Jeute von Seldwyla.
Die
Jeule von Aelclwvlii.
Erzählungen
von
Gottjneä Keller.
Braunschweig,
Druck und Verlag von Friedrich Vieweg und Sohn. 1 8 5 6 .
Inhalt.
Pankraz, der Schmoller. 9
Frau Regel Amrain und ihr Jüngster ..... 113
Romeo und Julia auf den« Dorfe. 269
Die drei gerechten Kammmacher ....... 36y
Spiegel, das Kätzchen.447
(Aeldwyla bedeutet nach der älteren Sprache einen wonnigen und sonnigen Ort, und
so ist auch in der That das kleine Städtchen dieses Namens gelegen irgendwo in
der Schweiz. Es steckt noch in den gleichen alten Ringmauern und Thürmen, wie
vor dreihundert Jahren, und ist also immer das gleiche Nest; daß dies aber ein
tiefer ursprünglicher Plan war, beweist der Umstand, daß die Gründer der Stadt
dieselbe eine gute halbe Stunde von einem schiffbaren Flusse angelegt, zum
deutlichen Zeichen, daß nichts daraus werden solle. Aber schön ist sie gelegen
mitten in grünen Bergen, die nach der Mittagseite zu offen sind, so daß wohl die
Sonne herein kann, aber kein rauhes Lüftchen. Deswegen gedeiht auch ein ziemlich
guter Wein rings um die alte Stadtmauer, während höher hinauf an den Bergen
unabsehbare Waldungen sich hinziehen,
Keller, dte Leute von Seldwyla. I. 1 welche das Vermögen der Stadt
ausmachen; denn dies ist das Wahrzeichen und sonderbare Schicksal derselben, daß
die Gemeinde reich ist und die Bürgerschaft arm, und zwar so, daß kein Mensch zu
Seldwyla etwas hat und niemand weiß, wovon sie seit Jahrhunderten eigentlich
leben. Und sie leben sehr lustig und guter Dinge, halten die Gemüthlichkeit sür
ihre besondere Kunst und wenn sie irgendwo hinkommen, wo man anderes Holz
brennt, so kritisiren sie zuerst die dortige Gemüthlichkeit und meinen, ihnen
thue es doch niemand zuvor in dieser Handtierung.
Der Kern und der Glanz des Volkes besteht aus den jungen Leuten von etwa zwanzig
bis fünf, sechs und dreißig Jahren, und diese sind es, welche den Ton angeben,
die Stange halten und die Herrlichkeit von Seldwyla darstellen. Denn während
dieses Alters üben sie das Geschäft, das Handwerk, den Vortheil oder was sie
sonst gelernt haben, d. h. sie lassen, so lange es geht, fremde Leute für sich
arbeiten und benutzen ihre Profession zur Betreibung eines trefflichen
Schuldenverkehres, der eben die Grundlage der Macht, Herrlichkeit und
Gemüthlichkeit der Herren von Seldwyl bildet und mit einer
ausgezeichneten Gegenseitigkeit und Verständmßinm'gkeit gewahrt wird; aber
wohlgemerkt, nur unter dieser Aristokratie der Jugend. Denn so wie Einer die
Grenze der besagten blühenden Jahre erreicht, wo die Männer anderer Städtlein
etwa anfangen erst recht in sich zu gehen und zu erstarken, so ist er in
Seldwyla fertig; er muß fallen lassen und hält sich, wenn er ein ganz
gewöhnlicher Seld- wyler ist, ferner am Orte aus als ein Entkräfteter und aus
dem Paradies des Credites Verstoßener, oder wenn noch etwas in ihm steckt, das
noch nicht verbraucht ist, so geht er in fremde Kriegsdienste und lernt dort für
einen fremden Tyrannen, was er für sich selbst zu üben verschmäht hat, sich
einzuknöpfen und steif ausrecht zu halten. Diese kehren als tüchtige Kriegs-
männer nach einer Reihe von Jahren zurück und gehören dann zu den besten
Ererziermeistern der Schweiz, welche die junge Mannschaft zu erziehen wissen,
daß es eine Lust ist. Andere ziehen noch anderwärts auf Abenteuer aus gegen das
vierzigste Jahr hin, und in den verschiedensten Welttheilen kann man Seldwyler
treffen, die sich alle dadurch auszeichnen, daß sie sehr geschickt
Fische zu essen verstehen, in Australien, in Californien, in Teras, wie in Paris
oder Konstantinopel.
Was aber zurückbleibt und am Orte alt wird, das lernt dann nachträglich
arbeiten, und zwar jene krabbelige Arbeit von tausend kleinen Dingen, die man
eigentlich nicht gelernt, sür den täglichen Kreuzer, und die alternden verarmten
Seldwyler mit ihren Weibern und Kindern sind die emsigsten Leutchen von der
Welt, nachdem sie das erlernte Handwerk aufgegeben, und es ist rührend
anzusehen, wie thätig sie dahinter her sind, sich die Mittelchen zu einem guten
Stückchen Fleisch von ehedem zu erwerben. Holz haben alle Bürger die Fülle und
die Gemeinde verkauft jährlich noch einen guten Theil, woraus die große Armuth
unterstützt und genährt wird, und so steht das alte Städtchen in
unveränderlichem Kreislauf der Dinge bis heute. Aber immer sind sie im Ganzen
zufrieden und munter, und wenn je ein Schatten ihre Seele trübt, wenn etwa eine
allzuhartnäckige Geldklemme über der Stadt weilt, so vertreiben sie sich die
Zeit und ermuntern sich durch ihre große politische Beweg-
lichkeit, welche ein weiterer Charakterzug der Seldwyler ist. Sie sind nämlich
leidenschaftliche Parteileute, Verfassungsrevisoren und Antragsteller, und wenn
sie eine recht verrückte Motion ausgeheckt haben und durch ihr Großrathsmitglied
stellen lassen, oder wenn der Ruf nach Verfassungsänderung in Seldwyla ausgeht,
so weiß man im Lande, daß im Augenblicke dort kein Geld zirkulirt. Dabei lieben
sie die Abwechselung der Meinung und Grundsätze und sind stets den Tag darauf,
nachdem eine Regierung gewählt ist, in der Opposition gegen dieselbe. Ist es ein
radikales Regiment, so schaaren sie sich, um es zu ärgern, um den konservativen
frömmlichen Stadtpfarrer, den sie noch gestern gehänselt, und machen ihm den
Hof, indem sie sich mit verstellter Begeisterung in seine Kirche drängen, seine
Predigten preisen und mit großem Geräusch seine gedruckten Tractätchen und
Berichte der Baseler- Missionsgesellschaft umherbieten, natürlich ohne ihm einen
Pfennig beizusteuern. Ist aber ein Regiment am Ruder, welches nur halbwegs
konservativ aussieht, stracks drängen sie sich um die vier Volkslehrer des
Städtchens und der Pfarrer hat genug an den Glaser zu zahlen für
eingeworfene Scheiben. Besteht hingegen die Regierung aus liberalen Zuristen,
die viel auf die Form halten, und aus häcklichen Geldmännern, so laufen sie
flugs dem nächst wohnenden Sozialisten zu und ärgern die Regierung, indem sie
denselben in den Rath wählen mit dem Feldgeschrei: Es sei nun genug des
politischen Formenwesens, und die materiellen Interessen seien es, welche allein
das Volk noch kümmern könnten. Heute wollen sie das Veto haben und sogar die
unmittelbarste Selbstregierung mit permanenter Volksversammlung, wozu freilich
die Seldwyler am meisten Zeit hätten, morgen stellen sie sich übermüdet und
blasirt in öffentlichen Dingen und lassen ein halbes Dutzend alte Stillständer,
die vor dreißig Jahren fallirt und sich seither stillschweigend rehabilitirt
haben, die Wahlen besorgen; alsdann sehen sie behaglich hinter den Wirthö-
hausfenstern hervor die Stillständer in die Kirche schleichen und lachen sich in
die Faust, wie jener Knabe, welcher sagte: Es geschieht meinem Vater schon
recht, wenn ich mir die Hände verfriere, warum kauft er mir keine Handschuhe!
Gestern
schwärmten sie allein für das eidgenössische Bundesleben und waren höchlich
empört, daß man Anno 48 nicht gänzliche Einheit hergestellt habe; heute sind sie
ganz versessen auf die Kantonal- souveränetät und haben nicht mehr in den
Nationalrath gewählt.
Wenn aber eine ihrer Aufregungen und Motionen der Landesmehrheit störend und
unbequem wird, so schickt ihnen die Regierung gewöhnlich als Beruhigungsmittel
eine Untersuchungskommission auf den Hals, welche die Verwaltung des Seldwyler
Gemeindegutes reguliren soll; dann haben sie vollauf mit sich selbst zu thun und
die Gefahr ist abgeleitet.
Alles dies macht ihnen tausend Spaß, der nur überboten wird, wenn sie
allherbstlich ihren jungen Wein trinken, den gährenden Most, den sie Sauser
nennen; wenn er gut ist, so ist man des Lebens nicht sicher unter ihnen, und sie
machen einen Höllenlärm; die ganze Stadt duftet nach jungem Wein und die
Seldwyler taugen dann auch gar nichts. Je weniger aber ein Seldwyler zu Hause
was taugt, um so besser hält er sich sonderbarer Weise, wenn er ausrückt, und ob sie einzeln oder in Kompagnie ausziehen, wie z. B. in
früheren Kriegen, so haben sie sich doch immer gut gehalten. Auch als Spekulant
und Geschäftsmann hat schon mancher sich rüstig umgethan, wenn er nur erst aus
dem warmen sonnigen Thale herauskam, wo er nicht gedieh.
In einer so lustigen und seltsamen Stadt kann es an allerhand seltsamen
Geschichten und Lebensläufen nicht fehlen, da Müssiggang aller Laster Anfang
ist. Doch nicht solche Geschichten, wie sie in dem beschriebenen Charakter von
Seld- wpla liegen, will ich eigentlich in diesem Büchlein erzählen, sondern
einige sonderbare Abfällsel, die so zwischen durch passirten, gewissermaßen
ausnahmsweise, und doch auch gerade nur zu Seld- wyla vor sich gehen konnten.
Mnkraz, der 8chmoffer.
Äuf einem stillen Seitenplätzchen, nahe an der Stadtmauer, lebte die Wittwe
eines Seld- wylers, der schon lange fertig geworden und unter dem Boden war.
Dieser war keiner von den schlimmsten gewesen, vielmehr fühlte er eine so starke
Sehnsucht, ein ordentlicher und fester Mann zu sein, daß ihn der herrschende
Ton, dem er als junger Mensch nicht entgehen konnte, angriff, und als seine
Glanzzeit vorüber war und er der Sitte gemäß abtreten mußte von dem Schauplatze
der Thaten, da kam ihm alles wie ein wüster Traum und wie ein Betrug um das
Leben vor, und er bekam davon die Auszehrung und starb unverweilt.
Er hinterließ seiner Wittwe ein kleines baufälliges Häuschen, einen
Kartoffelacker vor dem Thore und zwei Kinder, einen Sohn und
1 «
eine Tochter. Mit dem Spinnrocken verdiente sie Milch und Butter, um die
Kartoffeln zu kochen, die sie pflanzte, und ein kleiner Wittwen- gehalt, den der
Armenpfleger jährlich auszahlte, nachdem er ihn jedesmal einige Wochen über den
Termin hinaus in seinem Geschäfte benutzt, reichte gerade zu dem Kleiderbedarf
und einigen anderen kleinen Ausgaben hin. Dieses Geld wurde immer mit Schmerzen
erwartet, indem die ärmlichen Gewänder der Kinder gerade um jene verlängerten
Wochen zu früh gänzlich schadhaft waren und der Buttertopf überall seinen Grund
durchblicken ließ. Dieses Durchblicken des grünen Topfbodens war eine so
regelmäßige jährliche Erscheinung, wie irgend eine am Himmel, und verwandelte
eben so regelmäßig eine Zeit lang die kühle, kümmerlich-stille Zufriedenheit der
Familie in eine wirkliche Unzufriedenheit. Die Kinder plagten die Mutter um
besseres und reichlicheres Essen; denn sie hielten sie in ihrem Unverstände für
mächtig genug dazu, weil sie ihr Ein und Alles, ihr einziger Schutz und ihre
einzige Oberbehörde war. Die Mutter war unzufrieden, daß die Kinder nicht
entweder mehr Verstand, oder mehr zu essen, oder beides zusammen
erhielten.
Besagte Kinder aber zeigten verschiedene Eigenschaften. Der Sohn war ein
unansehnlicher Knabe von vierzehn Jahren, mit grauen Augen und ernsthaften
Gesichtszügen, welcher des Morgens lang im Bette lag, dann ein wenig in einem
zerrissenen Geschichts- und Geographiebuche las, und alle Abend, Sommers wie
Winters, auf den Berg lief, um dem Sonnenuntergang beizuwohnen, welches die
einzige glänzende und pomphafte Begebenheit war, welche sich für ihn zutrug. Sie
schien für ihn etwa das zu sein, was für die Kaufleute der Mittag auf der Börse;
wenigstens kam er mit eben so abwechselnder Stimmung von diesem Vorgang zurück,
und wenn es recht rothes und gelbes Gewölk gegeben hatte, welches gleich großen
Schlachtheeren in Blut und Feuer gestanden und majestätisch manövrirte, so war
er eigentlich vergnügt zu nennen.
Dann und wann, jedoch nur selten, beschrieb er ein Blatt Papier mit seltsamen
Listen und Zahlen, welches er dann zu einem kleinen Bün- del legte,
das durch ein Endchen alte Goldtresse zusammengehalten wurde. In diesem
Bündelchen stack hauptsächlich ein kleines Heft, aus einem zusammengefalteten
Bogen Goldpapier gefertigt, dessen weiße Rückseiten mit allerlei Linien, Figuren
und aufgereihten Punkten, dazwischen Rauchwolken und fliegende Bomben, gefüllt
und beschrieben waren. Dies Büchlein betrachtete er oft mit großer Befriedigung
und brachte neue Zeichnungen darin an, meistens um die Zeit, wenn das
Kartoffelfeld in voller Blüthe stand. Er lag dann im blühenden Kraut unter dem
blauen Himmel, und wenn er eine weiße beschriebene Seite betrachtet hatte, so
schaute er drei Mal so lange in das gegenüberstehende glänzende Goldblatt, in
welchem' sich die Sonne brach. Im Übrigen war es ein eigensinniger und zum
Schmollen geneigter Junge, welcher nie lachte und auf Gottes lieber Welt nichts
that oder lernte.
Seine Schwester war zwölf Jahre alt und ein bildschönes Kind mit langem und
dickem braunen Haar, großen braunen Augen und der allerweißesten Hautfarbe. Dies
Mädchen war sanft und still, ließ sich vieles gefallen und
murrte weit seltener als sein Bruder. Es besaß eine helle Stimme und sang gleich
einer Nachtigall; doch obgleich es mit alle diesem freundlicher und lieblicher
war, als der Knabe, so gab die Mutter doch diesem scheinbar den Vorzug und
begünstigte ihn in seinem Wesen, weil sie Erbarmen mit ihm hatte, da er nichts
lernen und es ihm wahrscheinlicher Weise einmal recht schlecht ergehen konnte,
während nach ihrer Ansicht das Mädchen nicht viel brauchte und schon deshalb
unterkommen würde.
Dieses mußte daher unaufhörlich spinnen, damit das Söhnlein desto mehr zu essen
bekäme und recht mit Muße sein einstiges Unheil erwarten könne. Der Junge nahm
dies ohne Weiteres an und geberdete sich wie ein kleiner Indianer, der die
Weiber arbeiten läßt, und auch seine Schwester empfand hiervon keinen Verdruß
und glaubte das müsse so sein.
Die einzige Entschädigung und Rache nahm sie sich durch eine allerdings arge
Unzukömmlich- keit, welche sie sich beim Essen mit List oder Gewalt immer wieder
erlaubte. Die Mutter kochte nämlich jeden Mittag einen dicken Kartof- felbrei, über welchen sie eine fette Milch oder eine Brühe von schöner
brauner Butter goß. Diesen Kartoffelbrei aßen sie Alle zusammen aus der Schüssel
mit ihren Blechlöffeln, indem Jeder vor sich eine Vertiefung in das feste
Kartoffelgebirge hinein grub. Das Söhnlein, welches bei aller Seltsamkeit in
Eßangelegenheiten einen strengen Sinn für militairische Regelmäßigkeit
beurkundete und streng daraus hielt, daß Jeder nicht mehr noch weniger nahm, als
was ihm zukomme, sah stets darauf, daß die Milch oder die gelbe Butter, welche
am Rande der Schüssel umherfloß, gleichmäßig in die abgetheilten Gruben laufe;
das Schwesterchen hingegen, welches viel harmloser war, suchte, sobald ihre
Quellen versiegt waren, durch allerhand künstliche Stollen und Abzugsgräben die
wohlschmeckenden Büchlein auf ihre Seite zu leiten, und wie sehr sich auch der
Bruder dem widersetzte und eben so künstliche Dämme aufbaute und überall
verstopfte, wo sich ein verdächtiges Loch zeigen wollte, so wußte sie doch immer
wieder eine geheime Ader des Breies zu eröffnen oder langte kurzweg in offenem
Friedensbruch mit ihrem Löffel und mit lachenden Augen in des
Bruders gefüllte Grube. Alsdann warf er den Löffel weg, lamentirte und
schmollte, bis die gute Mutter die Schüssel zur Seite neigte und ihre eigene
Brühe voll in das Labyrinth der Kanäle und Dämme ihrer Kinder strömen ließ.
So lebte die kleine Familie einen Tag wie den andern, und indem dies immer so
blieb, während doch die Kinder sich auswuchsen, ohne daß sich eine günstige
Gelegenheit zeigte, die Welt zu erfassen und irgend etwas zu werden, fühlten
sich Alle immer unbehaglicher und kümmerlicher in ihrem Zusammensein. Pankraz,
der Sohn, that und lernte fortwährend nichts, als eine sehr ausgebildete und
künstliche Art zu schmollen, mit welcher er seine Mutter, seine Schwester und
sich selbst quälte. Es ward dies eine ordentliche und interessante Beschäftigung
für ihn, bei welcher er die müssigen Seelenkräfte fleißig übte im Erfinden von
hundert kleinen häuslichen Trauerspielen, die er veranlaßte und in welchen er
behende und meisterlich den steten Unrechtleider zu spielen wußte. Estherchen,
die Schwester, wurde dadurch zu reichlichem Weinen gebracht, durch
welches aber die Sonne ihrer Heiterkeit schnell wieder hervor strahlte. Diese
Oberflächlichkeit ärgerte und kränkte dann den Pankraz so, daß er immer längere
Zeiträume hindurch schmollte und aus selbstgeschaffenem Ärger selbst heimlich
weinte.
Doch nahm er bei dieser Lebensart merklich zu an Gesundheit und Kräften und als
er diese in seinen Gliedern anwachsen fühlte, erweiterte er seinen Wirkungskreis
und strich mit einer tüchtigen Baumwurzel oder einem Besenstiel in der Hand
durch Feld und Wald, um zu sehen, wie er irgendwo ein tüchtiges Unrecht
austreiben und erleiden könne. Sobald sich ein solches zur Noth dargestellt und
entwickelt, prügelte er un- verweilt seine Widersacher auf das Jämmerlichste
durch, und er erwarb sich und bewies in dieser seltsamen Thätigkeit eine solche
Gewandtheit, Energie und feine Taktik, sowohl im Ausspüren und Aufbringen des
Feindes, als im Kampfe, daß er sowohl einzelne ihm an Stärke weit überlegene
Jünglinge und Bauern, als ganze Trupps derselben entweder besiegte, oder
wenigstens einen ungestraften Rückzug ausführte. War er von einem
solchen wohlgelungenen Abenteuer zurückgekommen, so schmeckte ihm das Essen
doppelt gut und die Seinigen erfreuten sich dann einer heitern Stimmung. Eines
Tages aber war es ihm doch begegnet, daß er, statt welche auszutheilen,
beträchtliche Schläge selbst geärntet hatte, und als er voll Scham, Verdruß und
Wuth nach Hause kam, hatte Esther - chen, welche den ganzen Tag gesponnen, dem
Gelüste nicht widerstehen können und sich noch einmal über das für Pankraz
aufgehobene Essen hergemacht und davon einen Theil gegessen, und zwar, wie es
ihm vorkam, den besten. Traurig und wehmüthig, mit kaum verhaltenen Thränen in
den Augen, besah er das unansehnliche kalt gewordene Nestchen, während die
schlimme Schwester, welche schon wieder am Spinnrädchen saß, unmäßig lachte.
Das war zu viel und nun mußte etwas Gründliches geschehen. Ohne zu essen ging
Pankraz hungrig in seine Kammer, und als ihn am Morgen seine Mutter wecken
wollte, daß er doch zum Frühstück käme, war er verschwunden und nirgends zu
finden. Der Tag verging, ohne
Keller, die Leute von Seldwyln. I. 2 daß er kam, und eben so der
zweite und dritte Tag. Die Mutter und Estherchen geriethen in große Angst und
Noch; sie saßen wohl, daß er vorsätzlich davon gegangen, indem er seine
Habseligkeiten mitgenommen. Sie weinten und klagten unaufhörlich, wenn alle
Bemühungen fruchtlos blieben, eine Spur von ihm zu entdecken, und als nach
Verlauf eines halben Jahrs Pan- krazius verschwunden war und blieb, ergaben sie
sich mit trauriger Seele in ihr Schicksal, das ihnen nun doppelt einsam und arm
erschien.
Wie lang wird nicht eine Woche, ja nur ein Tag, wenn man nicht weiß, wo
diejenigen, die man liebt, jetzt stehn und gehn, wenn eine solche Stille darüber
durch die Welt herrscht, daß allnirgends auch nur der leiseste Hauch von ihrem
Namen ergeht, und man weiß doch, sie sind da und athmen irgendwo.
So erging es der Mutter und dem Estherlein fünf Jahre, zehn Jahre und fünfzehn
Jahre, einen Tag wie den andern, und sie wußten nicht, ob ihr Pankrazius todt
oder lebendig sei. Das war ein langes und gründliches Schmollen und Estherchen,
welches eine schöne Jungfrau geworden, wurde darüber zu einer
hübschen und feinen alten Jungfer, welche nicht nur aus Kindestreue bei der
alternden Mutter blieb, sondern eben sowohl aus Neugierde, um ja in dem
Augenblicke da zu sein, wo der Bruder sich endlich zeigen würde, und zu sehen,
wie die Sache eigentlich verlaufe. Denn sie war guter Dinge und glaubte fest,
daß er eines Tages wiederkäme und daß es dann etwas Rechtes auszulachen gäbe.
Übrigens fiel es ihr nicht schwer, ledig zu bleiben, da sie klug war und wohl
sah, wie bei den Seldwylern nicht viel dahintersteckte von dauerhaftem
Lebensglücke, und sie dagegen mit ihrer Mutter unveränderlich in einem kleinen
Wohlständchen lebte, ruhig und ohne Sorgen; denn sie hatten ja einen tüchtigen
Esser weniger und brauchten für sich fast gar nichts.
Da war es einst ein Heller schöner Sommernachmittag, mitten in der Woche, wo man
so an gar nichts denkt und die Leute in den kleinen Städten fleißig arbeiten.
Der Glanz von Seld- wpla befand sich sämmtlich mit dem Sonnenschein auf den
übergrünten Kegelbahnen vor dem Thore oder auch in kühlen Schenkstuben in der
Stadt. Die Falliten und Alten aber hämmerten, nähe- ten,
schusterten, klebten, schnitzelten und päschelten gar emsig darauf los, um den
langen Tag zu benutzen und einen vergnügten Abend zu erwerben, den sie nunmehr
zu würdigen verstanden. Auf dem kleinen Platze, wo die Wittwe wohnte, war nichts
als die stille Sommcrsonne auf dem begrasten Pflaster zu sehen, an den offenen
Fenstern aber arbeiteten ringsum die alten Leute und spielten die Kinder. Hinter
einem blühenden Rosmariengärtchen auf einem Brette saß die Wittwe und spann und
ihr gegenüber Estherchen und nähete. Es waren schon einige Stunden seit dem
Essen verflossen und noch hatte Niemand eine Zwiesprache gehalten von der ganzen
Nachbarschaft. Da fand der Schuhmacher wahrscheinlich, daß es Zeit sei, eine
kleine Erholungspause zu eröffnen und nieste so laut und muth- willig: Hupschi!
daß alle Fenster zitterten und der Buchbinder gegenüber, der eigentlich kein
Buchbinder war, sondern nur so aus dem Stegreif allerhand Pappkästchcn
zusammenleimte und an der Thüre ein verwittertes Glaskästchen hängen hatte, in
welchem eine Stange Siegellack an der Sonne krumm wurde, dieser
Buchbinder rief: Zur Gesundheit! und alle Nachbarsleute lachten. Einer nach dem
andern steckte den Kopf durch das Fenster, einige traten sogar vor die Thüre und
gaben sich Prisen, und so war das Zeichen gegeben zu einer kleinen
Nachmittagsunterhaltung und zu einem fröhlichen Gelächter während des
Vesperkaffee's, der schon aus allen Häusern duftete und zichorirte. Diese hatten
endlich gelernt, sich an wenigem einen Spaß zu machen. Da kam in dies Vergnügen
herein ein fremder Leiermann mit einem schön polirten Orgelkasten, was in der
Schweiz eine ziemliche Seltenheit ist, da sie keine eingeborene Leiermänner
besitzt. Er spielte ein sehnsüchtiges Lied von der Ferne und ihren Dingen,
welches die Leute über die Maßen schön dünkte und besonders der Wittwe Thränen
entlockte, da sie ihres Pankräzchens gedachte, das nun schon fünfzehn Jahre
verschwunden war. Der Schuhmacher gab dem Manne einen Kreuzer, er zog ab und das
Plätzchen wurde wieder still. Aber nicht lange nachher kam ein anderer
Herumtreiber mit einem großen fremden Vogel in einem Käfig, den er unaufhörlich
zwischen dem Gitter durch mit einem Stäbchen anstach und erklärte,
so daß der traurige Vogel keine Ruhe hatte. Es war ein Adler aus Amerika; und
die fernen blauesten Länder, über denen er in seiner Freiheit geschwebt, kamen
der Wittwe in den Sinn und machten sie um so trauriger, als sie den Teufel
wußte, was das für Länder wären, noch wo ihr Söhnchen sei. Um den Vogel zu
sehen, hatten die Nachbaren auf das Plätzchen hinaustreten müssen, und als er
nun fort war, bildeten sie eine Gruppe, steckten die Nasen in die Luft und
lauerten auf noch mehr Merkwürdigkeiten, da sie nun doch die Lust ankam, den
übrigen Tag zu vertrödeln.
Diese Lust wurde denn auch erfüllt und es dauerte nicht lange bis das
allergrößte Spektakel sich mit großem Lärm näherte unter dem Zulauf aller Kinder
des Städtchens. Denn ein mächtiges Kamcel schwankte auf den Platz, von mehreren
Affen bewohnt; ein .großer Bär wurde an seinem Nasenringe herbeigeführt; zwei
oder drei Männer waren dabei, kurz ein ganzer Bärentanz führte sich auf und der
Bär tanzte und machte seine possierlichen Künste, indem er von Zeit
zu Zeit unwirsch brummte, daß die friedlichen Leute sich fürchteten und in
scheuer Entfernung dem wilden Wesen zuschauten. Estherchen lachte und freute
sich unbändig über den Bären, wie er so zierlich umherwatschelte mit seinem
Stecken, über das Kameel mit seinem selbstvergnügten Gesicht, und über die
Affen. Die Mutter dagegen mußte fortwährend weinen; denn der böse Bär erbarmte
sie, und sie mußte wiederum ihres verschollenen Sohnes gedenken.
Als endlich auch dieser Aufzug wieder verschwunden und es wieder still geworden,
indem die aufgeregten Nachbaren sich mit seinem Gefolge ebenfalls aus dem Staube
gemacht, um da oder dort zu einem Abendschöppchen unterzukommen, sagte
Estherchen: „Mir ist es nun zu Muthe, als ob der Pankraz ganz gewiß heute noch
kommen würde, da schon so viele unerwartete Dinge geschehen und solche Kameele,
Affen und Bären dagewesen sind!» Die Mutter ward böse darüber, daß sie den armen
Pankraz mit diesen Bestien sozusagen zusammenzählte und auslachte, und hieß sie
schweigen, sich nicht inne werdend, daß sie sa selbst das gleiche gethan in
ihren Gedanken. Dann sagte sie seufzend: "Ich werde es nicht
erleben, daß er wiederkommt!«
Indem sie dies sagte, begab sich die größte Merkwürdigkeit dieses Tages und ein
offener Neisewagcn mit einem Ertrapostillon fuhr mit Macht aus das stille
Plätzchen, das von der Abendsonne noch halb bestreift war. In dem Wagen saß ein
Mann, der eine Mütze trug wie die französischen Officiere sie tragen, und eben
so trug er einen Schnurr- und Kinnbart und ein gänzlich gebräuntes und
ausgedörrtes Gesicht zur Schau, das überdies einige Spuren von Kugeln und
Säbelhieben zeigte. Auch war er in einen Burnus gehüllt, alles dies, wie es
französische Militairs aus Afrika mitzubringen pflegen, und die Füße stemmte er
gegen eine kolossale Löwenhaut, welche auf dem Boden des Wagens lag; auf dem
Rücksitze vor ihm lag ein Säbel und eine halblange arabische Pfeife neben andern
fremdartigen Gegenständen.
Dieser Mann sperrte ungeachtet des ernsten Gesichtes, das er machte, die Augen
weit auf und suchte mit denselben rings auf dem Platze ein Haus, wie Einer der
aus einem schweren Traume erwacht. Beinahe taumelnd sprang er aus
dem Wagen, der von ungefähr auf der Mitte des Plätzchens still hielt; doch
ergriff er die Löwenhaut und seinen Säbel und ging sogleich sicheren Schrittes
in das Häuschen der Wittwe, als ob er erst vor einer Stunde aus demselben
gegangen wäre. Die Mutter und Estherchen sahen dies voll Verwunderung und
Neugierde und horchten auf, ob der Fremde die Treppe herauf käme; denn obgleich
sie kaum noch von Pankrazius gesprochen, hatten sie in diesem Augenblick keine
Ahnung, daß er es sein könnte und ihre Gedanken waren von der überraschten
Neugierde himmelweit von ihm weggeführt. Doch urplötzlich erkannten sie ihn an
der Art, wie er die obersten Stufen übersprang und über den kurzen Flur weg fast
gleichzeitig die Klinke der Stubenthüre ergriff, nachdem er wie der Blitz vorher
den lose steckenden Stuben- schlüssel fester in's Schloß gestoßen, was sonst
immer die Art des Verschwundenen gewesen, der in seinem Müffiggange eine
seltsame Ordnungsliebe bewährt hatte. Sie schrieen laut auf und standen
festgebannt vor ihren Stühlen, mit offe-
2 * nem Munde nach der aufgehenden Thüre sehend. Unter dieser stand
der fremde Pankrazius mit dem dürren und harten Ernste eines fremden
Kriegsmannes, nur zuckte es ihm seltsam um die Augen, indessen die Mutter
erzitterte bei seinem Anblick und sich nicht zu helfen wußte und selbst
Estherchen zum ersten Mal gänzlich verblüfft war und sich nicht zu regen wagte.
Doch alles dies dauerte nur einen Augenblick; der Herr Oberst, denn nichts
Geringeres war der Verlorne Sohn, nahm mit der Höflichkeit und Achtung, welche
ihn die wilde Noth des Lebens gelehrt, sogleich die Mütze ab, was er nie gethan,
wenn er früher in die Stube getreten; eine unaussprechliche Freundlichkeit,
wenigstens wie es den Frauen vorkam, die ihn nie freundlich gesehen noch also
denken konnten, verbreitete sich über das gefurchte und doch noch nicht alte
Soldatengesicht und ließ schneeweiße Zähne sehen, als er auf sie zueilte und
beide mit ausbrechen- dem Herzensweh in die Arme schloß.
Hatte die Mutter erst vor dem martialischen und vermeintlich immer noch bösen
Sohne sonderbar gezittert, so zitterte sie jetzt erst recht in
scheuer Seligkeit, da sie sich in den Armen dieses wiedergekehrten Sohnes
fühlte, dessen achtungsvolles Mützenabnehmen und dessen aufleuchtende nie
gesehene Anmuth, wie sie nur die Rührung und die Reue giebt, sie schon wie mit
einem Zauberschlage berührt hatten. Denn noch ehe das Bürschchen sieben Jahre
alt gewesen, hatte es schon angefangen sich ihren Liebkosungen zu entziehen und
seither hatte Pankraz in bitterer Sprodigkeit und Verstockung sich gehütet,
seine Mutter auch nur mit der Hand zu berühren, abgesehen davon, daß er
unzählige Male schmollend zu Bett gegangen war ohne Gutenacht zu sagen. Daher
bedünkte es sie nun ein unbegreiflicher und wundersamer Augenblick, in welchem
ein ganzes Leben lag, als sie jetzt nach wohl dreißig Jahren sozusagen zum
ersten Mal sich von dem Sohne umfangen sah. Aber auch Estherchcn bedünkte dieses
veränderte Wesen so ernsthaft und wichtig, daß sie, die den Schmollenden
tausendmal ausgelacht hatte, jetzt nicht im mindesten den bekehrten Freundlichen
anzulachen vermochte, sondern mit klaren Thränen in den Augen nach
ihrem Sesselchen ging und den Bruder unverwandt anblickte.
Pankraz war der Erste, der sich nach mehreren Minuten wieder zusammen nahm und
als ein guter Soldat einen Übergang und Ausweg dadurch bewerkstelligte, daß er
sein Gepäck herauf beförderte. Die Mutter wollte mit Est- herchen helfen; aber
er führte sie äußerst holdselig zu ihrem Sitze zurück, und duldete nur, daß
Eftherchen zum Wagen herunterkam und sich mit einigen leichten Sachen belud. Den
weiteren Verlauf führte indessen Eftherchen herbei, welche bald ihren guten
Humor wiedergewann und nicht länger unterlassen konnte, die Löwenhaut an dem
langen gewaltigen Schwänze zu packen und auf dem Boden herumzuziehen, indem sie
sich krank lachen wollte und einmal über das andere rief: Was ist dies nur für
ein Pelz? Was ist dies für ein Ungeheuer?
„Dies ist, sagte Pankraz, seinen Fuß auf das Fell stoßend, vor drei Monaten noch
ein lebendiger Löwe gewesen, den ich getödtet habe. Dieser Bursche war mein
Lehrer und Bekehrer und hat mir zwölf Stunden lang so eindringlich
gepredigt, daß ich armer Kerl endlich von allem Schmollen und Bössein für immer
geheilt wurde. Zum Andenken soll seine Haut nicht mehr aus meiner Hand kommen.
Das war eine schöne Geschichtet setzte er mit einem Seufzer hinzu?
In der Voraussicht, daß seine Leutchen, im Fall er sie noch lebendig anträfe,
jedenfalls nicht viel Kostbares im Hause hätten, hatte er in der letzten
größeren Stadt, wo er durchgereist, einen Korb guten Weines eingekauft, sowie
einen Korb mit verschiedenen kalten Speisen, damit in Seld- wyla kein Gelaufe
entstehen sollte und er in aller Stille mit der Mutter und der Schwester ein
gutes Abendbrot einnehmen konnte. So brauchte die Mutter nur den Tisch zu
decken, und Pan- kraz trug auf, einige gebratene Hühner, eine herrliche
Sülzpastete und ein Packet feiner kleiner Kuchen; ja noch mehr! Auf dem Wege
hatte er bedacht, wie dunkel einst das armselige Thran- lämpchen gebrannt und
wie oft er sich über die kümmerliche Beleuchtung geärgert, wobei er kaum seine
müssigen Siebensachen Handtieren gekonnt, ungeachtet die Mutter, die doch ältere
Augen hatte, ihm immer das Lämpchen vor die Nase geschoben,
wiederum zum großen Ergötzen Esther- chens, die bei seder Gelegenheit ihm die
Leuchte wieder wegzupraktiziren verstanden. Ach, einmal hatte er sie zornig
weinend ausgelöscht, und als die Mutter sie bekümmert wieder angezündet, blies
sie Estherchen lachend wieder aus, worauf er zerrissenen Herzens in's Bett
rannte. Dies und noch anderes war ihm auf dem Wege eingefallen, und indem er
schmerzlich und bang kaum erleben mochte, ob er die Verlassenen wiedersehen
würde, kaufte er auch noch einige Wachskerzen ein, und zündete setzo zwei
derselben an, so daß die Frauensleute sich nicht zu lassen wußten vor
Verwunderung ob all' der Herrlichkeit.
Dergestalt ging es wie auf einer kleinen Hochzeit in dem Häuschen der Wittwe,
nur viel stiller, und Pankraz benutzte das helle Licht der Kerzen, die
gealterten Gesichter seiner Mutter und Schwester zu sehen und dies Sehen rührte
ihn stärker, als alle Gefahren, denen er in's Gesicht geschaut. Er verfiel in
ein tiefes trauriges Sinnen über die menschliche Art und das menschliche Leben,
und wie gerade unsere kleineren Eigenschaften, als wie eine
freundliche oder herbe Gemüthsart, nicht nur unser Schicksal und Glück machen,
sondern auch dasjenige der uns Umgebenden und uns zu diesen in ein strenges
Schuldverhältniß zu bringen vermögen, ohne daß wir wissen wie es zugegangen, da
wir uns ja unser Gemüth nicht selbst gegeben. In diesen Betrachtungen ward er
jedoch gestört durch die Nachbaren, welche jetzt ihre Neugierde nicht länger
unterdrücken konnten und Einer nach dem Andern in die Stube drangen, um das
Wunderthier zu sehen, da sich schon in dem ganzen Städtchen das Gerücht
verbreitet hatte, der verschollene Pankrazius sei erschienen, und zwar als ein
französischer General in einem vierspännigen Wagen.
Dies war nun ein höchst verwickelter Fall für die in ihren Vergnügungslokalen
versammelten Seldwyler, sowol für die Jungen als wie für die Alten, und sie
kratzten sich verdutzt hinter den Ohren. Denn dies war gänzlich wider die
Ordnung und wider den Strich zu Seldwpl, daß da Einer wie vom Himmel geschneit
als ein gemachter Mann und General herkommen sollte gerade in dem
Alter, wo man zu Seldwyl sonst fertig war. Was wollte der denn nun beginnen?
Wollte er wirklich am Orte bleiben, ohne ein Herabgekommener zu sein die übrige
Zeit seines Lebens hindurch, besonders wenn er etwa alt würde? Und wie hatte er
es angefangen? Was zum Teufel hatte der unbeachtete und unscheinbare junge
Mensch betrieben die lange Jugend hindurch, ohne sich aufzubrauchen? Das war die
Frage, die alle Gemüther bewegte, und sie fanden durchaus keinen Schlüssel, das
Räthsel zu lösen, weil ihre Menschenoder Seelenkunde zu klein war, um zu wissen,
daß gerade die herbe und bittere Gemüthsart, welche ihm und seinen Angehörigen
so bittere Schmerzen bereitet, sein Wesen im Übrigen wohl- konservirt, wie der
scharfe Kampher einen Schmetterling, und ihm über das gefährliche Seldwyler
Glanzalter hinweggeholfen hatte. Um die Frage zu lösen, stellte man überhaupt
die Wahrheit des Ereignisses in Frage und bestritt dessen Möglichkeit, und um
diese Auffassung zu bestätigen, wurden verschiedene alte Falliten nach dem
Plätzchen abgesandt, so daß Pankraz, dessen schon versammelte
Nachbaren ohnehin diesem Stande angehörten, si'ch von einer ganzen Versammlung
neugieriger und gemüthlicher Falliten umgeben sah, wie ein alter Heros in der
Unterwelt von den herbeieilenden Schatten.
Er zündete nun seine türkische Pfeife an und erfüllte das Zimmer mit dem fremden
Wohlgeruch des morgenländischen Tabacks; die Schatten oder Falliten witterten
immer neugieriger in den blauen Duftwolken umher, und Estherchen und die Mutter
bestaunten unaufhörlich die Leutseligkeit und Geschicklichkeit des Pankraz, mit
welcher er die Leute unterhielt, und zuletzt die freundliche, aber sichere
Gewandtheit, mit welcher er die Versammlung endlich entließ, als es ihm Zeit
dazu schien.
Da aber die Freuden, welche auf dem Fa- milienglück und auf frohen Ereignissen
unter Blutsverwandten beruhen, auch nach den längsten Leiden die Betheiligten
plötzlich immer jung und munter machen, statt sie zu erschöpfen, wie die
Aufregungen der weiter» Welt es thun, so verspürte die alte Mutter noch nicht
die geringste Müdigkeit und Schlaflust, so wenig als
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 3 ihre Kinder, und von dem guten
Weine erwärmt, den sie mit Zufriedenheit genossen, verlangte sie endlich mit
ihrer noch viel ungeduldigeren Tochter etwas Näheres von Pankra- zens Schicksal
zu wissen.
