, enge Fensterlncken nicht verrathen, was da driunen vorgeht. Endlich vernimmt man von den Vordersten den Ruf: „Sie kommen!“ und durch die Reihen fliegt mit Windeseile das dumpfe Gemurmel: „Sie kommen! Sie kommen!“

In diesem Augenblick öffnet sich die Thüre des Staatsgefängnisses, neben welchem Christen Peter verstört sich aufgepflanzt hat. Er will, er muß den unglücklichen Genossen noch einmal. sehen, vielleicht noch sprechen! Aus dem geöffneten pförtlein des Thurmes treten in schwarzer Kleidung, den zweispitzigen Hut auf dem Haupt, den Degen an der Seite, der Amtsstatthalter und zwei höhere Gerichtspersonen sammt den in die Standesfarbe gekleideten Weibeln. Jetzt wankt über die Schwelle ein blasser, bartloser, hochstämmiger Mann, dessen Augen hohl und matt,dessen Gesichtszüge Furchen des Jammers geworden sind. Es ist der Waldbenz;aber Peter Christen erkennt ihn nicht wieder. Die Hände sind ihm mit Stricken gebunden; in Hose und Hemd, baarhaupt und baarfuß tritt er seinen letzten Gang an. In seiner Brust wühlt der Schmerz des Abschiedes. Tief athmet er auf uud scheint im nächsten Augeublick in die Kniee zu sinken, in sich zusammenzubrechen.Mechanisch und wie todt gleitet sein Blick über die Menge hin und wieder zurück,als suchte er etwas Festes, woran er sich in der Angst seiner Seele heften und halten könnte. Da sieht er den Christen an seiner Seite. Diese Entdeckung scheint ihm einigen Halt zu geben. Die Hand kann er ihm nicht reichen, denn sie ist gebunden; aber er blickt ihn mit einem Blick voll grenzenlosen Kummers an und sagt mit einem Ton, der eine ganze Rede aufwiegt, zu ihm: „Leb' wohl, Peter,. ...zum letzten Mal leb' wohl und vergiß meine Mutter nicht!“

Christen ist nicht im Stand zu antworten. Das Wort erstirbt ihm in der Kehle. Er hätte dem Benz am liebsten mit einem kräftigen Händedruck gesagt, daß ihm das Herz brenne bei seinem Unglück; aber das ging nicht an. Er, der derbe und sogar bis auf einen gewissen Grad ruchlose Peter Christen hätte weinen mögen wie ein Kind. Sprachlos nickt er darnm auch nur dem bleichen Manne zu mit dem Kopf und macht mit der Rechten eine langsame, fast feierliche Abschiedsbewegung,während er mit der Linken das Schnupftuch sucht, die ungewohnte Rührung zu verbergen. All' das ist das Werk eines Augenblickes. Dicht hinter Benz treten in ihren weißen, steifen Rundkragen die zwei Geistlichen herans, deren traurige Pflicht es ist, den Verurtheilten zum Richtplatz zu begleiten. Sie nehmen den Armen in die Mitte. Eine Abtheilung Militär hat den Paß nach der obern Seite geöffnet;der Zug beginnt. Hinter Benz schreitet der Scharfrichter, das lange Schwert unter dem rothen Mantel verbergend; ihm zur Linken und Rechten seine rohen Gehülfen im blutigen Handwerk. Eine zweite Abtheilung Militär schließt den Zug, während die Masse des Volkes zur Seite und von hinten in unaufhaltsamem Stoße nachdrängt und die ganze Breite der Straße und die Arkaden überfluthet.

Hinaus wogt es unter dem dumpfen Klang der Armensünderglocke am Bürgerspital vorüber, wo die Fenster besetzt sind von Gebrechlichen, Invaliden und Leidenden jeder Art, die hier ein rnhiges Asyl gefunden und dadurch vor Noth und Verderben bewahrt geblieben sind. Hinaus geht's durch's obere Thor, von welchem herab die beiden kolossalen Bären mit ihrem wildem, fast hyäuenartigen Ausdruck der Menge grimmig nachfletschen. Die steinernen Bestien haben ja kein fühlendes Herz, keine menschliche Empfindung. In dem Augenblick, wo der „Ausgeführte“ durch's Thor tritt, verstummt der Ton der Glocke. Benz athmet auf; es ist ihm, als ob mit dem schrecklichen Klang die Stimme seines Gewissens schwiege. Vom Brückendamm schaut er einen Momeut links auf den großen Teich hinunter, auf dem ein paar Schwäne rudern, und weiterhin über die tiefliegende Fläche des Hirschengrabens, wo junge Rehe friedlich grasen, stetsfort munter mit ihren kurzen Schweifen wedelnd und bisweilen in kühnem Sprung über den Rasen setzend, dessen erste Gräser sie mit Wohlbehagen Tag um Tag hart am Boden wegätzen. Wehmüthig wendet der Waldbenz seinen Blick ab von dem einsamen Garten der schlanken Thiere, der auf allen Seiten von hohen Mauern umfriedet ist und in dessen idyllischer Tieflage der Jammer und das Elend nicht zu Hanse sind. Sein Paradies ist verloren, oder vielmehr, er hatte nie ein anderes als den Wald, wo er ungebunden dem Gelüsten seiner verwilderten Natur nachhing und dabei sich glücklich fühlte. Vorwärts, vorwärts geht der Zug durch die Villette unter dem prächtigen jungen Laubschmuck der dunklen Kastanien- und der hellen Lindenbäume hin. Alles Leben ist im Hauch dieses Frühlingsmorgens erwacht; die Vögel singen, die Pflanzenwelt sendet süße Düfte zum Himmel empor. Armer Waldbenz! Tränmerisch blöde gleiten deine hohlen Blicke an der lebendigen schönen Gotteswelt vorüber. Du verstehst sie nicht mehr; diese Lebensströme, die von allen Seiten auf dich eindringen, sie stacheln dich nicht auf zum Fluch über die, welche dir das Leben nehmen, ohne es dir gegeben zu haben, denn deine Seele ist schon auf der Flucht begriffen; matt nur kreist das Blut in den Adern, wo es bald gerinnen soll! Haben sie's doch selbst gesagt, deine standhaften Tröster, die in der letzten Nacht noch abwechselnd bei dir wachten, daß dein Inneres zerknirscht, deine eherne Kraft gebrochen, dein Mark von der verzehrenden Gluth des Gewissens ausgebraunt und vertrocknet sei; aber sie vermochten nicht, dir Gnade zu erwirken mit jenem Wort: „Ich will nicht den Tod des Sünders, sondern daß er sich bekehre und lebe!“

Eine Viertelstunde anßerhalb der obern Stadt, links von der Straße liegt das Galgenhübeli. Dort hinaus wogt der Zug. Wie eine breite, riesige Schlange wälzt sich die Henkerprozession durch die Villette fort; rechts und links steht eine lebendige Hecke von Zuschauern in unabsehbarer Länge. Verwegene Buben haben sich einen Sitz auf niedrigen Dächern und Bäumen erklommen, von wo herab sie ihre Neugierde mit rohem Geschwätz und frechem Gelächter befriedigen. Denn dort in ihrer Nähe an einer Dornhecke saß ein Weib mit gläsernen Augen und weißer Nase mit einem Schnappsrausch, das mit unsiunigen Geberden die Menge belustigte und von Zeit zu Zeit in sonderbaren Ausrufen sich Luft machte. Einer der dienstthuenden Landjäger wollte es wegführen; es gelang ihm aber nicht. „Mach', daß du fortkommst“, fuhr ihn das Weib an, „du dolders Narr mit deinem gewichsten Schnauz und deinen weißledernen Haudschuhen; ich habe hier Platz so gut wie du in dem Theater.“ In diesem Augenblick kam der Ausgeführte in der Mitte der beiden Geistlichen vorüber. „Adie, Benzli“, schrie jetzt das Weib; „umme nit g'sprengt bei der Hochzeit; fahr langsam, daß der Cholt nit umleert! Grüß mer d'r Vetter Amme n thue-nim eis z'Bscheid, i chumme bald nahe!“ Entsetzt hörten die Umstehenden diese Reden. Der Waldbenz aber sandte ein paar Blicke hinauf voll tödtlichen Jammers; dann brach er zusammen und mußte zum Schaffot getragen werden. Das Weib aber wurde in die Stadt in's Narrenhaus verbracht. Es war das Lisabethli, das ob all seinem Jammer und Elend für immer dem Wahnsinn verfallen war!Ich werfe einen Schleier über die letzten Augenblicke des Waldbenz. Ich will den Leser nicht herausführen zum Galgenhübeli, zu dem traurigen Todeshügel, wo jeder Delinquent vor seinem Ende noch einen Rundblick thun kann auf die Schönheit dieser Welt, um im letzten Augenblick den Stachel der Reue doppelt zu empfinden!