„Ausführlich, erwiederte dieser, kann ich jetzt meine trübselige Geschichte
nicht mehr beginnen und es findet sich wohl die Zeit, wo ich Euch nach und nach
meine Erlebnisse im Einzelnen vorsagen werde. Für heute will ich Euch aber nur
einige Umrisse angeben, so viel als nöthig ist, um aus den Schluß zu kommen,
nämlich auf meine Wiederkehr und die Art, wie diese Veranlaßt wurde, da sie
eigentlich das rechte Seitenstück bildet zu meiner ehemaligen Flucht und aus dem
gleichen Grundtone geht. Als ich damals auf so schnöde Weise entwich, war ich
von einem unvertilgbaren Groll und Weh erfüllt; doch nicht gegen Euch, sondern
gegen mich selbst, gegen diese Gegend hier, diese unnütze Stadt, gegen meine
ganze Jugend. Dies ist mir seither erst deutlich geworden. Wenn ich
hauptsächlich immer des Essens wegen bös wurde und schmollte, so war der geheime
Grund hier- von das nagende Gefühl, daß ich mein Essen nicht
verdiente, weil ich nichts lernte und nichts that, ja weil mich gar nichts
reizte zu irgend einer Beschäftigung und also keine Hoffnung war, daß es je
anders würde; denn Alles was ich Andere thun sah, kam mir erbärmlich und albern
vor; selbst Euer ewiges Spinnen war mir unerträglich und machte mir Kopfweh,
obgleich es mich Müssigen erhielt. So rannte ich davon in einer Nacht in der
bittersten Herzensqual und lief bis zum Morgen, wohl sieben Stunden weit von
hier. Wie die Sonne aufging, sah ich Leute, die auf einer großen Wiese Heu
machten; ohne ein Wort zu sagen oder zu fragen, legte ich mein Bündel an den
Rand, ergriff einen Rechen oder eine Heugabel und arbeitete wie ein Besessener
mit den Leuten und mit der größten Geschicklichkeit; denn ich hatte mir während
meines Herumlungerns hier alle Handgriffe und Übungen derjenigen, welche
arbeiteten, wohl gemerkt, sogar öfter dabei gedacht, wie sie dies und jenes
ungeschickt in die Hand nähmen und wie man eigentlich die Hände ganz anders
müßte
3 * fliegen lassen, wenn man erst einmal ein Arbeiter heißen wolle,
k
"Die Leute sahen mir erstaunt zu und Niemand hinderte mich an meiner Arbeit; als
sie das Morgenbrot aßen, wurde ich dazu eingeladen; dieses hatte ich bezweckt
und so arbeitete ich weiter, bis das Mittagöessen kam, welches ich ebenfalls mit
großem Appetit einnahm. Doch nun erstaunten die Bauersleute noch vielmehr und
sandten mir ein verdutztes Gelächter nach, als ich, anstatt die Heugabel wieder
zu ergreifen, plötzlich den Mund wischte, mein Bündelchen wieder aufgriff und
ohne ein Wort weiter zu verlieren, meines Weges weiter zog. In einem dichten
kühlen Buchenwäldchen legte ich mich hin und schlief bis zur Abenddämmerung;
dann sprang ich auf, ging aus dem Wäldchen hervor und guckte am Himmel hin und
her, an welchem die Sterne hervorzutreten begannen. Die Stellung der Sterne
gehörte auch zu den wenigen Dingen, die ich während meines Müssigganges gemerkt,
und da ich darin eine große Ordnung und Pünktlichkeit gefunden, so hatte sie mir
immer Wohlgefallen, und zwar um so mehr, als diese glänzenden Geschöpfe solche Pünktlichkeit nicht um Tagelohn und um eine Portion
Kartoffelsuppe zu üben schienen, sondern damit nur thaten, was sie nicht lassen
konnten, wie zu ihrem Vergnügen und dabei wohl bestanden. Da ich nun durch das
allmälige Auswendiglernen unsres Geographiebuches, so einfach dieses war, auch
auf dem Erdboden Bescheid wußte, so verstand ich meine Richtung wohl zu nehmen
und beschloß in diesem Augenblick, nordwärts durch ganz Deutschland zu laufen,
bis ich das Meer erreichte. Also lief ich die Nacht hindurch wieder acht gute
Stunden und kam mit der Morgensonne an eine wilde und entlegene Stelle am Rhein,
wo eben vor meinen Augen ein mit Korn- säcken beladenes Schiff an einer Untiefe
ausstieß, indessen doch das Wasser über einen Theil der Ladung wegströmte. Da
sich nur drei Männer bei dem Schiffe befanden und weit und breit in dieser Frühe
und in dieser Wildniß Niemand zu ersehen war, so kam ich sehr willkommen, als
ich sogleich Hand anlegte und den Schiffern die schwere Ladung an's Ufer bringen
und das Fahrzeug wieder flott machen half. Was von dem Korne naß geworden,
schütteten wir auf Bretter, die wir an die Sonne legten, und
wandten es fleißig um, und zuletzt beluden wir das Schiff wieder. Doch nahm dies
alles den größten Theil des Tages weg, und ich fand dabei Gelegenheit, mit den
Schiffsleuten unterschiedliche tüchtige Mahlzeiten zu theilen; ja, als wir
fertig waren, gaben sie mir sogar noch etwas Geld und setzten mich auf mein
Verlangen an das andere Ufer über mittelst deck kleinen Kähnchens, das sie
hinter dem großen Kahne angebunden hatten.«
«Drüben befand ich mich in einem großen Bergwald und schlief sofort bis es Nacht
wurde, worauf ich mich abermals auf die Füße machte und bis zum Tagesanbruch
lief. Mit wenig Worten zu sagen: auf diese nämliche Art gelangte ich in wenig
mehr als zwei Monaten nach Hamburg, indem ich, ohne je viel mit den Leuten zu
sprechen, überall des Tages zugriff, wo sich eine Arbeit zeigte, und davon ging,
sobald ich gesättigt war, um die Nacht hindurch wiederum zu wandern. Meine Art
überraschte die Leute immer, so daß ich niemals einen Widerspruch fand, und bis
sie sich etwa widerhaarig oder neugierig zeigen wollten, war ich schon wie- der weg. Da ich zugleich die Städte vermied und meinen
Arbeitsverkehr immer im freien Felde, auf Bergen und in Wäldern betrieb, wo nur
ursprüngliche und einfache Menschen waren, so reisete ich wirklich wie zu der
Zeit der Patriarchen. Ich sah nie eine Spur von dem Regiment der Staaten, über
deren Boden ich hinlief, und mein einziges Denken war, über eben diesen Boden
wegzukommen, ohne zu betteln oder für meine nöthige Leibesnahrung Jemandem
verpflichtet sein zu müssen, im Übrigen aber zu thun, was ich wollte, und
insbesondere zu ruhen, wenn es mir gefiel, und zu wandern, wenn es mir beliebte.
Später habe ich freilich auch gelernt, mich an eine feste außer mir liegende
Ordnung und an eine regelmäßige Ausdauer zu halten, und wie ich erst urplötzlich
arbeiten gelernt, lernte ich auch dies sogleich ohne weitere Anstrengung, sobald
ich nur einmal eine erkleckliche Nothwendigkeit einsah.»
Ȇbrigens bekam mir dies Leben in der freien Luft, bei der steten Abwechslung
von schwerer Arbeit, tüchtigem Essen und sorgloser Ruhe vortrefflich und meine
Glieder wurden so geübt, daß
4 »
ich als ein wahrer Teufelskerl an Stärke und Rührigkeit in der Seestadt Hamburg
anlangte, wo ich alsbald dem Wasser zulief und mich unter die Seeleute mischte,
welche sich da Umtrieben und mit dem Befrachten ihrer Schiffe beschäftigt waren.
Da ich überall zugriff und ohne albernes Gaffen doch aufmerksam war, ohne ein
Wort dabei zu sprechen, noch fe den Mund zu verziehen, so duldeten die
einsilbigen derben Gesellen mich bald unter sich und ich brachte eine Woche
unter ihnen zu, worauf sie mich aus einem englischen Kauffahrer einschmuggelten,
dessen Kapitän mich aufnahm unter der Bedingung, daß ich ihm in seinem
Privatgeschäfte helfe, das er während seiner Fahrten betrieb. Dieses bestand
nämlich im Zusammensetzen und Herstellen von allerhand Feuerwaffen und Pistolen
aus alten abgenutzten Bestandtheilen, die er in großer Menge zusammenkaufte,
wenn er in der alten Welt vor Anker ging. Es waren seltsame und fabelhafte
Todeswerkzeuge, die er so mit schrecklicher Leidenschaft zusammenfügte und dann
bei Gelegenheit an wilden Küsten gegen werthvolle Friedcnsprodukte und sanfte
Naturgegenstände austauschte. Ich hielt mich still zu der Arbeit,
übte mich ein und war bald über und über mit Öl, Schmirgel und Fei- lenstaub
beschmiert als ein wilder Büchsenmacher, und wenn ein solches Pistolengeschüy
nothdürstig zusammenhielt, so wurde es mit einem starken Knall probirt; doch nie
zum zweiten Mal, dieses wurde dem rothhäutigen oder schwarzen Käufer überlasten
auf den entlegenen Eilanden. Diesmal fuhr er aber nur nach Neuyork und von da
nach England zurück, wo ich, der Büchsenmacherei nun genugsam kundig, mich von
ihm entfernte und sogleich in ein Regiment anwerben ließ, das nach Ostindien
abgehen sollte.«
»Zu Neuyork hatte ich zwar den Fuß an das Land gesetzt und auf einige Stunden
dies amerikanische Leben besehen, welches mir eigentlich nun recht hätte zusagen
müssen, da hier Jeder tbat, was er wollte, und sich gänzlich nach Bedürfniß und
Laune rührte, von einer Beschäftigung zur andern abspringend, wie es ihm eben
besser schien, ohne sich irgend einer Arbeit zu schämen oder die eine für edler
zu halten, als die andre. Doch weiß ich nicht wie es kam, daß ich mich schleunig
wieder auf unser Schiff sputete und so, statt in der neuen Welt zu
bleiben, in den ältesten träumerischen Theil unsrer Welt gerietst, in das uralte
heiße Indien, und zwar in einem rotsten Rocke, als ein stiller englischer
Soldat. Und ich kann nicht sagen, daß mir das neue Leben mißfiel, das schon auf
dem großen Linienschiffe begann, aus welchem das Regiment sich befand. Schon der
Umstand, daß wir Alle, so viel wir waren, mit der größten Pünktlichkeit und
Abgemeffensteit ernährt wurden, indem Jeder seine Nation so sicher bekam, wie
die Sterne am Himmel gehen, keiner mehr noch minder, als der andre, und ohne daß
einer den andern beeinträchtigen konnte, behagte mir außerordentlich und um so
mehr, als keiner dafür zu danken brauchte und alles nur unserm bloßen
wohlgeordneten Dasein gebührte. Wenn wir Rekruten auch schon auf dem Schiffe
eingeschult wurden und täglich ererziren mußten, so gefiel mir doch diese
Beschäftigung über die Maßen, da wir nicht das Bajonet herumschwenken mußten, um
etwa mit Gewandtheit eine Kartoffel daran zu spießen, sondern es war lediglich
eine reine Übung, welche mit dem Essen zunächst garnicht
zusammenhing, und man brauchte nichts als pünktlich und aufmerksam beim einen
und dem andern zu sein und sich um weiter nichts zu kümmern. Schon am zweiten
Tage unsrer Fahrt sah ich einen Soldaten prügeln, der wider einen Vorgesetzten
gemurrt, nachdem er schon verschiedene Unregelmäßigkeiten begangen. Sogleich
nahm ich mir vor, daß dies mir nie widerfahren solle, und nun kam mir mein
Schmollwescn sehr gut zu statten, indem es mir eine vortreffliche lautlose
Pünktlichkeit und Aufmerksamkeit erleichterte und es mir fortwährend möglich
machte, mir in keiner Weise etwas zu vergeben.«
„So wurde ich ein ganz ordentlicher und brauchbarer Soldat; es machte mir
Freude, alles recht zu begreifen und so zu thun, wie es als mustergültig
vorgeschrieben war, und da es mir gelang, so fühlte ich mich endlich ziemlich
zufrieden, ohne jedoch mehr Worte zu verlieren als bisher. Nur selten wurde ich
beinahe ein wenig lustig und beging etwa einen närrischen halben Spaß, was mir
vollends den Anstrich eines Soldaten gab, wie er sein soll, und zugleich
verhinderte, daß man mich nicht leiden konnte, und so war kaum ein
Jahr vergangen in dem heißen seltsamen Lande, als ich anfing vorzurücken und
zuletzt ein ansehnlicher Unteroffizier wurde. Nach einem Verlauf von Jahren war
ich ein großes Thier in meiner Art, war meistentheils in den Büreaus des
Regimentskommandeurs beschäftigt und hatte mich als ein guter Verwalter
herausgestellt, indem ich die nothwendigen Künste, die Schreibereien und
Rechnereien aus dem Gange der Dinge mir augenblicklich aneignete ohne weiteres
Kopfzerbrechen. Es ging mir jetzt alles nach der Schnur und ich schien mir
selbst zufrieden zu sein, da ich ohne Mühe und Sorgen da sein konnte unter dem
warmen blauen Himmel; denn was ich zu verrichten hatte, geschah wie von selbst,
und ich fühlte keinen Unterschied, ob ich in Geschäften oder müssig umherging.
Das Essen war mir jetzt nichts Wichtiges mehr, und ich beachtete kaum, wann und
was ich aß. Zweimal während dieser Zeit hatte ich Nachricht an Euch abgesandt
nebst einigen ersparten Geldmitteln; allein beide Schiffe gingen sonderbarer
Weise mit Mann und Maus zu Grunde und ich gab die Sache auf, ärgerlich darüber,
und nahm mir vor, sobald als thunlich selber heimzukehren und meine
erworbene Arbeitsfähigkeit und feste Lebensart in der Heimath zu verwenden. Denn
ich gedachte damit etwas Besseres nach Seldwpla zu bringen, als wenn ich eine
Million dahin brächte, und malte mir schon aus, wie ich die Haselanten und
Fischesser da anfahren wollte, wenn sie mir über den Weg liefen. ^ „Doch damit
hatte es noch gute Wege und ich sollte erst noch solche Dinge erfahren und so in
meinem Wesen verändert und aufgerüttelt werden, daß mir die Lust verging, andere
Leute anfahren zu wollen. Der Kommandeur hatte mich gänzlich zu seinem Factotum
gemacht und ich mußte fast die ganze Zeit bei ihm zubringen. Es war ein
seltsamer Mann von etwa fünfzig Zähren, dessen Gattin in Irland lebte auf einem
alten Thurm, da sie wo möglich noch wunderlicher sein mußte, als er; so lange
sie zusammengelebt, hatten sie sich fortwährend angeknurrt, wie zwei wilde
Katzen, und sie litten Beide an der firen Idee, daß sie sich gegenseitig in
einander getäuscht hätten, obwohl Niemand besser für einander geschaffen war.
Auch waren sie gesund und munter und lebten behaglich in dieser
Einbildung, ohne welche keines mehr hätte die Zeit verbringen können, und wenn
sie weit aus einander waren, so sorgte Eines für das Andere mit rührender
Aufmerksamkeit. Die einzige Tochter, die sie hatten, und die Lydia heißt, lebte
dagegen meistentheils bei dem Vater und war ihm ergeben und zugethan, da der
Unterschied des Geschlechtes selbst zwischen Vater und Tochter diese mehr
zärtliches Mitleid für den Vater empfinden ließ, als für die Mutter, obgleich
diese eben so wenig oder so viel taugen mochte als jener in dem vermeintlich
unglücklichen Verhältniß. ^
„Der Kommandeur hatte eine reizvolle luftige Wohnung bezogen, die außerhalb der
Stadt in einem ganz mit Palmen, Cypreffen, Syko- moren und anderen Bäumen
angefüllten Thäte lag. Unter diesen Bäumen, rings um das leichte weiße Haus
herum, waren Gärten angelegt, in denen theils jederzeit frisches Gemüse, theils
eine Menge Blumen gezogen wurden, welche zwar hier in allen Ecken wild wuchsen,
die aber der Alte liebte beisammen zu haben in nächster Nähe und in
möglichster Menge, so daß in dem grünen Schatten der Bäume es ordentlich
leuchtete von großen purpurrothen und weißen Blumen. Wenn es nun im Dienste
nichts mehr zu thun gab, so mußte ich als ein militärischer zuverlässiger
Vertrauensmann diese Gärten in Ordnung halten, oder um darüber nicht etwa zu
verweichlichen, mit dem Oberst auf die Jagd gehen, und ich wurde darüber zu
einem gewandten Jäger; denn gleich hinter dem Thale begann eine wilde
unfruchtbare Landschaft, welche zuletzt gänzlich in eine Gebirgswildniß verlief,
die nicht nur ^ Schwärme und Schaaren unschuldigeren Gewil- des, sondern auch
von Zeit zu Zeit reißende Thiere, besonders große Tiger beherbergte. Wenn ein
solcher sich spüren ließ, so gab es einen großen Auszug gegen ihn, und ich
lernte bei diesen Gelegenheiten die Gefahr lange kennen, ehe ich in das Gefecht
mit Menschen kam. War aber weiter gar nichts zu thun, so mußte ich mit dem alten
Herrn Schach spielen und dadurch seine Tochter Lydia ersetzen, welche, da sie
gar keinen Sinn und kein Geschick dazu besaß und ganz kindisch spielte, ihm zu
wenig Vergnügen verschaffte. Ich hingegen hatte mich bald so weit
eingeübt, daß ich ihm einigermaßen die Stange halten konnte, ohne ihn des
öfteren Sieges zu berauben, und wenn mein Kopf nicht durch andere Dinge verwirrt
worden wäre, so würde ich dem grimmigen Alten bald überlegen geworden sein.k
Dergestalt war ich nun das merkwürdigste Institut von der Welt; ich ging unter
diesen Palmen einher gravitätisch und wortlos in meiner Scharlachuniform, ein
leichtes Schilfstöckchen in der Hand und über dem Kopse ein weißes * Tuch zum
Schutze gegen die heiße Sonne. Ich war Soldat, Verwaltungsmann, Gärtner, Jäger,
Hausfreund und Zeitvertreiben und zwar ein ganz sonderbarer, da ich nie ein Wort
sprach; denn obgleich ich jetzt nicht mehr schmollte und leidlich zufrieden war,
so hatte ich mir das Schweigen doch so angewöhnt, daß meine Zunge durch nichts
zu bewegen war, als etwa durch ein Kommando- wort oder einen Fluch gegen
unordentliche Soldaten. Doch diente gerade diese Weise dem Kommandeur, ich blieb
so an die fünf Jahre bei ihm einen Tag wie den andern und konnte, wenn ich freie
Zeit hatte, im Übrigen thun, was mir
beliebte. Diese Zeit benutzte ich dazu, das Dutzend Bücher, so der alte Herr
besaß, immer wieder durchzulesen und aus denselben, da sie alle dickleibig
waren, ein sonderbares Stück von der Welt kennen zu lernen. Ich war so ein
eifriger und stiller Leser, der sich eine Weisheit ausbildete, von der er nicht
recht wußte, ob sie in der Welt galt oder nicht galt, wie ich bald erfahren
sollte; denn obschon ich bereits vieles gesehen und erfahren, so war dies doch
nur gewissermaßen strichweise und das meiste, was es gab, lag zur Seite des
Striches, den ich passirt.«
„Mein Kommandeur wurde endlich zum Gouverneur des ganzen Landstriches ernannt,
wo wir bisher gestanden; er wünschte mich in seiner Nähe zu behalten und
veranlaßte meine Versetzung aus dem Regiment, welches wieder nach England
zurückging, in dasjenige, welches dafür ankam, und so fand sich wieder
Gelegenheit, daß ich als Militairperson sowohl wie in allen übrigen
Eigenschaften um ihn sein konnte, was mir ganz recht war; denn so blieb ich ein
auf mich selbst gestellter Mensch, der keinen andern Herrn, als seine Fahne über
sich hatte.«
Keller, die Leute von Seldwyla I.
4
»Um die gleiche Zeit kam auch die Tochter aus dem alten irländischen Thurme an,
um von nun an bei ihrem Vater dem Gouverneur zu leben. Es war ein
wohlgestaltetes Frauenzimmer von großer Schönheit; doch war sie nicht nur eine
Schönheit, sondern auch eine Person, die in ihren eigenen feinen Schuhen stand
und ging und sogleich den Eindruck machte, daß es für den, der sich etwa in sie
verliebte, nicht leicht hinter jedem Hag einen Ersatz oder einen Trost für diese
gäbe, eben weil es eine ganze und selbstständige Person schien, die so nicht zum
zweiten Male vorkommt. Und zwar schien diese edle Selbstständigkeit gepaart mit
der einfachsten Kindlichkeit und Güte des Charakters und mit jener Lauterkeit
und Rückhaltlosigkeit in dieser Güte, welche, wenn sie so mit Entschiedenheit
und Bestimmtheit verbunden ist, eine wahre Überlegenheit verleiht und dem, was
im Grunde nur ein unbefangenes ursprüngliches Gemüthswesen ist, den Schein einer
weihevollen und genialen Meisterschaft giebt. Indessen war sie sehr gebildet in
allen schönen Dingen, da sie nach Art solcher Geschöpfe die Kindheit und bis-
hörige Jugend damit zugebracht, alles zu lernen, was irgend
wohl ansteht, und sie kannte sogar fast alle neueren Sprachen, ohne daß man
jedoch viel davon bemerkte, so daß unwissende Männer ihr gegenüber nicht leicht
in jene schreckliche Verlegenheit geriethen, weniger zu verstehen, als ein
müssiges Ziergewächs von Jungfräulein. Überhaupt schien ein gesunder und
wohldurchge- bildeter Sinn in ihr sich mehr dadurch zu zeigen, daß sie die
vorkommenden kleineren oder größeren Dinge, Vorfälle oder Gegenstände durchaus
zutreffend beurtheilte und behandelte und dabei waren ihre Gedanken und Worte so
einfach lieblich und bestimmt, wie der Ton ihrer Stimme und die Bewegungen ihres
Körpers. Und über alles dies war sie, wie gesagt, so kindlich, so wenig
durchtrieben, daß sie nicht im Stande war, eine überlegte Partie Schach spielen
zu lernen und dennoch mit der fröhlichsten Geduld am Brette saß, um sich von
ihrem Vater unaufhörlich überrumpeln zu lassen. So ward es Einem sogleich
heimathlich und wohl zu Muthe in ihrer Nähe; man dachte »»verweilt, diese wäre
der wahre Jakob unter den Weibern und keine Bes-
4 * sere gäbe es in der Welt. Ihre schönen blonden Locken und die
dunkelblauen Augen, die fast immer ernst und frei in die Welt sahen, thaten
freilich auch das ihrige dazu, ja um so mehr, als ihre Schönheit, so sehr sie
imponirte, von echt weiblicher Bescheidenheit und Sittsamkeit durchdrungen war
und dabei gänzlich den Eindruck von etwas Einzigem und Persönlichem machte, es
war eben kurz und abermals gesagt: eine Person. Das heißt, ich sage es schien
so, oder eigentlich, weiß Gott, ob es am Ende doch so war und es nur an mir lag,
daß es ein solcher trügerischer Schein schien, kurz —« Pankrazius vergaß hier
weiter zu reden und verfiel in ein schwermüthiges Nachdenken, wozu er ein
ziemlich unkriegerisches und beinahe einfältiges Gesicht machte. Die beiden
Wachslichter waren über die Hälfte heruntergebrannt, die Mutter und die
Schwester hatten die Köpfe gesenkt und nickten, schon nichts mehr sehend noch
hörend, schlaftrunken mit ihren Köpfen, denn schon seit Pankrazius die
Schilderung seiner vermuthlichen Geliebten begonnen, hatten sie angefangen
schläfrig zu werden, ließen ihn jetzt ganz-
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lich im Stich und schliefen wirklich ein. Zum Glück für unsere Neugierde
bemerkte der Oberst dies nicht, statte überhaupt vergessen, vor wem er erzählte
und fustr ohne die niedergeschlagenen Augen zu erheben, fort, vor den
schlafenden Frauen zu erzählen, wie Einer, der etwas lange Verschwiegenes
endlich mitzutheilen sich nicht mehr enthalten kann.
"Ich statte, sagte er, bis zu dieser Zeit noch kein Weib näher angesehen und
verstand oder wußte von ihnen ungefähr so viel, wie ein Nashorn vom
Zitsterspiel. Nicht daß ich solche etwa nicht von fester gern gesehen hätte,
wenn ich unbemerkt und ohne Aufwand von Mühe nach ihnen schielen konnte; doch
war es mir äußerst zuwider, mit irgend Einer mich in den geringsten Wortwechsel
einzulassen, da es mir von fester schien, als ob es sämmtlichen Weibern gar
nicht um eine vernunftgemäße, klare und richtige Sache zu thun wäre, daß es
ihnen unmöglich sei, nur sechs Worte lang in guter Ordnung bei der Stange zu
bleiben, sondern daß sie einzig darauf ausgingen, wenn sie in diesem Augenblicke
etwas Zweckmäßiges und Gutes gesagt haben, gleich darauf eine große
Albernheit oder Verdrehtheit einzuwerfen, was sie dann als ihre weibliche Anmuth
und Beweglichkeit ausgäben, im Grunde aber eine Unredlichkeit sei, und um so
abscheulicher, als sie halb und halb von bewußter Absicht begleitet sei, um
hinter diesem Durcheinander allen schlechten Instinkten und Querköpfig- keiten
desto bequemer zu fröhnen. Deshalb schmollte und grollte ich von vornherein mit
allem Weibervolk und würdigte keines eines offenkundigen Blickes. In Indien, als
ich mehr zufrieden war und keinen Groll fürder hegte, gab es zwar viel
Frauensleute, sowohl indischen Geblütes, als auch eine Menge englischer, da
viele Kaufleute, Offieiere und Soldaten ihre Familie bei sich hatten. Doch diese
Jndierinnen, die schön waren wie die Blumen und gut wie Zucker aussahen und
sprachen, waren eben nichts weiter als dies und rührten mich nicht im mindesten,
da Schönheit und Güte ohne Salz und Wehrbarkeit mir langweilig vorkamen, und es
war mir peinlich zu denken, wie eine solche Frau, wenn sie mein wäre, sich auf
keine Weise gegen meine etwanigen schlimmen Launen zu wehren
vermöchte. Die europäischen Weiber dagegen, die ich sah, welche größtenteils aus
Großbritannien herstammten, schienen schon eher.wehrhaft zu sein, jedoch waren
sie weniger gut und selbst wenn sie es waren, so betrieben sie die Güte und
Ehrbarkeit wie ein abscheulich nüchternes und hausbackenes Handwerk, und selbst
die edle Weiblichkeit, auf die sich diese selbstbewußten respektablen Weibchen
so viel zu gut thaten, handhabten sie eher als Würzkrämer, denn als Weiber. Hier
wird ein Quentchen ausgewogen und dort ein Quentchen, sorglich in die
löschpapierne Düte der Philisterhaftigkeit gewickelt. Überdies war mir immer,
als ob durch das Innerste aller dieser abendländischen Schönen und Unschönen ein
tiefer Zug von Gemeinheit zöge, die Krankheit unserer Zeit, welche sie zwar nur
von unserem Geschlechte, von uns Herren Europäern, überkommen konnten, aber die
gerade bei den anderen wieder zu einem neuen verdoppelten Übel wird. Denn es
sind üble Zeiten, wo die Geschlechter ihre Krankheiten austauschen und eines dem
anderen seine angeborenen Schwachheiten mittheilt. Dies waren so meine unwissenden hypochondrischen Gedanken über die Weiber, welche
meinem Verhalten gegen sie zu Grunde lagen und mit welchen ich meiner Wege ging,
ohne mich um Eine zu bekümmern.«
„Als nun die schöne Lydia bei uns anlangte und ich mich täglich in ihrer Nähe
befand, erhielt meine ganze Weisheit einen Stoß und fiel zusammen. Es war mir
gleich von Grund aus wohl zu Muthe, wenn sie zugegen war, und ich wußte nicht,
was ich hieraus machen sollte. Höchlich verwundert war ich, weder Groll noch
Verachtung gegen diese zu empfinden, weder Geringschätzung, noch jene Lust, doch
verstohlen nach ihr hinzuschielen; vielmehr freute ich mich ganz unbefangen über
ihr Dasein und sah sie ohne Unbescheidenheit, aber frei und offen an, wenn ich
in ihrer Nähe zu thun hatte. Dies fiel mir um so leichter, als ich in meiner
Stellung als armer Soldat kein Wort an sie zu richten brauchte, ohne gefragt zu
werden und also kein anderes Benehmen zu beobachten hatte, als dasjenige eines
sich aufrecht haltenden ernsthaften Unterofficiers. Auch war mir das Schweigen,
besonders gegenüber den Weibern, so zur andern Natur geworden durch
das langjährige Kopfhängen, daß ich beim besten Willen jetzt nicht hätte eine
Ausnahme machen können, auch wenn es sich geschickt hätte. Dennoch fühlte ich
ein großes und ungewöhnliches Wohlwollen für diese Person, war in meinem Herzen
sehr gut auf sie zu sprechen und ihr zu Gefallen veränderte ich meine schlechten
Ansichten von den Frauen und dachte mir, es müßte doch nicht so übel mit ihnen
stehen, wenigstens sollten sie um dieser Einen willen von nun an mehr Gnade
finden bei mir. Ich war sehr froh, wenn Lydia zugegen war oder wenn ich
Veranlassung fand, mich dahin zu verfügen, wo sie eben war; doch that ich
deswegen nicht einen Schritt mehr- als im natürlichen Gange der Dinge lag; nicht
einmal blickte oder ging ich, wenn ich mich im gleichen Raume mit ihr befand,
ohne einen bestimmten vernünftigen Grund nach ihr hin und fühlte überhaupt eine
solche Ruhe in mir, wie das kühle Meerwasser, wenn kein Wind sich regt und die
Sonne obenhin darauf scheint, k
„Dies verhielt sich so ungefähr ein halbes Jahr, ein Jahr oder auch etwas
darüber, ich weiß es nicht mehr genau; denn die ganze Zeitrechnung
von damals ist mir verloren gegangen, der ganze Zeitraum schwebt mir nur noch
wie ein schwüler von Träumen durchzogener Sommertag vor. Während dieses Anfanges
nun, dessen längere oder kürzere Dauer ich nicht mehr weiß, ging so alles gut
und ruhig von Statten. Die Dame, obgleich sie mich öfters sehen mußte, hatte
nicht besonders viel mit mir zu verkehren oder zu sprechen, wenn sie es aber
that, so war sie außerordentlich freundlich und that es nie, ohne mit einem
kindlichen harmlosen Lachen ihres schönen Gesichtes, was ich dann dankbarst
damit erwiederte, daß ich ein um so ehrbareres Gesicht machte und den Mund nicht
verzog, indem ich sagte: Sehr wohl, mein Fräulein! oder auch unbefangen
widersprach, wenn sie sich irrte, was indeß selten geschah. War sie aber nicht
zugegen oder ich allein, so dachte ich wohl vielfältig an sie, aber nicht im
mindesten wie ein Verliebter, sondern wie ein guter Freund oder Verwandter,
welcher aufrichtig um sie bekümmert war, ihr alles Wohlergehen wünschte und
allerlei gute Dinge für sie ausdachte. Kaum ging eine leise
Veränderung dadurch mit mir vor, wenn ich mich recht entsinne, daß ich gegenüber
dem Gouverneur ein wenig mehr auf mich hielt, ein wenig mehr den Soldaten
hervorkehrte, der nichts als seine Pflicht kennt, und in meinen übrigen
Dienstleistungen mehr den Schein der Unabhängigkeit wahrte, wie ich denn auch in
keinerlei Lohnverhältniß zu ihm stand und nachdem die eigentliche Arbeit auf
seinem Büreau gethan, wofür ich besoldet war, alles übrige als ein guter
Vertrauter mitmachte und nur, da es die Gelegenheit mit sich brachte, etwa mit
ihm aß und trank. Und so war ich, wie schon gesagt, vollkommen ruhig und
zufrieden, was sich freilich auf meine besondere Weise ausnehmen mochte.«
«Da geschah es eines Tages, als ich unter den schattigen Bäumen mir zu thun
machte, daß die Lydia innerhalb einer kurzen Stunde drei Mal herkam, ohne daß
sie etwas da zu thun oder auszurichten hatte. Das erste Mal setzte sie sich auf
einen umgestürzten Korb und aß ein kleines Körbchen voll rother Kirschen auf,
indem sie fortwährend mit mir plauderte und mich zum Reden veranlaßte. Das
andere Mal kam sie und rückte den Korb ganz nahe an das Rosen-
bäumchen, das ich eben säuberte, setzte sich abermals darauf und nähete ein
weißes seidenes Band auf ein zierliches Nachthäubchen oder was es war; denn
genau konnte ich es nicht unterscheiden, da ich diesmal kaum hinsah und ihr nur
wenig Bescheid gab, indem ich etwas verlegen wurde. Sie ging bald wieder fort
und kam zum dritten Male mit einem feinen kunstvoll in Elfenbein gearbeiteten
Geduldspiel aus China, packte den alten Korb und schleppte ihn wieder weg, indem
sie sich in einiger Entfernung darauf setzte, mir den Rücken zuwendend, und ganz
still das Spiel zu lösen versuchte. Ich blickte jetzt unverwandt nach ihr hin,
bis sie, das Spielzeug in die Tasche steckend, unversehens sich erhob und einen
seltsamen wohllautenden Triller singend davon ging, ohne sich wieder nach mir
umzusehen. Dies alles wollte mir nicht klar sein noch einleuchten, und meine
Seele rümpfte leise die Nase zu diesem Thun; aber von Stund an war ich verliebt
in Lydia.»
"In der wunderbarsten gelinden Aufregung ließ ich mein Bäumchen stehen, holte
die Dop- pelbüchse und streifte in den Abend hinaus weit in die
Wildniß. Viele Thiere sah ich wohl, aber alle vergaß ich zu schießen; denn wie
ich auf eines anschlagen wollte, dachte ich wieder an das Benehmen dieser Dame
und verlor so das Thier aus den Augen.^
„Was will sie von dir, dachte ich, und was 'soll das heißen? Indem ich aber
hierüber hin- und hcrsann, entstand und lohete schon eine große Dankbarkeit in
mir für alles Mögliche und Unmögliche, was irgend in dem Vorfalle liegen mochte,
wogegen mein Ordnungssinn und das Bewußtsein meiner geringen und wenig an-
muthigen Person den widerwärtigsten Streit erhob. Als ich hieraus nicht klug
wurde, verfielen meine Gedanken plötzlich auf den Ausweg, daß diese scheinbar so
schöne und tüchtige Frau am Ende ganz einfach ein leichtfertiges und verbuhltes
Wesen sei, das sich zu schaffen mache, mit wem es sei, und selbst mit einem
armen Unterofficier eine schlechte Geschichte anzuheben nicht verschmähe. Diese
verwünschte Anficht that mir so weh und traf mich so unvermuthet, daß ich
wuthentbrannt einen ungeheuren rauhen Eber niederschoß, der eben
durch die hohen Bergkräuter hergezrunzt kam, und meine Kugel saß fast
gleichzeitig und eben so unvermuthet und unwillkomcken in seinem Gehirn, wie
jener niederträchtige Gedanke in dem meinigen, und schon war mir zu Muthe, als
ob das wilde Thier noch zu beneiden wäre um seine Errungenschaft im Vergleich zu
der meinigen. Ich setzte mich auf die todte Bestie; vor meinen Gedanken ging die
schöne Gestalt vorüber und ich sah sie deutlich, wie sie die drei Male gekommen
war mit jeder ihrer Bewegungen und jedes Wort tonte noch nach. Aber merkwürdiger
Weise ging dies gute Gedächtniß noch über diesen Tag hinaus und zurück überhaupt
bis auf den ersten Tag, wo ich sie gesehen, den ganzen Zeitraum hindurch, wo ich
doch gänzlich ruhig gewesen. Wie man bei ganz durchsichtiger Luft, wenn es Regen
geben will, an entfernten Bergen viele Einzelnheiten deutlich sieht, die man
sonst nicht wahrnimmt, und in stiller Nacht die fernsten Glocken schlagen hört,
so entdeckte ich jetzt mit Verwunderung, daß aus jenem ganzen Zeitraume jede Art
und Wendung ihrer Erscheinung, jedes einzelne Auftreten sich ohne
mein Wissen mir eingeprägt hatte, und fast jedes ihrer Worte, selbst das
gleichgültigste und vorübergehendste, hörte ich mit klar vernehmlichem Ausdruck
in der Stille dieser Wildniß wieder tönen. Diese sämmtliche Herrlichkeit hatte
also gleichsam schlafend oder heimlicherweise sich in mir aufgehalten und der
heutige Vorgang hatte nur den Riegel davor weggeschoben oder eine Fackel in ein
Bund Stroh geworfen. Ich vergaß über diesen Dingen wieder meinen schlechten Zorn
und beschäftigte mich rückhaltlos mit der Ausbeutung meines guten Gedächtnisses
und schenkte demselben nicht den kleinsten Zug, den es mir von dem Bilde Lydias
irgend liefern konnte. Auf diese Weise schlenderte ich denn auch wieder der
Behausung zu und überließ mich allein diesen angenehmen Vorstellungen; jedoch
vermochte ich nun nicht mehr so unbefangen und ruhig in ihrer Nähe zu sein, und
da ich nichts anderes anzufangen wußte noch gesonnen war, so vermied ich
möglichst jeden Verkehr mit ihr, um desto eifriger an sie zu denken. So
vergingen drei oder vier Wochen, ohne daß etwas Weiteres vorfiel, als daß ich
bemerkte, daß sie bei aller Zurückhaltung, die sie nun beobachtete,
dennoch keine Gelegenheit versäumte, irgend etwas zu meinen Gunsten zu thun oder
zu sagen, und sie fing an, mir völlig nach dem Munde oder zu Gefallen zu
sprechen, da sie Ausdrücke brauchte, welche ich etwa gebraucht, und die Dinge so
beurtheilte, wie ich es zu thun gewohnt war. Dies schien nun erst nichts
besonderes, weil es mich eben von jeher angenehm dünkte, in ihr eben dieselben
Ansichten vom Zweckmäßigen oder vom Verkehrten zu entdecken, deren ich mich
selber befleißigte; auch lachte sie über dieselben Dinge, über welche ich lachen
mußte, oder ärgerte sich über die nämlichen Unschicklichkeiten, so etwa
vorfielen. Aber zuletzt ward es so auffällig, daß sie mir, da ich kaum ein Wort
mit ihr zu sprechen hatte, zu Gefallen zu leben suchte und zwar nicht wie eine
schelmische Kokette, sondern wie ein einfaches argloses Kind, daß ich in die
größte Verwirrung gerieth und vollends nicht mehr wußte, wie ich mich stellen
sollte. So fand ich denn, um mich zu salviren, unverfänglich mein Heil in meiner
alten wohlhergestellten Schmollkunst und verhärtete mich vollkommen in
derselben, zumal ich mich nichts weniger als glücklich fühlte in diesem
sonderbaren Verhältniß. Nun schien sie wahrhaft bekümmert und niedergeschlagen,
kleinlaut und schüchtern zu werden, was zu ihrem sonstigen resoluten und
tüchtigen Wesen eine verführerische Wirkung hervorbrachte, da man an den
gewöhnlichen Weibern und je kleinlicher sie sind, desto weniger gewohnt ist, sie
durch solche schüchterne Bescheidenheit glänzen und bestechen zu sehen. Vielmehr
glauben sie, nichts stehe ihnen besser zu Gesicht, als eine schreckliche
Sicherheit und Unverschämtheit. Da nun sogar noch der alte Gouverneur anfing, in
einer mir unverständlichen und wenig delikaten Laune zu sticheln und zu scherzen
und zehnmal des Tages sagte: Wahrhaftig, Lydia, Du bist Verliebt in den
Pankrazius! so ward mir das Ding zu bunt; denn ich hielt das für einen sehr
schlechten Spaß, in Betreff auf seine Tochter für geschmacklos und vom
ordinärsten Tone, in Bezug auf mich aber für gewissenlos und roh, und ich war
oft im Begriff, es ihm offen zu sagen und mich den Teufel um ihn weiter zu
kümmern. Letzteres that ich auch in sofern, als ich mich
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 5 nun gänzlich zusammen nahm und
in mich selber verschloß. Lydia wurde eintönig, ja sie schien nun sogar bleich
und leidend zu werden, was mich tief bekümmerte, ohne daß ich daraus etwas
Kluges zu machen wußte. Als sie aber trotz meines Verhaltens sogar wieder
anfing, mir nachzugehen und sich fortwährend zu schaffen machte, wo ich mich
aufhielt, gerieth ich in Verzweiflung und in der Verzweiflung begann ich,
abgebrochene und ungeschickte Unterhaltungen mit ihr zu Pflegen. Es war gar
nichts, was wir sprachen, ganz unartikulirtes jämmerliches Zeug, als ob wir
beide blödsinnig wären; allein beide schienen gar nicht hieran zu denken,
sondern lachten uns an wie Kinder; denn auch ich vergaß darüber alles andere und
war endlich froh, nur diese kurzen Reden mit ihr zu führen. Allein das Glück
dauerte nie länger, als zwei Minuten, da wir den Faden aus Mangel an Ruhe und
Besonnenheit sogleich wieder verloren und dann zwei Kindern glichen, die ein
Perlenband aufge- zettelt haben und mit Betrübniß die schönen Perlen entgleiten
sehen. Alsdann dauerte es wieder wochenlang, bis eine dieser großen Unter- nehmungen wieder gelang, und nie that ich den ersten Schritt dazu,
da ich gleich darauf wieder nur bedacht war, mir nichts zu vergeben und keine
Duinncheiten zu begehen bei diesen etwas ungewöhnlichen Leuten. Hundertmal war
ich entschlossen auf und davon zu gehen, allein die Zeit verging mir so eilig,
daß ich die That im- mer wieder hinausschieben mußte. Denn meine Gedanken waren
setzt ausschließlich mit dieser Sache beschäftigt und es ging mir dabei äußerst
seltsam.«
„Mit den Büchern des Gouverneurs war ich endlich so ziemlich fertig geworden und
wußte nichts mehr aus denselben zu lernen. Lydia, welche mich so oft lesen sah,
benutzte diese Gelegenheit und gab mir von den ihrigen. Darunter war ein dicker
Band wie eine Handbibel und er sah auch ganz geistlich aus; denn er war in
schwarzes Leder gebunden und vergoldet. Es waren aber lauter Schauspiele und
Komödien darin mit der kleinsten englischen Schrift gedruckt. Dies Buch nannte
man den Shakespeare, welches der Verfasser desselben und dessen Kopf auch vorne
drin zu sehen war. Dieser verführerische falsche Prophet führte
mich schön in die Patsche. Er schildert nämlich die Welt nach allen Seiten hin
durchaus einzig und wahr wie sie ist, aber nur wie sie es in den ganzen Menschen
ist, welche im Guten und im Schlechten das Metier ihres Daseins und ihrer
Neigungen vollständig und charakteristisch betreiben und dabei durchsichtig wie
Krystall, jeder vom reinsten Wasser in seiner Art, so daß, wenn schlechte
Skribenten die Welt der Mittelmäßigkeit und farblosen Halbheit beherrschen und
malen und dadurch Schwachköpfe in die Irre führen und mit tausend unbedeutenden
Täuschungen anfüllen, dieser hingegen eben die Welt des Ganzen und Gelungenen in
seiner Art, d. h. wie es sein soll, beherrscht und dadurch gute Köpfe in die
Irre führt, wenn sie in der Welt dies wesentliche Leben zu sehen und
wiederzufinden glauben. Ach es ist schon in der Welt, aber nur niemals da, wo
wir eben sind oder dann, wann wir leben. Es giebt noch verwegene schlimme Weiber
genug, aber ohne den schönen Nachtwandel der Lady Macbeth und das bange Reiben
der kleinen Hand. Die Gistmischerinnen, die wir treffen, sind nur
frech und reulos und schreiben gar noch ihre Geschichte oder legen einen
Kramladen an, wenn sie ihre Strafe überstanden. Es giebt noch Leute genug, die
wähnen Hamlet zu sein und sie rühmen sich dessen, ohne eine Ahnung zu haben von
den großen Herzensgründen eines wahren Hamlet. Hier ist ein Blutmensch ohne
Macbeths dämonische und doch wieder so menschliche Mannhaftigkeit und dort ein
Richard der Dritte ohne dessen Witz und Beredtsamkeit. Hier ist eine Porzia, die
nicht schön, dort eine, die nicht geistreich, dort wieder eine die geistreich
aber nicht klug ist und wohl versteht, Leute unglücklich zu machen, nicht aber
sich selbst zu beglücken. Unsere Shyloks möchten uns wohl das Fleisch aus-
schneiden, aber sie werden nun und nimmer eine Baarauslage zu diesem Behuf
wagen, und unsere Kaufleute von Venedig gerathen nicht wegen eines lustigen
Habenichts von Freund in Gefahr, sondern wegen einfältigen Actienschwindels und
halten dann nicht im mindesten so schöne melancholische Reden, sondern machen
ein ganz dummes Gesicht dazu. Doch eigentlich sind, wie gesagt, alle solche
Leute wohl in der Welt, aber nicht so hübsch beisammen, wie in
jenen Gedichten; nie trifft ein ganzer Schurke auf einen ganzen wehrbaren Mann,
nie ein vollständiger Narr auf einen unbedingt klugen Fröhlichen, so daß es zu
keinem rechten Trauerspiel und zu keiner guten Komödie kommen kann.a
»Ich aber las nun die ganze Nacht in diesem Buche und verfing mich ganz in
demselben, da es mir gar so gründlich und sachgemäß geschrieben schien und mir
außerdem eine solche Arbeit eben so neu als verdienstlich vorkam. Weil nun alles
übrige so trefflich, wahr und ganz erschien und ich es für die eigentliche und
richtige Welt hielt, so verließ ich mich insbesondere auch bei den Weibern, die
es vorbrachte, ganz auf ihn, verlockt und geleitet von dem schönen Sterne Lpdia,
und ich glaubte, hier ginge mir ein Licht auf und sei die Lösung meiner
zweifelvollen Verwirrung und Qual zu finden.«
»Gut! dachte ich, wenn ich diese schönen Bilder der Desdemona, der Helena, der
Jmogen und anderer sah, die alle aus der hohen Selbstherrlichkeit ihres
Frauenthums heraus so selt- samen Käuzen nachgingen und anhingen,
rückhaltlos wie unschuldige Kinder, edel, stark und treu wie Helden, unwandelbar
und treu wie die Sterne des Himmels: gut! hier haben wir unseren Fall! Denn
nichts anderes als ein solches festes, schöngebautes und gradausfahrendes
Frauenfahrzeug ist diese Lydia, die ihren Anker nur einmal und dann in eine
unergründliche Tiefe auswirft und wohl weiß was sie will. Diese Meinung ging
gleich einer strahlenden heißen Sonne in mir auf und in deren Licht sah ich nun
jede Bewegung und jede kleinste Handlung, jedes Wort des schönen Geschöpfes, und
es dauerte nicht lange, so überbot sie in meinen Augen alles, was der gute
Dichter mit seiner mächtigen Einbildungskraft erfunden, da dies lebendige
Gedicht im Lichte der Sonne umherging in Fleisch und Blut, mit wirklichen
Herzschlägen und einem thatsächlichen Nacken voll goldener Locken. ^
„Das unheimliche Räthsel war nun gelöst und ich hatte nichts weiter zu thun, als
mich in diese mit dem Shakespeare in die Wette zu- sammengedichtete Seligkeit zu
finden und mit Mühe meine geringfügige und unliebliche Person für
eine solche Laune des Schicksals oder des königlich großmüthigen Frauengemüthes
einigermaßen leidlich zurecht zu stutzen mittelst hundertfacher Pläne und
Aussichten, welche sich an das große schone Luftschloß anbaueten. Die unendliche
Dankbarkeit und Verehrung, welche ich solchergestalt gegen die Geliebte empfand,
hatte allerdings zum guten Theil ihren Grund in meiner sich geschmeichelt
fühlenden Eigenliebe; aber gewiß auch zum noch größeren Theil darin, daß diese
Erklärungsweise die einzige war, welche mir möglich schien, ohne dies theuerste
Wesen verachten und bemitleiden zu müssen; denn eine hohe Achtung, die ich für
sie empfand, war mir zum Lebensbedürfniß geworden und mein Herz zitterte vor
ihr, das noch vor keinem Menschen und vor keinem wilden Thiere gezittert hatte.«
„So ging ich wohl ein halbes Jahr lang herum wie ein Nachtwandler, von Träumen
so voll hängend, wie ein Baum voll Achsel, alles, ohne mit Lydia um einen
Schritt weiter zu kommen. Ich fürchtete mich vor dem kleinsten möglichen
Ercigniß, etwa wie ein guter Christ vor dem Tode, den er zagend
scheut, obgleich er durch selbigen in die ewige Seligkeit einzugehen gewiß ist.