Wenn in einer dunklen Nacht die Sturmglocke ertönt, der Ruf des Fenerhorns uns durch Mark und Bein dringt, die Flamme am Himmel emporschlägt und wie ein unersättlicher Drache mit heißer Gier Hof und Hütten verzehrt, dann wird in der Brust der vom Schlaf aufgescheuchten Bewohner die Bruderliebe wach; die Seelen der Hunderte, durch deren Hande der Fenereimer geht, die Herzen der Muthigen,welche die Zurückgebliebenen aus dem Flammentode reißen, die Gemüther Aller, welche bange zitternd aus der Ferne der allmäligen Bezwingung des rasenden Elementes zuschanen, sie werden wie in einem Gluthofen geläutert; der Engel der Barmherzigkeit hat in ihnen jenes Feuer angefacht, welches Zeugniß gibt von der höhern Natur des Menschen, jene Liebe, welche erst die Erfüllung des Gesetzes ist.Macht vielleicht das Schauspiel einer Hinrichtung auf die um den Rabenstein versammelte Menge einen ähnlichen Eindruck? Der Leser wird die Autwort auf diese Frage in den folgenden Betrachtungen über die Todesstrafe finden.

Eine Standrede auf den Henker.Die Todesstrafe hat nach meiner Ueberzeugung für den Schweizer nur noch eine Berechtigung in der Geschichte, keineswegs aber besitzt sie eine solche für die Gegenwart oder Zukuuft unseres öffentlichen Lebens.

Eine der Grundsäulen des geordneten Staates ist das Recht. Durch das Recht wird die natürliche Freiheit des einzelnen Menschen beschränkt und damit die Wohlfahrt Aller bezweckt und gesichert. Die Freiheit der Einzelnen ist im geordneten Staate keineswegs unendlich und unbegrenzt; ich darf nicht thun,was ich nur immer will, denn ich bin nicht allein in der Welt, ich bin in der Mitte der Uebrigen. Wohl hat Jeder das unbedingte Recht seiner Exristenz;ich habe das Recht, mich so auszuleben, wie mich die Natur gebildet hat und die in mir liegenden eigenthümlichen Gaben und Fähigkeiten zur Geltung zu bringen,denn darin finde ich das wahre Glück; aber ich erfahre sofort und muß bedenken, daß jeder Audere das gleiche Recht hat, wie ich, und wenn ich mit den Uebrigen leben will, so kann ich das (so sagt mir meine Vernunft) nicht anders,als wenn ich anerkenne, daß auch alle übrigen Menschen das Recht haben zu existiren,ein Jeder in seiner Weise. Aus dieser Anerkennung fließt die Idee der Gerechtigkeit. Ich habe das Recht zu leben, aber ich habe auch die Pflicht, den Andern leben zu lassen; ich darf ihn nicht beeinträchtigen, nicht schädigen, nicht verletzen, nicht tödten. Die altrömischen Rechtsbücher sagen darum schön von der Gerechtigkeit (justitia): „Die Gere chtigkeit ist der beharrliche und ununterbrochene Wille, Jedem das Seine zu geben.“

Wären wir Menschen nun alle in uns gleich harmonisch gebildet, würden unsere Neigungen, unsere Triebe und Leidenschaften durch ein wohlthätiges Gleichgewicht gebändigt und gezügelt, so würde alle Gerechtigkeit auf Erden leicht erfüllt. Allein wir sind Alle grundverschieden von einander, und wie es nicht zwei Blätter im Walde gibt, die einander völlig gleich wären, so hat es auch nie zwei völlig gleiche Menschen gegeben! Kein Wunder, daß wir, die wir Alle in der Natur unserer Triebe und Leidenschaften, in der Art unserer Gefühle und Gesinnungen, durch Bernf, Lebensstellung, Schicksale und Erziehuug uns so ungleich sind, kein Wunder,sage ich, daß wir uns gegenseitig oft nicht verstehen, kränken, verletzen, beleidigen und beeinträchtigen, kein Wunder, daß unter den Menschen anch das höchste Verbrechen,daß anch der Mord nie ausstirbt, welcher ja eben nur als die schrankenlose Willkür erscheint, die das Recht gewissenlos zur Seite stößt und dadurch zum höchsten Unrecht wird. Es erwächst unter diesen Umständen dem Staate die Pflicht,das Recht zu schützen und das Unrecht zurückzudrängen; er befindet sich im Zustande der Nothwehr und die Selbsterhaltung gebietet ihm, den Schuldigen zu bestrafen. Die Gerechtigkeit wird hergestellt und die sittliche Macht stets auf's Neue proklamirt durch die Strafe. Auf diese Weise ist die Strafgesetzgebung entstanden. Ein jedes Volk hat sie nach seinen Bedürfnissen, Sitten und Zuständen, nach seiner Bildung und politischen Einsicht für sich in's Leben eingeführt.In frühern Zeiten z. B. wurde auf eine ganze Menge von Verbrechen die Todesstrafe gesetzt, während sie für dieselben heute beseitigt ist. Woher kommt das? Daher,weil das, was die Menschen das Recht nennen, nicht ewig sich gleich bleibt. „Alles Verfassungs- und Gesetzesrecht ist geschichtlich eutstanden und deßhalb auch der Wandlung der Geschichte unterworfen. Das Recht hat wohl einen dauernden Charakter,aber keinen Anspruch auf Ewigkeit. Die Politik bestimmt das fortschreitende deben eines jeden Volkes, das der veralteten Regel der Vergangenheit entwachsen ist.“)Bei den Negervölkern im innern Afrika erscheint der Staat heute noch als die oollendete Willkür nach oben und nach unten, indem der Konig, stets vom Scharfrichter begleitet, Rerr über Leben und Eigenthum seiner Unterthanen ist. Der Mensch,wo er erst am Anfang der Civilisation steht, ermangelt eben noch fast ganz der gesellschaftlichen Tugenden. So ist es bei allen Kulturvölkern des Alterthums und der nenern Zeit gewesen: sie haben sich stnfenweise erhoben, und mit ihrer geistigen and sittlichen Erhebung haben sich auch ihre Strafgesetze veredelt und gemildert. Es geschah dies keineswegs durch das strenge Festhalten an der Idee der bloßen Gerechtigkeit, sondern durch die mächtige Eutfaltung eines zweiten, höhern Lebensprinzipes in der Geschichte, durch die Menschenliebe. Nicht selten hat sich gerade an den Opferu der Gerechtigkeit das edle Feuer dieser Liebe entzündet.Im alten Indien wurde diese geistige Revolntion, schon ein halb Jahrtausend vor Christus, durch das siegreiche Auftreten des Buddhismus eingeleitet, bei den Juden durch die religibsen Reformer des Mosaismus, durch die Propheten.

Während Moses die Blutrache und selbst die Tödtung einzuschränken sucht, um der sittlichen Rohheit des Volkes so viel Opfer als möglich zu entreißen, verkündigen die Propheten ihrerseits bereits die Morgenröthe einer anbrechenden neuen Weltanschauung. „Aug' um Auge, Zahn um Zahn“, hieß es allerdings in der mosaischen 1 J. C.Bluntschli. Politik als Wissenschaft. J. G. Cotta, 1876 po. 24 ff Gesetzgebung und „Wer Menscheublut vergießt, dessen Blut soll (auf Fügung Gottes?)wieder durch Menschen vergossen werden“, der Prophet Hesekiel aber verkündet:„So wahr ich lebe, spricht Gott, der Herr: Ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß er sich bekehre und lebe!“ Und ans dem Weisheitsschatze der alttestamentlichen Spruchsammlung (24, 11 und 12)tönt das gewichtige Wort zu uns herüber:

Rette, die zum Tode geführt werden,

Und die zur Richtstatt wanken, o halte sie zurück!

Sprächest du: „Siehe, wir kennen den nicht“,

Meinst du nicht, der die Herzen wägt, er wird sie kennen,

Und der deine Seele geschaffen, er wird sie durchschanen,

Und daß Er vergibt dem Menschen nach seinem Thun?!“)

Der Stifter des Christenthums spricht sich in der Bergpredigt wie in der Geschichte von der Ehebrecherin (Joh. 8) gegen die Todesstrafe aus. Die älteste christliche Kirche war derselben drei Jahrhunderte lang feindlich gesinnt; war ihr doch Christus selber und so viele seiner Bekenner erlegen! Arbogast, der erste Bischof von Straßburg, ließ sich unter dem Galgen begraben, um dadurch sowohl seinen Abscheu vor der blutigen menschlichen Gerechtigkeit und sein inniges Mitleid mit ihren Opfern auszudrücken, als auch um den Abgrund ausznfüllen, der im Volksbewußtsein den „ehrlichen“ Menschen vom „nuehrlichen“ trennt!!?“)Erst der religiöse Fanatismus verband sich mit dem Henker, um gemeinschaftlich mit dem Staat die „Ketzer“ auszurotten. Papst Nikolaus J. beglückwünscht die Kaiserin Theodora, daß sie 100,000 der „ketzerisch“ gesinnten Paulicianer gekreuzigt,enthauptet und ersäuft habe. Ju dem von Innocenz gegen die Albigenser ausgeschriebenen Kreuzzug gingen wohl eine Million Menschen zu Grunde! Und in diese Zustände hinein brachte die Reformation keine Besserung. Wenn Luther die dentschen Fürsten im Bauernkriege ermahnt, die aufrührerischen Bauern wie tolle Hunde todtzuschlagen und meint, ein guter Christ müßte sich nicht scheuen,in Ermanglung eines Scharfrichters ein Todesurtheil selbst zu vollstrecken, so begreift man, daß von da an eine zweihundertjährige Nacht über das Strafrecht herabsinken konnte. Und was für eine Nacht! Die Freunde der Todesstrafe müssen selber zugeben, daß in dieser Zeit das Schwert der „Gerechtigkeit“ zum , Mörderbeil“geworden war. „Alle Mörder der ganzen Welt zusammen waren nie so gräßlich als Eine mordende Obrigkeit! Ueber 100.000 Menschenleben haben die Hexenprozesse gekostet. In England wurden unter Heinrich VIII. 72,000, unter Elisabeth (1558 - 1563) 89,000 Menschen hingerichtet. Der Vater des modernen Strafi) Vgl. auch Jesaia 42, 1-7.) A. Bitzius, die Todesstrafe, gekrönte Preisschrift. Berlin, 1870.rechtes, Carpzow, hat in den Jahren 1620 1666 angeblich 20,000 Todesurtheile unterzeichnet. Dabei war die Todesstrafe geschärft durch alle möglichen Gransamkeiten, welche eine verthierte Phantasie nur erfinden kann. Und erst die blutigen Ausschreitungen der französischen Revolution! Von diesen Flammen des Schreckens ist die edle Begeisternug angefacht worden, welche für die Menschenrechte in die Schranken trat und die Abschaffung der Todesstrafe verlangte, weil sie keine Berechtigung habe.“)

In der That, nicht die Kirche, sondern der Humanismus, die Apostel der Menschenrechte, die Vertheidiger der Menschenwürde haben uns bessere Zustände zebracht! Und unter diesen finden wir (abgesehen von berühmten Kriminalisten wie Henke, Zöpfl, Köstlin, Holtzeundorf, Glaser, Berner u. A.) die Namen eines Voltaire,Beccaria, Herder, Fichte, Schleiermacher, Lamartine und Viktor Hugo!

Nein, nicht bloß ein paar Gelehrte sind es, nicht bloß einige von Hallucinationen befallene Schwärmer, wie gewisse Freunde der Todesstrafe in ihrer abgestandenen Kathederweisheit gerne glauben machen möchten, sondern schöpferische Genien ihres Jahrhunderts sind es, Die edelsten Freunde und Fortbildner der Menschheit waren es, welche von ihrem Zeitalter die Abschaffung der Todesstrafe gefordert und bis jetzt auch theilweise erlangt haben!

Nicht bloß kleinere Staaten wie Portugal, Holland, Rumänien, die Schweiz (im Jahr 1874) Toskana, Louisiana, Rhode-Island und Otahaiti, sondern auch Oesterreich unter Joseph II. (1787) und die beiden großen, aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen deutschen Parlamente zu Frankfurt und Berlin haben gleichzeitig (am 4. Angust 1848) ersteres mit 288 gegen 146, letzteres sogar mit 294 gegen 27 Stimmen die Todesstrafe aufgehoben. In Oesterreich wurde sie mit dem Umschwung der politischen Verhältnisse im Jahr 1795, in Deutschland 1870 mit 127 gegen 119 Stimmen wieder eingeführt, weil man von oben erklärte,das neue milder Strafgesetz würde nicht sanktionirt, wenn der Reichstag die Todesstrafe streiche. Und dennoch, trotz dieser Wiederherstellung, ist in Preußen (und ebenso in andern Ländern, welche die Todesstrafe haben) von 1873-1877 die Zahl der Vergehen und Verbrechen um 40 Prozent gestiegen!! Gibt es einen schlagenderen Beweis dafür, daß die Zunahme der Verbrecher nicht vom Vorhandensein der Todesstrafe abhange?

Es kann gar kein Zweifel darüber herrschen, daß die Abschaffung der Todes-strafe ein sittlicher und politischer Fortschritt in unserer Zeit ist. Im Laufe der Geschichte hat sich eben vielfach gezeigt, daß die „Gerechtigkeit“ dem Einzelnen nie ganz gerecht worden ist, ja sich häufig in ihr Gegentheil verkehrt hat. Das allgemeine Wohlwollen, „die Liebe erst ist des Gesetzes Erfüllung“. Diese reale Macht hat schon bei den Römern das Recht des Einzelnen (brivatrecht)

9 Freufer. Bericht der Mehrheit der ständeräthlichen Kommission. Schaffhausen, C. Schoch, 1879.ungemein erweitert, und der Zug der modernen Welt geht völlig dahin, den Einzelnen so frei als möglich zu machen und ihm alle Rechte zu gewähren, die sein Wohl fördern. Es ist anzuerkennen, daß diese Strömung längst sich auch auf dem Gebiete der Strafgesetzgebung gelteud gemacht hat, so daß heute die Todesstrafe von ihren Vertheidigern nur mehr noch für den mit Vorbedacht ausgeführten Mord gefordert wird. Wenn der Verbrecher der Stimme der Leidenschaft folgt und nicht der Stimme der Vernunft, so ist das, vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus angesehen, seine Schuld; aber wenn die Stimme der Leidenschaft bei ihm stärker ist, als die der Vernunft, so ist das vom Standpunkt der Menschenliebe aus betrachtet, nur zu oft Unsere Schnld, die Schuld der Eltern, der Gemeinde, des Staates! Sollte dies weniger der Fall sein bei Dem, der mit Vorbedacht mordet? Ich glanbe, es gibt auch einen Wahnsinn der Vernunft, der sogar epidemisch und mit dämonischer Gewalt auftritt; man denke an den Wahnwitz der römischen Cäsaren, der ebenso mit raffinirter Lust wie mit kaltem Blute mordet,an die sogenannten Diener der Gerechtigkeit bei der Inquisition und den Hexenprozessen und an ihre blutigen Hekatomben und Scheiterhaufen, an den obenerwähnten Inristen Carpzow! Wenn dem so ist, so hält es schwer, zwischen dem mit Vorbedacht vollführten und dem im Affekt begangenen Mord noch eine Grenze aufzustellen und man kommt dazu, auch für den Mörder der ersten Art' als Strafe nicht den Tod, sondern nur die Entziehung der Freiheit, nur lebenslängliches Gefängniß zu fordern. Außerdem sagt uns ja ein unabweisbares inneres Gefühl,daß die Menschenwürde auch im Verbrecher anerkannt werden soll, daß das Menschenleben etwas Heiliges und Unverletzliches ist und nur für einen heiligen Zweck,wie z. B. die Vertheidigung des Vaterlandes, die Aufopfernng für einen geliebten Menschen, die Rettung eines mit dem Tode Ringenden ist, in die Schanze geschlagen werden darf. Wer in der Welt glaubt, mit einer so schrankenlosen Willkür handeln zu dürfen, als ob er allein da sei, den trifft die völlig adäquate Strafe,daß er isolirt, d. h. allein in die Einsamkeit, in Einzelhaft gesetzt wird. Die Todesstrafe dagegen ist ungerecht, weil sie die ganze Existenz des Verbrechers vernichtet; sie überschreitet die Pflicht der Nothwehr und sie ist überdies nicht vernünftig, weil sie den Zweck der Strafe, die Besserung, abschneidet.

Aus solchen und ähnlichen Gründen hat man am 19. April 1874 auch bei nus die Todesstrafe abgeschafft. Ihre Abschaffung aber ist zu allen Zeiten die Probe für ein Volk, ob seine Knltur wirklich auf der Achtung vor dem Menschen als solchem beruht, auch in dessen niedrigsten und verdorbensten Erscheinung.) Mit 340,000 gegen 198,000 Stimmen hat das Schweizervolk im Jahre 1874 diese Probe in wahrhaft erhebender Weise bestanden! Schon früher erklärte unser schweizerische konservative Staatsmann Hr. v. Segesser in Luzern mit auerkennenswerthem l) Dr. C. Hilty, „Ueber die Wiedereinführung der Todesstrafe“. Bern. Otto Kaäser. 1879.Freimuth: „Ich bin im Grundsatz Geguer der Todesstrafe; ich glaube nicht, daß Gott dem Menschen das Recht über das Leben seiner Nebenmenschen gegeben hat.Indem wir alle Berechtigung der Obrigkeit vom Volke ableiten, können wir noch weniger eine Berechtigung über das Leben eines Menschen in Anspruch nehmen, als Diejenigen, welche ihre Gewalt unmittelbar von Gottes Gnade ableiten.“!)Diese gewichtigen Worte bernhen durchaus auf der Ansicht, daß jeder einzelne Mensch irgendwie das Produkt der Gesammtheit ausmacht und daß das Verbrechen die Eiterbenle ist am Koörper des Volkes und der Gesellschaft, die man nicht abschneiden,sondern abdorren lassen soll; sie beruhen auf der richtigen Wahrnehmung, daß Blut ein eigener Saft ist, und daß Wolf und Hyäne nur um so durstiger werden, je mehr sie davon saufen!