Desto bunter ging es in meinem Gehirn zu und die Ereignisse und aufregendsten
Geschichten, alles aufs schönste und unzweifelhafteste sich begebend, drängten
und blühten da durcheinander. Ich versäumte meine Geschäfte und war zu nichts zu
brauchen. Das Ärgste war mir, wenn ich stundenlang mit dem Alten Schach spielen
mußte, wo ich dann gezwungen war, meine Aufmerksamkeit an das Spiel zu fesseln,
und die einzige Muße für meine schweren Liebesgedanken gewährte mir die kurze
Zeit, wenn ein Spiel zu Ende war und die Figuren wieder aufgestellt wurden. Ich
ließ mich daher sobald als immer möglich, ohne daß es zu sehr auffiel, matt
machen und hielt mich so lange mit dem Aufstellen des Königs und der Königin,
der Läufer, Springer und Bauern aus und rückte so lange an den Thürmen hin und
her, daß der Gouverneur glaubte, ich sei kindisch geworden und tändle mit den
Figürchen zu meinem Vergnügen.«
Endlich aber drohete meine ganze Eristenz sich in müssige
Traumseligkeit aufzulösen und ich lief Gefahr ein Tollhäusler zu werden. Zudem
war ich trotz aller dieser goldenen Luftschlösser unsäglich kleinmüthig und
traurig, da, ehe das letzte Wort gesprochen ist, die solchen wuchernden Träumen
gegenüber immer zurückstehende Wirklichkeit niederschlägt und die leibhafte
Gegenwart etwas Abkühlendes und Abwehrendes behält. Es ist das gewissermaßen die
schützende Dornenrüstung, womit sich die schöne Nose des körperlichen Lebens
umgiebt. Je freundlicher und zuthulicher Lydia war, desto ungewisser und
zweifelhafter wurde ich, weil ich an mir selbst entnahm, wie schwer es Einem
möglich wird, eine wirkliche Liebe zu zeigen, ohne sie ganz bei ihrem Namen zu
nennen. Nur wenn sie streng, traurig und leidend schien, schöpfte ich wieder
einen halben Grund zu einer vernünftigen Hoffnung, aber dies quälte mich alsdann
noch viel tiefer und ich hielt mich nicht werth, daß sie nur eine schlimme
Minute um meinetwillen erleiden sollte, der ich gern den Kopf unter ihre Füße
gelegt hätte. Dann ärgerte ich mich wieder, daß sie, um guter Dinge zu sein,
verlangte, ich sollte
etwa aussehen wie ein verliebter närrischer Schneider, da ich doch kein solcher
war und ich auf meine Weise schon gedachte, beweglich zu werden zu ihrem
Wohlgefallen. Kurz, ich ging einer gänzlichen Confusion entgegen, war nicht mehr
im Stande ein einziges Geschäft ordnungsgemäß zu verrichten und lief Gefahr, als
Militär rückwärts zu kommen oder gar verabschiedet zu werden, wenn ich nicht als
ein abhängiger dienstbarer Lückenbüßer, der zu weiter nichts zu brauchen, mich
an das Haus des Gouverneurs hängen wollte.«
„Als daher die Engländer in bedenkliche Feindseligkeiten mit indischen Völkern
geriethen und ein Feldzug eröffnet wurde, der nachher ziemlich blutig für sie
ausfiel, entschloß ich mich kurz und trat wieder in meine Compagnie als guter
Combattant, vom Gouverneur meinen Abschied nehmend. Derselbe wollte zwar nichts
davon wissen, sondern polterte, bat und schmeichelte mir, daß ich bleiben
möchte, wie alle solche Leute, die glauben, Alles stehe mit seinem Leib und
Leben, mit seinem Wohl und Wehe nur zu ihrer Verfügung da, um ihnen die Zeit zu
vertreiben und zur Bequemlichkeit zu dienen. Lydia hingegen ließ
sich während der drei oder vier Tage, während welcher von meinem Abzug die Rede
war, kaum sehen. Geschah es aber, so sah sie mich nicht an oder warf einen
kurzen Blick voll Zornes auf mich, wie es schien; aber nur das Auge schien
zornig, ihr Gang und ihre übrigen Bewegungen waren dabei so still, edel und an
sich haltend, daß dieser schöne Zorn mir das Herz zerriß. Auch hörte ich, daß
sie des Morgens sehr spät 'zum Vorschein käme und daß man sich darüber den Kopf
zerbräche; denn es deutete darauf, daß sie des Nachts nicht schlafe, und als ich
sie am letzten Tage zufällig hinter ihrem Fenster sah, glaubte ich zu bemerken,
daß sie ganz verweinte Augen hatte; auch zog sie sich schnell zurück, als ich
vorüberging. Nichts- destominder schritt ich meinen steifen Feldwebelsgang ruhig
fort und verrichtete noch alles, weder rechts noch links sehend. So ging ich
auch gegen Abend mit einem Burschen noch einmal durch die Pflanzungen, um ihm
die Obhut derselben einigermaßen zu zeigen und ihn so gut es ging zu einem
provisorischen Gärtner zuzustutzen, bis sich ein tauglicheres Subjekt zeigen würde. Wir standen eben in einem schlanken hohen Rosenwäldchen, das
ich gezogen hatte; die Bäumchen standen just in der Höhe des Gesichtes eines
Menschen, und so nahe, daß wenn man darin herum ging, die Rosen Einem an der
Nase streiften, was sehr artig und bequem war und wozu der Gouverneur sehr
gelacht hatte, da er' sich nun nicht mehr zu bücken brauchte um an den Rosen zu
riechen. Als ich dem Burschen meine Anweisungen ertheilte, kam Lydia herbei und
schickte ihn mit irgend einem Austrage weg, und indem sie gleich mitzugehen
Willens schien, zögerte sie doch eine kurze Zeit, einige Rosen brechend, bis der
Diener weg war. Ich zerrte ebenfalls noch ein Weilchen an einem Zweige herum und
wie ich mich umdrehte, um zu gehen, sah ich, daß ihr Thränen aus den Augen
fielen. Zch hatte Mühe mich zu bezwingen; doch that ich als ob ich nichts
gesehen, und eilte hinweg. Doch kaum war ich zehn Schritte gegangen, als ich
hörte und fühlte, wie sie, bald laufend, bald stehen bleibend, hinter mir
herkam, und so eine ganze Strecke weit. Ich hielt dies nicht mehr aus, wandte
mich plötzlich um und sagte zu ihr, die kaum noch drei Schritte von
mir entfernt war: »Warum gehen Sie mir nach, Fräulein?^
»Sie stand still, wie von einer Schlange erschreckt, und wurde, den Blick zur
Erde gesenkt, glühendroth im Gesicht; dann wurde sie bleich und weiß und
zitterte am ganzen Leibe, während sie die großen blauen Augen zu mir aufschlug
und nicht ein Wort hervorbrachte. Endlich sagte sie mit einer Stimme, in
welcher^ empörter Stolz mit gern ertragener Demüthigung rang: »Ich denke, ich
kann in meinem Besitzthume herumgehen, wo ich will!^
»Gewißerwiederte ich kleinlaut und setzte meinen Weg fort. Sie war jetzt an
meiner Seite und ging neben mir her. Ich ging aber in meiner heftigen Aufregung
mit so langen und raschen Schritten, daß sie trotz ihrer kräftigen Bewegungen
mir mit Mühe folgen konnte und doch that sie es. Ich sah sie mehrmals groß an
von der Seite und sah, daß ihr die Augen wieder voll Wasser standen, indessen
dieselben wie kummervoll und demüthig auf den Boden gerichtet waren. Mir brannte
es ebenfalls sie- dendheiß im Gesicht und meine Augen wurden auch
naß. Die Sache stand jetzt dergestalt auf der Spitze, daß ich entweder eine
Dummheit oder eine Gewissenlosigkeit zu begehen im Begriff war, wovon ich weder
das Eine noch das Andere zu thun gesonnen war. Doch dachte ich, indem ich so
neben ihr Herschritt, in meinen armen Gedanken: Wenn dies Weib dich liebt und du
jemals mit Ehren an ihre Hand gelangest, so sollst du ihr auch dienen bis in den
Tod, und wenn sie der Teufel selbst wäre!
»Indem erreichten wir eine Stätte, wo ein oder zwei Dutzend Orangenbäume standen
und die Luft mit Wohlgeruch erfüllten, während ein süßer frischer Lufthauch
durch die reinlichen edel- gesormten Stämmchen wehte. Ich glaube diesen
bethörenden Hauch und Dust noch jetzt zu fühlen, wenn ich daran denke;
wahrscheinlich übte er eine ähnliche Wirkung auf das Geschöpf, das neben mir
ging, daß es seine wundersame Leidenschaft, welche die Liebe zu sich selbst war,
so aufs äußerste empfand und darstellte, als ob es eine wirkliche Liebe zu einem
Manne wäre; denn sie ließ sich auf eine Bank unter den Orangen
tztt
nieder und senkte das schöne Haupt auf die Hände; die goldenen Haare fielen
darüber und reiche Thränen quollen durch ihre Finger.
„Ich stand vor ihr still und sagte mit versagender Stimme: „Was wollen Sie denn,
was ist Ihnen, Fräulein Lydia?«
„Was wollen Sie denn!« sagte sie „ist es je erhört, eine schöne und feine Dame
so zu quälen und zu mißhandeln! Aus welchem barbarischen Lande kommen Sie denn?
Was tragen Sie für ein Stück Holz in der Brust?«
„Wie quäle, wie mißhandle ich denn?« erwiederte ich unschlüssig und betreten;
denn obgleich sie einen guten Sinn haben konnte, schien mir diese Sprache
dennoch nicht die rechte zu sein.
„Sie sind ein grober und übermüthiger Mensch!« sagte sie, ohne aufzublicken.
Nun konnte ich nicht mehr an mich halten und erwiederte: „Sie würden dies nicht
sagen, mein Fräulein, wenn Sie wüßten, wie wenig grob und übermüthig ich in
meinem Herzen gegen Sie gesinnt bin! Und es ist gerade meine große Höflichkeit
und Demuth, welche —« „Sie blickte, als ich wieder verstummte, auf,
und das Gesicht mit einem schmerzlichen, bittenden Lächeln aufgehellt, sagte sie
hastig: »Nun?« Wobei sie mir einen Blick zuwarf, der mich jetzt um den letzten
Rest von Überlegung brachte. Ich, der ich es nie für möglich gehalten hätte,
selbst dem gcliebtesten Weibe zu Füßen zu fallen, da ich solches für eine
Thorheit und Ziererei hielt, ich wußte jetzt nicht, wie ich dazu kam, plötzlich
vor ihr zu liegen und meinen Kopf ganz hingegeben und zerknirscht in den Saum
ihres Gewandes zu verbergen, den ich mit heißet: Thränen benetzte. Sie stieß
mich jedoch augenblicklich zurück und hieß mich aufstehen; doch als ich dies
that, hatte sich ihr Lächeln noch vermehrt und verschönert und ich rief nun: Ja
— so will ich es Ihnen nur sagen und so weiter und erzählte ihr meine ganze
Geschichte mit einer Beredtsamkeit, die ich mir kaum je zugetraut. Sie horchte
begierig auf, während ich ihr gar nichts verschwieg vom Anfang bis zu dieser
Stunde und besonders ihr auch aus überströmendem Herzen das Bild entwarf, das
von ihr in meiner Seele lebte und wie ich es seit
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 6 /
einem halben Jahre oder mehr so emsig und treu ausgearbeitet und vollendet. Sie
lachte, vor sich medersehend und lauschend die Hand unter das Kinn stützend,
voll Zufriedenheit und sah immer mehr einem seligen Kinde gleich, dem man ein
gewünschtes Zuckerzeug gegeben, als sie hörte und vernahm, wie nicht einer ihrer
Vorzüge und Reize, und nicht eines ihrer Worte bei mir verloren gegangen war.
Dann reichte sie mir die Hand hin und sagte, freundlich errathend, doch mit
zufriedener Sicherheit: "Ich danke Ihnen sehr, mein Freund, für Ihre herzliche
Zuneigung! Glauben Sie, es schmerzt mich, daß Sie um meinetwillen so lange
besorgt und eingenommen waren; aber Sie sind ein ganzer Mann und ich muß Sie
achten, da Sie einer so schönen und tiefen Neigung fähig sind! Diese ruhige Rede
fiel zwar wie ein Stück Eis in mein heißes Blut; doch dachte ich sogleich, es
ihr wohl und von Herzen zu gönnen, wenn sie jetzt die gefaßte und sich zierende
Dame machen wollte und mich in alles zu ergeben, was sie auch vornehmen und
welchen Ton sie auch anschlagen würde. Doch erwiederte ich
bekümmert: „Wer spricht denn von mir, schöne, schöne Lydia! Was hat Alles, was
ich leide oder nicht leide, erlitten habe oder noch erleiden werde, zu sagen,
gegenüber auch nur Einer unmuthigen oder gequälten Minute, die Sie erleiden? Wie
kann ich un- werther und ungefügiger Geselle eine solche je ersetzen oder
vergüten?«
„Nun,^ sagte sie, immer vor sich niederblickend und immer noch lächelnd, doch
schon in einer etwas veränderten Weise, „nun, ich muß allerdings gestehen, daß
mich Ihr schroffes und ungeschicktes Benehmen sehr geärgert und sogar gequält
hat; denn ich war an so etwas nicht gewöhnt, vielmehr daß ich überall, wo ich
hinkam, Artigkeit und Ergebenheit um mich verbreitete. Ihre scheinbare grobe
Fühllostgkeit hat mich ganz schändlich geärgert, sage ich.Ihnen, und um so mehr,
als mein Vater und ich viel auf Sie hielten. Um so lieber ist es mir nun, zu
sehen, daß Sie doch auch ein bischen Gemüth haben, und besonders, daß ich an
meinem eigenen Werthe nicht länger zu zweifeln brauche; denn was mich am meisten
kränkte,
6 * war dieser Zweifel an mir selbst, an meinem persönlichen Wesen,
der in mir sich zu regen begann. Übrigens, bester Freund, empfinde ich keine
Neigung zu Ihnen, so wenig als zu jemand Anderm, und hoffe, daß Sie sich mit
aller Hingebung und Artigkeit, die Sie so eben beurkundet, in das Unabänderliche
fügen werden, ohne mir gram zu sein!«
„Wenn sie geglaubt, daß ich nach dieser unbefangenen Eröffnung gänzlich rath-
und wehrlos vor ihr darnieder liegen werde, so hatte sie sich getäuscht. Vor dem
vermeintlich guten und liebevollen Weibe hatte mein Herz gezittert, vor dem
wüden Thiere dieser falschen gefährlichen Selbstsucht zitterte ich so wenig
mehr, als ich es vor Tigern und Schlangen zu thun gewohnt war. Im Gegentheil,
anstatt verwirrt und verzweifelt zu sein und die Täuschung nicht aufgeben zu
wollen, wie es sonst wohl geschieht in dergleichen Auftritten, war ich plötzlich
so kalt und besonnen, wie nur ein Mann es sein kann, der auf das schmählichste
beleidigt und beschimpft worden ist, oder wie ein Jäger es sein kann, der statt
eines edlen scheuen Rehes urplötzlich eine wilde Sau
vor sich sieht. Ein seltsam gemischtes, unheimliches Gefühl von Kälte freilich,
wenn ich bei alledem die Schönheit ansehen mußte, die da vor mir glänzte. Doch
dieses ist das unheimliche Geheimniß der Schönheit.«
Indessen, wäre ich nicht von der Sonne ganz braun gebrannt gewesen, so würde ich
jetzt dennoch so weiß ausgesehen haben, wie die Orangeblüthen über mir, als ich
ihr nach einigem Schweigen erwiederte: »Und also um Ihren edlen Glauben an Ihre
Persönlichkeit herzustellen war es Ihnen möglich, alle Zeichen der reinen und
tiefen Liebe und Selbstentäußerung zu verwenden? Zu diesem Zwecke gingen Sie mir
nach, wie ein unschuldiges Kind, das seine Mutter sucht, redeten Sie mir
fortwährend nach dem Munde, wurden Sie bleich und leidend, vergossen Sie Tbränen
und zeigten eine so goldene und rückhaltlose Freude, wenn ich mit Ihnen nur ein
Wort sprach? «
uWenn es so ausgesehen hat, was ich that,« sagte sie noch immer selbstzufrieden,
"so wird es wohl so sein. Sie sind wohl ein wenig böse, eitler Mann! daß Sie nun
doch nicht der Ge- genstand einer gar so demuthvollen und
gränzenlosen weiblichen Hingebung sind? daß ich Ärmste nicht das sehnlich
blöckende Lämmlein bin, für das Sie mich in Ihrer Vergnügtheit gehalten?«
"Ich war nicht vergnügt, Fräulein!« erwiederte ich. „Indessen wenn die Götter,
wenn Christus selbst einer unendlichen Liebe zu den Menschen vielfach sich
Hingaben, und wenn die Menschheit von jeher ihr höchstes Glück darin fand,
dieser rückhaltlosen Liebe der Götter werth zu sein und ihr nachzugehen: warum
sollte ich mich schämen, mich ähnlich geliebt gewähnt zu haben? Nein, Fräulein
Lydia! ich rechne es mir sogar zur Ehre an, daß ich mich von Ihnen fangen ließ,
daß ich eher an die einfache Liebe und Güte eines unbefangenen Gemüthes glaubte,
bei so klaren und entschiedenen Zeichen, als daß ich verdorbener Weise nichts
als eine einfältige Komödie dahinter gefürchtet Denn einfältig ist die
Geschichte! Welche Garantie haben Sie denn nun für Ihren Glauben an sich selbst,
da Sie solche Mittel angewendet, um nur den ärmsten und unansehnlichsten aller
Feldwebel zu gewinnen, Sie, die schöne und vornehme englische Dame?« «Welche Garantie?» antwortete Lydia, die nun allmälig blaß und verlegen
wurde, «ei! Ihre verliebte Neigung, zu deren Erklärung ich Sie endlich gezwungen
habe! Sie werden mir doch nicht läugnen wollen, daß Sie hingerissen waren und
mir so eben erzählten, wie ich Ihnen von jeher gefallen? Warum ließen Sie das in
Ihrer Grobheit nicht ein klein Weniges merken, so wie es dem schlichtesten und
anspruchlosesten Menschen wohl ansteht, und wenn er ein Schafhirt wäre, so würde
uns diese ganze Komödie, wie Sie es nennen, erspart worden sein und ich hätte
mich begnügt!»
«Hätten Sie mich in meiner Ruhe gelassen, meine Schöne,» erwiederte ich, «so
hätten Sie mehr gewonnen. Denn Sie scheinen zu vergessen, daß dies Wohlgefallen
sich jetzt nothwendig in sein Gegentheil verkehren muß, zu meinen eigenen
Schmerzen!»
«Hilft Ihnen nichts,» sagte sie, «ich weiß einmal, daß ich Ihnen Wohlgefallen
habe und mithin im Blute stecke! Ich habe Ihr Ge- ständniß angehört und bin
meiner Eroberung versichert. Alles übrige ist gleichgültig; so geht es zu, bester Herr Pankrazius, und so werden diejenigen bestraft, die
sich vergehen im Reiche der Königin Schönheit!«
„Das heißt,« sagte ich, „es scheint dies Reich eher einer Zigeunerbande zu
gleichen. Wie können Sie eine Feder auf den Hut stecken, die Sie gestohlen
haben, wie eine gemeine Ladendiebin? gegen den Willen des Eigenthümers?«
Sie antwortete: „Auf diesem Felde, bester Herr Eigenthümer, gereicht der
Diebstahl der Diebin zum Ruhm, und Ihr Zorn beweist nur auf's Neue, wie gut ich
Sie getroffen habe!«
So zankten wir noch eine gute halbe Stunde herum in dem süßen Orangenhaine, aber
mit bittern harten Worten, und ich suchte vergeblich ihr begreiflich zu machen,
wie diese abgestohlene und erschlichene Liebesgeschichte durchaus nicht den
Werth für sie haben könnte, den sie ihr beilegte. Ich führte diesen Beweis
wahrlich nicht aus philisterhafter Vcrletztheit und Grobheit, sondern um irgend
einen Funken vorn Gefühl ihres Unrechtes und der Unsittlichkeit ihrer
Handlungsweise in ihr zu erwecken. Aber umsonst! Sie wollte nicht einsehen, daß
eine rechte Gemüthsverfassung 4 ,
erst dann in der vollen und rückhaltlosen Liebe aufflammt, wenn sie Grund zur
Hoffnung zu haben glaubt, und daß also diesen Grund zu geben, ohne etwas zu
fühlen, immer ein grober und unsittlicher Betrug bleibt, und um so
gewissenloser, als der Betrogene einfacher, ehrlicher und argloser Art ist.
Immer kam sie aus das Faktum meiner Liebeserklärung zurück, und zwar warf sie,
die sonst ein so gesundes und schönes Urtheil hatte, die unsinnigsten,
kleinlichsten und unanständigsten Reden und Argumente durcheinander und that
einen wahren Kindskopf kund. Während der ganzen Jahre unseres Zusammenseins
hatte ich nicht so viel mit ihr gesprochen, wie in dieser letzten zänkischen
Stunde, und nun sah ich, o gerechter Gott! daß es ein Weib war von einem groß
angelegten Wesen, mit den Manieren, Bewegungen und Kennzeichen eines wirklich
noblen und seltenen Weibes, und bei alledem mit dem Gehirn — einer ganz
gewöhnlichen Soubrette, wie ich sie nachmalen zu Dutzenden gesehen habe auf den
Vaudevilletheatern zu Paris! Während dieses Zankes aber verschlang ich sie
dennoch fortwährend mit den Augen und ihre unbegreifliche
grundlose, so persönlich scheinende Schönheit quälte mein Herz in die Wette mit
dem Wortwechsel, den wir führten. Als sie aber zuletzt ganz sinnlose und
unverschämte Dinge sagte, rief ich, in bittere Thränen ausbrechend: „O Fräulein!
Sie sind ja der größte Esel, den ich je gesehen habe!«
Sie schüttelte heftig die Wucht ihrer Locken und sah bleich und erstaunt zu mir
auf, wobei ein wilder schiefer Zug um ihren sonst so schönen Mund schwebte. Es
sollte wohl ein höhnisches Lächeln sein, ward aber zu einem Zeichen seltsamer
Verlegenheit.
„Ja,« sagte ich, mit den Fäusten meine Thränen zerreibend, „nur wir Männer
können sonst Esel sein, dies ist unser Vorrecht, und wenn ich Sie auch so nenne,
so ist es noch eine Art Auszeichnung und Ehre für Sie. Wären Sie nur ein Bischen
gewöhnlicher und geringer, so würde ich Sie einfach eine schlechte Gans
schelten!«
Mit diesen Worten wandte ich mich endlich von ihr ab und ging, ohne ferner nach
ihr hin- zublicken, aber mit dem Gefühle, daß ich das, was mir jemals in meinem
Leben von reinem Glück beschieden sein mochte, jetzt für immer
hinter mir lasse, und daß es jetzt vorbei wäre mit meiner artigen Frömmigkeit in
der Liebe.
"Das hast du nun von deinem unglückseligen Schmollwesen!« sagte ich zu mir
selbst, „hättest du von Anbeginn zuweilen nur halb so lange mit ihr freundlich
gesprochen, so hätte es dir nicht verborgen bleiben können, weß Geistes Kind sie
ist, und du hättest dich nicht so gröblich getäuscht! Fahr hin und zerstieße
denn, du schönes Luftschloß!^
Als ich mich nun mit zerrissenen Gedanken vom Gouverneur verabschiedete, sah
mich derselbe vergnüglich und verschmitzt an und blinzelte spöttisch mit den
Augen. Ich merkte, daß er mir meine Affaire ansah, überhaupt dieselbe von jeher
beobachtet hatte und eine Art von schadenfrohem Spaß daran empfand. Da er sonst
ein ganz biederer und honetter Mann war, so konnte das nichts anderes sein, als
die einfältige Freude aller Philister an grausamen und schlechten Bratenspäßen.
Im vorigen Jahrhundert belustigten sich große Herren daran, ihre Narren, Zwerge
und sonstigen Untergebenen betrunken zu machen und dann mit Wasser
zu beziehen oder körperlich zu mißhandeln. Heutzutage wird dies bei den
Gebildeten nicht mehr beliebt; dagegen unterhält man sich mit Vorliebe damit,
allerlei feine Verwirrungen anzuzetteln, und je weniger solche Philisterseelen
selber einer flotten und gründlichen Leidenschaft fähig sind, desto mehr fühlen
sie das Bedürfniß, dergleichen mit mehr oder weniger plumpen Mitteln in denen zu
erwecken, die dazu tauglich sind, in solche herzlos aufgestellten Mäusefallen zu
gerathen. Wenn nun der Gouverneur seinerseits es nicht verschmähte, seine eigene
Tochter als solche Mäusefalle zu verwenden, so war hiegegen nichts weiter zu
sagen, und ich nahm, obschon noch ein guter Gepäckwagen abfuhr, eigensinnig
meinen schweren Tornister und die Mus- quete auf den Rücken und führte einen
zurückgebliebenen Trupp in die Nacht hinaus dem Re- gimente nach, das schon in
der Frühe abmar- schirt war.«
»Ich sah mich nach einem mühseligen und heißen Marsch nun in eine neue Welt
versetzt, als die Kampagne eröffnet war und die Truppen der ostindischen
Kompagnie sich mit den wilden Bergstämmen an der äußersten Grenze
des indo- brittischen Reiches herumschlugen. Einzelne Kom- pagnieen unsers
Regimentes waren fortwährend vorgeschoben; eines Tages aber wurde die mei- nige
so mörderlich umzingelt, daß wir uns mitten in einem Knäuel von
banditcnähnlichen Reitern, Elephanten und sonderbaren bemalten und vergoldeten
Wagen befanden, auf denen stille schöne hindostanische Scheinfürsten saßen, von
den wilden Häuptlingen als Puppen mitgeführt. Unsere sämmtlichen Offiziere
fielen an diesem Tage und die Kompagnie schmolz auf ein Drittel zusammen. Da ich
mich ordentlich hielt und einige Dienste leistete, so erlangte ich das Patent
des ersten Lieutenants der Kompagnie und nach Beendigung des Feldzuges war ich
deren Kapitän.«
„Als solcher hielt ich mit etwa hundert und fünfzig Mann zwei Jahre lang einen
kleinen Grenzbezirk besetzt, welcher zur Arrondirung unsers Gebietes erobert
worden, und war während dieser Zeit der oberste Machthaber in dieser heidnischen
Wildniß. Ich war nun so einsam, als ich fc in meinem Leben gewesen, mißtrauisch
gegen alle Welt und ziemlich streng in meinem Ge- schäftsverkehr,
ohne gerade böse oder ungerecht zu sein. Meine Hauptthätigkeit bestand darin,
christliche Polizei einzuführen und unsern Neli- gionsleuien nachdrücklichen
Schutz zu gewähren, damit sie ungefährdet arbeiten konnten. Hauptsächlich aber
hatte ich das Verbrennen der indischen Weiber zu verhüten, wenn ihre Männer
gestorben, und da die Leute eine förmliche Sucht hatten, unserm englischen
Verbote zu kontraveni- ren und einander bei lebendigem Leibe zu braten zu Ehren
der Gattentreue, so mußten wir stets auf den Beinen sein, um dergleichen zu
verhüten. Sie waren dann eben so mürrisch und mißvergnügt, wie wenn hierzulande
die Polizei ein unerlaubtes Vergnügen stört. Einmal hatten sie in einem
entfernten Dorfe die Sache ganz schlau und heimlich so weit gebracht, daß der
Scheiterhaufen schon lichterloh brannte, als ich athemlos herzugeritten kam und
das Völkchen auseinander jagte. Auf dem Feuer lag die Leiche eines uralten
gänzlich vertrockneten Gockelhahns, welcher schon ein wenig brenzelte. Neben ihm
aber lag ein bildschönes Weibchen von kaum sechszehn Jahren, welches mit
lächelndem Munde und sil- berner Stimme seine Gebete sang.
Glücklicher Weise hatte das Geschöpfchen noch nicht Feuer gefangen und ich fand
gerade noch Zeit, vom Pferde zu springen und sie bei den zierlichen Füß- chen zu
packen und vom Holzstoß zu ziehen. Sie geberdete sich aber wie besessen und
wollte durchaus verbrannt sein mit ihrem alten Stänker, so daß ich die größte
Mühe hatte, sie zu bändigen und zu beschwichtigen. Freilich gewannen diese armen
Wittwen nicht viel durch solche Rettung; denn sie fielen nach denselben unter
den Ihrigen der äußersten Schande und Verlassenheit anheim, ohne daß das
Gouvernement etwas dafür that, ihnen das gerettete Leben auch leicht zu machen.
Diese Kleine gelang es mir indessen zu versorgen, indem ich ihr eine Aussteuer
verschaffte und an, einen getauften Hindu verheirathete, der bei uns diente, dem
sie auch mit reiner Treue und ganzem Blute anhing, a
„Allein diese wunderlichen Vorfälle beschäftigten meine Gedanken und erweckten
allmälig in mir den Wunsch nach dem Genusse solcher unbedingten Treue, und da
ich für diese Phantasie kein Weib zu meiner Verfügung hatte, verfiel ich einer ganz weibischen Sehnsucht, selber so treu zu sein, und damit
zugleich einer heißen Sehnsucht nach Lydia. Da ich nun Rang und gute Aussichten
besaß, schien es mir nicht unmöglich, bei einem klugen Benehmen die schöne
Person, falls sie noch zu haben wäre, dennoch erlangen zu können, und in dieser
tollen Idee bestärkte mich noch der Umstand, daß sie sich doch so viel
aufrichtige und sorgenvolle Mühe gegeben, mir den Kopf zu verdrehen. Irgend
einen Werth mußt du doch, dachte ich, in ihren Augen gehabt haben, sonst hätte
sie gewiß nicht gar viel daran gesetzt. Also gedacht, gethan; nämlich ich
gerietst setzt auf die fire Idee, die Lydia, wenn sie mich möchte, zu heirathen,
wie sie eben wäre, und ihr um ihrer schönen Persönlichkeit willen, für die es
nichts Ähnliches gab, treu und ergeben zu sein ohne Schranken noch Ziel, und
ihre Verkehrtheit und schlimmen Eigenschaften als eine Tugend zu betrachten und
dieselben zu ertragen, als ob sie das süßeste Zuckerbrot wären. Ja, ich
phantasirte mich wieder so hinein, daß mir ihre Fehler, selbst ihre theilweise
Dummheit zum wünschbarsten aller irdischen Güter wurden, und in tausend erfun-
denen Variationen wandte ich dieselben hin und her und malte
mir ein Leben aus, wie ein kluger und geschickter Mann die Verkehrtheiten und
Mangel einer liebenswürdigen Frau täglich und stündlich in eben so viel artige
und erfreuliche Abenteuer zu wandeln und ihren Dummheiten mittelst einer von
Liebe und Treue getränkten Einbildungskraft einen goldenen Werth zu verleihen
weiß, so daß sie lachend auf dieselben sich noch etwas zu gut thun kann. Der
Teufel weiß, wo ich diese geschäftige Einbildungskraft hernahm, wahrscheinlich
immer noch aus dem unglücklichen Shakespeare, den mir die Here gegeben, und
womit sie mich doppelt vergiftet hatte. Es nimmt mich nur Wunder, ob sie auch
selbst je mit Andacht darin gelesen hat!^
„Kurz, als ich hinlänglich wieder berauscht war von meinen Träumen und von
meinem entlegenen Posten zugleich abgelöst wurde, nahm ich Urlaub und begab mich
Hals über Kopf zu dem Gouverneur. Er lebte noch in den alten Verhältnissen und
empfing mich ganz gut und auch die Tochter war noch bei ihm und empfing mich
freundlicher, als ich erwartet. Kaum hatte
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 7
ich sie wieder gesehen und einige Worte sprechen gehört, so war ich wieder ganz
in sie vernarrt und in meiner siren Idee vollends bestärkt, und es schien mir
unmöglich, ohne die Verwirklichung derselben je froh zu werden.«
„Allein sie betrieb nun das Geschäft in krankhafter Überspannung ganz offen und
großartig und fröhnte ihrer unglücklichen Selbstsucht ohne allen Rückhalt. Sie
war nun umgeben von einer Schaar ziemlich roher und eitler Offiziere, die ihr
auf ganz ordinäre Weise den Hof machten und sagten, was sie gern hören mochte,
kam es auch heraus, wie es wollte. Es war eine Vollständige Hetzjagd von
Trivialitäten und hohlem Wesen und die derbsten Zudringlichkeiten wurden am
liebsten angenommen, wenn sie nur aus gänzlicher Ergebenheit herzurühren
schienen und die Unglückliche in ihrem Glauben an sich selbst aufrecht
erhielten. Außerdem hatte sie zur Zeit einem armen Tambour mit einem einzigen
Blicke den Kopf verdreht, der nun ganz aufgeblasen umherging und sich ihr
überall in den Weg stellte; und einen Schuster, der für sie arbeitete, hatte sie
dermaßen bethvrt, daß er jedesmal, wenn er ihr Schuhe brachte, auf
dem Hausflur auf das sorgfältigste sich seinen rothen Schnurrbart reinigte, da
er zuverlässig erwartete, es würde diesmal etwas vorgehen und er geküßt werden!
Wenn man ihn kommen sah, so begab sich die ganze Gesellschaft auf eine verdeckte
Gallerie, um dem armen Teufel in seinem feierlichen Werke zuzusehen. Das
sonderbarste war, daß Niemand an diesem Wesen ein Ärgerniß nahm, daß man also
nichts besseres von Lydia zu erwarten schien, und ihre Aufführung ihrer würdig
hielt, daß also ich der Einzige war, der so große Meinungen von ihr im Herzen
trug, und mithin alle diese Hansnarren, die ich verachtete, die sie aber nahmen,
wie sie war, klüger zu sein schienen, als ich in meiner tiefsinnigen
Leidenschaft. Aber nein! rief ich, sie ist doch so, wie ich sie denke, und eben
weil das alles Strohkvpfe sind, sind sie so frech gegen sie und wissen nicht,
was an ihr ist oder sein könnte! Und ich zitterte darnach, ihr noch ein Mal den
Spiegel vorzuhalten, aus dem ihr besseres Bild zurückstrahlte und alles
Werthlose um sie her wegblendete. Allein der äußere Anstand und die Haltung,
welche ich auch bei aller Anstrengung
7 * nicht aufgeben konnte, machten es mir unmöglich, mich unter
diese Affenschwänze zu mischen und nur den kleinsten Schritt gegen Lydia zu
thun. Ich ward abermals konfus, ungeduldig, nahm plötzlich meinen Abschied aus
der indischen Armee und machte mich davon, um heimzukehren und die Unselige zu
vergessene
„So gelangte ich nach Paris und hielt mich daselbst einige Wochen auf. Da ich
eine große Menge schöner und kluger Weiber sah, dachte ich, es wäre das beste
Mittel, meine unglückliche Geschichte los zu werden, in recht viel hübsche
Frauengesichter zu blicken, und ging daher von Theater zu Theater, und an alle
Orte, wo dergleichen beisammen waren, ließ mich auch in verschiedene gute Häuser
und Gesellschaften einführen. Ich sah auch in der That viele tüchtige Gestalten
von edlem Schwung und Zuschnitt und in deren Augen schöne Gedanken lagen, aber
alles was ich sah, führte mich nur aus Lydia zurück und diente zu deren Gunsten.
Sie war nicht zu vergessen und ich war und blieb aufs Neue elend verliebt in
sie. Ich hatte das allerunheimlichste sonderbarste Gefühl, wenn ich an sie
dachte. Es war mir zu Muthe, als ob nothwendiger Weise ein
weibliches Wesen in der Welt sein müßte, welches genau das Äußere und die
Ma'nieren dieser Lydia, kurz deren bessere Hälfte besäße, dazu aber auch die
entsprechende andere Hälfte, und daß ich nur dann würde zur Ruhe kommen, wenn
ich diese ganze Lydia fände; oder es war mir als ob ich verpflichtet wäre, die
rechte Seele zu diesem schönen halben Gespenste zu suchen, mit einem Worte, ich
wurde abermals krank vor Sehnsucht nach ihr, und da es doch nicht anging,
zurückzukehren, suchte ich neue Sonnengluth, Gefahr und Thätigkeit und nahm
Dienste in der französisch-afrikanischen Armee. Ich begab mich sogleich nach
Algier und befand mich bald am äußersten Saume der afrikanischen Provinz, wo ich
im Sonnenbrand und auf dem glühenden Sande mich herumtummelte und mit den
Kabylen herumschlug.»
Da in diesem Augenblick das schlafende Estherchcn, das immer einen Unfug machen
mußte, träumte, es falle eine Treppe hinunter und demgemäß auf seinem Stuhle ein
erschrecktes Geräusch erhob, blickte der erzählende Pankrazius
endlich auf und bemerkte, daß seine Zuhörerinnen schliefen. Zugleich entdeckte
er erst jetzt, daß er denselben eigentlich nichts als eine Liebesgeschichte
erzählt, schämte sich dessen und wünschte, daß sie gar nichts davon gehört haben
möchten. Er weckte die Frauen auf und hieß sie ins Bett gehen, und er selbst
suchte ebenfalls das Lager auf, wo er mit einem langen, aber gemüthlichen
Seufzer einschlief. Er lag wohl so lange im Bette, wie einst, als er der faule
und unnütze Pankräzlem gewesen, so daß ihn die Mutter wie ehedem wecken mußte.
Als sie nun zusammen beim Frühstück saßen und Kaffee tranken, sagte er, mit
seinem Bericht fortfahrend:
uWenn Ihr nicht geschlafen hättet, so würdet Ihr gehört haben, wie ich in
Ostindien im Begriffe war, aus einem Murrkopf ein äußerst zuthunlicher und
wohlwollender Mensch zu werden um eines schönen Frauenzimmers willen, wie aber
eben meine Schmollerei mir einen argen Streich gespielt hat, da sie mich
verhinderte, besagtes Frauenzimmer näher zu kennen und mich blindlings in selbe
verlieben ließ; wie ich dann betrogen wurde und als ein neugestählter Schmol-
ler aus Indien nach Afrika ging zu den Franzosen, um dort den
Burnußträgern die lächerlichen thurmartigen Strohhüte herunter zu schlagen und
ihnen die Köpfe zu zcrbläuen, was ich auch mit so grimmigem Eifer that, daß ich
auch bei den Franzosen avancirte und Oberst ward, was ich geblieben bin bis
jetzt. ^
Ich war wieder so einsilbig und trübselig als je und kannte nur zwei Arien, mich
zu vergnügen : die Erfüllung meiner Pflicht als Soldat und die Löwenjagd.
Letztere betrieb ich ganz allein, indem ich mit nichts als mit einer guten
Büchse bewaffnet zu Fuß ausging und das Thier aufsuchte, worauf es dann darauf
ankam, dasselbe sicher zu treffen, sonst war ich verloren. Die stete
Wiederholung dieser einen großen Gefahr und das mögliche Eintreffen eines
endlichen Fehlschusses sagte meinem Wesen zu und nie war ich behaglicher, als
wenn ich so seelenallein auf den heißen Höhen herumstreifte und einem starken
wilden Burschen auf der Spur war, der mich gar wohl bemerkte und ein ähnliches
schmollendes Spiel trieb mit mir, wie ich mit ihm. So war vor jetzt ungefähr
vier Monaten ein ungewöhnlich großer Löwe in der Gegend
erschienen, dieser, dessen Fell hier liegt, und lichtete den Beduinen ihre
Heerden, ohne daß man ihm bekommen konnte; denn er schien ein durchtriebener
Geselle zu sein und machte täglich große Märsche kreuz und quer, so daß ich bei
meiner Weise, zu Fuß zu jagen, lange Zeit brauchte, bis ich ihn nur von Ferne zu
Gesicht bekam. Als ich ihn zwei oder dreimal gesehen, ohne zum Schuß zu kommen,
kannte er mich schon und merkte, daß ich gegen ihn etwas im Schilde führe. Er
fing gewaltig an zu brüllen und verzog sich, um mir an einer andern Stelle
wieder zu begegnen, und wir gingen so um einander herum während mehrerer Tage
wie zwei. Kater, die sich zausen wollen, ich lautlos, wie das Grab, und er mit
einem zeitweiligen wilden Geknurre.a
"Eines Tages war ich vor Sonnenaufgang aufgebrochen und nach einer noch nie
eingeschlagenen Richtung hingegangen; da der Löwe Tags vorher sich auf der
entgegengesetzten Seite herum getrieben und einen vergeblichen Raubversuch
gemacht; da die dortigen Leute mit ihren Thieren abgezogen waren, so vermuthete
ich, der hung-
rige Herr werde vergangene Nacht wohl diesen Weg eingeschlagen haben, wie es
sich denn auch erwies. Als die Sonne aufging, schlenderte ich gemächlich über
ein hügeliges goldgelbes Gefilde, dessen Unebenheiten lange himmelblaue Schatten
über den goldenen Boden hinstreckten. Der Himmel war so dunkelblau wie Lydia's
Augen, . woran ich unversehens dadurch erinnert wurde; in weiter Ferne zogen
sich blaue Berge hin, woran das arabische Städtchen lag, das ich bewohnte, und
am andern Rande der Aussicht einige Wälder und grüne Fluren, auf denen man den
Rauch und selbst die Zelte der Beduinen wie schwarze Punkte sehen konnte. Es war
todtenstill überall und kein lebendes Wesen zu erspähen. Da stieß ich an den
Rand einer Schlucht, welche sich durch die ganze steinige Gegend hinzog und
nicht zu sehen war, bis man dicht an ihr stand. Es floß ein kühler frischer Bach
auf ihrem Grunde, und wo ich eben stand, war die Vertiefung ganz mit blühendem
Oleandergebüsch angefüllt. Nichts war schöner zu sehen, als das frische Grün
dieser Sträucher und ihre tausendfältigen rosenrotsten Blüthen und zu un-
IV6
terst das fließende klare Wässerlein. Der Anblick ließ eine verjährte Sehnsucht
in mir aufsteigen und ich vergaß, warum ich hier herumstrich. Ich wünschte, in
den Oleander hinabzusteigen und aus dem Bach zu trinken, und in diesen
zerstreuten Gedanken legte ich mein Gewehr auf den Boden und kletterte eiligst
in die Schlucht hinunter, wo ich mich zur Erde warf, aus dem Bache trank, mein
Gesicht benetzte und dabei an die schöne Lpdia dachte. Ich grübelte, wo sie wohl
sein möchte, wo sie jetzt herumgehe und wie es ihr überhaupt gehen möchte? Da
hörte ich ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausstoßen, daß der Boden
zitterte. Wie besessen sprang ich auf und schwang mich den Abhang hinauf, blieb
aber wie angenagelt oben stehen, als ich sah, daß das große Thier, kaum zehn
Schritte von mir, eben bei meinem Gewehr angekommen war. Und wie ich da stand,
so blieb ich auch stehen, die Augen auf die Bestie geheftet. Denn als er mich
erblickte kauerte er zum Sprunge nieder, gerade über meiner Doppelbüchse, daß
sie quer unter seinem Bauche lag, und wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde
er gesprungen und mich unfehlbar zerrissen haben. Aber ich
stand und stand so zwölf lange Stunden, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und
ohne daß er eines von mir verwandte. Er legte sich gemächlich nieder und
betrachtete mich. Die Sonne stieg höher, aber während die furchtbarste Hitze
mich zu quälen anfing, verging die Zeit so langsam, wie die Ewigkeit der Hölle.
Weiß Gott, was mir Alles durch den Kopf ging; ich verwünschte die Lydia, deren
bloßes Andenken mich abermals in dies Unheil gebracht, da ich darüber meine
Waffe vergessen hatte. Hundertmal war ich versucht, allem ein Ende zu machen und
auf das wilde Thier loszuspringen mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben
behielt die Oberhand und ich stand und stand wie das versteinerte Weib des Loth,
oder wie der Zeiger einer Sonnenuhr; denn mein Schatten ging mit den Stunden um
mich herum, wurde ganz kurz und begann schon wieder sich zu verlängern. Das war
die bitterste Schmol- lerei, die ich je verrichtet, und ich nahm mir vor und
gelobte, wenn ich dieser Gefahr entrönne, so wolle ich umgänglich und freundlich
werden, nach Hause gehen und mir und andern das Leben so
angenehm als möglich machen. Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor
krampfhafter Anstrengung, mich auf selbem Fleck unbeweglich aufrecht zu halten,
leise an allen Gliedern, und wenn ich nur die vertrockneten Lippen bewegte, so
richtete sich der Löwe halb auf, wackelte mit seinem Hintergestell, funkelte mit
den Augen und brüllte, so daß ich den Mund schnell wieder schloß und die Zähne
auf einander biß. Indem ich aber so eine lange Minute um die andere abwickeln
und erleben mußte, verschwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, selbst gegen
den Löwen, und se schwächer ich wurde, desto geschickter ward ich in einer mich
angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und tapfer
ertrug. Es würde aber, als endlich der Nachmittag schon vorgerückt war, doch
nicht mehr lange gegangen sein, als eine unverhoffte Rettung sich aufthat. Das
Thier und ich waren so in einander vernarrt, daß keiner von uns zwei Soldaten
bemerkte, welche im Rücken des Löwen hermarschirt kamen, bis sie auf höchstens
dreißig Schritte nahe waren. Es war eine Patrouille, die
ausgesandt war mich zu suchen, da sich Geschäfte eingestellt hatten. Sie trugen
ihre Ordonnanzgewehre auf der Schulter und ich sah gleichzeitig dieselben vor
mir aufblitzen gleich einer himmlischen Gnadensonne, als auch mein Widersacher
ihre Schritte hörte in der Stille der Landschaft; denn sie hatten schon von
weitem etwas bemerkt und waren so leise als möglich gegangen. Plötzlich schrieen
sie setzt: L!i 1s esilsille! yuel ckröle äe esnsille! Der Löwe wandte sich um,
sprang empor, sperrte wüthend den Rachen auf, erboßt wie ein Satan, und war
einen Augenblick lang unschlüssig, auf wen er sich zuerst stürzen solle. Als
aber die zwei Soldaten als brave lustige Franzosen ohne sich zu besinnen auf ihn
zusprangen, that er einen Satz gegen sie. Im gleichen Augenblick lag auch der
Eine unter seinen Tatzen und es wäre ihm schlecht ergangen, wenn nicht der
andere im gleichen Augenblicke dem Thier das Bajonett ein halbes Dutzend mal in
die Flanke gestoßen hätte. Aber auch diesem würde es schließlich schlimm
ergangen sein, wenn ich nicht endlich auf meine Büchse zugesprungen, auf den Kampfplatz getaumelt wäre und dem Löwen, ohne weitere Vorsicht,
beide Kugeln in das Ohr geschossen hätte. Er streckte sich aus und sprang wieder
auf, es war noch ein Schuß aus einer der beiden Musketen nöthig, ihn abermals
hinzustrecken und endlich zerschlugen wir alle drei unsere Kolben an dem Teufel,
so zäh und wild war sein Leben. Es hatte merkwürdiger Weise keiner Schaden
genommen, selbst der nicht, der unter dem Löwen gelegen, ausgenommen seinen
zerrissenen Rock und einige tüchtige Schrammen auf der Schulter. So war die
Sache für daö- mal glücklich abgelaufen und wir hatten obenein den lange
gesuchten Löwen erlegt. Ein wenig Wein und Brod stellte meinen guten Muth
vollends wieder her und ich lachte wie ein Narr mit den guten Soldaten, welche
über die Freundlichkeit und Gesprächigkeit ihres bösen Obersten sehr verwundert
und erbaut waren.«
„Noch in selber Woche aber führte ich mein Gelübde aus, kam um meine Entlassung
ein, und so bin ich nun hier!«
So lautete die Geschichte von Pankrazens Leben und Bekehrung, und seine Leutchen
waren höchlich verwundert über seine Meinungen und Thaten. Er
verließ mit ihnen das Städtchen Eeldwyla und zog in den Hauptort des Kantons, wo
er Gelegenheit fand, mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen ein dem Lande
nützlicher Mann zu sein und zu bleiben, und er ward sowohl dieser Tüchtigkeit,
als seiner unverwüstlichen ruhigen Freundlichkeit wegen geachtet und beliebt;
denn nie mehr zeigte sich ein Rück- fall in das frühere Wesen.
Nur ärgerten sich Estherchen und die Mutter, daß ihnen die Geschichte mit der
Lydia entgangen war und wünschten unaufhörlich deren Wiederholung. Allein
Pankraz sagte, hätten sie damals nicht geschlafen, so hätten sie dieselbe
erfahren; er habe sie ein Mal erzählt und werde es nie wieder thun, es sei das
erste und letzte Mal, daß er überhaupt gegen Jemanden von diesem Liebeshandel
gesprochen und damit Punktum. Nun wollten sie wenigstens den Namen jener Dame
wissen, welcher ihnen wegen seiner Fremdartigkeit wieder entfallen war, und
fragten unaufhörlich: Wie hieß sie denn nur? Aber Pankraz erwiederte eben so
unaufhörlich: Hättet Ihr aufgemerkt! Ich nenne diesen Namen nicht
mehr! Und er hielt Wort; Niemand hörte ihn jemals wieder das Wort aussprechen
und er schien es endlich selbst vergessen zu haben.
Frau Reget Ämraiu und ihr Jüngster.
Megula Amrain war die Frau eines abwesenden Seldwylers; dieser hatte einen
großen Steinbruch hinter dem Städtchen besessen und seine Zeitlang ausgebeutet
und zwar aus Seldwyler Art. Das ganze Nest war beinahe aus dem guten Sandstein
gebaut, aus welchem der Berg bestand, aber das Schuldenwesen, das auf den
Häusern ruhte, hatte von jeher recht eigentlich schon mit den Steinen begonnen,
aus denen sie gebaut waren; denn nichts schien den Seldwy- lern so wohl geeignet
als Stoff und Gegenstand eines muntern Verkehrs, als ein solcher Steinbruch, und
derselbe glich einer in Felsen gehauenen römischen Schaubühne, über welche die
Besitzer emsig hinwegliefen, einer den andern jagend.
Herr Amrain, ein ansehnlicher Mann, der eine ansehnliche Menge Fleisch, Fische
und Wein
Keller, die Leute von Seldwylr. I. 8 verzehren mußte und mächtige
Stücke Seidenzeug zu seinen breiten schönen Westen brauchte, himmelblaue,
kirschrothe und großartig gewürfelte, war ursprünglich ein Knopfmacher gewesen
und hatte auch die eine und andere Stunde des Tages Knöpfe besponnen. Als er
aber mit den Jahren gar so fest und breit wurde, sagte ihm die sitzende
Lebensart nicht mehr zu, und als er überhaupt den rechten Phäaken- oder
Schwabenaufschwung genommen: die rothe Sammetweste, die goldene Uhrkette und den
Siegelring, liqui- dirte er die Knopfmacherei und übernahm in einer wichtigen
Hauptsitzung der Seldwyler Spekulanten jenen Steinbruch. Nun hatte er die
angemessene bewegliche Lebensweise gefunden, indem er mit einer rothen
Brieftasche voll Papiere und einem eleganten Spazierstock, auf welchem mit
silbernen Stiften ein Zollmaß angebracht war, etwa in den Steinbruch hinaus
lustwandelte wenn das Wetter lieblich war, und dort mit dem besagten Stocke an
den verpfändeten Steinlagern herumstocherte, den Schweiß von - der Stirn
wischte, in die schöne Gegend hinaus- schaute und dann schleunigst in die Stadt
zurück- e.
kehrte, um den eigentlichen Geschäften nachzugehen, dem Umsatz der verschiedenen
Papiere in der Brieftasche, was in den kühlen Gaststuben auf das Beste vor sich
ging. Kurz er war ein vollkommener Scldwyler bis auf die politische
Veränderlichkeit, welche aber die Ursache seines zu frühen Falles wurde. Denn
ein konservativer Kapitalist aus der Hauptstadt, welcher keinen Spaß verstand,
hatte auf den Steinbruch einiges Geld hergegeben und damit geglaubt, einem
wackern Parteigenossen unter die Arme zu greifen. Als daher Herr Amrain in einem
Anfall gänzlicher Gedankenlosigkeit eines Tages höchst verfängliche liberale
Redensarten vernehmen ließ, welche ruchbar wurden, erzürnte sich jener Herr mit
Recht; denn nirgends ist politische Gesinnungslosigkeit widerwärtiger, als an
einem großen dicken Manne, der eine bunte Sammctweste trägt! Der erboste Gönner
zog daher jählings sein Geld zurück, als kein Mensch daran dachte, und trieb
dadurch vor der Zeit den bestürzten Amrain vom Steinbruch und in die Welt
hinaus.
Man wird selten sehen, daß es großen schweren Männern schlecht ergeht, weil sie
eine durch-
greifende und überzeugende Gabe besitzen, für ihren anspruchsvollen Körperbau zu
sorgen, und die Nahrungsmittel können sich demselben nicht lange entziehen,
sondern werden von dem Magnetgebirge des Bauches mächtig angezogen. So fraß sich
der landflüchtige Amrain auch glücklich durch die Fernen, und obgleich er nichts
Großes mehr wurde, aß und trank er doch irgendwo in der Fremde so weidlich wie
zu Hause.
Doch den Seldwylern, welche jetzt rathschlag- ten, welcher von ihnen nun am
tauglichsten wäre, eine Zeitlang die Honneurs am Steinbruch zu machen, wurde
abermals ein Strich durch die Rechnung gezogen, als die zurückgebliebene Ehefrau
des Herrn Amrain unerwartet ihren Fuß auf den Sandstein setzte und kraft ihres
herzu- gebrachten Weiberguteö den Steinbruch an sich zog und erklärte, das
Geschäft fortsetzen und möglicherweise die Gläubiger ihres Mannes befriedigen zu
wollen. Sie that dies erst, als derselbe schon jenseits des atlantischen
Weltmeers war und nicht mehr zurückkommen konnte. Man suchte sie auf jede Weise
von diesem Vorhaben abzubringen und zu hindern; allein sie zeigte
eine solche Entschlossenheit, Rührigkeit und Besonnenheit, daß nichts gegen sie
auszurichten war und sie wirklich die Besitzerin des Steinbruches wurde. Sie
ließ fleißig und ordentlich darin arbeiten unter der Leitung eines guten fremden
Werkführers und gründete zum ersten Mal die Unternehmung, statt auf den
Scheinverkehr, auf wirkliche Produktion. Hieran wollte man sie nun erst recht
behindern, allein es war nicht gegen sie aufzukommen, da sie als Frau und
sparsame Mutter keine Ausgaben hatte im Vergleich zu den Herren von Seldwyla und
daher auf die einfachste Weise im Stande war, alle Stürme abzuschlagen und alle
begründeten Forderungen zu bezahlen. Aber dennoch hielt es schwer und sie mußte
Tag und Nacht mit Muth, List und Kraft bei der Hand sein, sinnen und sorgen, um
sich zu behaupten.
Frau Regel hatte von auswärts in das Städtchen geheirathet und war eine sehr
frische, große und handfeste Dame mit kräftigen schwarzen Haarflechten und einem
festen dunklen Blick. Von ihrem Manne hatte sie drei Buben von ungefähr zehn,
acht und fünf Jahren, welche sie oftmals aufmerksam und ernsthaft
betrachtete und darüber sann, ob dieselben auch werth seien, daß sie das Haus
für sie aufrecht halte, da sie ja doch Seldwyler wären und bleiben würden. Doch
weil die Bursche einmal ihre Kinder waren, so ließ die Eigenliebe und die
Mutterliebe sie immer wieder einen guten Muth fassen, und sie traute sich zu,
auch in dieser Sache das Steuer am Ende anders zu lenken, als es zu Seldwpl Mode
war.
In solche Gedanken versunken saß sie einst nach dem Nachtessen am Tische und
hatte das Geschäftsbuch und eine Menge Rechnungen vor sich liegen. Die Buben
lagen im Bette und schliefen in der Kammer, deren Thüre offen stand, und sie
hatte eben die drei schlafenden kleinen Gesellen mit der Lampe in der Hand
betrachtet und besonders den kleinsten Kerl in's Auge gefaßt, der ihr am
wenigsten glich. Er war blond, hatte ein keckes Stumpfnäschen, während sie eine
ernsthafte gerade lange Nase besaß, und statt ihres streng geschnittenen Mundes
zeigte der kleine Fritz trotzig aufgeworfene Lippen, selbst wenn er schlief.
Dies hatte er alles vom Vater und es war an diesem gewesen, was
ihr eben so wohl gefallen hatte, als sie ihn heirathete, was ihr setzt auch an
dem kleinen Burschen so wohl gefiel und doch so schwere Sorgen machte. Wenn eine
Gefichtsart Einem einmal wohlgefällt, so hilft hiegegen kein Kraut; deswegen war
Frau Amrain froh, daß der Alte weg war und sie ihn nicht mehr sah; aber er hatte
ihr in dem jüngsten Kinde ein treues Abbild seiner äußeren Art hinterlassen,
welches sie nie genug ansehen konnte.
Über diesen Sorgen traf sie der Werkführer oder oberste Arbeiter, der setzt
eintrat, um mit ihr die Angelegenheiten und den Bestand der Geschäfte
durchzusehen und manche wichtige Dinge zu besprechen. Es war ein hübscher und
unternehmender Bursche von schlankem kräftigem Körperbau, mäßig in seiner
Lebensweise, fleißig und ausdauernd und dabei in seinen Gedanken von einer
gewissen einfachen Schlauheit, welche zusammen mit den erklecklichen
Eigenschaften seiner Meisterin eben das Geschäft in gutem Gange erhielt und die
gedankenlosen Spitzfindigkeiten der Seldwpler zu Schanden werden ließ. In- zwischen war er aber ein Mensch und dachte daher vor Allem an sich
selber und in diesem Denken hatte er es nicht übel gefunden, selber der Herr und
Meister hier zu sein und sich eine bleibende Stätte zu gründen, daher auch in
aller Ehrerbietung der Frau Regula wiederholt nahe gelegt, eine gesetzliche
Scheidung von ihrem abwesenden Manne herbeizuführen.
Sie hatte ihn wohl verstanden; doch widerstrebte es ihrem Stolz, sich öffentlich
und mit schimpflichen Beweisgründen von einem Manne zu trennen, der ihr einmal
Wohlgefallen, mit dem sie gelebt und von dem sie drei Kinder hatte, und in der
Sorge für diese Kinder wollte sie auch keinen fremden Mann über das Haus setzen
und wenigstens die äußere Einheit desselben bewahren, bis die Söhne
herangewachsen und ein unzersplittcrtes Erbe aus ihrer Hand empfingen; denn ein
solches gedachte sie trotz aller Schwierigkeiten zusammenzubringen und den
Hiesigen zu zeigen, was da Brauch sei, wo sie hergekommen. Sie hielt daher den
Werkführer knapp im Zügel und brachte sich dadurch nur in größere Verlegenheit;
denn als derselbe ihren
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Widerstand und ihren festen Charakter ersah, verliebte er sich förmlich in sie
und gedachte erst recht seine Wünsche zu erreichen. So veränderte sich sein
Benehmen, daß er, statt wie bis anher ehrbar um ihre Hand als Meisterin sich zu
bewerben, nun um ihre Person schmachtete, wo sie war, und sie stets mit
verliebten Augen ansah, wo eS immer thunlich war. Dies war für ihn eine
zweckdienliche Veränderung, da die eigentliche Verliebtheit in die Person eines
Menschen denselben vielmehr besticht und bezwingt, als alle noch so ehrbaren
Heirathsabsichten. Wenn nun Frau Regel auch nicht die Haltung verlor und sich in
ihn wieder verliebte, so wurde es doch schwerer für sie, ihn abzuwehren, ohne
mit ihm zu brechen und ihn zu verlieren, und es ist bekanntlich eine
Hauptliebhaberei der Frauen, sich nützliche Freunde und Parteigänger zu
erhalten, wenn es immer geschehen kann ohne große Opfer.
Als der Werkführer in die Stube trat, funkelten seine Augen mit ungewöhnlichem
Glänze, denn er hatte im Verkehr mit einigen Geschäftsleuten, mit denen er sich
zum Vortheil der Frau
8 * wacker herumgeschlagen, eine Flasche kräftigen Wein getrunken.
Während er ihr Bericht erstattete und dann in den Papieren mit ihr rechnete,
blickte er sie oftmals unversehens an und wurde zerstreut und aufgeregt, wie
Einer, der etwas vor hat. Sie rückte mit ihrem Sessel etwas zur Seite und begann
sich in Acht zu nehmen, dabei kaum ein feines Lächeln unterdrückend, wie aus
Spott über die plötzliche Unternehmungslust des jungen Mannes. Dieser aber faßte
allerdings plötzlich ihre beiden Hände und suchte die hübsche Frau an sich zu
ziehen, indem er zugleich im gleichen halblauten Tone, in welchem sie der
schlafenden Kinder wegen die ganze Verhandlung geführt hatten, so heftig und
feurig anfing zu schmeicheln und zuzureden, ihr Leben doch nicht so öde und
unbenutzt entfliehen zu lassen, sondern klug zu sein und sich seiner treuen
Ergebenheit zu erfreuen. Sie wagte keine rasche Bewegung und kein lautes Wort,
aus Furcht, die Kinder zur Unzeit zu wecken; doch flüsterte sie voll Zorn, er
solle ihre Hände frei lassen und augenblicklich hinausgehen. Er ließ sie aber
nicht frei, sondern faßte sie nur um so fester und hielt ihr mit
eindringlichen Worten ihre Jugend und schöne Gestalt vor und ihre Thorheit, so
gute Dinge ungenossen vergehen zu lassen. Sie durchschaute ihren Feind, dessen
Augen eben so stark von Schlauheit als von Lebenslust glänzten, wohl und merkte,
daß er auf diesem leidenschaftlich-sinnlichen Wege nur beabsichtigte, sie sich
zu unterwerfen und dienstbar zu machen, also daß ihre Selbststandigkeit ein
schlimmes Ende nähme. Sie gab ihm dies auch mit höhnischen Blicken zu verstehen,
während sie fortfuhr, so still als möglich sich von ihm los zu machen, was er
nur mit vermehrter Kraft und Eindringlichkeit erwiederte. Auf diese Weise rang
sie mit dem starken Gesellen eine gute Weile hin und her, ohne daß es dem einen
oder andern Theile gelang, weiter zu kommen, während nur zuweilen der
erschütterte Tisch oder ein unterdrückter zorniger Ausruf oder ein Seufzer ein
Geräusch verursachte, und so schwebte die brave Frau peinvoll zwischen ihrer in
der Kammer dreifach schlafenden Sorge und zwischen dem heißen Anstürmen des
wachen Lebens. Sie war kaum dreißig Jahre alt und schon seit einigen Jahren von ihrem Manne verlassen und ihr Blut floß so rasch und warm, wie
eines; was Wunder, daß sie daher endlich einen Augenblick inne hielt und tief
aufseuzte, und daß ihr in diesem Augenblick der Zweifel durch den Kopf ging, ob
es sich auch der Mühe lohne, so treu und ausdauernd in Entbehrung und Arbeit zu
sein, und ob nicht das eigene Leben am Ende die Hauptsache und eS klüger sei, zu
thun wie die andern und, nicht dem verwegenen und frechen Andringling, sondern
sich selbst zu gewähren, waS ihr Lust und Erfrischung bieten könne; die Dinge
gingen zu Scldwyla vielleicht so oder so ihren Weg! Indem sie einen Augenblick
dies bedachte, zitterten ihre Hände in denjenigen des WerkführerS und nicht
sobald fühlte dieser solche liebliche Änderung des Wetters, als er seine
Anstrengungen erneuerte und vielleicht trotz der erneueren Gegenwehr der tapfern
Frau gesiegt haben würde, wenn nicht setzt eine unerwartete Hülfe erschienen
wäre.
Denn mit dem bangen zornigen Ausruf: Mutter! Es ist ein Dieb da! sprang der
jüngste Knabe, der kleine Fritzchen, in die Stube und glich
vollständig einem kleinen Sankt Georg. Seine goldenen Ringellocken flogen um das
vom Schlafe gerathete Gesicht, feurig blickten aber die blauen Augen in
lieblichem Zorn und muthig warf sich der trotzige Mund auf. Das kurze schneeige
Hemdchen flatterte wie die Tunika eines Kreuzfahrers und in den nackten Ärmchen
schwang der kleine Rittersmann eine lange Gardinen- stange mit dickem
vergoldetem Knopf, den er auch mit aller erdenklichen Kraft dem aufspringenden
Werkmeister auf den Kopf schlug, daß sich dieser die entstehende Beule verlegen
rieb und ihm ordentlich die Augen übergingen. Frau Amrain aber hielt den Knaben
auf, tief erröthend und rief: „Was ist Dir denn Fritzchcn? Es ist ja nur der
Florian und thut uns nichts!« Der Knabe fing bitterlich an zu weinen, sich voll
Verlegenheit an die Kniee der Mutter klammernd; diese hob ihn auf den Arm und
das Kind an sich drückend entließ sie mit einem kaum verhaltenen Lachen den
verblüfften Florian, der, obgleich er den Kleinen gern geohrfeigt hätte, gute
Miene zum bösen Spiel machte und sich verlegen zurückzog. Sie riegelte die Thüre
rasch hinter ihm zu; dann stand sie tief aufathmend und
nachdenklich, mitten in der Stube, das tapfere Kind auf dem Arm, welches das
linke Ärmchen um ihren Hals schlang und mit dem rechten Händchen die lange
Stange mit dem glänzenden Knopf, die es noch immer umfaßt hielt, gegen den Boden
stemmte. Dann sah sie aufmerksam in das nahe Gesicht des Kindes und bedeckte es
mit Küssen, und endlich ergriff sie abermals die Lampe und ging in die Kammer,
um nach den beiden ältesten Knaben zu sehen. Dieselben schliefen wie
Murmelthiere und hatten von allem nichts gehört. Also schienen sie Nachtmützen
zu sein, obschon sie ihr selbst glichen; der Jüngste aber, der dem Vater glich,
hatte sich als wachsam, feinfühlend und muthvvll erwiesen und schien das werden
zu wollen, was der Alte eigentlich sein sollte und was sie einst auch hinter ihm
gesucht. Indem sie über dieses geheimnißvolle Spiel der Natur nachdachte und
nicht wußte, ob sie froh sein sollte, daß das Abbild des einst geliebten Mannes
besser schien, als ihre eigenen so träge daliegenden Bilder, legte sie das Kind
in sein Bettchen zurück, deckte es zu und beschloß,
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von Stund an alle ihre Treue und Hoffnung auf den kleinen Sankt Georg zu setzen
und ihm seine junge Ritterlichkeit zu vergelten. "Wenn die zwei Schlafkappen,
dachte sie, welche nichts desto minder meine Kinder sind, dann auch mitgehen
wollen auf einem guten Wege, so mögen sie es thun.i«.
Am nächsten Morgen schien Fritzchen den Vorfall schon vergessen zu haben, und so
alt auch die Mutter und der Sohn wurden, so ward doch nie mehr mit einer Silbe
desselben erwähnt zwischen ihnen. Der Sohn behielt ihn nichts desto weniger in
deutlicher Erinnerung, obgleich er viel spätere Erlebnisse mit der Zeit gänzlich
vergaß. Er erinnerte sich genau, schon bei dem Einteilte des Werksührers erwacht
zu sein, da er trotz eines gesunden Schlafes alles hörte und ein wachsames
Bürschchen war. Er hatte sodann jedes Wort der Unterredung, bis sie bedenklich
wurde, gehört, und ohne etwas davon zu verstehen, doch etwas Gefährliches und
Ungehöriges geahnt und war in eine 'heftige Angst um seine Mutter verfallen, so
daß er, als er das leise Ringen mehr fühlte als hörte, aufsprang um ihr zu helfen. Und dann, wer verfolgt die geheimen Wege der
Fähigkeiten, wie sie im Menschenkind sich verlieren? als er den Werkführer recht
wohl erkannt: wer lehrte den kleinen Bold die unbewußte blitzschnelle Heuchelei
des Zartgefühles, mit der er sich stellte, als ob er einen Dieb sähe und die ihn
so unbefangen den Widersacher vor den Kopf schlagen ließ?
Seine Mutter aber hielt ihr Wort und erzog ihn so, daß er ein braver Mann wurde
in Seid- wyl und zu den wenigen gehörte, die aufrecht blieben, so lange sie
lebten. Wie sie dies eigentlich anfing und bewirkte, wäre schwer zu sagen; denn
sie erzog eigentlich so wenig als möglich und das Werk bestand fast lediglich
darin, daß das sunge Bäumchen, so vom gleichen Holze mit ihr war, eben in ihrer
Nähe wuchs und sich nach ihr richtete. Tüchtige und wohlgeartete Leute haben
immer weit weniger Mühe, ihre Kinder ordentlich zu ziehen, so wie es einem
Tölpel, der selbst nicht lesen kann, schwer fallen wird, ein Kind lesen zu
lehren. Zm Ganzen bestand das Geheimniß ihrer Erziehungskunst darin, daß sie das
Söhnchen ohne Empfindsam- keit merken ließ, wie sehr sie es liebte
und I dadurch dessen Bedürfniß, ihr immer zu gefallen, ' erweckte und erreichte,
daß es bei jeder Gelegenheit an sie dachte. Ohne dessen freie Bewegungen einzeln
zu hindern, hatte sie den Kleinen viel um sich, so daß er ihre Manieren und ihre
Denkungsart annahm und bald von selbst nichts that, was nicht im Geschmacke der
Mutter lag. Sie hielt ihn stets einfach, aber gut und mit einem gewissen
gewählten Geschmack in der Kleidung; dadurch fühlte er sich sicher, bequem und
zufrieden in seinem Anzüge und wurde nie veranlaßt, an denselben zu denken,
wurde mithin nicht eitel und lernte gar nie die Sucht kennen, sich besser oder
anders zu kleiden, als er eben war. Ähnlich hielt sie es mit dem Essen; sie
erfüllte alle billigen und unschädlichen Wünsche aller drei Kinder und Niemand
bekam in ihrem Hause etwas zu essen, wovon diese nicht auch ihren Theil
erhielten; aber trotz aller Regelmäßigkeit und Ausgiebigkeit behandelte sie die
Nahrungsmittel mit solcher Leichtigkeit und Geringschätzung, daß Fritzchen
abermals von selbst lernte, kein besonderes Gewicht auf dieselben zu legen
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 9
und, wenn er satt war, nicht von Neuem an etwas unerhört Gutes zu denken. Nur
die entsetzliche Wichtigthuerei und Breitspurigkeit, mit welcher die meisten
guten Frauen die Lebensmittel und deren Bereitung behandeln, erweckt gewöhnlich
in den Kindern jene Gclüstigkeit und Tellerleckerei, die, wenn sie groß werden,
zum Hang nach Wohlleben und zur Verschwendung wird. Sonderbarer Weise gilt durch
den ganzen germanischen Völkerstrich diejenige für die beste und tugendhafteste
Hausfrau, welche am meisten Geräusch macht mit ihren Schüsseln und Pfannen und
nie zu sehen ist, ohne daß sie etwas Eßbares zwischen den Fingern herumzerrt;
was Wunder, daß die Herren Germanen dabei die größten Esser werden, das ganze
Lebensglück auf eine wohlbestcllte Küche gegründet wird und man ganz vergißt,
welche Nebensache eigentlich das Essen aus dieser schnellen Lebensfahrt sei.
Ebenso verfuhr sie mit dem, was sonst von den Ältern mit einer schrecklich
ungeschickten Heiligkeit behandelt wird, mit dem Gelde. Sobald als thunlich ließ
sie ihren Sohn ihren Vermögensstand mitwiffen, für sie Geldsummen zählen und
in das Behältniß legen, und sobald er nur im Stande war, die Münzen zu
unterscheiden, ließ sie ihm eine kleine Sparbüchse zu gänzlich freier Verfügung.
Wenn er nun eine Dummheit machte oder eine arge Nascherei beging, so behandelte
sie das nicht wie ein Criminalverbrechen, sondern wies ihm mit wenig Worten die
Lächerlichkeit und Unzweckmäßigkeit nach. Wenn er etwas entwendete oder sich
aneignete was ihm nicht zukam, oder einen jener heimlichen Ankäufe machte,
welche die Eltern so sehr erschrecken, machte sie keine Katastrophe daraus,
sondern beschämte ihn einfach und offen als einen thörichten und gedankenlosen
Burschen. Desto strenger war sie gegen ihn, wenn er in Worten oder Geberden sich
unedel und kleinlich betrug, was zwar nur selten vorkam; aber dann las sie ihm
hart und schonungslos den Tert und gab ihm so derbe Ohrfeigen, daß er die
leidige Begebenheit nie vergaß. Dies Alles pflegt sonst 'entgegengesetzt
behandelt zu werden. Wenn ein Kind mit Geld sich vergeht oder gar etwas irgendwo
wegnimmt, so befällt die Ältern und Lehrer eine ganz sonderbare Furcht vor einer
verbrecherischen Zukunft,
13L
als ob sie selbst wüßten, wie schwierig es sei, kein Dieb oder Betrüger zu
werden! Was unter hundert Fällen in neun und neunzig nur die momentan
unerklärlichen Einfälle und Gelüste des träumerisch wachsenden Kindes sind, ganz
ähnlich den Launen schwangerer Frauen, das wird zum) Gegenstände eines
furchtbaren Strafgerichtes gemacht und von nichts als Galgen und Zuchthaus
gesprochen. Als ob alle diese lieben Pflänzchen bei erwachender Vernunft nicht
von selbst durch die menschliche Selbstliebe, sogar bloß durch die Eitelkeit,
davor gesichert würden, Diebe und Schelme sein zu wollen. Dagegen wie milde und
freundschaftlich werden da tausend kleinere Züge und Zeichen des Neides, der
Mißgunst, der Eitelkeit, der Anmaßung, der moralischen Selbstsucht und
Selbstgefälligkeit behandelt und gehätschelt! Wie schwer merken die wackern
Erziehungsleute ein früh verlogenes und verblümtes inneres Wesen an einem Kinde,
während sie mit höllischem Zeter über ein anderes herfahren, das aus Übermuth
oder Verlegenheit ganz naiv eine vereinzelte derbe Lüge gesagt hat. Denn hier
haben sie eine greifliche bequeme Handhabe, um ihr donnerndes: Du
sollst nicht lügen! dem kleinen erstaunten Erfindungsgenie in die Ohren zu
schreien. Wenn Fritzchen eine solche derbe Lüge vorbrachte, so sagte Frau Regel
einfach, indem sie ihn groß ansah: „Was soll denn das heißen, Du Affe? Warum
lügst Du solche Dummheiten? Glaubst Du die großen Leute zum Narren halten zu
können? Sei Du froh, wenn Dich Niemand anlügt und laß dergleichen Späße! ^ Wenn
er eine Nothlüge vorbrachte, um eine begangene Sünde zu vertuschen, zeigte sie
ihm mit ernsten aber liebevollen Worten, daß die Sache deswegen nicht
ungeschehen sei und wußte ihm klar zu machen, daß er sich besser befinde, wenn
er offen und ehrlich einen begangenen Fehler eingestehe; aber sie bauete keinen
neuen Strafproceß auf die Lüge, sondern behandelte die Sache ganz abgesehen
davon, ob er gelogen oder nicht gelogen habe, so daß er das Zwecklose und
Kleinliche des Herauslügens bald fühlte und zu stolz wurde dazu. Wenn er dagegen
nur die leiseste Neigung verrieth, sich irgend Eigenschaften beizulegen, die er
nicht besaß, oder etwas zu übertreiben, was ihm gut zu
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stehen schien, oder sich mit etwas zu zieren, wozu er das Zeug nicht hatte, so
tadelte sie ihn mit schneidenden harten Worten und versetzte ihm selbst einige
Knüffe, wenn ihr die Sache zu arg und widerlich war. Ebenso, wenn sie bemerkte,
daß er andere Kinder beim Spielen belog, um sich kleine Vortheile zu erwerben,
strafte sie ihn härter, als wenn er ein erkleckliches Vergehen abgeläugnct
hätte.