Es ist leider eine Thatsache, daß die gegenwärtige Agitation zu Gunsten der Todesstrafe viel Schlamm mit sich führt; als Triebfedern machen sich vielfach gemeine Rachsucht und abstoßende Rohheit geltend! Wenn solche Ausbrüche jetzt schon vorhanden sind, hofft man sie vielleicht durch die Wiedereinführung der Todesstrafe zurückzndämmen,?? Glaubt man diese Dünste der Grausamkeit durch die Sonne der „öffentlichen Gerechtigkeit“ zu vertreiben? Werden erneuerte Hinrichtungsscenen, die man dem Volke von Zeit zu Zeit bereitet, seine Sitten bessern? O nein; traurige Widersprüche, traurige Leidenschaften sind es nur, die durch solche Exekutionen im Herzen der Menge sich enthüllen! Stirbt das Opfer fest und kühn, so ermuthigt es die Schlechten und bestärkt sie in ihrem Thun. Ist es niedergeschlagen, aufgelöst,in Thränen gebadet, so erweicht sein Zustand die Herzen der Guten, die ihm nicht helfen können. Steht es kalt und fühllos vor dem zu erwartenden Streich, so zerstört der Ausdruck seiner Züge die Lehren, welche sein Tod der Welt hätte geben können.Ist der Verurtheilte reuig, ruft er das göttliche Erbarmen an und erblickt er im Henker gewissermaßen nur den schrecklichen Priester, der mit dem Opfermesser vor dem Blutaltar ihm die Thüre des Himmels öffnet, dann erscheint das Gesetz, das diesen Tod fordert, als eine brutale Gewalt, als ein Fluch, den das Andenken an das Kreuz auf Golgatha längst hätte verbannen sollen, namentlich aber hinwegnehmen soll in einer Zeit, wo man das Hauptgewicht der Religion (völlig im ursprünglichen Geiste des Christenthums) nicht mehr in der Phrase von der stellvertretenden Genngthuung, sondern allein wieder in der sittlichen Erhebung des Herzens sucht!!Darum fort mit dem Henker, fort mit jenen blutigen Bildern, die uns mit ihrer Scheußlichkeit selbst bis in unsere Träume hinein verfolgen. Fort mit diesen Schanstücken, mit diesen kannibalischen Festen, von denen Einzelne mit dem Dolch in der Faust sich wegschleichen, um ihn im Blut eines neuen Opfers zu röthen und

9 Bundesrevisionsdebatte vom 20. Dez. 1871. Hr. Segesser sprach sich sogar gegen die Beibehaltung der Todesstrafe im Militärstrafgesetz aus.

30 —

30 wo Weiber, schwache Weiber nur zu oft schon die Manie zum Tödten empfangen haben, ohne es zu wissen und gegen den Willen ihres eigenes Herzens! Die Freiheit eines republikanischen Volkes bedarf zu ihrem Schutze nicht des Henkerbeiles, sondern unr der bessernden Gerechtigkeit an der Hand der verzeihenden Bruderliebe!

Die Todesstrafe schreckt nicht ab, sie bessert nicht, sie sichert nicht und vermindert die Verbrechen nicht; dagegen hat sie in ihrem Gefolge zu allen Zeiten eine Menge von Justizmorden gehabt (in manchen Fällen ist ja nicht einmal das Geständniß eine absolnte Garantie für die Schuld und daher für die Richtigkeit des Todesurtheils), sie widerspricht dem wahren Christenthum, sie ist das Prodnkt eines überwundenen Kulturstandpunktes, einer überwundeuen Weltanschauung, welche mit unserer ganzen jetzigen, im Jahr 1874 vom Schweizervolke angenommenen Bundesverfassung im Widerspruche steht. „Es ist durchaus keine Nothwendigkeit weder für das Rechtsbewußtsein des Volkes, noch für die Wohlfahrt des Staates, sie wieder einzuführen.“

Darum wenn ich eine Kanzel hätte, so hoch wie der Moutblauc, und man könnte mich verstehen auf allen Bergen und Hochebenen und drunten im Thal in allen Gauen, an den Ufern der Flüsse, die wie Silberbänder sich durch's Land ziehen und an den Gestaden der Seen, in denen unsere Jugend sich badet, um gesund und stark zu werden an Leib nud Seele, so würde ich rufen: Mein liebes Schweizervolk,verwirf das blutige Geschenk, das man dir hente im Namen der Gerechtigkeit und der Religion wieder anbietet. Fordere von deinen Räthen ein einheitliches Strafgesetz mit kantonaler Rechtsprechung; verbessere deine Zuchthäuser so, daß sie nicht erst recht eigentlich zu Hochschulen des Verbrechens werden; beschränke den übermäßigen Genuß des Alkohol's; hege und pflege das Gemüthsleben in deinen Kindern; überwache die öffentlichen Schaustellungen und literarischen Produkte, die deine Seele vergiften; verurtheile den Festschwindel mit seinen hohlen und leeren Phrasen, aber stelle den großen Staatsgedanken einer regenerirten Eidgenossenschaft nicht dadurch auf den Kopf, daß du den Henker wieder anstellst und sein rostiges Richtschwert,das bereits eine historische Antiquität geworden, wieder blank fegen lässest! Fort mit der Todesstrafe, fort mit dem Henker!!

Irrfahrten.Die Schaaren, welche hinausgeströmt waren, um Benzens Tod mitanzusehen,hatten sich nach Beendigung der üblichen Standrede wieder gegen die Stadt zu ergossen und sich im lärmenden Marktgetümmel verloren. Man schien diese Zuschauer unter der übrigen Menge fast herausfinden zu können; ein düsteres Sinnen,fast wie eine geistige Betäubung, machte sich auf ihrer Stirne sichtbar und des Erzählens und Händeverwerfens bei ihren Bekannten und Verwandten, die zu spät gekommen, war kein Ende. Hunderte nahmen heute vor der Zeit eine tüchtige Herzensstärkung im Wirthshaus zu sich, um wieder in's Geleise zu kommen, das wüste Bild aus der Seele zu verscheuchen und dann wieder ihren gewöhnlichen Geschäften sich zuzuwenden. Manchem gelang es aber nicht so leicht und dem Peter Christen glückte es den ganzen Tag nicht, aus seinem innern Sturm herauszukommen.Er hatte kaum den alten Christoffelthurm im Rücken, als er der ersten besten Pinte an der Spitalgasse zusteuerte. Hier war schon Alles Leben und Bewegung.Die Wirthin schoß hin und her wie ein Hummel, trieb das Roseli, die etwas schläfrige Kellnerin an, das dampfende Erbsmues und die Portionen schneller zu bringen und schimpfte über ihren Mann, der auch hinausgegangen sei, während sie doch alle Hände voll zu thun habe. Es könnte ihr eigentlich gleich sein, weun alle Tage eine Hinrichtung wäre, die Welt würde dann hoffentlich bald etwas besser,wenn man das schlechte Gesindel mit Extrapost in die Ewigkeit hinüberschickte. Unterdessen hätten die Wirthe auch Etwas zu verdienen; es seien jetzt mehr als fünfhundert Wirthschaften in der Stadt und da sähe es manchmal in so einer Stube leer genug aus, wenn nichts Besonderes vorfiele in der Welt. Aber gerade eine Hinrichtung sei für das Bauernvolk wie eine Predigt. Nachher möge man auch Etwas essen? so Etwas mache halt Appetit und nachher vertrage man das Trinken auch eher.Christen hatte sich bei diesen Reden der Wirthin unwirsch in eine Ecke gesetzt und übersah mit einem tauben Blick die frühzeitige Kundsame. Er hatte einen Schoppen Rothen befohlen; als ihn das Roseli brachte, schnauzte er es an: „Ig suufe hüt kei rothe; gät mer wiiße.“ Es war ihm öde und leer um's Herz, darum folgte er dem Beispiel anderer Gäste und verlangte eine Portion „Voressen.“ Aber er zwang es mit Mühe hinunter. Es war ihm, als ob er ein Stück von dem Leibe des Waldbenz unter den Zähnen hätte; es grauste ihm ordentlich, so daß er die Hälfte unberührt liegen ließ und nur auf die Gespräche der Andern horchte. Männer,Weiber und Kinder saßen in bunten Gruppen da, um sich von dem Schreckensanblick zu erholen. Jedes von ihnen hatte etwas Besonderes zu erzählen, und sie thaten es in reichlichem Maße, die Einen mitleidig, die Andern lieblos und mit Hohn. Das konnte Christen nicht leiden. Es war ihm, als ob ihn eine Natter stäche; mit weithinherrschender Stimme schoß er heraus: Das sei denn notabene eine Sünde und eine Schande, daß man den Benz nicht begnadigt habe; es sei schon Mancher begnadigt worden, der an einem einzigen Haar schlechter gewesen,aus Benz am ganzen Leibe. Er habe auch den getödteten Ammann gekannt, der am Ende, nachdem er die Banern lange genug geschunden und betrogen, sich bloß noch auf das Ankaufen von Frucht verlegt und damit ein Sündengeld erworben habe. Es sei eigentlich nicht Schade um so Einen, der den Leuten das Brod noch vor'm Mund um die Hälfte vertheure. Um den Benz aber thue es ihm leid;er habe ihn notabene ganz gut gekannt; wäre er im Großeu Rathe gesessen, er hätte doch beim Donner sehen wollen, ob er nicht dem Benz das Leben gerettet hätte!In dieser Weise unterhielt Christen die Pintengäste läuger als eine Stunde.Endlich aber machte er es einem Müller zu bunt, der ihn denn auch gehörig abtrumpfte. Christen's Gesicht wurde roth und röther; er hatte schon den vierten Schoppen vor sich, seine Augen funkelten, der Grimm fuhr ihm in die Faust und er schlug mit derselben, um sich bei dem Gegner gehörig in Respekt zu setzen,auf den Tisch, daß die Gläser klirrten.