Diese ganze Erzieherei kostete indessen kaum so viel Worte, als hier gebraucht
wurden, um sie zu schildern, und sie beruhte allerdings mehr im Charakter der
Frau Amrain, als in einem vorbedachten oder gar angelesenen System. Daher wird
ein Theil ihres Verfahrens von Leuten, die nicht ihren Charakter besitzen, nicht
befolgt werden können, während ein anderer Theil, wie z. B. ihr Verhalten mit
den Kleidern, mit der Nahrung und mit dem Gelde, von ganz armen Leuten nicht
kann angewendet werden. Denn wo z. B. gar nichts zu essen ist, da wird dieses
natürlich jeden Augenblick zur nächsten Hauptsache, und Kindern, unter solchen
Umständen erzogen, wird man schwer die Gelüstigkeit abge- wohnen
können, da alles Sinnen und Trachten des Hauses nach dem Essen gerichtet ist.
Besonders während der kleineren Jugend des Knaben war die Erziehungsmühe seiner
Mutter sehr gering, da sie, wie gesagt, weniger mit der Zunge, als mit ihrer
ganzen Person erzog, wie sie leibte und lebte und es also in Einem zu ging mit
ihrem sonstigen Dasein. Sollte man fragen, worin denn bei dieser leichten Art
und Mühelosigkeit ihre besondere Treue und ihr Vorsatz bestand? so wäre zu
antworten: lediglich in der zugewandten Liebe, mit welcher sich das Wesen ihrer
Person dem seinigen einprägte und sie ihre Instinkte die seinigen werden ließ.
Doch blieb die Zeit nicht aus, wo sie allerdings einige vorsätzliche und
kräftige Erziehungsmaßregeln anwenden mußte, und das war die Zeit, wo der gute
Fritz herangewachsen war und sich für allbereits erzogen hielt, wo aber die
Mutter erst recht auf der Wacht stand, da es sich nun entscheiden mußte, ob er
in das gute oder schlechte Fahrwasser einlaufen würde. Es waren nur wenige
Momente, wo sie etwas Entscheidendes und Energisches gegen seine junge Selbstständigkeit unternahm, aber jedesmal zur rechten Zeit und so
plötzlich, einleuchtend und bedeutsam, daß es nie seiner bleibenden Wirkung
ermangelte.
Als Fritz bald achtzehn Jahre zählte, war er ein schönes junges Bürschchen, sein
anzusehen mit seinem blonden Haare und seinen blauen Augen, und von einer großen
Selbstständigkeit und Sicherheit in allem was er that. Er hatte bereits die
Leitung des Geschäftes übernommen, was die Arbeit im Freien betraf, nachdem er
schon vom vierzehnten Jahre an im Steinbruch tüchtig gearbeitet. Er machte ein
ernsthaftes und kluges Gesicht und war dennoch aufgeräumt und guter Dinge, und
was seiner Mutter am besten gefiel, war seine Fähigkeit mit allen Leuten
umzugehen, ohne ihre Art anzunehmen. Sie hielt ihn nicht ab, wenn es ihm
langweilig war zu Hause, auszugehen und mit anderen jungen Burschen zu
verkehren; aber die scharf Aufmerkende sah mit Vergnügen, daß er an der Weise
der jungen Seldwyler, mit denen er abwechselnd verkehrte, bald mit diesem, bald
mit jenem, keinen sonderlichen Geschmack gewann, sie überschaute
und nur etwas sich mit ihnen die Zeit vertrieb, wie und so lange er es für gut
fand. Mit Vergnügen sah sie auch, daß er sich nicht lumpen ließ und bei Gelagen
manche Flasche zum Besten gab, ohne je für sich selbst schlimme Folgen davon zu
tragen^ und daß er nicht in Einen schlimmen oder schimpflichen Handel verwickelt
wurde, obgleich er überall sich zu schaffen machte und wußte, wie es zugegangen,
ohne daß er im mindesten ein Duckmäuser und Aufpasser war. Auch hielt er was auf
sich, ohne hochmüthig zu sein, und wußte sich zu wehren, wenn es galt. Frau
Regula war daher guten Muthes und dachte, das wäre gerade die rechte Weise und
ihr Söhnchen sei nicht auf den Kopf gefallen.
Da bemerkte sie, daß er anfing zu erröthcn, wenn schöne Mädchen ihm in den Weg
kamen, daß er selbst häßliche Mädchen aufmerksam und kritisch betrachtete und
daß er verlegen wurde, wenn eine hübsche runde und muntere Frau in der Stube
war, während er dieselbe doch heimlicher Weise mit den Augen verschlang. Aus
diesen drei Zeichen entnahm sie zwei Dinge: erstens, daß noch nichts an ihm
verdorben sei, zweitens aber, daß wenn eine Gefahr für ihn
vorhanden wäre, auf den breiten Weg der Stadt zu tölpeln, diese Gefahr nur von
Seiten der Damen von Seldwyla herkommen könne, und sie sagte sogleich in ihrem
Herzen: Also da willst Du hinaus, Du Schuft? -
Die Schönen dieser Stadt waren nicht schlimmer gesinnt als ihre Männer und sie
hielten, wenn sie erst zu Jahren kamen, noch manches zusammen, was diese lieber
auch noch zerstreut hätten. Allein da die Männer sich gern lustig machten, so
wollten sie, so lange es ihnen gut erging, auch nicht zurückbleiben, und bei dem
schönen Geschlechte laufen bekanntlich alle Abirrungen und Unzukömmlichkeiten
zuletzt nur auf ein und dasselbe Ende hinaus, jene alte Geschichte, welche
vielfältige Rückwirkungen auf das Wohl oder Weh der Herren Mitschuldigen mit
sich führt. Sonach ging es auch in dieser Hinsicht zu Seldwyla etwas lustiger
zu, als an anderen Orten.
Wie nun Frau Amrain ihre schwarzen Augen offen hielt und mit zorniger Bangigkeit
aufmerkte, wann und wie man etwa ihr Kind ver- derben wolle, ergab
sich bald eine Gelegenheit für ihr mütterliches Einschreiten. Es wurde eine
große Hochzeit gefeiert auf dem Rathhause und das neu vermählte Paar gehörte den
geräuschvollsten und lustigsten Kreisen an, die gerade im Flor waren. Wie an
anderen Orten der Schweiz, giebt es an den Hochzeiten zu Seldwyl, wenn Bankett
und Ball am Abend Statt finden, zweierlei Gäste: die eigentlichen geladenen
Hochzeitgäste und dann die Freunde oder Verwandten dieser, welche denselben
scherzhafte Hochzeit- oder Tafelgeschenke überbringen mit allerlei Witzen,
Gedichten und Anspielungen. Sie verkleiden sich zu diesem Ende hin in allerhand
lustige Trachten, welche dem zu überbringenden Geschenke entsprechen und sind
maskirt, indem jeder seinen Freund oder seine Verwandte aufsucht, sich hinter
deren Stuhl stellt, seine Gabe überreicht und seine Rede hält. Fritz Amrain
hatte sich schon vorgenommen, einem kleinen Bäschen einige Geschenke zu bringen
und die Mutter nichts dagegen gehabt, da das Mädchen noch sehr jung und sonst
wohlgeartet war. Allein weniger das Bäschen lockte ihn, als ein dunkles
Verlangen, sich unter den lustigen Damen von
Seldwyl einmal recht herumzutummeln, deren Fröhlichkeit, wenn Viele beisammen
waren, ihm schon oft sehr anmuthig geschildert worden. Er war nur noch
unschlüssig, welche Verkleidung er wählen sollte, um auf der Hochzeit zu
erscheinen, und erst am Abend entschloß er sich auf den Rath einiger Bekannten,
sich als Frauenzimmer zu kleiden. Seine Mutter war eben ausgegangen, als er mit
diesem lustigen Vorsatz nach Hause gelaufen kam und denselben sogleich in's Werk
setzte. Ohne Schlimmes zu ahnen, gerieth er über den Kleiderschrank seiner
Mutter und warf da so lange Alles durcheinander, von einem lachenden
Dienstmädchen unterstützt, bis er die besten und buntesten Toilettenstücke
zusammengesucht und sich angeeignet hatte. Er zog das schönste und beste Kleid
der Mutter an, das sie selbst nur bei feierlichen Gelegenheiten trug, und wühlte
dazu auS den reichlichen Schachteln Krausen, Bänder und sonstigen Putz hervor.
Zum Überfluß hing er sich noch die Halskette der Mutter um und zog so, aus dem
Gröbsten geputzt, zu seinen Genossen, die sich inzwischen ebenfalls angekleidet.
Dort vollendeten zwei
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muntere Schwestern seinen Anzug, indem sie vornehmlich seinen blonden Kopf auf
das Zierlichste fristeten und seine Brust mit einem sachgemäßen Frauenbusen
ausschmückten. Indem er so auf seinem Stuhle saß und diese Bemühungen der wenig
schüchternen Mädchen um sich geschehen ließ, erröthete er ein Mal um das andere
und das Herz klopfte ihm vor erwartungsvollem Vergnügen, während zugleich das
böse Gewissen sich regte und ihm anfing zuzuflüstern, die Sache möchte doch
nicht so recht in der Ordnung sein. Als er daher mit seiner Gesellschaft dem
Rathhause zuzog, ein Körbchen mit den Geschenken tragend, sah er so verschämt
und verwirrt aus, wie ein wirkliches Mädchen und schlug die Augen nieder und als
er so auf der Hochzeit erschien, erregte er den allgemeinen Beifall besonders
der versammelten Frauen.
Während der Zeit war aber seine Mutter nach Hause zurückgekehrt und sah ihren
offen stehenden Kleiderschrank sowie die Verwüstung, die er in Schachteln und
Kästchen angerichtet. Als sie vollends vernahm, zu welchem Ende hin dies
geschehen und daß ihre Hoffnung in Weiber-
kleidern, und dazu »och in ihren besten, ausgezogen sei, überfiel sie erst ein
großer Zorn, dann aber eine noch größere Unruhe; denn nichts schien ihr
geeigneter einen jungen Menschen in das Lotterleben zu bringen, als wenn er in
Weiberkleidern auf eine Scldwyler Hochzeit ging. Sie ließ daher ihr Abendessen
»»genossen stehen und ging eine Stunde lang in der größten Unruhe umher, nicht
wissend, wie sie ihren Sohn den drohenden Gefahren entreißen solle. Es
widerstrebte ihr, ihn kurzweg abrufen zu lassen und dadurch zu beschämen; auch
fürchtete sie nicht mit Unrecht, daß er würde zurückgehalten werden oder aus
eigenem Willen nicht kommen dürfte. Und dennoch fühlte sie wohl, wie er durch
diese einzige Nacht auf eine entscheidende Weise auf die schlechte Seite
verschlagen werden könne. Sie entschloß sich endlich kurz, da es ihr nicht Ruhe
ließ, ihren Sohn selbst wegzuholen, und da sie mannichfacher Beziehungen wegen
einen halben Verwand hatte, selbst etwa ein Stündchen auf der Hochzeit zu
erscheinen, kleidete sie sich rasch um und wählte einen Anzug, ein wenig besser
als der alltägliche und doch
nicht festlich genug, um etwa zu hohe Achtung vor der lustigen Versammlung zu
verrathen. So begab sie sich also nach dem Rathhaus nur von dem Dienstmädchen
begleitet, welches ihr eine Laterne voran trug. Sie betrat zuerst den
Speisesaal; allein die erste Tafel und die Lustbarkeit mit den Geschenken war
schon vorüber und die Überbringer derselben hatten ihre Masken abgenommen und
sich unter die übrigen Gäste gemischt. In dem Saale war nichts zu sehen als
einige Herrengesellschaften, die theils Karten spielten, theils zechten, und so
stieg sie die Treppe nach einer alterthümlichen Gallerte hinauf, von wo man den
Saal übersehen konnte, in welchem getanzt wurde. Diese Gallerte war mit allerlei
Volk angefüllt, das nicht im Flor war und hier dem Tanze zusehen durfte wie etwa
die Einwohner einer Residenz einer Fürstenhochzeit. Frau Negula konnte daher
unbemerkt den Ball übersehen, der so ziemlich feierlich vor sich ging und die
allgemeine Lüsternheit und Begehrlichkeit mit seinem steifen und lächerlichen
Ceremoniell zur Noth verdeckte. Denn dies hätten die Seld- wyler nicht anders
gethan; sie huldigten vielmehr dem Spruch: Alles zu seiner Zeit!
und wenn sie mit wenig Mühe das Schauspiel eines nach ihren Begriffen noblen
Balles geben und genießen konnten, warum sollten sie es unterlassen?
Fritzchen Amrain war aber unter den Tanzenden nicht zu erblicken und je länger
ihn seine Mutter mit den Augen suchte, desto weniger fand sie ihn. Je länger sie
ihn aber nicht fand, desto mehr wünschte sie ihn zu sehen, nicht allein mehr aus
Besorgniß, sondern auch um wirklich zu sehen, wie er sich eigentlich ausnähme
und ob er in seiner Dummheit nicht noch die Lächerlichkeit zum Leichtsinn
hinzugefügt habe, indem er als eine ungeschickt angezogene schlottrige
Weibsperson sich weiß Gott wo herumtreibe? In diesen Untersuchungen gerieth sie
auf einen Sei- tengang der hohen Gallerie, welcher mit einem Fenster endigte,
das mit einem Vorhang versehen und bestimmt war, Licht in eben diesen Gang
einzulassen. Das Fenster aber ging in das kleinere Rathszimmer, ein altes
gothisches Gemach, und war hoch an dessen Wand zu sehen. Wie sie nun jenen
Vorhang ein wenig lüftete und in das tiefe Gemach hinunter schaute, welches durch einen seltsamen Firlefanz von Kronleuchtern ziemlich schwach
erleuchtet war, erblickte sie eine kleinere Gesellschaft, die da in aller Stille
und Fröhlichkeit sich zu unterhalten schien. Als Frau Regel genauer hinsah,
erkannte sie sieben bis acht verheirathete Frauen, deren Männer sie schon in dem
Speisesaal hatte spielen sehen zu einem hohen und prahlerischen Satze. Diese
Frauen saßen in einem engen Halbkreise und vor ihnen eben so viel junge Männer,
die ihnen den Hof machten. Unter diesen war Fritz abermals nicht zu finden und
seine Mutter hierüber sehr froh, da der Kreis dieser Damen nichts weniger als
beruhigend anzusehen war. Denn als sie dieselben einzeln musterte, waren es
lauter jüngere Frauen, welche jede auf ihre Weise für gefährlich galt und in der
Stadt, wenn auch nicht eines schlimmen, doch eines geheimnißvollen Rufes genoß,
was bei der herrschenden Duldsamkeit immer noch genug war. Da saß erstens die
nicht häßliche Adele Anderau, welche üppig und verlockend anzusehen war, ohne
daß man recht wußte, woran es lag, und welche alle jungen Leute jezuweilen mit
halbgeschloffenen Augen so
Keller, die Leute von Seldwyla. I. 10 anzublicken wußte in einem
windstillen Augenblicke, daß sie einen seltsamen Funken von hoffnungsreichem
Verlangen in ihr Herz schleuderte. Aber zehn derselben ließ sie schonungslos und
mit Aufsehen abziehen, um desto regelmäßiger den elften in einer sichern Stunde
zu beglücken. Da war ferner die leidenschaftliche Julie Hai- der, welche ihren
Mann öffentlich und vor so vielen Zeugen als möglich stürmisch liebkoste, die
glühendste Eifersucht auf ihn an den Tag legte und fortwährend der Untreue
anklagte, dies alles so lange bis irgend ein Dritter den fühl- losen Gatten
beneidete und solcher Leidenschaftlichkeit theilhaftig zu werden trachtete. Da
trauerte auch die sanfte Emmeline Ackerstein, welche eine Dulderin war und von
ihrem Manne mißhandelt wurde, weil sie gar nichts gelernt hatte und das
Hauswesen vernachlässigte; diese sah bleich und schmachtend aus und sank mit
Thränen dem in die Arme, der sie trösten mochte. Auch die schlimme Lieschen
Aufdermaur war da, welche so lange Klatschereien und Zänkereien anrichtete, bis
irgend ein Aufgebrachter, den sie verläumdet, sie unter vier Augen in die Klemme
brachte und sich an ihr rächte. Dann folgte, außer zwei oder drei
aufgeweckten Wesen, welche ohne weitere Begründungen schlechtweg thaten was sie
mochten, die stille Theresa Gut, welche äußerst theilnahmlos weder rechts noch
links sah, Niemandem entgegen kam und kaum antwortete, wenn man sie anredete,
welche aber, zufällig in ein Abenteuer verwickelt und angegriffen, unerwarteter
Weise lachte wie eine Närrin und alles geschehen ließ. Endlich saß auch dort das
leichtsinnige Käthchen Amhag, welches immer eine Menge heimlicher Schulden zu
tragen hatte.
Als Frau Amrain die Beschaffenheit dieses weiblichen Kreises erkannte, wollte
sie eben Gott danken, daß ihr Sohn wenigstens auch da nicht zu erblicken sei,
als sie noch eine weibliche Gestalt zwischen ihnen entdeckte, die sie im ersten
Augenblicke nicht kannte, obgleich sie dieselbe schon gesehen zu haben glaubte.
Es war ein großes prächtig gewachsenes Wesen von amazo- nenhafter Haltung und
mit einem kecken blonden Lockenkopfe, das aber hold verschämt und verliebt unter
den lustigen Frauen saß und von ihnen sehr aufmerksam behandelt wurde. Beim
10* zweiten Blick erkannte sie jedoch ihren Sohn und ihr violettes
Seidenkleid zugleich und sah, wie trefflich ihm dasselbe saß und mußte sich auch
gestehen, daß er ganz geschickt und reizend ausgeputzt sei. Aber im gleichen
Augenblicke sah sie auch, wie ihn seine eine Nachbarin küßte, in Folge irgend
eines Unterhaltungsspicles, das die fröhliche Gesellschaft eben beschäftigte,
und wie er gleicherzeit die andere Nachbarin küßte, und nun hielt sie den
Zeitpunkt für gekommen, wo sie ihrem Sohne den Dienst, welchen er ihr als
fünfjähriges Knäblein geleistet, erwiedern konnte.
Sie stieg ungesäumt die Treppe hinunter und trat in das Zimmer, die überraschte
Gesellschaft bescheiden und höflich begrüßend. Alles erhob sich verlegen, denn
obgleich sie sattsam durchgehechelt wurde in der Stadt, so flößte sie doch
Achtung ein, wo sie erschien. Die jungen Männer grüßten sie mit aufrichtig
verlegener Ehrerbietung, und um so aufrichtiger je wilder sie sonst waren; von
den Frauen aber wollte keine scheinen, als ob sie mit der achtbarsten Frau der
Stadt etwa schlecht stände und nicht mit ihr umzugehen wüßte,
weshalb sie sich mit großem Geräusch um sie drängten, als sie sich von ihrer
Überraschung etwas erholt. Am verblüfftesten war jedoch Fritz, welcher nicht
mehr wußte, wie er sich in dem Kleide seiner Mutter zu gcber- den habe; denn
dies war jetzt plötzlich sein erster Schrecken und er bezog den ernsten Blick,
den sie einstweilen auf ihn geworfen, nur auf die gute Seide dieses Kleides.
Andere Bedenken waren noch nicht ernstlich in ihm aufgestiegen, da in der
allgemeinen Lust der Scherz zu gewöhnlich und erlaubt schien. Als Alle sich
wieder gesetzt hatten und nachdem sich Frau Amrain ein Viertelstündchen
freundlich mit den jungen Leuten unterhalten, winkte sie ihren Sohn zu sich und
sagte ihm, er möchte sie nach Hause begleiten, da sie gehen wolle. Als er sich
dazu ganz bereit erklärte, flüsterte sie ihm aber mit strengem Tone zu: Wenn ich
von einem Weibe will begleitet sein, so konnte ich die Grete hier behalten, die
mir hergeleuchtet hat! Du wirst so gut sein und erst heim laufen, um Kleider
anzuziehen, die Dir besser stehen, als diese hier!
Erst jetzt merkte er, daß die Sache nicht
richtig sei; tief crröthend machte er sich fort, und als er über die Straße
eilte und das rauschende Kleid ihm so ungewohnt gegen die Füße schlug, während
der Nachtwächter ihm verdächtig nachsah, merkte er erst recht, daß das eine
ungeeignete Tracht wäre für einen jungen Republikaner, in der man Niemandem in's
Gesicht sehen dürfe. Als er aber zu Haust angekommen sich hastig umkleidete,
fiel es ihm ein, daß nun die Mutter allein unter dem Volke auf dem Rath- hause
sitze, und dieser Gedanke machte ihn plötzlich und sonderbarer Weise so zornig
und besorgt um ihre Ehre, daß er sich beeilte nur wieder hinzukommen und sie
abzuholen. Auch glaubte er ihr einen rechten Ritterdienst damit zu erweisen, daß
er so pünktlich wieder erschien, und alle etwaigen Unebenheiten dadurch aufs
Schönste ausgeglichen. Frau Amrain aber empfahl sich der Gesellschaft und ging
ernst und schweigsam neben ihrem Sohne nach Haust. Dort setzte sie sich seufzend
auf ihren gewohnten Sessel und schwieg eine Weile; dann aber stand sie auf,
ergriff das daliegende Staatskleid und zerriß es in Stücken, indem
sie sagte: das kann ich nun wegwerfen, denn tragen werde ich es nie mehr!
Warum denn?« sagte Fritz erstaunt und wieder kleinlaut. "Wie werde ich,
erwiederte sie, ein Kleid ferner tragen, in welchem mein Sohn unter liederlichen
Weibern gesessen hat, selber einem gleichsehend?« Und sie brach in Thränen aus
und hieß ihn zu Bette gehen. "Hoho, sagte er, als er ging, das wird denn doch
nicht so gefährlich sein.« Er konnte aber nicht einschlafen, da sein Kopf sowohl
von der unterbrochenen Lustbarkeit als von den Worten der Mutter aufgeregt war,
so fand er also Muße, über die Sache nachzudenken und fand, daß die Mutter
einigermaßen Recht habe; aber er fand dies nur insofern, als er selbst die Leute
verachtete, mit denen er sich eben vergnügt hatte. Auch fühlte er sich durch
diese Auslegung eher geschmeichelt in seinem Stolze, und erst, als die Mutter am
Morgen und die folgenden Tage ernst und traurig blieb, kam er dem Grunde der
Sache näher. Es wurde kein Wort mehr darüber gesprochen, aber Fritz war für
einmal geret- tet, denn er schämte sich vor seiner Mutter mehr,
als vor der ganzen übrigen Welt.
Während einiger Monate fand sie keine Ursache neue Besorgnisse zu hegen, bis
eines Tages, als ein blühendes junges Landmädchen sich einfand, um den Dienst
bei ihr nachzusuchen, Fritz dasselbe unverwandt betrachtete und endlich auf es
zutrat und, alles andere vergessend, ihm die Wangen streichelte. Er erschrak
sogleich selbst darüber und ging hinaus; die Mutter erschrak auch und das
Mädchen wurde roth und zornig und wandte sich, ohne wettern Aufenthalt zu gehen.
Als Frau Amrain dies sah, hielt sie es zurück und nahm es mit einiger Überredung
in ihren Dienst. Nun muß es biegen oder brechen, dachte sie und fühlte
gleichzeitig, daß auf dem bisherigen, blos verneinenden Wege dies Blut sich
nicht länger meistern ließ. S.ie näherte sich deshalb noch am selben Tage ihrem
Sohne, als er mit seinem Vesperbrode sich unter ein schattiges Rebenspalier
gesetzt hatte, hinter dem Hause, von wo man zum Thal hinaus in die Ferne sah
nach blauen Höhenstrichen, wo andre Leute wohnten. Sie legte ihren Arm um seine
Schultern, sah ihm
freundlich in die Augen und sagte: „Lieber Fritz! Sei mir jetzt nur noch zwei
oder drei Jährchen brav und gehorsam, und ich will Dir das schönste und beste
Frauchen verschaffen aus meinem Ort, daß Du dir was darauf einbilden kannst!«
Fritz schlug erröthend die Augen nieder, wurde ganz verlegen und erwiederte
mürrisch: „Wer sagt denn, daß ich eine Frau haben wolle?« „Du sollst aber Eine
haben!« versetzte sie, und, wie ich sage, eine von guter und schöner Art; aber
nur wenn Du sie verdienst, denn ich werde mich vorsehen, eine rechtschaffene
Tochter hierher in's Elend zu bringen!« Damit küßte sie ihren Sohn, wie sie seit
undenklicher Zeit nicht gethan, und ging in's Haus zurück.
Es ward ihm aber auf einmal ganz seltsam zu Muthe und von Stund an waren seine
Gedanken auf eine solche gute und schöne Frau gerichtet, und diese Gedanken
schmeichelten ihm so sehr und beschäftigten ihn so anhaltend, daß er darüber
keine Frauensperson in Seldwyla mehr ansah. Die Zärtlichkeit, mit welcher die
Mutter ihm solche Ideen beigebracht, gab seinen Wünschen eine innigere und
edlere Richtung und er fühlte sich wohlgeborgen, da man es so gut
mit ihm meine. Er wartete aber die zwei Jahre und die Anstalten seiner Mutter
nicht ab, sondern fing schon in der nächsten Zeit an, an schönen Sonntagen in's
Land hinaus zu gehen und insbesondere in der Heimath der Mutter herumzukreuzen.
Er war bis jetzt kaum einmal dort gewesen und wurde von den Verwandten und
Freunden seiner Mutter um so freundlicher aufgenommen, als sie großes
Wohlgefallen an dem hübschen Jüngling fanden und er zudem eine Art
Merkwürdigkeit war als ein wohlge- rathener, fester und nicht prahlerischer
Seldwyler. Er machte sich ordentlich heimisch in jenen Gegenden, was seine
Mutter wohl merkte und geschehen ließ; aber sie ahnte nicht, daß er, ehe sie es
vermuthete, schon in bester Form einen Schatz hatte, der ihm allen von der
Mutter ihm gemachten Vorspiegelungen vollkommen zu entsprechen schien. Als sie
davon erfuhr, machte sie sich dahinter her, voll Besorgniß, wer es sein möchte,
und fand zu ihrer frohen Verwunderung, daß er nun gänzlich auf einem guten Wege
sei; denn sie mußte den Geschmack und das Urtheil des Sohnes nur
loben und ebenso dessen ungetrübte Treue und Fröhlichkeit, mit welcher er dem
erwählten Mädchen anhing, so daß sie sich aller weitem Zucht und aller Listen
endlich enthoben sah.
Diese Klippe war unterdessen kaum glücklich umschifft, als sich eine andere
zeigte, welche noch gefährlicher zu werden drohte und der Frau Rc- gula abermals
Gelegenheit gab, ihre Klugheit zu erproben. Denn die Zeit war nun da, wo Fritz,
der Sohn, anfing zu politisiren und damit mehr als durch alles Andere in die
Gemeinschaft seiner Mitbürger gezogen wurde. Er war ein liberaler Gesell, wegen
seiner Jugend, seines Verstandes, seines ruhigen Gewissens in Hinsicht seiner
persönlichen Pflichterfüllung und aus aner- erbtem Mutterwitz. Obgleich man nach
gewöhnlicher oberflächlicher Anschauungsweise etwa hätte meinen können, Frau
Amrain wäre aristokratischer Gesinnung gewesen, weil sie die meisten Leute
verachten mußte, unter denen sie lebte, so war dem doch nicht also; denn höher
und feiner als die Verachtung ist die Achtung vor der Welt im Ganzen. Wer
freisinnig ist, traut sich und der Welt etwas Gutes zu und weiß
mannhaft von nichts Anderem, als daß man hiefür einzustehen vermöge, während der
Unfreisinn oder der Konservatismus auf Zaghaftigkeit und Beschränktheit
gegründet ist. Diese lassen sich aber schwer mit wahrer Männlichkeit vereinigen.
Bor tausend Jahren begann die Zeit, da nur derjenige für einen vollkommenen
Helden und Rittersmann galt, der zugleich ein frommer Christ war; denn im
Christenthum lag damals die Menschlichkeit und Aufklärung. Heute kann man sagen:
sei Einer so tapfer und resolut, als er wolle, wenn er nicht vermag freisinnig
zu sein, so ist er kein ganzer Mann. Und die Frau Regula hatte, nachdem sie sich
einmal an ihrem Eheherren so getäuscht, zu strenge Regeln in ihrem Geschmack
betreffs der Mannestugend angenommen, als daß sie eine feste und sichere
Freisinnigkeit daran vermissen wollte. Übrigens, als ihr Mann um sie geworben,
hatte er in allem Flor eines jugendlichen Radikalismus geglänzt, welchen er
freilich mehr in der Weise handhabte, wie ein Lehrling die erste silberne
Sackuhr.
Außer diesen Geschmacksgründen aber war sie aus einem Orte gebürtig, wo seit
unvordenklichen Zeiten jedermann freisinnig war und der im Laufe der Zeit bei
jeder Gelegenheit sich als ein entschlossenes, thatkräftiges und sich gleich
bleibendes Bürgernest hervorgethan, so daß, wenn es hieß: die von So und So
haben dies gesagt oder jenes gethan! sie gleich einen ganzen Landstrich
mitnahmen und einen kräftigen Anstoß gaben. Wenn also Frau Amrain in den Fall
kam, ihre Meinung über einen Streit festzustellen, so horte sie nicht auf das,
was die Seldwyler, sondern auf das, was die Leute ihrer Jugendhei- math sagten
und richtete ihre Gedanken dorthin.
Alles das waren Gründe genug für Fritz, ein guter Liberaler zu sein, ohne
absonderliche Studien gemacht zu haben. Was nun die nächste Gefahr anbelangt,
welche da, wo das Wort und die rechtlichen Handlungen frei sind und die Leute
sich das Wetter selbst machen, für einen politisch Aufgeregten entsteht, nämlich
die Gefahr ein Müßiggänger und Schenkeläufer zu werden, so war dieselbe zu
Seldwyla allerdings noch größer, als an andern Schweizerorten, welche mit der ganzen alten Welt noch an der gemüthlichen ostländischen Weise
festhalten, das Wichtigste in breiter halbträumender Ruhe an den Quellen des
Getränkes oder bei irgend einem Genusse zu verhandeln und immer wieder zu
verhandeln. Und doch sollte das nicht so sein; denn ein gutes Glas in fröhlicher
Ruhe zu trinken, ist ein Zweck, ein Lohn oder eine Frucht, und, wenn man das in
einem tiefern Sinne nimmt, das Ausüben politischer Rechte blos ein Mittel dazu
zu gelangen. Indessen war für Fritz diese Gefahr nicht beträchtlich, weil er
schon zu sehr an Ordnung und Arbeit gewöhnt war und es ihn grade zu Seld- wyla
nicht reizte, den andern nachzufahren. Größer war schon die Gefahr für ihn, ein
Schwätzer und Prahler zu werden, der immer das Gleiche sagt und sich selbst gern
reden hört; denn in solcher Jugend verführt nichts so leicht dazu, als das
lebendige Empfinden von Grundsätzen und Meinungen, welche man zur Schau stellen
darf ohne Rückhalt, da sie gemeinnützig sind und das Wohl Aller betreffen.
Als er aber wirklich begann, Tag und Nacht von Politik zu sprechen, ein und
dieselbe Sache ewig herumzerrte und jene kindische Manier annahm,
durch blindes Behaupten sich selbst zu betäuben und zu thun, als ob es wirklich
so gehen müsse, wie man wünscht und behauptet, da sagte seine Mutter ein
einziges Mal, als er eben im schönsten Eifer war, ganz unerwartet: »Was ist denn
das für ein ewiges Schwatzen und Kannegießern? Ich mag das nicht hören! Wenn Du
es nicht lassen kannst, so geh' auf die Gaffe oder in's Wirthshaus, hier in der
Stube will ich den Lärm nicht haben!«
Dies war ein Wort zur rechten Zeit gesprochen; Fritz blieb mit seiner also
durchschnittenen Rede ganz verblüfft stecken und wußte gar nichts zu sagen. Er
ging hinaus und indem er über dies wunderliche Ereigniß nachgrübelte, sing er an
sich zu schämen, so daß er erst eine gute halbe Stunde nachher roth wurde bis
hinter die Ohren, von Stund an geheilt war und seine Politik mit weniger Worten
und mehr Gedanken abzumachen sich gewöhnte. So gut traf ihn der einmalige
Vorwurf aus Frauenmund, ein Schwätzer und Kannegießer zu sein.
Um so größer erwies sich nun die dritte, entgegengesetzte Gefahr,
an übel gewendeter Thatkraft zu verderben. So wetterwendisch nämlich sonst die
Seldwyler in ihren politischen Stimmungen waren, so beharrlich blieben sie in
der Theilnahme an allem Freischaaren- und Zuzügerwesen, und wenn irgendwo in der
Nachbarschaft es galt, gewaltsam ein widerstehendes Regiment zu sprengen, eine
schwache Mehrheit einzuschüchtern oder einer trotzigen ungefügigen Minderheit
bewaffnet beizuspringen, so zog jedesmal, mochte nun die herrschende Stimmung
sein welche sie wollte, von Seldwyla ein Trupp bewaffneter Leute aus nach dem
aufgeregten Punkte hin, bald bei Nacht und Nebel auf Seitenwegen, bald am hellen
Tage auf offener Landstraße, je nachdem ihnen die Luft sicher schien. Denn
nichts dünkte sie so ergötzlich, als bei schönem Wetter einige Tage im Lande
herumzustreichen, zu sechzig oder siebenzig, wohlbe- waffnet mit feinen
Zielgewehren, versehen mit gewichtigen drohenden Bleikugeln und silbernen
Thalern, mittelst letzterer sich in den besetzten Wirthshäusern gütlich zu thun
und mit tüchtigem Hallo, das Glas in der Hand, aus andere Zuzüge zu stoßen,
denen es ebenfalls mehr oder minder Ernst war. Da nun das
Gesetzliche und das Leidenschaftliche, das Vertragsmäßige und das ursprünglich
Naturwüchsige, der Bestand und das Revolutionaire zusammen erst das Leben
ausmachen und es vorwärts bringen, so war hie- gegen nichts zu sagen, als: seht
euch vor, was ihr ausrichtet! Nun aber erfuhren die Seld- wyler den eigenen
Unstern, daß sie bei ihren Auszügen immerdar entweder zu früh oder zu spät und
am unrechten Orte eintrafen und gar nicht zum Schusse kamen, wenn sie nicht auf
dem Heimwege, der dann nach mannigfachem Hin- und Herreden und genügsamem
Trinken eingeschlagen wurde, zum Vergnügen wenigstens einige Patronen in die
Luft schössen. Doch dies genügte ihnen, sie waren gewissermaßen dabei gewesen
und es hieß im Lande, die Seldwyler seien auch ausgerückt in schöner Haltung,
lauter Männer mit gezogenen Büchsen und goldenen Uhren in der Tasche.
Als es das erste Mal begegnete, daß Fritz Amrain von einem solchen Ausrücken
hörte und zugleich seines Alters halber fähig war mitzugehen, lief er, da es
soweit eine gute Sache betraf,
Keller, die Leute von Scldwyla. I. 11 sogleich nach Hause, denn es
war eben die höchste Zeit und der Trupp im Begriff aufzubrechen. Zu Hause zog er
seine besten Kleider an, steckte genugsam Geld zu sich, hing seine Patrontasche
um und ergriff sein wohl im Stand gehaltenes Jnfanteriegewehr, denn da er
bereits ein ordentlicher und handfester junger Flügelmann war, dachte er nicht
daran, mit einer kostbaren Schützenwaffe zu prahlen, die er nicht zu handhaben
verstand, sondern aufrichtig und emsig sein leichtes Gewehr zu laden und
loszubrennen, sobald er irgend vor den Mann kommen würde; und er sah sehnsüchtig
im Geiste schon nichts anderes mehr, als den letzten Hügel, die letzte
Straßenecke, um welche herumbiegend man den verhaßten Gegner erblicken und es
losgehen würde mit Puffen und Knallen.
Er nahm nicht das geringste Gepäck mit und verabschiedete sich kaum bei der
Mutter, die ihm aufgebracht und mit klopfendem Herzen aber schweigend zusah.
"Adieu! sagte er, morgen oder übermorgen früh spätestens sind wir wieder hier!^
und ging weg, ohne ihr nur die Hand zu geben, als ob er nur in den Steinbruch
hin- ausginge, um die Arbeiter anzutreiben. So ließ sie ihn auch
gehen ohne Einwendung, da es ihr widerstand, den hübschen jungen Burschen von
solcher ersten Muthesäußerung abzuhalten, ehe die Zeit und die Erfahrung ihn
selber belehrt. Vielmehr sah sie ihm durch das Fenster wohlgefällig nach, als er
so leicht und froh dahinschritt. Doch ging sie nicht einmal ganz an das Fenster,
sondern blieb in der Mitte der Stube stehen und schaute von da aus hin. Übrigens
war sie selbst wüthigen Charakters und hegte nicht sonderliche Sorgen, zumal sie
wohl wußte, wie diese Aus- züge von Seldwyla abzulaufen pflegten.
Fritz kam denn auch richtig schon am andern Morgen ganz in der Frühe wieder an
und stahl sich ziemlich verschämt in das Haus. Er war ermüdet, überwacht, von
vielem Weintrinken abgespannt und schlechter Laune und hatte nicht das Mindeste
erlebt oder ausgerichtet, außer daß er seinen feinen Rock verdorben durch das
Herumlungern und sein Geldbeutel geleert war.
Als seine Mutter dies bemerkte und als sie überdies sah, daß er nicht wie die
Andern, die inzwischen auch gruppenweise zurückgeschlendert kamen,
nur die Kleider wechselte, neues Geld zu sich steckte und nach dem Wirthshause
eilte, um da den mißlungenen Feldzug aus einander zu setzen und sich nach den
ermüdenden Nicht- thaten zu stärken, sondern daß er eine Stunde lang schlief und
dann schweigend an seine Geschäfte ging, da ward sie in ihrem Herzen froh und
dachte, dieser merke von selber, was die Glocke geschlagen.
Indessen dauerte es kaum ein halbes Jahr, als sich eine neue Gelegenheit zeigte,
auszuziehen nach einer andern Seite hin, und die Seld- wpler auch wirklich
wieder auszogen. Eine benachbarte Regierung sollte gestürzt werden, welche sich
auf eine ganz kleine Mehrheit eines andächtigen gutkatholischen Landvolkes
stützte. Da aber dies Landvolk seine andächtige Gesinnung und politische Meinung
eben so handlich, munter und leidenschaftlich betrieb und bei den Wahlvorgängen
eben so geschlossen und prügel- fertig zusammenhielt, wie die aufgeklärten
Gegner, so empfanden diese einen heftigen und ungeduldigen Verdruß, und es wurde
beschlossen, jenen vernagelten Dummköpfen durch einen wüthigen
Handstreich zu zeigen, wer Meister im Lande sei, und zahlreiche Parteigenossen
umliegender Kantone hatten ihren Zuzug zugesagt, als ob ein Häring zu einem
Lachs würde, wenn man ihm den Kops abbeißt und sagt: dies soll ein Lachs sein!