Das möchte sie denn aber nicht, fuhr jetzt die Wirthin, nachdem sie dem Ding eine Weile zugesehen, mit gellender Stimme dazwischen, das möchte sie nicht,daß man ihr alle Gäste vertriebe; es könne Jeder denken und glauben, was er wolle, die Gaststube sei für Jedermann da und wenn er Händel suche, so könne er sie draußen auf der Straße ausmachen. Der Müller bestellte jetzt eine Flasche für sich und die Wirthin, blinzelte dieser heimlich mit dem linken Auge zu und lachte auf den Stockzähnen, als sie jetzt noch einmal anfing und darauflosfeuerte, daß es eine Art hatte. Der wie mit kaltem Wasser überschüttete Christen wollte eben sein grobes Geschütz in den Kampf führen, als der Wirth mit einem Trupp Landleuten von der Gasse her eintrat. Da hielt es Christen für gerathener, zu schweigen. Er schluckte seinen Aeger hinunter, zahlte die Zeche und ging hinaus, indem er die Thüre hinter sich zuschlng, daß die Fenster zitterten. Die entschlossene Amazone riß sie aber im Nu wieder auf und sendete dem vertriebenen Feind einen Hagel von Kartätschen nach, so daß selbst ihr Mann sich an den wohlgezielten Schüssen weidlich ergötzte und lachend dem Müller sein Glas zutrank.

Draußen war ein Gewirr' und Gewoge von Leuten, daß man kaum durchkam. Es schien heut Alles auf den Beinen zu sein. Christen sah da und dort einen Bekanuten; aber es dänchte ihn, als ob ihn Alle mit sonderbaren Augen ansähen. Als ihn einer fragte: „Bist du in's Leid gekommen, Christen?“ und dabei seine schwarze Weste mit langem Blicke maß, war das Räthsel gelöst. „Ja“,antwortete er kurz und drückte sich weiter durch die Menge. Die Frage hatte indessen in seinem Kopf allerlei Gedanken heraufbeschworen, denen er trüb nachhing.Er hatte absichtlich keine Waare mit sich zu Markte gebracht, um an diesem Unglückstag frei von Geschäften zu sein; jetzt beschloß er, den Tod des Waldbenz dadurch zu ehren, daß er, als der Uebriggebliebene, sich einen tüchtigen Rausch antrinke, was ihm auch das leichteste Mittel schien, sein eigenes, tief aufgeregtes Innere zu betäuben. Zur Verwirklichung dieses Vorsatzes hatte er bereits einen ordentlichen Ansatz gemacht, und es konnte ihm am wenigsten an einem Markttag in Bern fehlen, sein Ziel gründlich zu erreichen.

So durchwanderte denn Peter die verschiedenen großen Stapelplätze des „Märits“und versäumte nicht, in der Nähe eines jeden, wie ihn der Zufall und sein Gelüste zogen, Etwas auf den Zahn zu nehmen. Er lungerte auf dem Holzmarkt herum,wo sich der Baner und Landarbeiter gewöhnlich seine höhere Wissenschaft holt. Hier,wenn irgendwo, macht er seine fleißigsten Stylübungen, der Eine am Rechenstiel,der Aundere am Hauenstiel. Da wird geprüft, ob keine rauhen Formen sich darin finden, da wird hin- und hergedreht, um zu erfahren, ob Alles kunstgerecht abgerundet und des Preises würdig sei. Christen ließ heute die Rechen und Gabeln stehen; er trank dafür beim „Andres“ einen Schoppen Guten und schickte sich dann an, die unabsehbaren Wagenburgen der Zeughausgasse zu durchbrechen. Es ist bekannt, daß in Bern mehr Rosse zu Markt kommen, als auderwärts Bauern; aber heute war auch gar ein unverschämtes Stoßen und Drängen, und wer noch gar etwas stark geladen hatte, wie der lange Peter, der erhielt weidlich seinen Theil au Püffen und Stößen. Christen drängte ordentlich durch bis gegen die Mitte der Gasse; da war er plötzlich wieder in einer neuen Pinte verschwunden. Schon ging's dem spätern Nachmittage zu. Hundert und Hundert Marktwägelein und Kärrlein verließen stündlich und in allen Richtungen die Stadt. Die Gemüshänd-lerinnen vom Christoffelthurm bis zum Gerechtigkeitsbrunnen hinnnter waren längst mit ihren leeren Körben davon, die fremden Schuhhändler, Grempler und Burgunderhemmlikrämer hatten ihre Barrikaden an der Spitalgasse und auf dem Weibermarkt über dem Stadtbach abgerissen, der Ton der großen Treichlen und der kleinern Kuhglocken wurde nicht mehr probirt, die Göllerkettelistände waren vereinsamt, die Herrlichkeit des Tages war vorüber. Da und dort sah man ein paar Betrunkene sich prügeln oder einen eben ertappten Dieb von dem Polizeidiener anf die Hauptwache geführt; zwischeuhinein krähte der Hahn der Thurmuhr am „Zeitglocken“;der alte Saturn fletschte seine Zähne und schwenkte langsam die Sanduhr, während zu seinen Füßen die drolligen Mutzen mit ihren Hellebarden den von der Kunst des Meisters vorgeschriebenen Umzug hielten. Es war fünf Uhr Abends. Christen hörte den Stundenschlag nicht, denn er saß drüben im Koruhauskeller. Wohl hörte er, wie von den Marktknechten die großen, leeren Kornstanden über dem weiten Keller herumgeworfen und wieder an Ort und Stelle gerückt wurden, daß es in den hohlen Ränmen des gewaltigen unterirdischen Lokales dröhnte wie der dumpfe Donner eines machtvoll anziehenden Gewitters; aber er achtete dieses Zeichen des anbrechenden Feierabends nicht. Er schrie und brüllte sich heiser im Streite mit aier handfesten Burschen, denen er, der hochstämmige Christen, weder an Kraft noch u der Rede mehr gewachsen war und die, als er im höchsten Ausbruch der Trunken