Aber in Zeiten des Umschwunges, wenn ein neuer Geist umgeht, hat die alte Schale
des gewohnten Rechtes keinen Werth mehr, da der Kern heraus ist, und ein neues
Rechtsbewußtsein muß erst erlernt und angewöhnt werden, damit „rechtlich am
längsten währe«, das heißt, so lange der neue Geist lebt und währt, bis er
wiederum veraltet ist und das Auslegen und Zanken um die Schale des Rechtes von
neuem angeht. Als gewohnter Weise wieder einige Dutzend Seldwpler beisammen
waren, um als ein tapferes Häuflein auszurücken und der verhaßten
Nachbarregierung vom Amte zu helfen, war Frau Regel Amrain guter Laune, indem
sie dachte, diese bewaffneten Kannegießer wären diesmal recht angeführt, wenn
sie glaubten, daß ihr Sohn mitginge; denn nach ihren bisherigen Erfahrungen,
laut welchen das wackere Blut stets durch eine einmalige Lehre sich ge- bessert, mußte es ihm jetzt nicht einfallen mitzugehen. Aber siehe
da! Fritz erschien unversehens, als sie ihn bei seinen Geschäften glaubte, im
Hause, bürstete seine starken Werkeltagskleider wohl aus, und steckte die Bürste
nebst anderen Ausrüstungsgegenständen und einiger Wäsche in eine Reisetasche,
welche er umhing, kreuzweis mit der wohlgcfüllten Patrontasche, und ergriff
abermals sein Gewehr und senkte es zum Gehen, nachdem er mit dem Daumen einige
Male den Hahn hin und hergezogen, um die Federkraft des Schlosses zu erproben.
i,Diesmal,« sagte er, »wollen wir die Sache anders angreifen, adieuund so zog er
ab, ungehindert von der Mutter, welcher es abermals unmöglich war, ihn von
seinem Thun abzuhalten, da sie wohl sah, daß es ihm Ernst war. Um so besorgter
war sie jetzt Plötzlich und sie erbleichte einen Augenblick lang, während sie
abermals mit Wohlgefallen seine Entschlossenheit bemerkte. Die Seldwyler Schaar
kehrte am nächsten Tage ganz in der alten Weise zurück, ohne noch zu wissen, wie
es auf dem Kampfplätze ergangen; denn da sie die Grenze ein
Bischen überschritten hatten, fanden sie das dasige Ländchen sehr aufgeregt und
die Bauern darüber erbos't, daß man solchergestalt auf ihrem Territorium
erscheine, wie zu den Zeiten des Faustrechtes. Sie stellten jedoch kein
Hinderniß entgegen, sondern standen nur mit spöttischen Gesichtern an den Wegen,
welche zu sagen schienen, daß sie die Eindringlinge einstweilen vorwärts-
spazieren lassen aber auf dem Rückwege dann näher ansehen wollten. Dies kam den
Seld- wylern gar nicht geheuer vor und sie beschlossen deshalb, das versprochene
Eintreffen anderer Zuzüge abzuwarten, ehe sie weiter gingen. Als diese aber
nicht kamen und ein Gerücht sich verbreitete, der Putsch sei schon vorüber und
günstig abgelaufen, machten sie sich endlich wieder auf den Rückweg mit Ausnahme
des Fritz Amrain, welcher seelcnallein und trotzig verwegen sich von ihnen
trennte und mitten durch das gegnerische Gebiet wegmarschirte auf dessen
Hauptstadt zu. Denn er hatte, indem er seine Gefährten zechen und schwatzen
ließ, sich erkundigt und vernommen, daß ein Häuflein Bursche aus dem Geburtsorte
seiner Mutter einige Stunden von da eintreffen würde, und zu
diesen gedachte er zu stoßen. Er erreichte sie auch ohne Gefährde, weil er rasch
und unbekümmert seinen Weg ging, und drang mit ihnen ungesäumt vorwärts. Allein
die Sache schlug fehl, jene schwankhafte Regierung behauptete sich für dies Mal
wieder durch einige günstige Zufälle, und sobald diese sich deutlich entwickelt,
that sich das Landvolk zusammen, strömte der Hauptstadt zu in die Wette mit den
Freizügern und versperrt diesen die Wege, so daß Fritz und seine Genossen, noch
ehe sie die Stadt erreichten, zwischen zwei große Haufen bewaffneter Bauern
geriethen, und, da sie sich männlich durchzuschlagen gedachten, ein Gefecht sich
unverweilt entspann. So sah sich denn Fritz angesichts fremder Dorfschaften und
Kirchthürme ladend, schießend und wieder ladend, indessen die Glocken stürmten
und heulten über den verwegenen Einbruch und den Verdruß des beleidigten Bodens
auszuklagen schienen. Wo sich die kleine Schaar hinwandte, wichen die Landleute
mit großem Lärm etwas zurück; denn ihre junge Mannschaft war im Soldatenrock
schon nach der Stadt gezogen worden, und was sich hier den
Angreifern entgegenstellte, bestand mehr aus alten und ganz jungen unerwachsenen
Leuten, von Priestern, Küstern und selbst Weibern angefeuert. Aber sie zogen
sich dennoch immer dichter zusammen und nachdem erst einige unter ihnen
verwundet waren, stellte gerade dieser dunkle Saum erschreckter alter Menschen,
Weiber und Priester, die sich zusammen den Landsturm nannten, das aufgebrachte
und beleidigte Gebiet vor und die Glocken schrieen den Zorn über alles Getöse
hinweg weit in das Land hinaus. Aber der drohende Saum zog sich immer enger und
enger um die fechtenden Parteigänger, einige entschlossene und erfahrene Alte
gingen voran und es dauerte nicht mehr lange, so waren die Freischärler
gefangen. Sie ergaben sich ohne Weiteres, als sie sahen, daß sie Alles gegen
sich hatten, was hier wohnte. Wenn man im offenen Kriege vom Neichsfeind
gefangen wird, so ist das ein Unstern wie ein anderer und kränkt den Mann nicht
tiefer; aber von seinen Mitbürgern als ein gcwaltthätiger politischer
Widersacher gefangen zu werden, ist so demüthigend und kränkend, als irgend
etwas auf Erden sein kann.
ii* Kaum waren sie entwaffnet und von dem Volke umringt, als alle
möglichen Ehrentitel auf sie niederregneten: Landfriedenbrecher, Freischärler,
Räuber, Buben waren noch die mildesten Ausrufe, die sie zu hören bekamen. Zudem
wurden sie von vorn und hinten betrachtet wie wilde Thiere und je solider sie in
ihrer Tracht und Haltung aussahen, desto erboster schienen die Bauern darüber zu
werden, daß solche Leute solche Streiche machten.
So hatten sie nun nichts weiter zu thun, als zu stehen oder zu gehen, wo und wie
man ihnen befahl, hierhin, dorthin, wie es dem vielköpfigen Souverain beliebte,
welchem sie sein Recht hatten nehmen wollen. Und er übte es jetzt in reichlichem
Maße aus und es fehlte nicht an Knüffen und Püffen, wenn die Herren Gefangenen
sich trotzig zeigten oder nicht gehorchen wollten. Jeder schrie ihnen eine gute
Lehre zu: „Wäret Ihr zu Hause geblieben, so brauchtet Ihr uns nicht zu
gehorchen! Wer hat Euch hergerufen? Da Ihr uns regieren wolltet, so wollen wir
nun Euch auch regieren, Ihr Spitzbuben! Was bezieht Ihr für Gehalt für Euer Geschäft, was für Sold für Euer Kriegswesen? Wo habt Ihr Eure
Kriegskaffe und wo Euren General? Pflegt Ihr oft auszuziehen ohne Trompeter, so
in der Stille? Oder habt Ihr den Trompeter heimgeschickt, um Euren Sieg zu
verkünden? Glaubtet Ihr, die Luft in unserm Gebiet sei schlechter als Eure, da
Ihr kämet, sie mit Bleikugeln zu peitschen? Habt Ihr schon gefrühstückt, Ihr
Herren? Oder wollt Ihr in's Gras beißen? Verdienen würdet Ihr es wohl! Habt Ihr
geglaubt, wir hätten hier keinen ordentlichen Staat, wir stellten gar nichts vor
in unserm Ländchen, daß Ihr da rottenweise herumstreicht ohne Erlaubniß? Wolltet
Ihr Füchse fangen oder Kaninchen? Schöne Bundesgenossen, die uns mit dem
Schießprügel in der Hand unser gutes Recht stehlen wollen! Ihr könnt Euch bei
denen bedanken, die Euch hergerufen; denn man wird Euch eine schöne Mahlzeit
anrichten! Ihr dürfet einstweilen unsere Zuchthauskvst versuchen; es ist eine
ganz entschiedene Majorität von gesunden Erbsen, gewürzt mit dem Salze eines
handlichen Strafgesetzes gegen Hochverrath, und wenn Ihr Jahr und
Tag gesessen habt, so wird man Euch erlauben, zur Feier Eures glorreichen
Einzuges auch eine kleine Minorität von Speck zu überwältigen, aber beißt Euch
alsdann die Zähne nicht daran aus! Es geht allerdings nichts über einen guten
Spaziergang und ist zuträglich für die Gesundheit, insbesondere wenn man keine
regelmäßige Arbeit und Bewegung zu haben scheint; aber man muß sich doch immer
in Acht nehmen, wo man spazieren geht und es ist unhöflich, mit dem Hut auf dem
Kopf in eine Kirche und mit dem Gewehr in der Hand in ein friedfertiges
Staatswesen herein zu spazieren! Oder habt Ihr geglaubt, wir stellen keinen
Staat vor, weil wir noch Religion haben und unsere Pfaffen zu ehren belieben?
Dieses gefällt uns einmal so, und wir wohnen gerade so lang im Lande, als Ihr,
Ihr Maulaffen, die Ihr nun dasteht und Euch nicht zu helfen wißt!^
So tönte es unaufhörlich um sie her, und die Beredtsamkeit der Sieger war um so
unerschöpflicher, als sie das Gleiche, dessen sie ihre Gegner nun anklagten,
entweder selbst schon gethan oder es jeden Augenblick zu thun bereit
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waren, wenn die Umstände und die persönliche Rüstigkeit es erlaubten, gleich wie
ein Dieb die beredteste Entrüstung verlauten läßt, wenn ein Kleinod, das er
selbst gestohlen, ihm abermals entfremdet wird. Denn der Mensch trägt die
unbefangene Schamlosigkeit des Thieres gerade- wegs in das moralische Gebiet
hinüber und gc- berdet sich da im guten Glauben an das nützliche Recht seiner
Willkür so naiv, wie die Hünd- lein auf den Gassen. Die gefangenen Frei-
schärler mußten indessen alles über sich ergehen lassen und waren nur bedacht,
durch keinerlei Herausforderung eine körperliche Mißhandlung zu veranlassen.
Dies war das Einzige, was sie thun konnten, und die Älteren und Erfahrenern
unter ihnen ertrugen das Übel mit möglichstem Humor, da sie voraussahen, daß die
Sache nicht so gefährlich abliefe, als sie schien. Der Eine oder Andere merkte
sich ein schimpfendes Bäuer- lein, das in seinem Laden etwa eine Sense oder ein
Maß Kleesamen gekauft und schuldig geblieben war und gedachte, demselben seiner
Zeit seine beißenden Anmerkungen mit Zinsen zurückzugeben, und wenn ein solches
Bäuerlem solchen Blick bemerkte und den Absender erkannte, so
hörte es darum nicht Plötzlich auf zu schelten, aber richtete unvermerkt seine
Augen und seine Worte anderswohin in den Haufen und verzog sich allmälig hinter
die Front; so gemüthlich und seltsamlich spielen die Menschlichkeiten
durcheinander. Fritz Amrain aber war im höchsten Grade niedergeschlagen und
trostlos. Zwei oder drei seiner Gefährten waren gefallen und lagen noch da,
andere waren verwundet und er sah den Boden um sich her mit Blut gefärbt; sein
Gewehr und seine Taschen waren ihm abgenommen, ringsum erblickte er drohende
Gesichter, und so war er plötzlich aus seiner bedachtlosen und fieberhaften
Aufregung erwacht, der Sonnenschein des lustigen Kampftages war verwischt und
verdunkelt, das lustige Knallen der Schüsse und die angenehme Musik des kurzen
Gefechtlärmens verklungen, und als nun gar endlich die Behörden oder
Landesautoritäten sich hervorthaten aus dem Wirrsal und eine trockene
geschäftliche Eintheilung und Abführung der Gefangenen begann, war es ihm zu
Muthe, wie einem Schul- knaben, welcher aus einer muthwilligen Herrlich- kett, die ihm für die Ewigkeit gegründet und höchst rechtmäßig
schien, unversehens von dem häßlichsten Schulmeister aufgerüttelt und
beigesteckt wird, und der nun in seinem Gram alles verloren und das Ende der
Welt herbeigekommen wähnt. Er schämte sich, ohne zu wissen vor wem, er
verachtete seine Feinde und war doch in ihrer Hand. Er war begeistert gewesen,
gegen sie auszuziehen, und doch waren sie jetzt in jeder Hinsicht in ihrem
Rechte; denn selbst ihre Beschränktheit oder ihre Dummheit war ihr gutes
rechtliches Eigenthum und es gab kein Mandat dagegen, als dasjenige des
Erfolges, der nun leider ausgeblieben war. Die leidenschaftlich erbosten
Gesichter aller dieser bejahrten und gefurchten Landleute, welche auf ihren
gefundenen Sieg trotzten, traten ihm in seiner helldunklen Trostlosigkeit mit
einer seltsamen Deutlichkeit vor die Augen; überall, wo er durchgeführt wurde,
gab es neue Gesichter, die er nie gesehen, die er nicht einzeln und nicht mit
Willen ansah, und die sich ihm dennoch scharf und trefflich beleuchtet
einprägten als eben so viele Vorwürfe, Beleidigungen und Strafgerichte. Je näher der Zug der Gefangenen der Stadt kam, desto lebendiger wurde
es; die Stadt selbst war mit Soldaten und bewaffneten Landleuten angefüllt,
welche sich um die neu befestigte Regierung schaarten, und die Gefangenen wurden
im Triumphe durchgeführt. Von der Opposition, welche gestern noch so mächtig
gewesen, daß sie um die Herrschaft ringen konnte und sich bewegte, wie es ihr
gefiel, war nicht die leiseste Spur mehr zu erblicken, es war eine ganz andere
grobe und widerstehende Welt, als sich Fritz gedacht hatte, welche sich für
unzweifelhaft und auf's Beste begründet ausgab, und nur verwundert schien, wie
man sie irgend habe in Frage stellen und angreifen können. Denn Jeder tanzt,
wenn seine Geige gestrichen wird, und wenn viele Menschen zusammen sich was
einbilden, so blähet sich eine Unendlichkeit in dieser Einbildung. Endlich aber
waren die Gefangenen in Thürmen und andern Baulichkeiten untergebracht, die alle
schon besetzt waren mit ähnlichen Unternehmungslustigen, und so befand sich auch
Fritz hinter Schloß und Riegel und war es erklärlich, daß er nicht mit den
Seldwylern zurückgekehrt war. Diese rächten sich für ihren
mißlungenen Zug dadurch, daß sie den sieghaften Gegnern auf der Stelle die
abscheulichste und rücksichtsloseste Rachsucht zuschrieben und daß Jeder, der
entkommen war, es als für gewiß annahm, die Gefangenen würden erschossen werden.
Es gab Leute, die sonst nicht ganz unklug waren, welche allen Ernstes glaubten
und wieder sagten, daß die fanatisirten Bauern gefangene Freischärler zwischen
zwei Bretter gebunden und entzweige- sägt, oder auch etliche derselben
gekreuziget hätten.
Sobald Frau Regula diese Übertreibungen und dies unmäßige Mißtrauen vernahm,
verlor sie die Hälfte des Schreckens, welchen sie zuebst empfunden, da die
Thorheit der Leute ihren Einfluß auf die Wohlbestellten immer selbst regulirt
und unschädlich macht. Denn hätten die Seld- wyler nur etwa die Befürchtung
ausgesprochen, die Gefangenen könnten vielleicht wohl erschossen werden nach dem
Standrecht, so wäre sie in tödtlicher Besorgniß geblieben; als man aber sagte,
sie seien entzweigesägt und gekreuzigt, glaubte sie auch jenes nicht mehr.
Dagegen erhielt sie bald einen kurzen Brief von ihrem
Keller, die Leute von Seldwyla. 12 Sohne, laut welchem er wirklich
eingethürmt war und sie um die sofortige Erlegung einer Geldbürgschaft bat,
gegen welche er entlassen würde. Mehrere Kameraden seien schon auf diese Weise
frei gegeben worden. Denn die sieghafte Regierung war in großen Geldnöthen und
verschaffte sich aus diese Weise einige willkommene außerordentliche Einkünfte,
da sie nachher nur die hinterlegten Summen in eben so viele Geldbußen zu
verwandeln brauchte. Frau Amrain steckte den Brief ganz vergnügt in ihren Busen
und begann gemächlich und ohne sich zu übereilen, die erforderlichen Geldmittel
beizubringen und zurecht zu legen, so daß wohl acht Tage vergingen, ehe sie
Anstalt machte, damit abzureisen. Da kam ein zweiter Brief, welchen der Sohn
Gelegenheit gefunden heimlich abzuschicken und worin er sie beschwor, sich ja zu
eilen, da es ganz unerträglich sei, seinen Leib dergestalt in der Gewalt
verhaßter Menschen zu sehen. Sie wären eingesperrt wie wilde Thiere, ohne
frische Luft und Bewegung und müßten Haber- muß und Erbsenkost aus einer
hölzernen Bütte gemeinschaftlich essen mit hölzernen Löffeln. Da
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schob sie lächelnd ihre Abreise noch um einige Tage auf, und erst als der
eingepferchte Thatkräftige volle vierzehn Tage gesessen, nahm sie ein Gefährt,
packte die Erlösungsgelder nebst frischer Wäsche und guten Kleidern ein und
begab sich auf den Weg. Als sie aber ankam, vernahm sie, daß ehestens eine
Amnestie ausgesprochen würde über alle, die nicht ausgezeichnete Rädelsführer
seien, und besonders über die Fremden, da man diese nicht unnütz zu füttern
gedachte und jetzt keine eingehenden Gelder mehr erwartete. Da wartete sie noch
zwei oder drei Tage in einem Gasthofe, bereit ihren Sohn jeden Augenblick zu
erlösen, der übrigens seiner Jugend wegen nicht sehr beachtet wurde. Die
Amnestie wurde auch wirklich verkündet, da diesmal die siegende Partei aus
Sparsamkeit die wahre Weise befolgte: im Siege selbst, und nicht in der Rache
oder Strafe, ihr Bewußtsein und ihre Genugthuung zu finden. So fand denn der
verzweifelte Fritz seine Mutter an der Pforte des Gefängnisses seiner harrend.
Sie speiste und tränkte ihn, gab ihm neue Kleider und fuhr mit ihm nebst der
geretteten Bürgschaft von danncn.
12 * Als er sich nun wohlgeborgen und gestärkt neben seiner Mutter
sah, fragte er sie, warum sie ihn denn so lange habe sitzen lassen? Sie
erwiederte kurz und ziemlich vergnügt, wie ihm schien, daß das Geld eben nicht
früher wäre aufzutreiben gewesen. Er kannte aber den Stand ihrer Angelegenheiten
nur zu wohl und wußte genau, wo die Mittel zu suchen und zu beziehen waren. Er
ließ also diese Ausflucht nicht gelten und fragte abermals. Sie meinte, er
möchte sich nur zufrieden geben, da er durch sein Sitzen in dem Thurme ein gutes
Stück Geld verdient und überdies Gelegenheit erhalten, eine schone Erfahrung zu
machen. Gewiß habe er diesen oder jenen vernünftigen Gedanken zu fassen die Muße
gehabt. "Du hast mich am Ende absichtlich stecken lassen,^ erwiederte er und sah
sie groß an, „und hast mir in Deinem mütterlichen Sinne das Gefängniß förmlich
zuerkannt? ü Hierauf antwortete sie nichts, sondern lachte laut und lustig in
dem rollenden Wagen, wie er sie noch nie lachen gesehen. Als er hierauf nicht
wußte, welches Gesicht er machen sollte und seltsam die Nase rümpfte, umhalste
sie ihn noch lauter lachend und gab ihm einen Kuß. Er sagte aber
kein Wort mehr, und es zeigte sich von nun an, daß er in dem Gefängniß in der
That etwas gelernt habe.
Denn er hielt sich in seinem Wesen jetzt viel ernster und geschlossener zusammen
und ge- rieth nie wieder in Versuchung, durch eine unrechtmäßige oder
leichtsinnige Thatlust eine Gewalt herauszufordern und seine Person in ihre Hand
zu geben zu seiner Schmach und niemand zum Nutzen. Er nahm sich nicht gerade
vor, nie mehr auszuziehen, da die Ereignisse nicht zum Voraus gezählt werden
können und Niemand seinem Blut gebieten kann, stille zu stehn, wenn es rascher
fließt, aber er war nun sicher vor jeder nur äußerlichen und unbedachten
Kampflust. Diese Erfahrung wirkte überhaupt dermaßen auf den jungen Mann, daß er
mit verdoppeltem Fortschritt an Tüchtigkeit in allen Dingen zuzunehmen schien,
und den Dingen schon mit voller Männlichkeit vorstand, als er kaum zwanzig Jahre
alt war. Frau Amrain gab ihm desnahcn nun die junge Frau, welche er wünschte,
und nach Verlauf eines Jahres, als er bereits ein kleines hübsches
Söhnchen besaß, war er zwar immer wohlgemuth, aber um so ernsthafter und
gemessener in seinen fleißigen Geschäften, als seine Frau lustig, voll Gelächter
und guter Dinge war; denn es gefiel ihr über die Maßen in diesem Hause und sie
kam vortrefflich mit ihrer Schwiegermutter aus, obgleich sie von dieser
verschieden und wieder eine andere Art von gutem Charakter war.
So schien nun das Erziehungswerk der Frau Regula auf das beste gekrönt und der
Zukunft mit Ruhe entgegen zu sehen; denn auch die beiden älteren Söhne, welche
zwar trägen Wesens aber sonst gutartig waren, hatte sie hinter dem wackeren
Fritz her leidlich durchgeschleppt und als dieselben herangewachsen, die
Vorsicht gebraucht, sie in anderen Städten in die Lehre zu geben, wo sie denn
auch blieben und ihr ferneres Leben begründeten als ziemlich bequem- liche aber
sonst ordentliche Menschen, von denen nachher so wenig zu sagen war, wie vorher.
Fritz aber, da er bereits ein würdiger Familienvater wär, mußte doch noch ein
Mal in die Schule genommen werden von der Mutter, und zwar in
einer Sache, um die sich manche Mutter vorn gemeinen Schlage wenig bekümmert
hätte. Der Sohn war ungefähr zwei Jahre schon ver- heirathet, als das Ländchen,
welchem Seldwpla angehörte, seinen obersten maßgebenden Rath neu zu bestellen
und deshalben die vierjährigen Wahlen vorzunehmen hatte, in Folge deren denn
auch die verwaltenden und richterlichen Behörden bestellt wurden. Bei den
letzten Hauptwahlen war Fritz noch nicht stimmfähig gewesen und es war jetzt das
erste Mal, wo er dergleichen beiwohnen sollte. Es war aber eine große Stille im
Lande. Die Gegensätze hatten sich einigermaßen ausgeglichen und die Parteien an
einander abgeschliffen; es wurde in allen Ecken fleißig gearbeitet, man lichtete
die alten Winkeleien in der Gesetzsammlung und machte fleißig neue, gute und
schlechte, bauete öffentliche Werke, übte sich in einer geschickten Verwaltung
ohne Unbesonnenheit, doch auch ohne Zopf, und ging darauf aus, Jeden an seiner
Stelle zu verwenden, die er verstand und treulich versah, und endlich gegen
Jedermann artig und gerecht zu sein, der es in seiner Weise gut meinte und
selbst kein
Zwinger und Hasser war. Dies alles war nun den Seldwylern höchst langweilig, da
bei solcher stillgewvrdenen Entwickelung keine Aufregung Statt fand. Denn Wahlen
ohne Aufregung, ohne Vorversammlungen, Zechgelage, Reden, Aufrufe, ohne Umtriebe
und heftige schwankende Krisen, waren ihnen so gut wie gar keine Wahlen, und so
war es diesmal entschieden schlechter Ton zu Seldwyla, von den Wahlen nur zu
sprechen, wogegen sie sehr beschäftigt thaten mit Errichtung einer großen
Aktienbierbraucrei und Anlegung einer Aktienhopfenpflanzung, da sie plötzlich
auf den Gedanken gekommen waren, eine solche stattliche Bieranstalt mit
weitläufigen guten Kellereien, Trinkhallen und Terrassen würde der Stadt einen
neuen Aufschwung geben und dieselbe berühmt und vielbesucht machen. Fritz Amrain
nahm an diesen Bestrebungen eben keinen Antheil, allein er kümmerte sich auch
wenig um die Wahlen, so sehr er sich vor vier Jahren gesehnt hatte, daran Theil
zu nehmen. Er dachte sich, da alles gut ginge im Lande, so sei kein Grund, den
öffentlichen Dingen nachzugehen, und die Maschine würde deswegen nicht stille
stehen, wenn er schon nicht wähle. Es war ihm unbequem, an dem
schönen Tage in der Kirche zu sitzen mit einigen alten Leuten, und, wenn man es
recht betrachtete, schien sogar ein Anfing von philisterhafter Lächerlichkeit zu
kleben an den diesjährigen Wahlen, da sie eine gar so stille und regelmäßige
Pflichterfüllung waren. Fritz scheuete die Pflicht nicht, wohl aber haßte er
nach Art aller jungen Leute kleinere Pflichten, welche uns zwingen zu
ungelegener Stunde den guten Rock anzuziehen, den besseren Hut zu nehmen und uns
an einen höchst langweiligen oder trübseligen Ort hinzubegeben, als wie ein
Taufstein, ein Kirchhof oder ein Gerichtszimmer. Frau Amrain jedoch hielt gerade
diese Weise der Seldwyler, die sie nun angenommen, für unerträglich und
unverschämt, und eben weil Niemand hinging, so wünschte sie doppelt, daß ihr
Sohn es thäte. Sie steckte eö daher hinter seine Frau und trug dieser auf, ihn
zu überreden, daß er am Wahltage ordentlich in die Versammlung ginge und einem
tüchtigen Manne seine Stimme gäbe, und wenn er auch ganz allein stände mit
derselben. Allein mochte nun das junge Weibchen nicht die nöthige
Beredtsamkeit besitzen in einer Sache, die es selber nicht viel kümmerte, oder
mochte der junge Mann nicht gesonnen sein, sich in ihr eine neue Erzieherin zu
nähren und groß zu ziehen, genug er ging an dem betreffenden Morgen in aller
Frühe in seinen Steinbruch hinaus und schaffte dort in der warmen Maisonne so
eifrig und ernsthaft herum, als ob an diesem einen Tage noch alle Arbeit der
Welt abgethan werden müßte und nie wieder die Sonne aufginge hernach. Da ward
seine Mutter ungehalten und setzte ihren Kopf darauf, daß er dennoch in die
Kirche gehen müsse; und sie band ihre immer noch glänzend schwarzen Zöpfe auf,
nahm einen breiten Strohhut darüber und Fritzens Rock und Hut an den Arm und
wanderte rasch hinter das Städtchen hinaus, wo der weitläufige Steinbruch an der
Höhe lag. Als sie den langen krummen Fahrweg hinan stieg, auf welchem die
Steinkasten herabgebracht wurden, bemerkte sie, wie tief der Bruch seit zwanzig
Jahren in den Berg hinein gegangen, und überschlug das unzweifelhafte gute
Erbthum, das sie erworben und zusammengehalten. Auf verschiedenen Abstufungen
hämmerten zahlreiche Arbeiter, welchen Fritz längst ohne
Werkführer vorstand, und zu oberst, wo grünes Buchenholz die frischen weißen
Brüche krönte, erkannte sie ihn jetzt selbst an seinem weißeren Hemde, da er
Weste und Jacke weggeworfen, wie er mit einem Trüppchen Leute die Köpfe
zusammensteckte über einem Punkte. Gleichzeitig aber sah man sie und rief ihr
zu, sich in Acht zu nehmen. Sie duckte sich unter einen Felsen, worauf in der
Höhe nach einer kleinen Stille ein starker Schlag erfolgte und eine Menge
kleiner Steine und Erde rings hernieder regneten. „Da glaubt er nun, sagte sie
zu sich selbst, was er für Heldenwerk verrichtet, wenn er hier Steine gen Himmel
sprengt, statt seine Pflicht als Bürger zu thun! Als sie oben ankam und
verschnaufte, schien er, nachdem er flüchtig auf den Nock und Hut geschielt, den
sie trug, sie nicht zu bemerken, sondern untersuchte eifrig die Löcher, die er
eben gesprengt, und fuhr mit dem Zollstock an den Steinen herum. Als er sie aber
nicht mehr vermeiden konnte, sagte er: "Guten Tag, Mutter! Spazierest ein wenig?
Schön ist das Wetter dazir> und wollte sich wieder wegmachen. Sie
ergriff ihn aber bei der Hand und führte ihn etwas zur Seite, indem sie sagte:
»Hier habe ich Dir Rock und Hut gebracht, nun thu' mir den Gefallen und geh' zu
den Wahlen! Es ist ein wahrer Skandal, wenn Niemand geht aus der Stadt!«
»Das fehlte auch noch, erwiederte Fritz ungeduldig, fetzt abermals bei diesem
Wetter, in der langweiligen Kirche zu sitzen und Stimmzettel umherzubieten.
Natürlich wirst Du dann für den Nachmittag schon irgend ein Leichenbe- gängniß
in Bereitschaft haben, wo ich wieder mithumpeln soll, damit der Tag ja ganz
verschleudert werde! Daß ihr Weibsleute Unser- einen immer an Begräbnisse und
Kindertaufen hinspedirt, ist begreiflich; daß ihr euch aber so sehr um die
Politik bekümmert, ist mir ganz etwas Neuest
»Schande genug, sagte sie, daß die Frauen euch vermahnen sollen, zu thun, was
sich gebührt und was eine verschworne Pflicht und Schuldigkeit ist!«
»Ei so thue doch nicht so, erwiederte Fritz, seit wann wird denn
der Staat stille stehn, wenn Einer mehr oder weniger mitgeht, und seit wann ist
es denn nöthig, daß ich gerade überall dabei bin?
»Dies ist keine Bescheidenheit, die dies sagt, antwortete die Mutter, dies ist
vielmehr verborgener Hochmuth! denn ihr glaubt wohl, daß ihr müßt dabei sein,
wenn es irgend darauf ankäme, und nur weil ihr den gewohnten stillen Gang der
Dinge verachtet, so haltet ihr euch für zu gut, dabei zu sein!«
»Es ist aber in der That lächerlich, allein dahin zu gehen, sagte Fritz,
jedermann sieht Einen hingehen, wo dann niemand als die Kirchenmaus zu sehen
ist.«
Frau Amrain ließ aber nicht nach und erwiederte: »Es genügt nicht, daß Du
unterlassest, was Du an den Seldwylern lächerlich findest! Du mußt außerdem noch
thun grade, was sie für lächerlich halten; denn was diesen Eseln so vorkommt,
ist gewiß etwas Gutes und Vernünftiges! Man kennt die Vögel an den Federn, so
die Seldwyler an dem, was sie für lächerlich halten. Bei allen kleinen
Angelegenheiten, bei
19 »
allen schlechten Geschichten, eitlen Vergnügungen und Dummheiten, bei allem
Gevatter- und Geschnatterwesen befleißigt man sich der größten Pünktlichkeit;
aber alle vier Jahre ein Mal sich pünktlich und vollzählig zu einer Wahlhandlung
einzufinden, welche die Grundlage unsers ganzen öffentlichen Wesens und
Regimentes ist, das soll langweilig, unausstehlich und lächerlich sein! das soll
in dem Belieben und in der Bequemlichkeit jedes Einzelnen stehen, der immer nach
seinem Rechte schreit, aber sobald dies Recht nur ein Bischen auch nach Pflicht
riecht, sein Recht darin sucht, keines zu üben! Wie, ihr wollt einen freien
Staat vorstellen und seid zu faul, alle vier Jahre einen halben Tag zu opfern,
einige Aufmerksamkeit zu bezeigen und eure Zufriedenheit oder Unzufriedenheit
mit dem Regiment, das ihr vertragsmäßig eingesetzt, zu offenbaren? Sagt nicht,
daß ihr immer da wäret, wenn es sein müßte! Wer nur da ist, wenn es ihn
belustigt und seine Leidenschaft kitzelt, der wird einmal ausbleiben und sich
eine Nase drehen lassen, grade wenn er am wenigsten daran denkt.
„Jeder Arbeiter ist seines Lohnes werth, und so auch der, welcher für das Wohl
des Landes arbeitet und dessen öffentliche Dinge besorgt, die in jedem Hause in
Einrichtungen und Gesetzen auf das Tiefste eingreifen. Schon die
alleräußerlichste Artigkeit und Höflichkeit gegen die betrauten Männer
erforderte es, wenigstens an diesem Tage sich vollzählig einzufinden, damit sie
sehen, daß sie nicht in der Lust stehen. Der Anstand vor den Nachbaren und das
Beispiel für die Kinder verlangen es ebenfalls, daß diese Handlung mit Kraft und
Würde begangen wird, und da finden es diese Helden unbequem und lächerlich, die
gleichen, welche täglich die größte Pünktlichkeit inne halten, um einer
Kegelpartie oder einer nichtssagenden aberwitzigen Geschichte beizuwohnen.
„Wie, wenn nun die sämmtlichen Behörden, über solche Unhöflichkeit erbittert,
euch den Sack vor die Thür würfen und auf einmal abtreten würden? Sag' nicht,
daß dies nie geschehen werde! Es wäre doch immer möglich, und alsdann würde eure
Selbstherrlichkeit dastehen, wie die Butter an der Sonne; denn nur durch gute
Gewöhnung, Ordnung und regelrechte Ablösung oder kräftige
Bestätigung ist in Friedenszeiten diese Selbstherrlichkeit zu brauchen und
bemerk- lich zu machen. Wenigstens ist es die allerver- kehrtefte Anwendung oder
Offenbarung derselben, sich gar nicht zu zeigen, warum? weil es ihr so beliebt!
»
„Nimm mir nicht übel, das sind Kindesgedanken und Weibernücken; wenn ihr glaubt,
daß solche Aufführung euch wohl anstehe, so seid ihr im Irrthum. Aber ihr
beneidet euch selbst um die Ruhe und um den Frieden, und damit die Dinge,
obgleich ihr nichts dagegen einzuwenden wißt, und nur auf alle Fälle hin, so
in's Blaue hinein schlecht begründet erscheinen, so wählt ihr nicht oder
überlaßt die Handlung den Nachtwächtern, damit, wie gesagt, vorkommenden Falls
von eurem Neste Seldwyl ausgeschrieen werden könne, die öffentliche Gewalt habe
keinen festen Fuß im Volke. Bübisch ist aber dieses und es ist gut, daß eure
Macht nicht weiter reicht, als eure lotterige Stadtmauer!»
„Ihr und immer Ihr! sagte Fritz ungehalten, was hab' ich denn mit diesen Leuten
zu schaffen? Wenn dieselben solche elende Launen und Beweggründe
haben, was geht das mich an?«
„Gut denn, rief Frau Regel, so benimm Dich auch anders als sie in dieser Sache
und geh' zu den Wahlen!«
„Damit, wandte ihr Sohn lächelnd ein, man außerhalb sage, der einzige Seldwyler,
welcher denselben beigewohnt, sei noch von den Weibern hingeschickt worden?«
Frau Amrain legte ihre Hand auf seine Schulter und sagte: „Wenn es heißt, daß
Deine Mutter Dich hingeschickt habe, so bringt Dir dies keine Schande und mir
bringt es Ehre, wenn ein solcher tüchtiger Gesell sich von seiner Mutter
schicken läßt! Ich würde wahrhaftig stolz darauf sein und Du kannst mir am Ende
den kleinen Gefallen zu meinem Vergnügen erweisen, nicht so?«
Fritz wußte hiergegen nichts mehr vorzubringen und zog den Rock an und setzte
den Bürgerhut auf. Als er mit der trefflichen Frau den Berg hinunterging, sagte
er: „Ich habe Dich in meinem Leben nie so viel politisiren
Keller, die Leute von Seldwyla.
13 hören, wie so eben, Mutter! Ich habe Dir so lange Reden gar
nicht zugetraut!«
Sie lachte, erwiederte dann aber ernsthaft: Was ich gesagt, ist eigentlich
weniger politisch gemeint, als gut hausmütterlich. Wenn Du nicht bereits Frau
und Kind hättest, so würde es mir vielleicht nicht eingefallen sein, Dich zu
überreden; so aber, da ich ein wohl erhaltenes Haus von meinem Geblüte in
Aussicht sehe, so halte ich es für ein gutes Erbthcil solchen Hauses, wenn darin
in allen Dingen das rechte Maß gehalten wird. Wenn die Söhne eines Hauses bei
Zeiten sehen und lernen, wie die öffentlichen Dinge auf rechte Weise zu ehren
sind, so bewahrt sie vielleicht grade dies vor unrechten und unbesonnenen
Dingen. Ferner, wenn sie das Eine ehren und zuverlässig thun, so werden sie es
auch mit dem Andern so halten, und so siehst Du, habe ich am Ende nur als
fürsichtige häusliche Großmutter gehandelt, während man sagen wird, ich sei die
ärgste alte Kannegießerin!«
In der Kirche fand Fritz statt einer Zahl von sechs oder sieben hundert Männern
kaum deren vier Dutzend, und diese waren beinahe ausschließlich
Landleute aus umliegenden Gehöften, welche mit den Seldwplern zu wählen hatten.
Diese Landleute hätten zwar auch eine sechs mal stärkere Zahl zu stellen gehabt;
aber da die Ausgebliebenen wirklich im Schweiße ihres Angesichts auf den Feldern
arbeiteten, so war ihr Wegbleiben mehr eine harmlose Gedankenlosigkeit und ein
bäuerlicher Geiz mit dem schönen Wetter, und da sie einen weiten Weg zu machen
hatten, erschien das Dasein der Anwesenden um so löblicher. Aus der Stadt selbst
war Niemand da als der Gemeindepräsident, die Wahlen zu leiten, der
Gemeindeschreiber, das Protokoll zu führen, dann der Nachtwächter und zwei oder
drei arme Teufel, welche kein Geld hatten, um mit den lachenden Seldwplern den
Frühschoppen, zu trinken. Der Herr Präsident aber war ein Gastwirth, welcher vor
Jahren schon fallirt hatte und seither die Wirthschaft, auf Rechnung seiner Frau
fortbetrieb. Hierin wurde er von seinen Mitbürgern reichlich unterstützt, da er
ganz ihr Mann war, das große Wort zu führen wußte und bei allen Händeln als ein
erfahrner Wirth auf dem Posten war
13 * Daß er aber in Amt und Würden stand und stier den Wahlen
präsidirte, gestörte zu jenen Sünden der Seldwyler, die sich zeitweise so lange
anhäuften, bis ihnen die Regierung mit einer Untersuchung auf den Leib rückte.
Die Landleute wußten theilwcise wohl, daß es nicht ganz richtig war mit diesem
Präsidenten, allein sie waren viel zu langsam und zu häcklich, als daß sie etwas
gegen ihn unternommen hätten, und so hatte er sich bereits in einem Handumdrehen
mit seinen drei oder vier Mitbürgern das Geschäft des Tages zugeeignet, als
Fritz ankam. Dieser, als er das Häuflein rechtlicher Landlcute sah, freute sich,
wenigstens nicht ganz allein da zu sein, und es fuhr plötzlich ein
unternehmender Geist in ihn, daß er unversehens das Wort verlangte und gegen den
Präsidenten protestirte, da derselbe fallirt und bürgerlich todt sei.
Dies war ein Donnerschlag aus heiterm Himmel. Der ansehnliche Gastwirth machte
ein Gesicht, wie Einer der tausend Jahre begraben lag und wieder auferstanden
ist; jedermann sah sich nach dem kühnen Redner um; aber die Sache
war so kindlich einfach, daß auch nicht ein Laut dagegen ertönen konnte, in
keiner Weise; nicht die leiseste Diskussion ließ sich eröffnen. Je unerhörter
und unverhoffter das Ereigniß war, um so begreiflicher und natürlicher erschien
es setzt, und je begreiflicher es erschien, um so zorniger und empörter waren
die paar Seldwyler grade über diese Begrciflichkeit, über sich selbst, über den
jungen Amrain, über die heimtückische Trivialität der Welt, welche das
unscheinbarste und naheliegendste ergreift, um Große zu stürzen und die
Verhältnisse umzukehren. Der Herr Präsident Usurpator sagte nach einer
minutenlangen Verblüffung, nach welcher er wieder so klug wie zu Anfang war, gar
nichts, als: Wenn — wenn man gegen meine Person Einwendungen — allerdings, ich
werde mich nicht aufdringen, so ersuche ich die geehrte Versammlung, zu einer
neuen Wahl des Präsidenten zu schreiten und die Stimmenzähler, die betreffenden
Stimmzettel auszutheilen. —
»Ihr habt überhaupt weder etwas vorzuschlagen hier, noch den Stimmenzähler»
etwas aufzutragen!« rief Fritz Amrain, und dem großen Magnaten und
Gastwirth blieb nichts anders übrig, als das Unerhörte abermals so begreiflich
zu finden, daß es an's Triviale gränzte, und ohne ein Wort weiter zu sagen
verließ er die Kirche, gefolgt von dem bestürzten Nachtwächter und den andern
Lumpen. Nur der Schreiber blieb, um das Protokoll weiter zu führen und Fritz Am-
rain begab sich in dessen Nähe und sah ihm auf die Finger. Die Bauern aber
erholten sich endlich aus ihrer Verwunderung und benutzten die Gelegenheit, das
Wahlgeschäft rasch zu beenden und statt der bisherigen zwei Mitglieder zwei
tüchtige Männer aus ihrer Gegend zu wählen, die sie schon lange gerne im Rathe
gesehen, wenn die Seldwyler ihnen irgend Raum gegönnt hätten. Dies lag nun am
wenigsten im Plane der nichterschicnenen Seldwyler, denn sie hatten sich doch
gedacht, daß ihr Präsident und der Nachtwächter unfehlbar die alten zwei Popanze
wählen würden, wie es auch ausgemacht war in einer flüchtigen Viertelstunde in
irgend einem Hinherstübchen. Wie erstaunten sie daher, als sie nun, durch den
heimgeschickten falschen Präsidenten aufgeschreckt, in hellen Haufen daher
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geraum kamen und das Protokoll rechtskräftig geschlossen fanden sammt dessen
Resultat. Ruhig lächelnd gingen die Landleutc auseinander; Fritz Amrain aber,
welcher nach seiner Behausung schritt, wurde von den Bürgern ausgebracht,
verlegen und wild höhnisch betrachtet, mit halbem Blicke oder mit weit
aufgesperrten Augen. Der Eine rief ein abgebrochenes Ha! der Andere ein Ho!
Fritz fühlte, daß er setzt zum ersten Male wirkliche Feinde habe, und zwar
gefährlicher als jene, gegen welche er einst mit Blei und Pulver ausgezogen.
Auch wußte er, da er so unerbittlich über einen Mann gerichtet, der zwanzig
Jahre älter war als er, daß er sich nun doppelt wehren müsse, selber nicht in
die Grube zu fallen und so hatte das Leben nun wieder ein ganz anderes Gesicht
für ihn, als es noch vor zwei Stunden gehabt. Mit ernsten Gedanken trat er in
sein Haus und gedachte, um sich aufzuheitern, seine Mutter zu prüfen, ob ihr
diese Wendung der Dinge auch genehm sei, da sie ihn allein veranlaßt hatte, sich
in die Gefahr zu begeben.