D die Treppe hinauftrugen und ihn so lang und breit er war, auf die Straße warfen. Es war ein Höllenspektakel, der Alt und Jung aus der Nähe herbeilockte. Die Männer standen hochathmend da und schnauften vor Wuth. Christen, der wieder auf den Beinen war, fluchte mörderlich; in Lachen erregenden, unbehilflichen Schwenkungen suchte er seinen Hut, der endlich aus der Haud einer robusten Magd mit einem Scheltwort begleitet von der Thüröffnung des Kellers her in die Luft heraufgeflogen kam.Unglücklicher Weise aber gerieth derselbe nicht sofort in Christens ruhigen Besitz.Von der Keßlergasse und dem Zeitglocken her war nämlich in diesem Anugenblick schief über den Kachelimärit der „Tübeler“ gekommen, ringsum mit Kräzen behangen. Er hatte einen guten Tag gehabt; die Taubenkäfige waren leer, er selber war voll geworden. Hinter ihm her wirbelte eine Schaar von Gassenjungen wie ein Heer von losen Vögeln. Unter diese hinein fiel Christens Hut. Das war für die Buben das Signal zu einem erhöhten Ausbruch ihrer Marktlaune. Einer derselben ergriff den Hut unter stürmischem Jauchzen und Zuruf der Andern und warf ihn dem „Tübeler“ auf die leeren Kräzen, wo er nun mitten drin saß, wie ein todter Uhn. Jetzt erhob sich unter den Buben ein Heidenlärm, der noch größer wurde, als der „Tübeler“, der ohne Zweifel sich von Seite der ihn verfolgenden Plagegeister im höchsten Maße bedroht glaubte, ganze Wendung gegen seine Peiniger machte und so den Hut dem Publikum auch nach der andern Seite zeigte. Christen entdeckte in diesem Moment den Gegenstand seiner Sehnsucht und schritt langsam und schwankend auf den „Tübeler“ zu, welcher nun in voller Weinseligkeit selber mitlachte, indem er sofort in dem betrunkenen langen Peter einen Blitzableiter für den Muthwillen der Jungen entdeckte. Zu diesen gewendet und mit dem Finger auf Christen zeigend, gurgelte er mit Anstrengung einige Worte hervor, welche den Buben die neue Sachlage klar machen sollte. Aber der Peter ließ nicht mit sich spassen. Er faßte den „Tübeler“ an einer der seitwärts hängenden Taubenkräzen und drehte ihn in einem Ruck herum, so daß der Arme rücklings auf seine Käfige fiel und sich erst nach langen Austrengungen erheben konnte. Christen war wieder im Besitz seines Hutes und hatte sich langsam gegen den Zeitglockenthurm herüber retirirt; unterdessen beschäftigte der „Tübeler“ die Aufmerksamkeit und die Lachlust der Anwesenden und ließ so dem Christen Zeit, unbehindert zu entweichen. In einem Zustande, welcher Keinem der ihm Begegnenden beneidenswerth schien, trat Christen jetzt eine neue Irrfahrt nach verschiedenen abgelegenen Winkeln an, die nicht eiumal den Namen „Kneipen“ mehr verdienen. Hier trug das feile Laster offen seine verbuhlten Reize zur Schau. Christen bezahlte den Anwesenden zu trinken und wäre ohne Zweifel auch sonst noch gehörig ausgebeutet worden, wenn er sich nunr noch ordentlich hätte auf den Beinen halten können. Da er aber mit der Zunge lallte und mit den Füßen gar sonderbare Schneckentänze machte, so entlediate man sich seiner so gut es ging, und er stand überall bald wieder auf der Gasse.Endlich dachte er an die Heimkehr. Er steuerte der nutern Stadt zu, bestärkte sich aber in dem Euntschluß, bevor er über die Brücke schritt, jedenfalls noch ein Glas ächten Erdäpfelbranntwein zu nehmen. Er trat also in eine Stube zu ebener Erde,wo ihm ein sonderbarer Gesang von dünnen, heisern Stimmen entgegenschallte, dessen zweifelhafte, näselnde Töne ihn in seinem Dusel an die alte versunkene Welt der Bergmännchen gemahnte. Als Christen sich vorsichtig und langsam auf einen Stuhl niederließ und mit einem einzigen barschen Wort (denn mehr konnte er nicht hervorbringen) seine Forderung stellte, schaute ihn die dicke Wirthin mit ihrem zinnoberrothen Gesicht zuerst zweifelhaft an; als sie aber mit einem Blick Peters Kleidung gemustert, konnte sie darüber nicht im Zweifel sein, daß sich heute ein Gast von der bessern Sorte zu ihr verirrt habe, und sie holte angenblicklich das Verlangte.Und so war es ja auch; denn im nüchternen Leben hätte sich Christen kaum zu diesen Gästen gezählt, er war ein Ehrenmitglied des Vagautenleistes geworden!Wer kennt sie nicht, diese blutarmen, verlumpten Kerle mit ihren halbsteifen, zur Arbeit nicht mehr tanglichen Gliedern, mit ihren zerrissenen und zerfetzten, buntscheckigen Kleidern, mit ihren struppigen Bärten und blassen Schnappsgesichtern!Genius der Menschheit, gehe trauernd vorüber an diesen brodlosen Ausgestoßenen der menschlichen Gesellschaft! Die ehrenwerthe Bande war vom Kartoffelgeist besessen und in ihrer unbeholfenen Weise eben damit beschäftigt, die Hinrichtung vom heutigen Tag nachzuäffen. Christen hatte sein Glas in einem Znug herunter gestürzt; bald nahm er wenig mehr von der Außenwelt wahr; was um ihn her vorging, das däuchte seiner müden Phantasie vielleicht ein bloßes Schattenspiel an der Wand. Er fühlte ein heftiges Brausen im Kopf; es war ihm einige Minuten, als läge er im Mastkorb eines Schiffes, das von den Wellen bald gegen die Wolken geschleudert, bald in den Grund des Meeres versenkt würde. Jetzt wurde er von einem dumpfen Schlaf übermannt und blieb mit auf die Brust herabgesunkenem Kopf in dieser Stellung wohl zwei Stunden sitzen, ohne von Jemandem belästigt oder gestört zu werden. Sein Gesicht war nicht mehr roth; es war todtenbleich geworden und die Haut wie von einem kalten Duft augehaucht.

Die Thurmuhr an der Nydeckkirche schlug eilf Uhr, als Christen ziemlich unsanft aufgeschüttelt wurde. Es war die Wirthin, die jetzt mit ihren Gästen wenig Umstände mehr machte und auch dem Christen ziemlich grob auf's Pflaster half.Der Schlaf hatte ihm gut gethan; er war wieder etwas zu sich selber gekommen und die kühle Nachtluft erfrischte seine Sinne so, daß er wenigstens wußte,was er jetzt zu thun habe. So machte er sich denn über die nutere Brücke dem Klösterli zu, wo Roß und Wagen standen. Der Stallknecht spannte ihm an, sobald er Zeit hatte, half ihm auf den Sitz, drückte ihm das Leitseil in die Hand, zündete noch einmal mit der Laterne um zu sehen. oh Alles in Ordnung sei nud gab schließlich dem betrunkeuen Christen den Rath, ordentlich festzusitzen und immer die Mitte der Straße einzuhalten. Jetzt versetzte der Peter seinem Roß ein paar tüchtige Geiselhiebe und fuhr ab. Das arme Thier hatte zu Mittag auf Befehl seines Meisters nur das halbe Futter erhalten, und als der Knecht beim Eiuspannen fragte,ob er ihm noch etwas geben solle, meinte Christen, er habe heute früh gut gefuttert;es sei nicht nothwendig, sie werden schon heimkommen.

Die Heimkehr.Es mochte ungefähr eine Stunde vorüber sein, als das Fuhrwerk mit seinem Inhalt an eine kleine Anhöhe gelangte. Der Boden war hier mit frischem Kies besäet; das Pferd wich deßhalb von der Mitte des Weges ab und schnaufte an der linken Seite hart am Graben der Straße hinanf. Da es nun langsamer und etwas holperig ging, so erwachte Christen, der bisher geschlafen und sich ganz dem nüchternen Verstande seines Thieres auvertraut hatte. „Bestie“, murmelte er, „wart',ich will dich lanfen lehren“ und hieb unbarmherzig auf das Roß ein. Dieses kam aber nicht schneller vorwärts, und so meinte Christen, es fehle etwas an dem Lederzeng oder am linken Wagenrad; vielleicht habe ihm der Stallknecht eine Tücke gespielt, weil er ihm kein Trinkgeld gegeben. Aber in dem Augenblick, wo er sich erhob, schwaukte er, verlor das Gleichgewicht und stürzte köpflings mit einem gewaltigen Plumps in den Graben. Glücklicher Weise hatte er im Fallen das Leitseil losgelassen; das Roß blieb stehen und wieherte, als ob es ein Unglück ahne, hell in die Nacht hinaus. Christen aber blieb bewußtlos liegen und gab kein Zeichen des Lebens mehr von sich. Werfen wir unterdessen einen Blick auf sein bisheriges Leben.

Die Moosrüti war ein großer, aber in Abgang gekommener Hof, etwas abwärts von Goldwyl gelegen. Es hatten früher weite Strecken von Wald nud Wiesen, von Ried und Ackerland dazu gehört, aber Peters Vater hatte seine Frau frühe verloren, aus Gram darüber sich nach und nach dem Trunk ergeben und so sein Besitzthuin vernachlässigt. Er behalf sich mit Knechten und Mägden, die ihm seine Sache veruntrenten und während seiner Abwesenheit sich gütlich thaten. Den kleinen Peter, bei dessen Geburt die Mutter gestorben, versorgte der alte Christen bei einer nahen Base, bis er in's zehnte Jahr ging; daun nahm er ihn auf die Moosrüti, wo er neben der Schule in der Gesellschaft von Knechten und Mägden war und in dieser Weise eine bedenkliche Erziehnng erhielt. Er war schon in diesem zarten Alter ein meisterloser Bube, der Niemanden etwas nachfragte, selbst dem

Vater nicht, den er übrigens selten zu sehen bekam, denn der war in Geschäften bald da, bald dort. Peterli schoß nach einigen Jahren rasch auf nud war bald kein Peterli mehr, sondern ein langer „styfer“ Bengel. Er fand an Benzli, dessen pflegeeltern in der Nähe der Moosrüti wohnten, ein ihm völlig ebenbürtiges Talent,das ihn nur im Punkte der Frechheit und Tollkühnheit noch übertraf. Die Flegeliahre gingen dem Peter hin, wie sie noch heute Tausenden hingehen. Der junge Bursche lerute rauchen, etwas später wurde er unterwiesen, dann ging es an's Kilten, Spielen und Kegeln, an's Exerziren, Trinken und Tanzen. Als Beuz Handgeld nahm, fühlte der junge Christen sich vereinsamt. Er hatte keinen andern Freund, denn die bessern jungen Bursche hatten sich nie mit ihm einlassen wollen.Jedermann wußte auch, daß auf der Moosrüti bös geschaltet und gewaltet werde,daß es mit der ganzen dortigen Wirthschaft den Krebsgang gehe und daß die besten Grundstücke längst vom Moosrütihof abgelöst und in andern Händen waren. Da fiel eines Tages, es war im Henet, der alte Moosrütibaner von der Henbühne in's Tenn herab. Er hatte zu viel in's Glas geschant, zerquetschte sich durch den Fall die Hirnschale und blieb auf der Stelle todt. Peter grämte sich über den Tod des Vaters gerade nicht besonders; aber er dachte jetzt an's Heirathen. Die amtliche Uutersuchung der Vermögensverhältnisse machte ihm freilich, was seine Ausprüche und Hoffnungen betraf, in diesem Punkt einen gewaltigen Strich durch die Rechunug. Es trat jetzt zu Tage, daß der Moosrütibauer seit vielen Jahren schlecht gewirthschaftet; dem Sohne blieb nichts mehr, als ein ganz kleines Heimwesen, das freilich eine fleißige Bauernfamilie hinreichend ernähren konnte, aber nicht ausreichte zu Bedürfnissen, wie Peter sie sich angewöhnt hatte. Er ging also auf eine reiche Frau ans; aber wo er anklopfte, da mußte er mit lauger Nase wieder abziehen.Das machte ihn eudlich wüthend und er beschloß, sich zu rächen. Geheirathet mußte werden, das war bei ihm ein fester Beschluß, und nun fiel es ihm erst ein, daß ganz in der Nähe der Moosrüti das Moosbrugger-Vreueli wohne, ein Mädchen wie Milch und Blut, freundlich und lentselig, eine ächte blühende Moosrose, aber arm wie eine Kirchenmaus. Peter hatte es zum zweiten und dritten Mal auf dem Tanzboden gesehen, aber immer nur in Begleitung seiner alten Base, bei der es wohnte und die ihm längst durch ein Testament ihr kleines Erbe von ein paar huudert Kronen hatte zusichern lassen. Die Sache hatte aber einen Hacken. Ein hübscher,wohlhabender Bursche aus einer Nachbargemeinde sah das Vreueli gerun, tanzte auch öfter mit ihm, als mit Andern, und das Meitschi hatte, wie es schien, an dem Sämi von der Langenegg nicht minder Gefallen. Peter merkte, daß er auch dies Mal wieder den Kürzern zöge, wenn er unicht außerordentliche Hebel in Bewegung setzte. Da kam ihm denn die Rückkehr des Benz aus Indien wie gewünscht. Es wurde unter ihnen im Geheimen abgemacht, das Vreueli dem Sämi zu verleiden.Der Plan gelang. Das Vreneli wurde in der Meinnug Sämi's durch Verläumditngen verdächtigt und untergraben; Beuz sorgte dafür, daß die Fäden dieses Lügengewebes hübsch angesponnen wurden und durch allerlei Nebenumstände einen Schein von Wahrheit erhielten. Als das Mädchen weinte und die alte Base schimpfte über die gottlose Welt, vor deren giftigem Stich auch der Beste nicht verschont bleibe, da brachte der lange Peter vorsichtig und ohne mit der Thür in's Haus zu fallen seine Bewerbung an. Es war ein Intriguenstück, wie leider manches gespielt wird; der Schluß davon der, daß Peter heirathete, aber auch, daß bald auskam,wie arg dem Vreneli mitgespielt worden.

Dieses hingegen war froh, unter solchen Umständen noch unter die Haube gekommen zu sein; anch liebte es den Peter aufrichtig und war vom besten Willen beseelt, ihm eine tüchtige Hansfrau zu werden und dadurch den Moosrütihof wieder empor zu bringen. Aber als die Flitterwochen zu Ende gingen, da waren auch die schönen Hoffunugen und Träume der jungen Frau zerstoben. Peter arbeitete nicht;er spielte, trank über den Durst, trieb sich an deun Jahrmärkten herum und versprengte sein Geld an den Musterungen und im Militärdienst, wo er den Freigebigen machte; wenn er heimkam, war er unwirsch und taub und wurde erst wieder guter Dinge, wenn er aus irgend einem neuen Anlaß den Moosrütihof im Rücken hatte. Das Vreneli schenkte dem rauhen Mann nach Jahr und Tag ein Mädchen,das schön und wohlgestaltet war, wie es selber; aber der Peter hätte lieber einen Buben gehabt. Das Kind starb und mit ihm Vreneli's einzige Freude auf dieser Welt. Gerne wäre es jetzt wieder in die ärmliche Hütte seiner Base zurückgezogen;aber diese war ja schon ein halbes Jahr nach seiner Hochzeit zur Ruhe gegangen.Es dünkte das Vreneli oft, es möchte zu dem alten, treuen Herzen, das Mutterstelle an ihm vertreten, in den Boden hineinschlüpfen! Peter sah, wie es immer rothgeweinte Augen hatte; aber er besaß keinen Sinn, um den Schmerz zu ermessen,der in der Brust seines Weibes nagte.

Nun geschah Etwas, das eine völlige Veränderung in diesen Verhältnissen zu Wege brachte. Peter Christen war auf dem Heimweg von einer Musterung;unterwegs kehrte er mit seinen Kameraden in mehrern Wirthshäusern ein. Der Zufall wollte es, daß an ihrem letzten Rastort, wo es ziemlich lärmend herging,auch der LaugeneggSämi sich einfand. Christen trug einen glühenden Haß gegen ihn im Herzen; denn Sämi war unter den Vieren gewesen, welche ihn aus dem Kornhauskeller heraufgetragen und auf die Straße geworfen hatten. Ohne Zweifel hatte derselbe die Andern dazu aufgehetzt; Christen aber hatte geschworen, es ihm bei der ersten Gelegenheit einzuträuken. So kam es zu Sticheleien, dann als der Wein noch mehr in die Köpfe gestiegen, zu heftigem Wortwechsel, zu wüstem Lärm und Gebrüll und endlich zu einem Handgemenge, worin Christen freilich dies Mal Sieger blieb, aber erst nachdem er dem Sämi sein Messer in den Leib gestoßen, so daß dieser nach wenigen Augenblicken lautlos zusammensank.

Die That, im Soldatenkleid begangen, wurde selbigen Tages noch in der ganzen Gegend ruchbar und der lange Peter gefänglich eingezogen. Es wurde ihm in aller Strenge der Prozeß gemacht; das Urtheil ward gefällt, es lautete auf Tod durch's Schwert.

Christen saß im Käfigthurm zu Bern wie einst Beuz. Welche Gefühle bemächtigen sich seiner in den Wochen seiner Haft, wenn er durch eine der engen Fensterlucken auf den Bärenplatz, auf die ab- und zugehende Bevölkerung der Hauptstadt, auf das Gewoge eines Markttages hinuntersah! Sein blutiger Tag nahte heran. Christen war fassungslos; im Innersten geknickt und zerschmettert, trat er den letzten Gang an. So wie damals bei der Ausführung des Waldbenz stund jetzt das schaulustige Volk auf Straßen, Bäumen und Dächern. Jetzt hörte er,während er baarfuß, den Strick um die Hände, im Zuge lief, die Glocken ertönen,nicht eine einzige, sondern alle Glocken des Münsters und der Heil. Geistkirche.Sie klangen so dumpf nuud schauerlich, daß ihn eine nie geahnte, namenlose Angst nud Bangigkeit überfiel. Es war, als ob ihn ihr vom Wind getragener Ton mit sich fort durch die Lüfte nehmen wollte, schneller und immer schneller, hinaus zum Galgenhübeli, zum letzten Gebet, zum letzten Augenblick, zum letzten Lebewohl! Die Brust wollte ihm vor Schmerz zerspringen; diese innere Qual schien ihm ein Tod vor dem Tode zu sein. Jetzt betrat er die Richtstätte, jetzt betete er mit verbundenen Augen, jetzt pfiff das Schwert durch die Luft, er empfing den tödtlichen Streich und erwachte! Christen hatte geträumt, sein ganzes verworfenes Leben vorausgeträumt und die Erinnerungen des vergangenen Tages mit den Gebilden seiner Phantasie zusammengeschlungen. Er lag noch immer draußen im Graben an der Straße; Roß und Wagen stunden neben ihm uud das kluge Thier wieherte von Zeit zu Zeit, halb aus Hunger, halb aus Augst in die dunkle Gegend hinaus.

Christens Rausch war vorüber; aber eine Todesmattigkeit hatte sich auf seine Glieder gelagert. Er konnte sich nicht regen und bewegen. Jetzt griff er langsam an den Kopf, der ihm wehe that; er fühlte, daß er blutete. Jetzt wollte er eine leise Anstrengung machen, um aufzustehen; aber ein wüthender Schmerz im rechten Bein schnellte ihn angenblicklich wieder in die vorige Lage zurück. Das Merkwürdigste war, daß er immerfort auch im wachen Zustande noch die Glockentöne seines Traumes hörte. Er war deßhalb einen Augenblick im Zweifel mit sich, ob er wirklich wache oder träunme. Endlich ging ihm über diese sonderbare Erscheinung ein Licht auf.Er war bei seinem Sturz an eine Telegraphenstange geworfen worden und lag auch mit dem stark beschädigten Kopf hart an derselben.