Allein da er den Hausflur betrat, kam ihm seine Mutter entgegen,
fiel ihm weinend um den Hals und sagte nichts, als: Dein Vater ist
wiedergekommen! Da sie aber sah, daß ihn dieser Bericht noch verlegener und
ungewisser machte, als sie selbst war, faßte sie sich, nachdem sie den Sohn an
sich gedrückt, und sagte: Nun, er soll uns'nichts anhaben! Sei nur freundlich
gegen ihn, wie es einem Kinde zukommt! So hatten sich in der That die Dinge
abermals verändert; noch vor wenig Augenblicken, da er auf der Straße ging,
schien es ihm höchst bedenklich, sich eine ganze Stadt verfeindet zu wissen, und
fetzt, was war dies Bedenken gegen die Lage, urplötzlich sich einem Vater
gegenüber zu sehen, den er nie gekannt, von dem er nur wußte, daß er ein eitler,
wilder und leichtsinniger Mann war, der zudem die ganze Welt durchzogen während
zwanzig Jahren und nun weiß der Himmel welch' ein fremdartiger und
erschrecklicher Cumpan sein mochte. „Wo kommt er denn her? was will er, wie
sieht er denn aus, was will er denn? sagte Fritz, und die Mutter erwiederte: „Er
scheint irgend ein Glück gemacht und was erschnappt zu haben und nun kommt er
mit Geberdcn dahergefahren, als ob er uns in Gnaden auffressen
wollte! Fremd und wild sieht er aus, aber er ist der Alte, das hab' ich gleich
gesehen.« Fritz war aber fetzt doch neugierig und ging festen Schrittes die
Treppe hinauf und aus die Wohnstube zu, während die Mutter in die Küche huschte
und auf einem andern Wege fast gleichzeitig in die Stube trat; denn das dünkte
sie nun der beste Lohn und Triumph für alle Mühsal, zu sehen, wie ihrem Manne
der eigne Sohn, den sie erzogen, entgegentrat. Als Fritz die Thür öffnete und
eintrat, sah er einen großen schweren Mann am Tische sitzen, der ihm wohl er
selbst zu sein schien, wenn er zwanzig Jahre älter wäre. Der Fremde war fein
aber unordentlich gekleidet, hatte etwas Ruhigtrotziges in seinem Wesen und doch
etwas Unstätes in seinem Blicke, als er fetzt aufstand und ganz erschrocken sein
funges Ebenbild eintreten sah, hoch aufgerichtet und nicht um eine Linie kürzer,
als er selbst. Aber um das Haupt des Jungen wehten starke goldne Locken, und
während sein Angesicht eben so ruhig trotzig drein sah, wie das des Alten,
erröthete er bei aller Kraft doch in Unschuld und Bescheidenheit.
Als der Alte ihn mit der verlegenen Unverschämtheit der Zerfahrenen ansah und
sagte: So wirst Du also mein Sohn sein? schlug der Junge die Augen nieder und
sagte: Ja, und Ihr seid also mein Vater? Es freut mich, Euch endlich zu sehen!
Dann schaute er neugierig empor und betrachtete gutmüthig den Alten; als dieser
aber ihm nun die Hand gab und die seinige mit einem prahlerischen Druck
schüttelte, um ihm seine große Kraft und Gewalt anzukünden, erwiederte der Sohn
unverweilt diesen Druck, so daß die Gewalt wie ein Blitz in den Arm des Alten
zurückströmte und den ganzen Mann gelinde erschütterte. . Als aber vollends der
Junge nun mit ruhigem Anstand den Alten zu seinem Stuhle zurückführte und ihn
mit freundlicher Bestimmtheit zu sitzen nöthigte, da ward es dem Zurückgekehrten
ganz wunderlich zu Muth, ein solch wohlgerathenes Ebenbild vor sich zu sehen,
das er selbst und doch wieder ganz ein anderer war. Frau Regula sprach beinahe
kein Wort und ergriff den klugen Ausweg, den Mann auf seine Weise zu ehren,
indem sie ihn reichlich bewirthete
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und sich mit dem Vorweisen und Einschenken ihres besten Weines zu schaffen
machte. Dadurch wurde seine Verlegenheit, als er so zwischen seiner Frau und
seinem Sohne saß, etwas gemildert, und das Loben des guten Weines gab ihm
Veranlassung, die Vermuthung auszusprechen, daß es also mit ihnen gut stehen
müsse, wie er zu seiner Befriedigung ersehe, was denn den besten Übergang gab zu
der Auseinandersetzung ihrer Verhältnisse, Frau und Sohn suchten nun nicht
ängstlich zurückzuhalten und heimlich zu thun, sondern sie legten ihm offen den
Stand ihres Hauses und ihres Vermögens dar; Fritz holte die Bücher und Papiere
herbei und wies ihm die Dinge mit solchem Verstand und Klarheit nach, daß er
erstaunt die Augen aufsperrte über die gute Geschäftsführung und über die
Wohlhabenheit seiner Familie. Indessen reckte er sich empor und sprach: Da steht
Ihr ja herrlich im Zeuge und habt Euch gut gehalten, was mir lieb ist. Ich komme
aber auch nicht mit leeren Händen und habe mir einen Pfennig erworben, durch
Fleiß und Rührigkeit! Und er zog einige Wechselbriefe hervor, so wie einen mit
Gold angefüllten Gurt, was er alles auf den Tisch warf, und es
waren allerdings einige tausend Gulden oder Thaler. Allein er hatte sie nicht
nach und nach erworben und verschwieg weislich, daß er diese Habe auf einmal
durch irgend einen Glücksfall erwischt, nachdem er sich lange genug ärmlich
herumgetrieben in allen nordamerikanischen Staaten. »Dies wollen wir, sagte er,
nun sogleich in das Geschäft stecken und mit vereinten Kräften weiter schaffen;
denn ich habe eine ordentliche Lust, hier, da es nun geht, wieder an's Zeug zu
gehen und den Hunden etwas vorzuspielen, die mich damals fortgetrieben, a Sein
Sohn schenkte ihm aber ruhig ein anderes Glas Wein ein und sagte: Vater, ich
wollte Euch rathen, daß Ihr vor der Hand Euch ausruhet und es Euch wohl sein
lasset. Eure Schulden sind längst bezahlt und so könnet Ihr Euer Geldchen
gebrauchen wie es Euch gut dünkt und ohne dies soll es Euch an nichts bei uns
fehlen! Was aber das Geschäft betrifft, so habe ich selbiges von Jugend auf
gelernt und weiß nun, woran es lag, daß es Euch damals mißlang. Ich muß aber
freie Hand darin ha- ben, wenn es nicht abermals rückwärts gehen
soll. Wenn es Euch Lust macht hie und da ein wenig mitzuhelfen und Euch die
Sache anzusehen, so ist es zu Eurem Zeitvertreib hinreichend, daß Ihr es thut.
Wenn Ihr aber nicht nur mein Vater, sondern sogar ein Engel vom Himmel wäret, so
würde ich Euch nicht zum förmlichen Antheilhaber annehmen, weil Ihr das Werk
nicht gelernt habt und, verzeiht mir meine Un- höflichkeit, nicht verstehtDer
Alte wurde durch diese Rede höchst verstimmt und verlegen, wußte aber nichts
darauf zu erwiedern, da sie mit großer Bestimmtheit gesprochen war, und er sah,
daß sein Sohn wußte was er wollte. Er packte seine Reichthümer zusammen und ging
aus, sich in der Stadt umzusehen. Er ging in verschiedene Wirthshäuser, allein
er fand da ein neues Geschlecht an der Tagesordnung und seine alten Genossen
waren alle längst in die Dunkelheit zurückgetreten. Zudem hatte er in Amerika
doch etwas andere Manieren bekommen. Er hatte sich gewöhnen müssen, sein
Gläschen stehend zu trinken, um unverweilt dem Dränge und der
einsilbigen Jagd des Lebens wieder nachzugehen; er hatte ein tüchtiges rastloses
Arbeiten wenigstens mit angesehen und sich unter den Amerikanern ein wenig
abgerieben, so daß ihm diese ewige Sitzerei und Schwatzerei nun selbst nicht
mehr zusagte. Er fühlte, daß er in seinem wohlbestellten Hause doch besser
aufgehoben wäre, als in diesen Wirthshäusern und kehrte unwillkürlich dahin
zurück, ohne zu wissen, ob er dort bleiben oder wieder fortgehen solle? So ging
er in die Stube die man ihm eingeräumt ; dort warf der alternde Mann seine
Baarschaft unmuthig in einen Winkel, setzte sich rittlings auf einen Stuhl,
senkte den großen betrübten Kopf auf die Lehne und fing ganz bitterlich an zu
weinen. Da trat seine Frau herein, sah, daß er sich elend fühlte und mußte sein
Elend achten. So wie sie aber wieder etwas an ihm achten konnte, kehrte ihre
Liebe augenblicklich zurück. Sie sprach nicht mit ihm, blieb aber den übrigen
Theil des Tages in der Kammer, ordnete erst dies und jenes zu seiner
Bequemlichkeit und setzte sich endlich mit ihrem Strickzeug
schweigend an's Fenster, indem sich erst nach und nach ein Gespräch zwischen den
lange getrennten Eheleuten entwickelte. Was sie gesprochen, wäre schwer zu
schildern, aber es ward Beiden wohler zu Muth und der alte Herr ließ sich von da
an von seinem wohlerzogenen Sohne nachträglich noch ein Bischen erziehen und
leiten ohne Widerrede und ohne daß der Sohn sich eine Unkindlichkeit zu Schulden
kommen ließ. Aber der seltsame Kursus dauerte nicht einmal sehr lange, und der
Alte ward doch noch ein gelassener und zuverlässiger Theilnehmer an der Arbeit,
mit manchen Ruhepunkten und kleinen Abschweifungen, aber ohne dem blühenden
Hausstande' Nachtheile oder Unehre zu bringen. Sie lebten alle zufrieden und
wohlbegütert und daö Geblüt der Frau Regula Amrain wucherte so kräftig in diesem
Hause, daß auch die zahlreichen Kinder des Fritz vor dem Untergang gesichert
blieben. Sie selbst streckte sich, als sie starb, im Tode noch stolz aus, und
noch nie ward ein so langer Frauensarg in die Kirche getragen und der eine so
edle Leiche barg zu Seldwyla. Das Beste an ihrem Charakter, von
ihren Meinungen und Reden aber ist, daß dieselben durchaus nicht etwa erfunden,
sondern in einer wirklich lebendigen Frau begründet gewesen sind.
Romeo und Julia auf dem Dorfe.
Äuch diese Geschichte zu erzählen, würde eine muffige Erfindung sein, wenn sie
nicht auf einem wahren Vorfall beruhte, zum Beweise, wie tief im Menschenleben
jede der schönen Fabeln wurzelt, auf welche ein großes Dichterwerk gegründet
ist. Die Zahl solcher Fabeln ist mäßig, gleich der Zahl der Metalle, aber sie
ereignen sich immer wieder aufs Neue mit veränderten Umständen und in der
wunderlichsten Verkleidung.
An dem schönen Flusse, der eine halbe Stunde entfernt an Seldwyl vorüberzieht,
erhebt sich eine weitgedehnte Erdwelle und verliert sich, selber wohlbebaut, in
der fruchtbaren Ebene. Fern an ihrem Fuße liegt ein Dorf, welches manche große
Bauernhöfe enthält und über die sanfte Anhöhe lagen vor Jahren drei prächtige
Keller, die Leute von Ssldwyla. 14 lange Acker weithingestreckt,
gleich drei riesigen Bändern nebeneinander. An einem sonnigen Sep- tembermorgcn
pflügten zwei Bauern auf zweien dieser Acker, und zwar auf jedem der beiden
äußersten; der mittlere schien seit langen Jahren brach und wüst zu liegen, denn
er war mit Steinen und hohem Unkraut bedeckt und eine Welt von geflügelten
Thierchen summte ungestört über ihm. Die Bauern aber, welche zu beiden Seiten
hinter ihrem Pfluge gingen, waren lange knochige Männer von ungefähr vierzig
Jahren und verkündeten auf den ersten Blick den sichern gutbesorgten Bauersmann.
Sie trugen kurze Kniehosen von starkem Zwillich, an dem jede Falte ihre
unveränderliche Lage hatte und wie in Stein gemeißelt aussah. Wenn sie, auf ein
Hinderniß stoßend, den Pflug fester faßten, so zitterten die groben Hemdärmel
von der leichten Erschütterung, indessen die wohlrasirten Gesichter ruhig und
aufmerksam, aber ein wenig blinzelnd in den Sonnenschein vor sich hinschauten,
die Furche bemaßen oder auch wohl zuweilen sich umsahen, wenn ein fernes
Geräusch die Stille des Landes unterbrach. Langsam und mit einer
gewissen natürlichen Zierlichkeit setzten sie einen Fuß um den andern vorwärts
und keiner sprach ein Wort, außer wenn er etwa dem Knechte, der die vier
stattlichen Pferde antrieb, eine Anweisung gab. So glichen sie einander
vollkommen in einiger Entfernung, denn sie stellten die ursprüngliche Art dieser
Gegend dar, und man hätte sie auf den ersten Blick nur daran unterscheiden
können, daß der Eine den Zipfel seiner weißen Kappe nach vorn trug, der Andere
aber hinten im Nacken hängen hatte. Aber das wechselte zwischen ihnen ab, indem
sie in der entgegengesetzten Richtung pflügten; denn wenn sie oben auf der Höhe
zusammentrafen und an einander vorüberkamen, so schlug dem, welcher gegen den
frischen Ostwind ging, die Zipfelkappe nach hinten über, während sie bei dem
Andern, der den Wind im Rücken hatte, sich nach vorne sträubte. Es gab auch
jedesmal einen mittleren Augenblick, wo die schimmernden Mützen aufrecht in der
Lust schwankten und wie zwei weiße Flammen gen Himmel züngelten. So pflügten
Beide ruhevoll und es war schön anzusehen in der stillen goldenen
Septembergegend, wenn sie so auf der Höhe an einander vorbeizogen,
still und langsam und sich mälig von einander entfernten, immer weiter
auseinander, bis Beide wie zwei untergehende Gestirne hinter die Wölbung des
Hügels hinabgingen und verschwanden, um eine gute Weile darauf wieder zu
erscheinen. Wenn sie einen Stein in ihren Furchen fanden, so warfen sie
denselben auf den wüsten Acker in der Mitte mit lässig kräftigem Schwünge, was
aber nur selten geschah, da derselbe schon fast mit allen Steinen belastet war,
welche überhaupt auf den Nachbaräckern zu finden gewesen. So war der lange
Morgen zum Theil vergangen, als von dem Dorfe her ein kleines artiges
Führwerklein sich näherte, welches kaum zu sehen war, als es begann, die gelinde
Höhe heran zu kommen. Das war ein grün bemaltes Kinderwägclchen, in welchem die
Kinder der beiden Pstügcr, ein Knabe und ein kleines Ding von Mädchen,
gemeinschaftlich den Vormittagsimbiß heranführen. Für jeden Theil lag ein
schönes Brod, in eine Serviette gewickelt, eine Kanne Wein mit Gläsern und noch
irgend ein Zuthätchen in dem Wagen, welches die zärt- liche
Bäuerin für den fleißigen Meister mitge- sandt, und außerdem waren da noch
verpackt allerlei seltsam gestaltete angebissene Apfel und Birnen, welche die
Kinder am Wege aufgelesen, und eine völlig nackte Puppe mit nur einem Bein und
einem verschmierten Gesicht, welche wie ein Fräulein zwischen den Broden saß und
sich behaglich fahren ließ. Dies Fuhrwerk hielt nach manchem Anstoß und
Aufenthalt endlich auf der Höhe im Schatten eines jungen Lindenge- büsches,
welches da am Rande des Feldes stand, und nun konnte man die beiden Fuhrleute
näher betrachten. Es war ein Junge von sieben Jahren und ein Dirnchen von
sünfen, beide gesund und munter und weiter war nichts Auffälliges an ihnen, als
daß beide sehr hübsche Augen hatten und das Mädchen dazu noch eine bräunliche
Gesichtsfarbe und ganz krause dunkle Haare, welche ihm ein feuriges und
treuherziges Ansehen gaben. Die Pflüger waren jetzt auch wieder oben angekommen,
steckten den Pferden etwas Klee vor und ließen die Pflüge in der halb
vollendeten Furche stehen, während sie als gute Nachbaren sich zu dem
gemeinschaftlichen Imbiß begaben und sich da zuerst begrüßten;
denn bislang hatten sie sich noch nicht gesprochen an diesem Tage.
Wie nun die Männer mit Behagen ihr Frühstück einnahmen und mit zufriedenem
Wohlwollen den Kindern mittheilten, die nicht von der Stelle wichen, so lange
gegessen und getrunken wurde, ließen sie ihre Blicke in der Nähe und Ferne
Herumschweifen und sahen das Städtchen räucherig glänzend in seinen Bergen
liegen; denn das reichliche Mittagsmahl, welches die Seldwyler alle Tage
bereiteten, pflegte ein weithin scheinendes Silbergewölk über ihre Dächer
emporzutragen, welches lachend an ihren Bergen hinschwebte.
„Die Lumpenhunde zu Seldwyl kochen wieder gut!« sagte Manz, der eine der Bauern,
und Marti, der andere erwiederte: „Gestern war Einer bei mir wegen des Ackers
hier.a „Aus dem Bezirksrath? bei mir ist er auch gewesen !a sagte Manz. „So? und
meinte wahrscheinlich auch, du solltest das Land benutzen und den Herren die
Pacht zahlen?^ „Ja, bis es sich entschieden habe, wem der Acker gehöre und was mit ihm anzufangen sei. Ich habe mich aber bedankt, das
verwilderte Wesen für einen Andern herzustellen und sagte, sie sollten den Acker
nur verkaufen und den Ertrag aufheben, bis sich ein Eigenthümer herausgestellt,
was wohl nie geschehen wird, denn was einmal auf der Kanzlei zu Seldwyl liegt,
hat da gute Weile und überdem ist die Sache schwer zu entscheiden. Die Lumpen
möchten indessen gar zu gern etwas zu naschen bekommen durch den Pachtzins, was
sie freilich mit der Verkaufssumme auch thun konnten; allein wir würden uns
hüten, dasselbe zu hoch hinauf zu treiben und wir wüßten dann doch was wir
hätten und wem das Land gehört
„Ganz so meine ich auch und habe dem Steckleinspringer eine ähnliche Antwort
gegeben!».
Sie schwiegen eine Weile, dann fing Manz wiederum an: „Schad' ist es aber doch,
daß der gute Boden so daliegen muß, es ist nicht zum Ansehen, das geht nun schon
in die zwanzig Jahre so und keine Seele fragt darnach; denn hier im Dorf ist
Niemand, der irgend einen Anspruch auf den Acker hat, und Niemand
weiß auch, wo die Kinder des verdorbenen Trompeters hingekommen sind.«
"Hm! sagte Marti, das wäre so eine Sache! Wenn ich den schwarzen Geiger ansehe,
der sich bald bei den Heimatlosen aufhält, bald in den Dörfern zum Tanz
aufspielt, so möchte ich darauf schwören, daß er ein Enkel des Trompeters ist,
der freilich nicht weiß, daß er noch einen Acker hat. Was thäte er aber damit?
Einen Monat lang sich besaufen und dann nach wie vor! Zudem, wer dürfte da einen
Wink geben, da man es doch nicht sicher wissen kann!«
„Da könnte man eine schöne Geschichte anrichten! antwortete Manz, wir haben so
genug zu thun, diesem Geiger das Heimatsrecht in unserer Gemeinde abzustreiten,
da man uns den Fetzel fortwährend aufhalsen will. Haben sich seine Ältern einmal
unter die Heimatlosen begeben, so mag er auch dableiben und dem Kesselvolk das
Geigelein streichen. Wie in aller Welt können wir wissen, daß er des Trompeters
Sohnessohn ist? Was mich betrifft, wenn ich den Alten auch in dem dunklen
Gesicht vollkommen zu erkennen glaube, so sage ich: irren ist mensch- lich, und das geringste Fetzchen Papier, ein Stücklein von einem
Taufschein würde meinem Gewissen besser thun, als zehn sündhafte
Menschengesichter!«
"Eia, sicherlich! sagte Marti, er sagt zwar, er sei nicht Schuld, daß man ihn
nicht getauft habe! Aber sollen wir unsern Taufstein tragbar machen und in den
Wäldern herumtragen? Nein, er steht fest in der Kirche und dafür ist die
Todtenbahre tragbar, die draußen an der Mauer hängt. Wir sind schon übervölkert
im Dorf und brauchen bald zwei Schulmeister!«
Hiemit war die Mahlzeit und das Zwiegespräch der Bauern geendet und sie erhoben
sich, den Rest ihrer heutigen Vormittagsarbeit zu vollbringen. Die beiden Kinder
hingegen, welche schon den Plan entworfen hatten, mit den Vä- tern nach Hause zu
ziehen, zogen ihr Fuhrwerk unter den Schutz der jungen Linden und begaben sich
dann auf einen Streikzug in dem wilden Acker, da derselbe mit seinen Unkräutern,
Stauden und Steinhaufen eine ungewohnte und merkwürdige Wildniß darstellte.
Nachdem sie in der Mitte dieser grünen Wildniß einige Zeit hinge-
14 * wandert, Hand in Hand, und sich daran belustigt, die
verschlungenen Hände über die hohen Distelstauden zu schwingen, ließen sie sich
endlich im Schatten einer solchen nieder und das Mädchen begann, seine Puppe mit
den langen Blättern des Wegekrauteö zu bekleiden, so daß sie einen schönen
grünen und ausgezackten Rock bekam; eine einsame rothe Mohnblume, die da noch
blühte, wurde ihr als Haube über den Kopf gezogen und mit einem Grase
festgebunden, und nun sah die kleine Person aus wie eine Zauberfrau, besonders
nachdem sie noch ein Halsband und einen Gürtel von kleinen rothen Beerchen
erhalten. Dann wurde sie hoch in die Stengel der Distel gesetzt und eine Weile
mit vereinten Blicken angeschaut, bis der Knabe sie genugsam besehen und mit
einem Steine Herunterwarf. Dadurch gerieth aber ihr Putz in Unordnung und das
Mädchen entkleidete sie schleunigst, um sie aufs Neue zu schmücken; doch als.
die Puppe eben wieder nackt und blos war und nur noch der rothen Haube sich
erfreuete, entriß der wilde Junge seiner Gefährtin das Spielzeug und warf es
hoch in die Luft. Das Mädchen sprang klagend darnach, allein der
Knabe fing die Puppe zuerst wieder auf, warf sie aufs Neue empor und indem das
Mädchen sie vergeblich zu haschen bemühte, neckte er es auf diese Weise eine
gute Zeit. Unter seinen Händen aber nahm die fliegende Puppe Schaden und zwar am
Knie ihres einzigen Beines, allwo ein kleines Loch einige Kleikörner
durchsickern ließ. Kaum bemerkte der Peiniger dies Loch, so verhielt er sich
mäuschenstill und war mit offenem Munde eifrig beflissen, das Loch mit seinen
Nä- geln zu vergrößern und dem Ursprung der Kleie nachzuspüren. Seine Stille
erschien dem armen Mädchen höchst verdächtig und es drängte sich herzu und mußte
mit Schrecken sein böses Beginnen gewahren. »Sieh mal!« rief er und schlenkerte
ihr das Bein vor der Nase herum, daß ihr die Kleie in's Gesicht flog, und wie
sie danach langen wollte und schrie und flehte, sprang er wieder fort und ruhte
nicht eher, bis das ganze Bein dürr und leer herabhing als eine traurige Hülse.
Dann warf er das mißhandelte Spielzeug hin und stellte sich höchst frech und
gleichgültig, als die Kleine sich weinend auf die Puppe warf und
dieselbe in ihre Schürze hüllte. Sie nahm sie aber wieder hervor und betrachtete
wehselig die Ärmste und als sie das Bein sah, fing sie abermals an laut zu
weinen, denn dasselbe hing an dem Rumpfe nicht anders, denn das Schwänzchen an
einem Molche. Als sie gar so unbändig weinte, ward es dem Übelthäter endlich
etwas übel zu Muth und er stand in Angst und Reue vor der Klagenden, und als sie
dies merkte, hörte sie Plötzlich auf und schlug ihn einigemal mit der Puppe und
er that als ob es ihm weh thäte und schrie au! so natürlich, daß sie zufrieden
war und nun mit ihm gemeinschaftlich die Zerstörung und Zerlegung fortsetzte.
Sie bohrten Loch auf Loch in den Marterleib und ließen aller Enden die Kleie
entströmen, welche sie sorgfältig auf einem flachen Steine zu einem Häufchen
sammelten, umrührten und aufmerksam betrachteten. Das einzige Feste, was noch an
der Puppe bestand, war der Kopf und mußte setzt vorzüglich die Aufmerksamkeit
der Kinder erregen; sie trennten ihn sorgfältig los von dem ausgequetschten
Leichnam und guckten erstaunt in sein hohles Innere. Als sie die
bedenkliche Höhlung sahen und auch die Kleie sahen, war es der nächste und
natürlichste Gedankensprung, den Kopf mit der Kleie auszufüllen, und so waren
die Fingerchen der Kinder nun beschäftigt, um die Wette Kleie in den Kopf zu
thun, so daß zum ersten Mal in seinem Leben etwas in ihm steckte. Der Knabe
mochte es aber immer noch für ein todtes Wissen halten, weil er Plötzlich eine
große blaue Fliege fing und, die summende zwischen beiden hohlen Händen haltend,
dem Mädchen gebot, den Kopf von der Kleie zu entleeren. Hierauf wurde die Fliege
hineingesperrt und das Loch mit Gras verstopft. Die Kinder hielten den Kopf an
die Ohren und setzten ihn dann feierlich auf einen Stein; da er noch mit der
rothen Mohnblume bedeckt war, so glich der Tönende setzt einem weißsagenden
Haupte und die Kinder lauschten in tiefer Stille seinen Kunden und Mährchen,
indessen sie sich umschlungen hielten. Aber jeder Prophet erweckt Grauen und
Undank, das wenige Leben in dem dürftig geformten Bilde erweckte die menschliche
Grausamkeit in den Kindern und es wurde beschlossen, das Haupt zu
begraben. So machten sie ein Grab und legten den Kopf, ohne die gefangene Fliege
um ihre Meinung zu befragen, hinein, und errichteten über dem Grabe ein
ansehnliches Denkmal von Feldsteinen. Dann empfanden sie einiges Grauen, da sie
etwas Geformtes und Belebtes begraben hatten, und entfernten sich ein gutes
Stück von der unheimlichen Stätte. Auf einem ganz mit grünen Kräutern bedeckten
Plätzchen legte sich das Dirnchen auf den Rücken, da es müde war, und begann in
eintöniger Weise einige Worte zu singen, immer die nämlichen, und der Junge
kauerte daneben und half, indem er nicht wußte, ob er auch vollends umfallen
solle, so lässig und müssig war er. Die Sonne schien dem singenden Mädchen in
den geöffneten Mund, beleuchtete dessen blendendweiße Zähnchen und
durchschimmerte die runden Purpurlippen. Der Knabe sah die Zähne und dein
Mädchen den Kopf haltend und dessen Zähnchen neugierig untersuchend, rief er:
Rathe, wie viele Zähne hat man? das Mädchen besann sich einen Augenblick, als ob
es reiflich nachzählte, und sagte dann auf Gerathe- wohl: Hundert! „Nein, zwei
und dreißig Je rief er, „wart, ich will einmal zählen!« da zählte
er die Zähne des Kindes und weil er nicht zwei und dreißig herausbrachte, so
fing er immer wieder von Neuem an. Das Mädchen hielt lange still, als aber der
eifrige Zähler nicht zu Ende kam, raffte es sich auf und rief: „nun will ich
Deine zählen!« Nun legte sich der Bursche hin in's Kraut, das Mädchen über ihn,
umschlang seinen Kopf, er sperrte das Maul auf, und es zählte: Eins, zwei,
sieben, fünf, zwei, eins; denn die kleine Schöne konnte noch nicht zählen. Der
Junge verbesserte sie und gab ihr Anweisung, wie sie zählen solle, und so fing
auch sie unzählige Mal von Neuem an und das Spiel schien ihnen am besten zu
gefallen von allem, was sie heut unternommen. Endlich aber sank das Mädchen ganz
auf den kleinen Rechenmeister nieder und die Kinder schliefen ein in der hellen
Mittagssonne.
Inzwischen hatten die Väter ihre Äcker fertig gepflügt und in frischduftende
braune Fläche umgewandelt. Als nun, mit der letzten Furche zu Ende gekommen, der
Knecht des Einen halten wollte, rief sein Meister: Was hältst Du? Kehr' noch einmal um! „Wir sind ja fertig!« sagte der Knecht. »Halt's
Maul und thu' wie ich dir sage!« der Meister. Und sie kehrten um und rissen eine
tüchtige Furche in den mittleren herrenlosen Acker hinein, daß Kraut und Steine
flogen. Der Bauer hielt sich aber nicht mit der Beseitigung derselben auf, er
mochte denken, hiezu sei noch Zeit genug vorhanden, und er begnügte sich, für
heute die Sache nur aus dem Gröbsten zu thun. So ging es rasch die Höhe empor in
sanftem Bogen, und als man oben angelangt und das liebliche Windeswehen eben
wieder den Kappenzipfel des Mannes zurückwarf, pflügte auf der anderen Seite der
Nachbar vorüber mit dem Zipfel nach vorn und schnitt ebenfalls eine ansehnliche
Furche vom mittleren Acker, daß die Schollen nur so zur Seite flogen. Jeder sah
wohl, was der andere that, aber keiner schien es zu sehen und sie entschwanden
sich wieder, indem jedes Sternbild still am andern vorüberging und hinter diese
runde Welt hinabtauchte. So gehen die Weberschiffchen des Geschickes an einander
vorbei und »was er webt, das weiß kein Weber!« Es kam eine Ernte
um die andere und jede sah die Kinder größer und schöner und den herrenlosen
Acker schmäler zwischen seinen breitgewordenen Nachbaren. Mit jedem Pflügen
wurde ihm hüben und drüben eine Furche abgerissen, ohne daß ein Wort darüber
gesprochen wurde und ohne daß ein Menschenauge den Frevel zu sehen schien. Die
Steine wurden immer mehr zusammengedrängt und bildeten schon einen ordentlichen
Grat der ganzen Länge des Ackers nach, und das wilde Gewächs darauf war schon so
hoch, daß die Kinder, obgleich sie gewachsen waren, sich nicht mehr sehen
konnten, wenn eines dies- und das andere jenseits ging. Denn sie gingen nun
nicht mehr gemeinschaftlich auf das Feld, da der zehnjährige Salomon oder Sali,
wie er genannt wurde, sich schon wacker auf Seite der größeren Burschen und der
Männer hielt, und das braune Vrenchen, obgleich es ein feuriges Dirnchen war,
mußte bereits unter der Obhut seines Geschlechts gehen, sonst wäre es von den
andern als ein Bubenmädchen ausgelacht worden. Dennoch nahmen sie während jeder
Ernte, wenn alles auf den Ackern war, ein-
Keller, die Leute von Seldwyla. 15 mal Gelegenheit, den wilden
Steinkamm, der sie trennte, zu besteigen und sich gegenseitig von demselben
herunterzustoßen. Wenn sie auch sonst keinen Verkehr mehr mit einander hatten,
so schien diese jährliche Ceremonie um so sorglicher gewahrt zu werden, als
sonst nirgends die Felder ihrer Väter zusammenstießen.
Indessen sollte der Acker doch endlich verkauft und der Erlös einstweilen
gerichtlich aufgehoben werden. Die Versteigerung fand an Ort und Stelle statt,
wo sich aber nur einige Gaffer einfanden außer den Bauern Manz und Marti, da
Niemand Lust hatte, das seltsame Stückchen zu erstehen und zwischen den zwei
Nachbaren zu bebauen. Denn obgleich diese zu den besten Bauern des Dorfes
gehörten und nichts weiter gethan hatten, als was zwei Drittel der Übrigen unter
diesen Umständen auch gethan haben würden, so sah man sie doch jetzt
stillschweigend darum an und Niemand wollte zwischen ihnen eingeklemmt sein mit
dem geschmälerten Waisenfelde. Die meisten Menschen sind fähig oder bereit, ein
in den Lüften umgehendes Unrecht zu verüben, wenn sie mit der Nase dar- auf stoßen; so wie es aber von Einem begangen ist, sind die
Übrigen froh, daß sie es doch nicht gewesen sind, daß die Versuchung nicht sie
betroffen bat, und sie machen nun den Auserwählten zu dem Schlechtigkeitsmesser
ihrer Eigenschaften und behandeln ihn mit zarter Scheu als einen Ableiter des
Übels, der von den Göttern gezeichnet ist, während ihnen zugleich noch der Mund
wässert nach den Vortheilen, die er dabei genossen. Manz und Marti waren also
die einzigen, welche ernstlich auf den Acker boten, und nach einem ziemlich
hartnäckigen Überbieten erstand ihn Manz und er wurde ihm zugeschlagen. Die
Beamten und die Gaffer verloren sich vom Felde, die beiden Bauern, welche sich
auf ihren Ackern noch zu schaffen gemacht, trafen beim Weggehen wieder zusammen
und Marti sagte: „Du wirst nun dein Land, das alte und das neue, wohl
zusammenschlagen und in zwei gleiche Stücke theilen? Ich hätte es wenigstens so
gemacht, wenn ich das Ding bekommen hätte.:: „Ich werde es allerdings auch
thun:: antwortete Manz, „denn als Ein Acker würde mir das Stück zu groß sein.
Doch was ich sagen wollte: Ich
15 * habe bemerkt, daß Du neulich noch am untern Ende dieses
Ackers, der setzt mir gehört, schräg hineingefahren bist und ein gutes Dreieck
abgeschnitten hast. Du hast es vielleicht gethan in der Meinung, Du werdest das
ganze Stück an Dich bringen und es sei dann so wie so Dein- Da es nun aber mir
gehört, so wirst Du wohl einsehen, daß ich eine solche ungehörige Ein- krümmung
nicht brauche» noch dulden kann, und wirst nichts dagegen haben, wenn ich den
Strich wieder grad mache! Streit wird das nicht abgeben sollen!».
Marti erwiederte eben so kaltblütig, als ihn Manz angeredet hatte: "Ich sehe
auch nicht wo Streit herkommen soll! Ich denke, Du hast den Acker gekauft, wie
er da ist, wir haben ihn alle gemeinschaftlich besehen und er hat ^ich seit
einer Stunde nicht um ein Haar verändert!»
"Larifari! sagte Manz, was früher geschehen wollen wir nicht aufrühren! Was aber
zu viel ist, ist zu viel und alles muß zuletzt eine ordentliche grade Art haben;
diese drei Äcker sind von seher so grade neben einander gelegen, wie nach dem
Richtscheit gezeichnet, es ist ein ganz absonderlicher Spaß von
Dir, wenn Du nun einen solchen lächerlichen und unvernünftigen Schnörkel
dazwischen bringen willst und wir beide würden einen Übernamen bekommen, wenn
wir den krummen Zipfel da bestehen lassen. Er muß durchaus weg!«
Marti lachte und sagte: "Du hast ja auf einmal eine merkwürdige Furcht vor dem
Ge- spötte der Leute! das läßt sich aber ja wohl machen; mich genirt das Krumme
gar nicht; genirt es Dich, gut, so machen wir es grad, aber nicht auf meiner
Seite, das geb' ich Dir schriftlich, wenn Du willst!«
"Rede doch nicht so spaßhaft, sagte Manz, es wird wohl grad gemacht, und zwar
auf Deiner Seite, daraus kannst Du Gift nehmen!«
"Das werden wir ja sehen und erleben!« sagte Marti, und beide Männer gingen
auseinander, ohne sich weiter anzublicken, vielmehr starrten sie nach
verschiedener Richtung in's Blaue hinaus, als ob sie da Wunder was für
Merkwürdigkeiten im Auge hätten, die sie betrachten müßten mit Aufbietung aller
ihrer Geisteskräfte.
Schon am nächsten Tage schickte Manz einen
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Dienstbuben, ein Tagelöhnermädchen und sein eigenes Söhnchen Sali auf den Acker
hinaus, daß sie das wilde Unkraut und Gestrüpp auszögen und auf Haufen brächten,
damit nachher die Steine um so bequemer weggefahren werden könnten. Dies war
eine Änderung in feinem Wesen, daß er den kaum eilfsährigen Jungen, der noch zu
keiner Arbeit angehalten worden, nun mit hinaussandte, gegen die Einsprache der
Mutter. Es schien, da er es mit ernsthaften und gesalbten Worten that, als ob er
mit dieser Arbeitsstrenge gegen sein eigenes Blut das Unrecht betäuben wollte,
in dem er lebte, und welches nun begann, seine Folgen ruhig zu entfalten. Das
ausgesandte Völklein sätete inzwischen luftig an dem Unkraut und hackte mit
Vergnügen an den wunderlichen Stauden und Pflanzen aller Art, die da seit Jahren
wucherten. Denn da es eine außerordentliche gleichsam wilde Arbeit war, bei der
keine Regel und keine Sorgfalt erheischt wurde, so galt sie als eine Lust. Das
wilde Zeug, an der Sonne gedörrt, wurde aufgehäuft und mit großem Jubel
verbrannt, daß der Qualm weithin sich per- breitete und die jungen
Leutchen darin herum- sprangen, wie besessen. Dies war das letzte Freudenfest
auf dem Unglücksfelde, und das junge Vrenchen, Martis Tochter, kam auch
hinausgeschli- chen und half tapfer mit. Das Ungewöhnliche dieser Begebenheit
und die lustige Aufregung gaben einen guten Anlaß, sich seinem kleinen
Jugendgespielen wieder einmal zu nähern, und die Kinder waren recht glücklich
und munter bei ihrem Feuer. Es kamen noch andere Kinder hinzu und es sammelte
sich eine ganze vergnügte Gesellschaft; doch immer, sobald sie getrennt wurden,
suchte Sali alsobald wieder neben Vrenchen zu gelangen, und dieses wußte
desgleichen immer vergnügt lächelnd zu ihm zu schlüpfen, und es war beiden
Kreaturen, wie wenn dieser herrliche Tag nie enden müßte und könnte. Doch der
alte Manz kam gegen Abend herbei, um zu sehen, was sie ausgerichtet, und
obgleich sie fertig waren, so schalt er doch ob dieser Lustbarkeit, und
scheuchte die Gesellschaft auseinander. Zugleich zeigte sich Marti auf seinem
Grund und Boden und, seine Tochter gewahrend, pfiff er derselben schrill und
gebieterisch durch den Finger, daß sie erschrocken hineilte, und
er gab ihr, ohne zu wissen warum, einige Ohrfeigen, also daß beide Kinder in
großer Traurigkeit und weinend nach Hause gingen, und sie wußten jetzt
eigentlich so wenig warum sie so traurig waren, als warum sie vorhin so vergnügt
gewesen; denn die Rauheit der Vater, an sich ziemlich neu, war von den arglosen
Geschöpfen noch nicht begriffen und konnte sie nicht tiefer bewegen.
Die nächsten Tage war es schon eine härtere Arbeit, zu welcher Mannsleute
gehörten, als Manz die Steine aufnehmen und wegfahren ließ. Es wollte kein Ende
nehmen und alle Steine der Welt schienen da beisammen zu sein. Er ließ sie aber
nicht ganz vom Felde wegbringen, sondern jede Fuhre auf jenem streitigen
Dreiecke abwerfen, welches Marti schon säuberlich umgepflügt hatte. Er hatte
vorher einen graben Strich gezogen als Grenzscheide und belastete nun dies
Fleckchen Erde mit allen Steinen, welche beide Männer seit unvordenklichen
Zeiten herübergeworfen, so daß eine gewaltige Pyramide entstand, welche
wegzubringen Marti wohl bleiben lassen würde, dachte er. Marti
hatte dies am wenigsten erwartet; er glaubte, sein Gegner werde nach alter Weise
mit dem Pfluge zu Werke gehen wollen und hatte daher abgewartet, bis er ihn als
Pflüger ausziehen sähe. Erst als die Sache schon beinahe fertig, hörte er von
dem schönen Denkmal, welches Manz da errichtet, rannte voll Wuth hinaus, sah die
Beschwerung, rannte zurück und holte den Gemeindeamman, um vorläufig gegen den
Steinhaufen zu protestiren und den Fleck gerichtlich in Beschlag nehmen zu
lassen, und von diesem Tage an lagen die zwei Bauern in Proceß mit einander und
ruhten nicht eher, bis sie beide zu Grunde gerichtet waren.
Die Gedanken der sonst so wohlweisen Männer waren nun so kurz geschnitten wie
Häcksel; der beschränkteste Rechtssinn von der Welt erfüllte jeden von ihnen,
indem keiner begreifen konnte noch wollte, wie der andere so offenbar
unrechtmäßig und willkührlich den fraglichen unbedeutenden Ackerzipfel an sich
reißen könne. Bei Manz kam noch ein wunderbarer Sinn für Symmetrie und parallele
Linien hinzu und er fühlte sich wahrhaft gekränkt durch den aberwitzigen Eigensinn, mit welchem Marti auf dem Dasein des unsinnigsten und
mutwilligsten Schnörkels beharrte. Beide aber trafen zusammen in der
Überzeugung, daß der Andere, den Anderen so frech und plump übervorteilend, ihn
nothwendig für einen verächtlichen Dummkopf halten müsse, da man dergleichen
etwa einem armen haltlosen Teufel, nicht aber einem aufrechten, klugen und
wehrhaften Manne gegenüber sich erlauben könne, und Jeder sah sich in seiner
wunderlichen Ehre gekränkt und gab sich rückhaltlos der Leidenschaft des
Streites und dem daraus erfolgenden Verfalle hin und ihr Leben glich fortan der
träumerischen Qual zweier Verdammten, welche auf einem schmalen Brette einen
dunkeln Strom hinabtreibend sich befehden, in die Luft hauen und sich selber
anpacken und vernichten, in der Meinung, sie hätten den Feind gefaßt. Da sie
eine faule Sache hatten, so geriethen beide in die allerschlimmsten Hände von
Tausendkünstlern, welche ihre verdorbene Phantasie aufbliesen zu ungeheuren
Blasen, die mit den nichtsnutzigsten Dingen angefüllt wurden. Vorzüglich waren
es die Spekulanten aus der Stadt Seldwyla, welchen dieser Handel
ein gefundenes Essen war, und bald hatte jeder der Streitenden einen Anhang von
Unterhändlern, Zuträgern und Rathgebern hinter sich, welche alles baare Geld auf
hundert Wegen abzuziehen wußten. Denn das Fleckchen Erde mit dem Steinhaufen
darüber, aus welchem bereits wieder ein Wald von Nesseln und Disteln blühte, war
nur noch der erste Keim oder der Grundstein einer verworrenen Geschichte und
Lebensweise, in welcher die zwei Fünfzigjährigen noch andere Gewohnheiten und
Sitten, Grundsätze und Hoffnungen annahmen, als sie bisher geübt. Je mehr Geld
sie verloren, desto sehnsüchtiger wünschten sie welches zu haben, und je weniger
sie hatten, desto hartnäckiger dachten sie reich zu werden und es dem andern
zuvorzuthun. Sie ließen sich zu jedem Schwindel verleiten und setzten auch Jahr
aus Jahr ein in alle deutschen Lotterien, deren Loose massenhaft in Seldwpla
zirkulirten. Aber nie bekamen sie einen Thaler Gewinnst zu Gesicht, sondern
hörten nur immer vom Gewinnen anderer Leute und wie sie selbst beinahe gewonnen
hätten, indessen diese Leidenschaft ein regelmäßiger Geldabfluß für sie war. Bisweilen machten sich die Seldwyler den Spaß, beide Bauern, ohne
ihr Wissen, am gleichen Loose Theil nehmen zu lassen, so daß beide die Hoffnung
auf Unterdrückung und Vernichtung des Andern auf ein und dasselbe Loos setzten.