Nun mußte sich seit einiger Zeit ein leiser Luftzug erhoben haben, der die Drähte der Telegraphenleitung in Schwingung versetzte; der Leser weiß, daß dadurch in der Stange ein vielstimmiges Glockengeläute entsteht, welches oft in völlig harmonischen Töuen sich bewegt und aus der Tiefe des Basses bisweilen zu den sanften

Tönen der Aeolsharfe heraufsteigt, je nachdem der Wind in scharfem Zug oder bloß in schmeichelndem Wehen die metall'nen Zungen berührt, welche den Gedanken des Menschen mit der Schnelligkeit des Blitzes in die entlegensten Theile der Erde tragen.Und wie manchmal äußerliche Einwirkungen in unsere Träume hinüberspielen, so hatte Christen das Glockengeläute der Telegraphenstange, unter der er lag, im Tranme vernommen und mit den trüben Bildern seiner erhitzten Einbildungskraft in Eins zusammengewoben. Als er jetzt im Wachen seinen hülflosen Zustaud gewahr wurde,seufzte er tief auf. Ob ihn auch sein Kopf schmerzte und das Bein ihm so wehe that, wie wenn man es mit Messern durchwühlte, eine Zentnerlast war gleichwohl von seinem Herzen gefallen! Er hatte ihn nicht gethan, den uuheilvollen Stoß,er war bewahrt geblieben von der tiefsten Schmach, frei von der Wucht eines zermalmenden Gewissens. Wie dankbar wogte es in seiner Brust! Und horch', jetzt fingen die Glocken in der Stange wieder an zu tönen. Er lauschte ihnen mit Gefühlen, die ihm lange, lauge abhanden gekommen. Obgleich die Nacht feucht und dunkel aus den Bergen quoll und die Sterne sich verhüllten, ihm war's, als wäre es Sonntag, als flöge Lichtglanz um seine Augen, als brauste der Geist des Himmels wie Osterglocken über den stillen See seines Gemüthes, als nickten träumend die Blüthenzweige der Sehnsucht am sonnigen Ufer seiner lächelnden Seele! Dann wieder war es, als vernähme er bloß ein sanftes Abendgeläute aus weiter Ferue,zur Zeit wenn die Sonne verglimmend über den Bergen steht und das braune Rietgras im Thal vergoldet und einen wehmüthigen Scheideblick auf die dämm'rige Erde wirft. Und wieder war es ihm, als grüßten ihn jene Feierklänge, die er einst oernommen, als er zu halten schwur die Gebote Dessen, der vor Zeiten gesprochen:„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben.“ Wie Klänge einer bessern Welt zogen diese Töne au Christeus Ohr vorüber und drangen in der Einsamkeit der Nacht tief in sein Herz hinab. Er dachte an das Vreueli, an sein gestorbenes Kind, an Benzens Mutter, an Sämi, an die Erlebnisse des vergangenen Tages, und still weinte er seine Thränen, als ein glühendes Opfer der Reue, als einen sein inneres Leben befruchtenden Than, der bald in der Morgenröthe einer wirklichen Bessernug erglänzen sollte!

Läugere Zeit hatte Christen diesen mit Macht auf ihn einstürmenden Gefühlen sich überlassen, als er endlich die letzten Kräfte sammelte, um aus dem Graben zu kommen. Er kroch auf beiden Häuden und dem linken Knie heraus auf die Straße,indem er das rechte Bein unter großen Schmerzen nachschleppte. Endlich gelang es ihm, sich auf das linke Bein zu stellen und mit beiden Armen sich auf den Wagensitz heraufzustemmen. Nach dieser Austrengung sank er vor Erschöpfung zusammen,raffte sich aber von Neuem wieder aunf, um nach einiger Zeit das Leitseil zu ergreifen. Anf seinen schwachen Ruf ging das Roß jetzt bergan; Christen schlug es nicht mehr. Als das Gefährt auf dem Moosrütthof anlangte, stieß der Tag an den Himmel. Christen hatte unterwegs viel gelitten. Er war vor Schmerz bewußtlos in den Wagen zurückgesunken.

Vreneli konnte die Nacht über wenig schlafen und war früh vor Tag aufgestanden.Als es das Wägelein langsam heranfahren sah, ahnte es sogleich, daß hier etwas Unrichtiges sei. Mit dem Rufe: „Herr Jesus, es hat ein Unglück gegeben“, weckte es die Magd und das Knechtlein und stürzte voraus, dem Fnuhrwerk entgegen.

Ich überlasse dem Leser, die jetzt folgende Scene sich selber auszumalen.Thristen wurde zu Bett gebracht. Er ächzte und stöhnte. Dem Vreneli hatte er die Hand gedrückt und leise zu ihm gesagt: „Vergib mir Alles, wenn du kannst!“Wie wohl thaten ihm diese Worte! Es pflegte ihn auch mit einer rührenden Sorgfalt und Geduld. Angenblicklich hatte es das Knechtlein nach dem Doktor ausgeschickt,der im nächsten Dorf wohnte. Als endlich Beide nach drei langen Stunden anlangten, dieser sich von Christen sein Begebniß erzählen ließ und das Bein untersuchte, zeigte sich's, daß dasselbe doppelt gebrochen war. Der Doktor schüttelte bedenklich den Kopf, und sah mit einem fast vorwurfsvollen Blick auf Peter, denn die Einziehung und der Verband des Beines schienen ihm nach einer mühevollen Stunde nur halbgelungen. Der zu reichliche Weingenuß, die körperlichen Anstrengungen Christens nach dem Bruch und die lange Frist, welche von dieser Zeit an bis zum Verband verstrichen war, hatten bereits eine so heftige Geschwulst, verbunden mit starkem Fieber, erzeugt, daß der Arzt nach zwei Tagen schon dem Vreneli eröffnete, der Brand sei hinzugetreten und es bleibe nichts übrig, als in Gottes Namen das Bein abzunehmen. Das junge Weib rang die Hände und schwamm in Thränen; Christen unterwarf sich muthig der gefährlichen Operation; sein Körper überwand die Qualen,seine gesunde Natur siegte über die tödtliche Erschöpfung.

Es waren bittere Stunden, trübe Tage, welche jetzt über die Bewohner des Moosrütihofes hereinbrachen. Vreneli gönnte sich keine Ruhe. Mehr als zwei Mal war Peter dem Tode nahe und wartete es ihm zum Ende. Es härmte sich dabei ab und lebte wieder auf, wenn die Krankheit sich zum Bessern wandte. Es kounte dem Peter Alles thun, denn er war jetzt so sanft und still geworden, wie er nie gewesen. Er sprach mit Vreneli stundenlang von seiner Vergangenheit und der Zuknuft, worin er Alles nachholen und besser machen wolle, was er früher versäumt und gefehlt habe. Aber es ging lange, lange bis der arme Peter wieder aufkam. Die heißen Sommermonate waren endlich vorüber. Und wie im Feld die Erndte gelb geworden im Strahl der heißen Sonne, so ward im Feuer der Geduld und im Schmelztigel der Prüfung anf dem Moosrütihof ein Herz reif, das schon der Fänlniß verfallen schien, aber dazu bestimmt war, noch bessere Früchte zu bringen.Kühler strich der Nachtwind schon über Felder und Wälder; die Mauerschwalben waren schon auf die Fahrt nach ihren Winterquartieren gegangen, die Hausschwalben sammelten sich und übten sich schaarenweise im Flug, um ihnen bald nachzufolgen.Die Zeit der Stallfütterung war für das Vieh vorüber; der Klang der Heerdeglocken auf den Weiden tönte anmuthig und wehmüthig zugleich an das Ohr des Wauderers,als wär' es das Grabgeläute der noch in allen Farben prangenden, aber bald hinwelkenden Natur. An einem Herbsttage war's, daß Peter Christen wieder zum ersten Mal mit seinem Vreneli auf der Bank vor dem Hause saß und sich der lieben Sonne und des Kuhgeläutes nicht minder als seiner Genesnung erfreute. Er hatte ein hölzernes Bein, das er noch nicht gar besonders geschickt zu gebrauchen wußte;er konnte nicht mehr zu Acker fahren, denn sein Stelzfuß ging zu tief in die Erde,er konnte nicht mehr Tannen fällen im Wald und keine Musterungen mehr mitmachen, aber Christen hatte das Laster der Trunksucht abgelegt! Die Scholle seines verhärteten Gemüthes war umgepflügt von jenem Ackermaun, der lauter guten Saamen streut in die Herzen der Menschen, und in seinem künftigen Leben ging eine Saat auf, die davon Zeugniß gab, daß auch das Herz des Bösewichts sich zu andern und zu bessern vermag. Christen hatte seit Monaten einen Meisterknecht einstellen müssen, dem er einen ordentlichen jährlichen Lohn ausrichtete; aber weil er selber zu Hause blieb und überall nachsah und leichtere Arbeit selber verrichten half,so gedieh ihm jetzt Alles. Er verbesserte seinen Hof binnen kurzer Zeit um das Doppelte und kanfte auch einige veräußerte Grundstücke wieder zurück. Vreneli war glücklich; erst jetzt sah es alle die frühern muthwilligen Vorspiegelungen und Versprechungen Christens zu wirklichen Erfüllnungen geworden. Und als nach Jahr und Tag der holden Mutter ein frischer und gesunder Knabe lächelnd die Häudchen entgegenstreckte, da platzte es mit eigenthümlicher Offenheit heraus: „Es ist doch fast ein Glück gewesen, Peter, daß du das Bein gebrochen hast.“ „Ja“, fügte Christen hinzu,„in jener Nacht wurden meinem alten Menschen die Todesglocken geläutet; in jener Nacht habe ich mir diesen Stelzfuß, aber damit ein besseres Herz und ein neues Leben geholt!“