Sie brachten die Hälfte ihrer Zeit in der Stadt zu, wo jeder in einer Spelunke
sein Hauptquartier hatte, sich den Kopf aufblasen und zu den lächerlichsten
Ausgaben und einem elenden und ungeschickten Schlemmen verleiten ließ, bei
welchem ihm heimlich doch selber das Herz blutete, also daß Beide, welche
eigentlich nur in diesem Hader lebten, um für keine Dummköpfe zu gelten, nun
solche von der besten Sorte darstellten und von Jedermann dafür angesehen
wurden. Die andere Hälfte der Zeit lagen sie verdrossen zu Hause oder gingen
ihrer Arbeit nach, wobei sie dann durch ein tolles böses Überhasten und
Antreiben das Versäumte einzuholen suchten und damit jeden ordentlichen und
zuverlässigen Arbeiter verscheuchten. So ging es gewaltig rückwärts mit ihnen
und ehe zehn Jahre vorüber, steckten sie Beide von Grund aus in Schulden und
standen wie die Störche auf einem Beine auf der Schwelle ihrer
Besitzthümer, von der jeder Lufthauch sie herunterwehte. Aber wie es ihnen auch
erging, der Haß zwischen ihnen wurde täglich größer, da jeder den andern als den
Urheber seines Unsterns betrachtete, als seinen Erbfeind und ganz unvernünftigen
Widersacher, den der Teufel absichtlich in die Welt gesetzt habe, um ihn zu
verderben. Sie spieen aus, wenn sie sich nur von weitem sahen, kein Glied ihres
Hauses durfte mit Frau, Kind oder Gesinde des andern ein Wort sprechen, bei
Vermeidung der gröbsten Mißhandlung- Ihre Weiber verhielten sich verschieden bei
dieser Verarmung und Verschlechterung des ganzen Wesens. Die Frau des Marti,
welche von guter Art war, hielt den Verfall nicht aus, härmte sich ab und starb,
ehe ihre Tochter vierzehn Jahre alt war. Die Frau des Manz hingegen bequemte
sich der veränderten Lebensweise und um sich als eine schlechte Genossin zu
entfalten, hatte sie nichts zu thun, als einigen weiblichen Fehlern, die ihr von
jeher angehaftet, den Zügel schießen zu lassen und dieselben zu Lastern
auszubilden. Ihre Naschhaftigkeit wurde zu wilder Begehrlichkeit,
ihre Zungenfertigkeit zu einem grundfalschen und verlogenen Schmeichel- und
Verläumdungswesen, mit welchem sie jeden Augenblick das Gegentheil von dem
sagte, was sie dachte, alles hinter einander hetzte, und ihrem eigenen Manne ein
T für ein U vormachte; ihre ursprüngliche Offenheit, mit der sie sich der
unschuldigeren Plauderei erfreut, ward nun zur abgehärteten Schamlosigkeit, mit
der sie jenes falsche Wesen betrieb, und so, statt unter ihrem Manne zu leiden,
drehte sie ihm eine Nase; wenn er es arg trieb, so machte sie es bunt, ließ sich
nichts abgehen und gedieh zu der dicksten Blüthe einer Vorsteherin des
zerfallenden Hauses.
So war es nun schlimm bestellt um die armen Kinder, welche weder eine gute
Hoffnung für ihre Zukunft fassen konnten, noch sich auch nur einer lieblich
frohen Jugend erfreuten, da überall nichts als Zank und Sorge war. Vren- chen
hatte anscheinend einen schlimmeren Stand, als Sali, da seine Mutter todt und es
einsam in einem wüsten Hause der Tyrannei eines verwilderten Vaters
anheimgegeben war. Als es sechszehn Jahre zählte, war eS schon ein
schlankgewachsenes ziervolles Mädchen; seine dunkelbraunen Haare ringelten sich
unablässig fast bis über die blitzenden braunen Augen, dunkelrothes Blut
durchschimmerte die Wangen des bräunlichen Gesichtes und glänzte als tiefer
Purpur auf den frischen Lippen, wie man es selten sah und was dem dunklen Kinde
ein eigenthümliches Ansehen und Kennzeichen gab. Feurige Lebenslust und
Fröhlichkeit zitterte in jeder Fiber dieses Wesens; es lachte und war aufgelegt
zu Scherz und Spiel, wenn das Wetter nur im mindesten lieblich war, d. h. wenn
es nicht zu sehr gequält wurde und nicht zu viel Sorgen hatte. Diese plagten es
aber häufig genug; denn nicht nur hatte es den Kummer und das wachsende Elend
des Hauses mit zu tragen, sondern es mußte noch sich selber in Acht nehmen und
mochte sich gern halbwegs ordentlich und reinlich kleiden, ohne daß der Vater
ihm die geringsten Mittel dazu geben wollte. So hatte Vrenchen die größte Noth,
seine anmuthige Person einigermaßen aus- zustaffiren, sich ein
allerbescheidenstes Sonntagskleid zu erobern und einige bunte, fast werth- lose Halstüchelchen zusammenzuhalten. Darum war das schöne
wohlgemuthe junge Blut in jeder Weise gedemüthigt und gehemmt und konnte am
wenigsten der Hoffahrt anheimfallen. Überdies hatte es bei schon erwachendem
Verstände das Leiden und den Tod seiner Mutter gesehen und dies Andenken war ein
weiterer Zügel, der seinem lustigen und feurigen Wesen angelegt war, so daß es
nun höchst lieblich, unbedenklich und rührend sich ansah, wenn trotz alledem das
gute Kind bei jedem Sonnenblick sich ermunterte und zum Lächeln bereit war.
Sali erging es nicht so hart auf den ersten Anschein; denn er war nun ein
hübscher und kräftiger junger Bursche, der sich zu wehren wußte und dessen
äußere Haltung wenigstens eine schlechte Behandlung von selbst unzulässig
machte. Er sah wohl die üble Wirthschaft seiner Ältern und glaubte sich erinnern
zu können, daß es einst nicht so gewesen, ja er bewahrte noch das frühere Bild
seines Vaters wohl in seinem Gedächtnisse als eines festen, klugen und ruhigen
Bauers, desselben Mannes, den er jetzt als einen grauen Narren, Händelführer und
Müssiggänger vor sich sah, der mit Toben und Prahlen auf hundert
thörichten und verfänglichen Wegen wandelte und mit jeder Stunde rückwärts
ruderte wie ein Krebs. Wenn ihm nun dies mißfiel und ihn oft mit Scham und
Kummer erfüllte, während es seiner Unerfahrenheit nicht klar war, wie die Dinge
so gekommen, so wurden seine Sorgen wieder betäubt durch die Schmeichelei, mit
der ihn die Mutter behandelte. Denn um in ihrem Unwesen ungestörter zu sein und
einen guten Parteigänger zu haben, auch um ihrer Großthuerei zu genügen, ließ
sie ihm zukommen was er wünschte, kleidete ihn sauber und prahlerisch und
unterstützte ihn in allem, was er zu seinem Vergnügen vornahm. Er ließ sich dies
gefallen ohne viel Dankbarkeit, da ihm die Mutter viel zu viel dazu schwatzte
und log, und indem er so wenig Freude daran empfand, that er lässig und
gedankenlos, was ihm gefiel, ohne daß dies jedoch etwas Übles war, weil er für
jetzt noch unbeschädigt war von dem Beispiele der Alten und das jugendliche
Bedürfniß fühlte, im Ganzen einfach, ruhig und leidlich tüchtig zu sein. Er war
ziemlich genau so, wie sein Vater in
Keller, die Leute von Seldwyla. 16 diesem Alter gewesen war, und
dieses flößte demselben eine unwillkürliche Achtung vor dem "Sohne ein, in
welchem er mit verwirrtem Gewissen und gepeinigter Erinnerung seine eigene
Jugend achtete. Trotz dieser Freiheit, welche Sali genoß, ward er seines Lebens
doch nicht froh und fühlte wohl, wie er nichts Rechtes vor sich hatte und eben
so wenig etwas Rechtes lernte, da von einem zusammenhängenden und
vernunftgemäßen Arbeiten in Manzens Hause längst nicht mehr die Rede war. Sein
einziger Trost war daher, stolz auf seine Unabhängigkeit und einstweilige
Unbescholtenheit zu sein, und in diesem Stolze ließ er die Tage trotzig
verstreichen und wandte die Augen von der Zukunft ab.
Der einzige Zwang, dem er unterworfen, war die Feindschaft seines Vaters gegen
Alles, was Marti hieß und an diesen erinnerte. Doch wußte er nichts besseres,
als daß Marti seinem Vater Schaden zugefügt und daß man in dessen Hause eben so
feindlich gesinnt sei, und es fiel ihm daher nicht schwer, weder den Marti noch
seine Tochter anzusehen und seinerseits auch einen angehenden ziemlich
gleichgültigen Feind vorzu- stellen. Vrenchen hingegen, welches
mehr erdulden mußte, als Sali, und in seinem Hause viel verlassener war, fühlte
sich weniger zu einer förmlichen Feindschaft aufgelegt und glaubte sich nur
verachtet von dem wohlgekleideten und scheinbar glücklicheren Sali; deshalb
verbarg sie sich vor ihm und wenn er irgendwo nur in der Nähe war, so entfernte
sie sich eilig, ohne daß er sich die Mühe gab ihr nachzublicken. So kam es, daß
er das Mädchen schon seit ein paar Jahren nicht mehr in der Nähe gesehen und gar
nicht wußte, wie es aussah, seit es herangewachsen. Und doch wunderte es ihn
zuweilen ganz gewaltig und wenn überhaupt von den Martis gesprochen wurde, so
dachte er unwillkürlich nur an die Tochter, deren jetziges Aussehen ihm nicht
deutlich und deren Andenken ihm gar nicht verhaßt war.
Doch war sein Vater Man; nun der Erste von den beiden Feinden, der sich nicht
mehr halten konnte und von Haus und Hof springen mußte. Dieser Vortritt rührte
daher, daß er eine Frau besaß, die ihm geholfen und einen Sohn, der doch auch
einiges mit brauchte, wäh-
16 * rend Marti der einzige Verzebrer war in seinem wackeligen
Königreich, und seine Tochter durfte wohl arbeiten wie ein Hausthierchen, aber
nichts gebrauchen. Manz aber wußte nichts anderes anzufangen, als auf den Rath
seiner Seldwyler Gönner in die Stadt zu ziehen und da sich als Wirth aufzuthun.
Dies ist immer ein Elend anzusehn, wenn ein ehemaliger Landmann, der auf dem
Felde alt geworden ist, mit den Trümmern seiner Habe in eine Stadt zieht und da
eine Schenke oder Kneipe aufthut, um als letzten Rettungsanker den freundlichen
und gewandten Wirth zu machen, während es ihm nichts weniger als freundlich zu
Muth ist. Als die Man- zen vom Hofe zogen, sah man erst, wie arm sie bereits
waren; denn sie luden lauter alten und verfallenden Hausrath auf, dem man es
ansah, daß seit vielen Jahren nichts erneuert und angeschafft worden war. Die
Frau legte aber nichts desto minder ihren besten Staat an, als sie sich oben aus
die Gerümpelsuhre setzte und machte ein Gesicht voller Hoffnungen, als künftige
Stadtfrau schon mit Verachtung auf die Dorfgenoffen herabsehend, welche voll
Mitleid hinter den Hecken hervor dem bedenklichen Zuge zusahen.
Denn sie nahm sich vor, mit ihrer Liebenswürdigkeit und Klugheit die ganze Stadt
zu bezaubern, und was ihr versimpelter Mann nicht machen könne, das wolle sie
schon ausrichten, wenn sie nur erst einmal als Frau Wirthin in einem stattlichen
Gasthofe säße. Dieser Gasthof bestand aber in einer trübseligen Winkelschenke in
einem abgelegenen schmalen Gäßchen, auf der eben ein Anderer zu Grunde gegangen
war und welche die Seldwyler dem Manz verpachteten, da er noch einige hundert
Thaler einzuziehen hatte. Sie verkauften ihm auch ein paar Fäßchen säuerlichen
Weines und das Wirthschaftsmobiliar, das aus einem Dutzend weißen geringen
Flaschen, ebensoviel Gläsern und einigen tannenen Tischen und Bänken bestand,
welche einst blutroth angestrichen gewesen und jetzt vielfältig abgescheuert
waren. Vor dem Fenster knarrte ein eiserner Reifen in einem Haken und in dem
Reifen schenkte eine blecherne Hand Nothwein aus einem Schöppchen in ein Glas.
Überdies hing ein verdorrter Busch von Stechpalme über der Hausthüre, was Manz
alles mit in die Pacht bekam. Um deswillen war er nicht so
wohlgemuth wie seine Frau, sondern trieb mit schlimmer Ahnung und voll Ingrimm
die mageren Pferde an, welche er vom neuen Bauern geliehen. Das letzte schäbige
Knechtche'n, das er gehabt, hatte ihn schon seit einigen Wochen verlassen. Als
er solcher Weise abfuhr, sah er wohl, wie Marti voll Hohn und Schadenfreude sich
unfern der Straße zu schaffen machte, fluchte ihm und hielt denselben für den
alleinigen Urheber seines Unglückes. Sali aber, sobald das Fuhrwerk im Gange
war, beschleunigte seine Schritte, eilte voraus und ging allein auf Seitenwegen
nach der Stadt.
"Da wären wir!^ sagte Manz, als die Fuhre vor dem Spelunkelein anhielt. Die Frau
erschrack darüber, denn das war in der That ein betrübter Gasthof. Die Leute
traten eilfertig unter die Fenster und vor die Häuser, um sich den neuen
Bauernwirth anzusehen und machten mit ihrer Seldwyler Überlegenheit mitleidig
spöttische Gesichter. Zornig und mit nassen Augen kletterte die Manzin vom Wagen
herunter und lief, ihre Zunge vorläufig wetzend, in das Haus, um sich heute
vornehm nicht wieder blicken zu lassen; denn sie schämte sich des
schlechten Geräthes und der verdorbenen Betten, welche nun abgeladen wurden.
Sali schämte sich auch, aber er mußte helfen und machte mit seinem Vater einen
seltsamen Verlag in dem Gäßchen, auf welchem alsbald die Kinder der Falliten
herumsprangen und sich über das verlumpete Bauernpack lustig machten. Im Hause
aber sah es noch trübseliger aus und es glich einer vollkommenen Räuberhöhle.
Die Wände waren schlecht geweihtes feuchtes Maucrwerk, außer der dunklen
unfreundlichen Gaststube mit ihren ehemals blutrothen Tischen waren nur noch ein
paar schlechte Kämmerchen da, und überall hatte der ausgezogene Vorgänger den
trostlosesten Schmutz und Kehricht zurückgelassen.
So war der Anfang und so ging es auch fort. Während der ersten Woche kamen,
besonders am Abend, wohl hin und wieder ein Tisch voll Leute aus Neugierde, den
Bauernwirth zu sehen, und ob es da vielleicht einigen Spaß absetzte. Am Wirth
hatten sie nicht viel zu sehen, denn Manz war ungelenk, starr, unfreundlich und
melancholisch und wußte sich gar nicht zu benehmen, wollte es auch
nicht wissen. Er füllte langsam und ungeschickt die Schöppchen, stellte sie
mürrisch vor die Gäste und versuchte etwas zu sagen, brachte aber nichts heraus.
Desto eifriger warf sich nun seine Frau in's Geschirr und hielt die Leute
wirklich einige Tage zusammen, aber in einem ganz andern Sinne, als sie meinte.
Die ziemlich dicke Frau hatte sich eine eigene Haustracht zusammengesetzt, in
der sie unwiderstehlich zu sein glaubte. Zu einem leinenen naturfarbenen
Landrock trug sie einen alten grünseidenen Spenser, eine baumwollene Schürze und
einen schlimmen weißen Halskragen. Von ihrem nicht mehr dichten Haar hatte sie
an den Schläfen possierliche Schnecken gewickelt und in das Zäpfchen hinten
einen hohen Kamm gesteckt. So schwänzelte und tänzelte sie mit angestrengter
Anmuth herum, spitzte lächerlich das Maul, daß es süß aussehen sollte, hüpfte
elastisch an die Tische hin und, das Glas oder den Teller mit gesalzenem Käse
hinsetzend, sagte sie lächelnd: „So so? so soll! herrlich herrlich, ihr Herren!«
und solches dummes Zeug mehr; denn obwohl sie sonst eine geschliffene Zunge
hatte, so wußte
sie jetzt doch nichts Gescheidtes vorzubringen, da sie fremd war und die Leute
nicht kannte. Die Seldwyler von der schlechtesten Sorte, die da hockten, hielten
die Hand vor den Mund, wollten vor Lachen ersticken, stießen sich unter dein
Tisch mit den Füßen und sagten: "Potz tausig! das ist ja eine Herrliche!:: "Eine
Himmlische!:: sagte ein Anderer "beim ewigen Hagel! es ist der Mühe werth hieher
zu kommen, so Eine haben wir lang nicht gesehen!:: Ihr Mann bemerkte das wohl
mit finsterem Blicke; er gab ihr einen Stoß in die Rippen und flüsterte: "Du
alte Kuh! WaS machst Du denn?:: "Störe mich nicht, sagte sie unwillig, Du alter
Tolpatsch! siehst Du nicht, wie ich mir Mühe gebe und mit den Leuten umzugehen
weiß? Das sind aber nur Lumpen von Deinem Anhang! Laß mich nur machen, ich will
bald fürnehmere Kundschaft hier haben!:: Dies alles war beleuchtet von einem
oder zwei dünnen Talglich- ten; Sali, der Sohn, aber ging hinaus in die dunkle
Küche, setzte sich auf den Herd und weinte über Vater und Mutter.
Die Gäste hatten aber das Schauspiel bald satt, welches ihnen die
gute Frau Manz gewährte, und blieben wieder, wo es ihnen woh- ler war und sie
über die wunderliche Wirthschaft lachen konnten; nur dann und wann erschien ein
Einzelner, der ein Glas trank und die Wände angähnte, oder es kam ausnahmsweise
eine ganze Bande, die armen Leute mit einem vorübergehenden Trubel und Lärm zu
täuschen. Es ward ihnen angst und bange in dem engen Mauerwinkel, wo sie kaum
die Sonne sahen, und Manz, welcher sonst gewohnt war, Tage lang in der Stadt zu
liegen, fand es setzt unerträglich zwischen diesen Mauern. Wenn er an die freie
Weite der Felder dachte, so stierte er finster brütend an die Decke oder aus den
Boden, lief unter die enge Hausthüre und wieder zurück, da die Nachbaren den
bösen Wirth, wie sie ihn schon nannten, angafften. Nun dauerte es aber nicht
mehr lange und sie verarmten gänzlich und hatten gar nichts mehr in der Hand;
sie mußten, um etwas zu essen, warten bis Einer kam und für wenig Geld etwas von
dem noch vorhandenen Wein verzehrte, und wenn er eine Wurst oder dergleichen
begehrte, so hatten sie oft die größte Angst und Sorge, dieselbe
beizutreiben. Bald hatten sie auch den Wein nur noch in einer großen Flasche
verborgen, die sie heimlich in einer andern Kneipe füllen ließen, und so sollten
sie nun die Wirthe machen ohne Wein und Brod und freundlich sein, ohne
ordentlich gegessen zu haben. Sie waren beinahe froh, wenn nur Niemand kam, und
hockten so in ihrem Kneipchen, ohne leben noch sterben zu können. Als die Frau
diese traurigen Erfahrungen machte, zog sie den grünen Spenser wieder aus und
nahm abermals eine Veränderung vor, indem sie nun, wie früher die Fehler, so nun
einige weibliche Tugenden aufkommen ließ und mehr ausbildete, da Noth an den
Mann ging. Sie übte Geduld und suchte den Alten aufrecht zu halten und den
Jungen zum Guten anzuweisen; sie opferte sich vielfältig in allerlei Dingen,
kurz sie übte in ihrer Weise eine Art von wohlthätigem Einfluß, der zwar nicht
weit reichte und nicht viel besserte, aber immerhin besser war als gar nichts
oder als das Gegentheil und die Zeit wenigstens verbringen half, welche sonst
viel früher hätte brechen müssen für diese Leute. Sie wußte
manchen Rath zu geben nunmehr in erbärmlichen Dingen, nach ihrem Verstände, und
wenn der Rath nichts zu taugen schien und fehl schlug, so ertrug sie willig den
Grimm der Männer, kurzum, sie that jetzt alles, da sie alt war, was besser
gedient hätte, - wenn sie es früher geübt.
Um wenigstens etwas Beißbares zu erwerben und die Zeit zu verbringen, verlegten
sich Vater und Sohn auf die Fischerei, d. h. mit der Angelruthe, so weit es für
jeden erlaubt war, sie in den Fluß zu hängen. Dies war auch eine
Hauptbeschäftigung der Seldwpler, nachdem sie fallirt hatten. Bei günstigem
Wetter, wenn die Fische gern anbissen, sah man sie dutzendweise hinauswandern
mit Ruthe und Kübel, und wenn man an den Ufern des Flusses wandelte, hockte alle
Spanne lang Einer, der angelte, der Eine in einem langen braunen Bürgerrock, die
bloßen Füße lm Wasser, der andere in einem spitzen blauen Frack auf einer alten
Weide stehend, den alten Filz schief auf dem Ohre; weiterhin angelte gar Einer
im zerrissenen großblumigen Schlafrock, da er keinen andern mehr
besaß, die lange Pfeife in der einen, die Ruthe in der andern Hand, und wenn man
um eine Krümmung des Flusses bog, stand ein alter kahlköpfiger Dickbauch
faselnackt auf einem Stein und angelte; dieser hatte, trotz des Aufenthaltes am
Wasser so schwarze Füße, daß man glaubte, er habe die Stiefel anbehalten. Jeder
hatte ein Töpkchcn oder ein Schächtelchen neben sich, in welchem Regenwürmer
wimmelten, nach welchen fie zu anderen Stunden zu graben pflegten. Wenn der
Himmel mit Wolken bezogen und es ein schwüles dämmeriges Wetter war, welches
Regen verkündete, so standen diese Gestalten am zahlreichsten an dem ziehenden
Strome, regungslos gleich einer Gallerie von Heiligen- oder Prophetenbildern.
Achtlos zogen die Landleute mit Vieh und Wagen an ihnen vorüber und die Schiffer
auf dem Flusse sahen sie nicht an, während sie leise murrten über die Fische
verscheuchenden Schiffe.
Wenn man Manz vor zwölf Jahren, als er mit einem schönen Gespann pflügte auf dem
Hügel über dem User, damals gesagt hätte, er würde sich einst zu diesen
wunderlichen Heiligen gesellen und gleich ihnen Fische fangen, so
hätte er einem in's Gesicht gespieen. Auch eilte er setzt hastig an ihnen
vorüber hinter ihren Rücken und eilte stromaufwärts gleich einem eigensinnigen
Schatten der Unterwelt, der sich zu seiner Ver- dammniß ein bequemes einsames
Plätzchen sucht an den dunkeln Wässern. Mit der Angelruthe zu stehen hatten er
und sein Sohn indessen keine Geduld und sie erinnerten sich der Art, wie die
Bauern auf manche andere Weise etwa Fische fangen, wenn sie übermüthig sind,
besonders mit den Händen in den Bächen; daher nahmen sie die Ruthen nur zum
Schein mit und gingen an den Borden der Bäche hinauf, wo sie wußten, daß es
theure und gute Forellen gab.
Dem auf dem Lande zurückgebliebenen Marti ging es inzwischen auch immer
schlimmer und es war ihm höchst langweilig dabei, so daß er, anstatt auf seinem
vernachlässigten Felde zu arbeiten, ebenfalls auf das Fischen verfiel und
tagelang im Wasser herumflotschte. Vrenchen durfte nicht von seiner Seite und
mußte ihm Eimer und Gerätst nachtragen durch nasse Wie- sengründe, durch Bäche
und Waffertümpel aller Art, bei Regen und Sonnenschein, indessen
sie das Nothwendigste zu Hause liegen lassen mußte- Denn es - war sonst keine
Seele mehr da und wurde auch keine gebraucht, da Marti das meiste Land schon
verloren hatte und nur noch wenige Äcker besaß, die er mit seiner Tochter
liederlich genug oder gar nicht bebaute.
So kam es, daß, als er eines Abends einen ziemlich tiefen und reißenden Bach
entlang ging, in welchem die Forellen fleißig sprangen, da der Himmel voll
Gewitterwolken hing, er unverhofft auf seinen Feind Manz traf, der an dem andern
Ufer daherkam. Sobald er ihn sah, stieg ein schrecklicher Groll und Hohn in ihm
auf, sie waren sich seit Jahren nicht so nahe gewesen, ausgenommen vor den
Gerichtsschran- kcn, wo sie nicht schelten durften, und Marti rief setzt voll
Grimm: „Was thust Du hier, Du Hund? Kannst Du nicht in Deinem Lotterneste
bleiben, Du Seldwyler Lumpenhund?»
„Wirst nächstens wohl auch ankommen, Du Schelm!» rief Manz. „Fische sängst Du sa
auch schon und wirst deshalb nicht viel mehr zu versäumen haben!»
"Schweig, Du Galgenhund!- schrie Marti, da hier die Wellen des Baches stärker
rauschten, "Du hast mich in's Unglück gebracht!« Und da jetzt auch die Weiden am
Bache gewaltig zu rauschen anfingen im aufgehenden Wetterwind, so mußte Manz
noch lauter schreien: "Wenn dem nur so wäre, so wollte ich mich freuen, Du
elender Tropf!« "O Du Hund!« schrie Marti herüber und Manz hinüber: »O Du Kalb,
wie dumm thust Du!« Und jener sprang wie ein Tiger den Bach entlang und suchte
herüber zu kommen. Der Grund, warum er der Wüthendere war, lag in seiner
Meinung, daß Manz als Wirth wenigstens genug zu essen und zu trinken hätte und
gewissermaßen ein kurzweiliges Leben führe, während es ungerechter Weise ihm so
langweilig wäre auf seinem zertrümmerten Hose. Manz schritt indessen auch
grimmig genug an der andern Seite hin; hinter ihm sein Sohn, welcher, statt auf
den bösen Streit zu hören, neugierig und verwundert nach Vrcnchen hinüber sah,
welche hinter ihrem Vater ging, vor Scham in die Erde sehend, daß ihr die
braunen krausen Haare in's Gesicht fielen. Sie trug einen
hölzernen Fischeimer in der einen Hand, in der andern hatte sie Schuh und
Strümpfe getragen und ihr Kleid der Nässe wegen aufgeschürzt. Seit aber Sali auf
der andern Seite ging, hatte sie es schamhaft sinken lassen und war nun dreifach
belästigt und gequält, da sie alle das Zeug tragen, den Rock zusammenhalten und
des Streites wegen sich grämen mußte. Hätte sie aufgesehen und nach Sali
geblickt, so würde sie entdeckt haben, daß er weder vornehm noch sehr stolz mehr
aussah und selbst bekümmert genug war. Während Vrenchen so ganz beschämt und
verwirrt auf die Erde sah und Sali nur diese in allem Elende schlanke und
anmuthige Gestalt im Auge hatte, die so verlegen und demüthig dahin schritt,
beachteten sie dabei nicht, wie ihre Vater still geworden aber mit verstärkter
Wuth einem hölzernen Stege zueilten, der in kleiner Entfernung über den Bach
führte und eben sichtbar wurde. Es fing an zu blitzen und erleuchtete seltsam
die dunkle melancholische Wassergegend, es donnerte auch in den grauschwarzen
Wolken mit dumpfem Grolle und schwere Regentropfen fielen,
Keller, die Leute von Seldwyla- 17 als die verwilderten Männer
gleichzeitig auf die schmale, unter ihren Tritten schwankende Brücke stürzten,
sich gegenseitig packten und die Fäuste in die vor Zorn und ausbrechendem Kummer
bleichen zitternden Gesichter schlugen. Es ist nichts Unmuthiges und nichts
weniger als artig, wenn sonst gesetzte Menschen noch in den Fall kommen, aus
Übermuth, Unbedacht oder Nothwehr unter allerhand Volk, das sie nicht näher
berührt, Schläge auszutheilen oder welche zu bekommen; allein dies ist eine
harmlose Spielerei gegen das tiefe Elend, das zwei alte Menschen überwältigt,
die sich wohl kennen und seit lange kennen, wenn diese aus innerster Feindschaft
und aus dem Gange einer ganzen Lebensgeschichte heraus sich mit nackten Händen
anfassen und mit Fäusten schlagen. So thaten jetzt diese beiden ergrauten
Männer; vor vierzig Jahren Vielleicht hatten sie sich als Buben zum letzten Mal
gerauft, dann aber vierzig lange Jahre mit keiner Hand mehr berührt, ausgenommen
in ihrer guten Zeit, wo sie sich etwa zum Gruße die Hände geschüttelt und auch
dies nur selten bei ihrem trockenen und sicheren Wesen. Nach- dem
sie ein oder zweimal geschlagen, hielten sie inne und rangen still zitternd mit
einander, nur zuweilen aufstöhnend und elendiglich knirschend, und Einer suchte
den Andern über das knackende Geländer in's Wasser zu werfen. Jetzt waren aber
auch ihre Kinder nachgekommen und sahen den erbärmlichen Auftritt. Sali sprang
eines Satzes heran, um seinem Vater beizustehen und ihm zu helfen, dem gehaßten
Feinde den Garaus zu machen, der ohnehin der Schwächere schien und eben zu
unterliegen drohte. Aber auch Vrenchen sprang, alles wegwerfend, mit einem
langen Aufschrei herzu und umklammerte ihren Vater um ihn zu schützen, während
sie ihn dadurch nur hinderte und beschwerte. Thränen strömten aus ihren Augen
und sie sah flehend den Sali an, der im Begriff war ihren Vater ebenfalls zu
fassen und vollends zu überwältigen. Unwillkürlich legte er aber seine Hand an
seinen eigenen Vater und suchte denselben mit festem Arm von dem Gegner
loszubringen und zu beruhigen, so daß der Kampf eine kleine Weile ruhte oder
vielmehr die ganze Gruppe unruhig hin und her drängte, ohne aus einander zu kommen. Darüber waren die jungen Leute, sich mehr zwischen die
Alten schiebend, in dichte Berührung gekommen und in diesem Augenblicke erhellte
ein Wolkenriß, der den grellen Abendschein durchließ, das nahe Gesicht des
Mädchens und Sali sah in dies ihm so wohlbekannte und doch so viel anders und
schöner gewordene Gesicht. Vrenchen sah in diesem Augenblicke auch sein
Erstaunen und es lächelte ganz kurz und geschwind mitten in seinem Schrecken und
in seinen Thränen ihn an. Doch ermannte sich Sali, geweckt durch die
Anstrengungen seines Vaters, ihn abzuschütteln, und brachte ihn mit eindringlich
bittenden Worten und fester Haltung endlich ganz von seinem Feinde weg. Beide
alte Gesellen athmeten hoch auf und begannen jetzt wieder zu schelten und zu
schreien, sich von einander abwendend; ihre Kinder aber athmeten kaum und waren
still wie der Tod, gaben sich aber im Wegwenden und Trennen, ungesehen von den
Alten, schnell die Hände, welche vom Wasser und von den Fischen feucht und kühl
waren.
Als die grollenden Parteien ihrer Wege gin- gen, hatten die Wolken
sich wieder geschlossen, es dunkelte mehr und mehr und der Regen goß nun in
Bächen durch die Lust. Man; schlenderte voraus auf den dunklen nassen Wegen, er
duckte sich, beide Hände in den Taschen, unter den Regengüssen, zitterte noch in
seinen Gesichtszügen und mit den Zähnen und ungesehene Thränen rieselten ihm in
den Stoppelbart, die er fließen ließ, um sie durch das Wegwischen nicht zu
verrathen. Sein Sohn hatte aber nichts gesehen, weil er in glückseligen Bildern
verloren daherging. Er merkte weder Regen noch Sturm, weder Dunkelheit noch
Elend; sondern leicht, hell und warm war es ihm innen und außen und er fühlte
sich so reich und wohl- geborgen, wie ein Königssohn. Er sah fortwährend das
sekundenlange Lächeln des nahen schönen Gesichtes und erwiederte dasselbe erst
setzt, eine gute halbe Stunde nachher, indem er voll Liebe in Nacht und Wetter
hineinlachte und das liebe Gesicht anlachte, das ihm allerwegen aus dem Dunkel
entgegentrat, so daß er glaubte, Vrenchen müsse auf seinen Wegen dies Lachen
nothwendig sehen und inne werden. Sein Vater war des andern Tags
wie zerschlagen und wollte nicht aus dem Hause. Der Handel und das ganze
vieljährige Elend nahm heute eine neue deutlichere Gestalt an und nahm sich
bequemlich Platz in der drückenden Lust der Spelunke, also daß Mann und Frau
matt und scheu um das Gespenst herumschlichen, aus der Stube in die dunklen
Kämmerchen, von da in die Küche und aus dieser wieder sich in die Stube
schleppten, in welcher kein Gast sich sehen ließ. Zuletzt hockte jedes in einem
Winkel und begann den Tag über ein müdes, halbtodtes Zanken und Vorhalten mit
dem andern, wobei sie zeitweise einschliefen, von unruhigen Tagträumen geplagt,
welche aus dem Gewissen kamen und sie wieder weckten. Nur Sali sah und hörte
nichts davon, denn er dachte nur an Vrenchen. Es war ihm immer noch zu Muth,
nicht nur als ob er unsäglich reich wäre, sondern auch was Rechts gelernt hätte
und unendlich viel Schönes und Gutes wüßte, da er nun so deutlich und bestimmt
um das wußte, was er gestern gesehen. Diese Wissenschaft war ihm wie vom Himmel
gefallen und er war in einer unaufhörlichen glücklichen
Verwunderung darüber; und doch war es ihm, als ob er es eigentlich von jeher
gewußt und gekannt hätte, was ihn jetzt mit so wundersamer Süßigkeit erfüllte.
Denn nichts gleicht dem Reichthum und der Unergründlichkeit eines Glückes, das
an den Menschen herantritt in einer so klaren und deutlichen Gestalt, vom
Pfäfflein getauft und wohl versehen mit einem eigenen Namen, der nicht tönt wie
andere Namen. Dieses ist eine feine Sache und in ihr ruht das Geheimniß oder die
Offen- kunde von der Wohlfahrt des Lebens, von dem Aufbau der Familie und
dessen, was viele Familie» zusammen sind. Es ist die Frühlingsblüthe, aus
welcher die Frucht der guten Familie erwächst; manche Gewächse müssen zwei bis
drei oder gar vier Mal blühen, bis eine Frucht gerathen will, und alsdann hat
die Weisheit der Natur oder der Götter es so eingerichtet, daß den Blühenden die
letzte Blume immer die feinste dünkt und sie meinen, es sei noch nie so schön
gewesen. Und ob nun die Natur allein oder die Götter dies also geordnet, so ist
es wirklich ein gutes und zweckmäßi- ges Ding. Viele blühen aber
nur ein Mal und auch diese Blüthe zerschlägt der Sturm, tobtet der Frost oder
ersäuft ein anhaltendes Regenwetter, und nie wird eine Frucht daraus; viele
blühen in einer Wildniß oder in einem wüsten Sumpfe in der Einsamkeit und eS
wird auch nichts daraus, als zuweilen eine herbe verkrüppelte Holzfrucht; denn
alle guten Früchte wachsen in großer Gesellschaft, die Ähre steht neben der Ähre
und die Traube hängt neben der Traube tausendfältig. Aber Blumen sind es immer
gewesen, ob etwas daraus geworden oder nicht und ob sie gesehen oder ungesehen
verblühten, und der Frühling ist schon, was auch aus ihm wird.
Sali fühlte sich an diesem^Tage weder müs- sig, noch unglücklich, weder arm noch
hoffnungslos; vielmehr war er vollauf beschäftigt, sich Vrenchens Gesicht und
Gestalt vorzustellen, unaufhörlich, eine Stunde wie die andere; über dieser
aufgeregten Thätigkeit aber verschwand ihm der Gegenstand derselben fast
vollständig, das heißt er bildete sich endlich ein, nun doch nicht zu wissen,
wie Vrenchen recht genau aussehe, er habe wohl ein allgemeines
Bild von ihr im Gedächtniß, aber wenn er sie beschreiben sollte, so könnte er
das nicht. Er sah fortwährend dies Bild, als ob es vor ihm stände und fühlte
seinen angenehmen Einfluß, und doch sah er es nur, wie etwas, das man eben nur
ein Mal gesehen, in dessen Gewalt man liegt und das man doch noch nicht kennt.
Er erinnerte sich genau der Gesichtszüge, welche das kleine Dirn- chen einst
gehabt mit großem Wohlgefallen, aber nicht eigentlich derjenigen, welche er
gestern gesehen. Hätte er Vrenchen nie wieder zu sehen bekommen, so hätten sich
seine Erinnerungskräfte schon behelfen müssen und das liebe Gesicht säuberlich
wieder zusammengetragen, daß nicht ein Zug daran fehlte. Jetzt aber versagten
sie schlau und hartnäckig ihren Dienst, weil die Augen nach ihrem Recht und
ihrer Lust verlangten, und als am Nachmittage die Sonne warm und hell die oberen
Stockwerke der schwarzen Häuser beschien, strich Sali aus dem Thore und seiner
alten Heimath zu, welche ihm jetzt erst ein himmlisches Jerusalem zu sein schien
mit zwölf
17 * glänzenden Pforten und die sein Herz klopfen machte, als er
sich ihr näherte.
Er stieß auf dem Wege auf Vrenchens Vater, welcher nach der Stadt zu gehen
schien. Der sah sehr wild und liederlich aus, sein grau gewordener Bart war seit
Wochen nicht geschoren und er sah aus wie ein recht böser verlorener Bauersmann,
der sein Feld verscherzt hat und nun geht, um Andern Übles zuzufügen. Dennoch
sah ihn Sali, als sie sich vorüber gingen, nicht mehr mit Haß, sondern voll
Furcht und Scheu an, als ob sein Leben in dessen Hand stände und er es lieber
von ihm erflehen als ertrotzen möchte. Marti aber maß ihn mit einem bösen Blicke
von oben bis unten und ging seines Weges. Das war indessen dem Sali recht,
welchem es nun, da er den Alten das Dorf verlassen sah, deutlicher wurde, was er
eigentlich da wolle, und er schlich sich auf alt bekannten Pfaden so lange um
das Dorf herum und durch dessen verdeckte Gäßchen, bis er sich Martis Haus und
Hof gegenüber befand. Seit mehreren Jahren hatte er diese Stätte nicht mehr so
nah gesehen; denn auch als sie noch hier wohnten, hüteten sich die
verfeindeten Leute gegenseitig, sich in's Ge- häge zu kommen. Deshalb war er nun
erstaunt über das, was er doch an seinem eigenen Vaterhause erlebt, und starrte
voll Verwunderung in die Wüstenei, die er vor sich sah. Dem Marti war ein Stück
Ackerland um das andere abgepfändet worden, er besaß nichts mehr als das Haus
und den Platz davor nebst etwas Garten und dem Acker auf der Höhe am Flusse, von
welchem er hartnäckig am längsten nicht lassen wollte.
Es war aber keine Rede mehr von einer ordentlichen Bebauung und auf dem Acker,
der einst so schön im gleichmäßigen Korne gewogt, wenn die Erndte kam, waren
jetzt allerhand abfällige Samenreste gesäet und aufgegangen, aus alten
Schachteln und zerrissenen Düten zusammengekehrt, Rüben, Kraut und dergleichen
und etwas Kartoffeln, so daß der Acker aussah, wie ein recht übel gepflegter
Gemüseplatz und eine wunderliche Musterkarte war, dazu angelegt, um von der Hand
in den Mund zu leben, hier eine Hand voll Rüben auszureißen, wenn man Hunger
hatte und nichts besseres wußte, dort eine Tracht Kartoffeln oder
Kraut, und das übrige fortwuchern oder verfaulen zu lassen, wie es mochte. Auch
lief jedermann darin herum wie es ihm gefiel und das schöne breite Stück Feld
sah beinahe so aus, wie einst der herrenlose Acker, von dem alles Unheil herkam.
Desnahen war um das Haus nicht eine Spur von Ackerwirthschaft zu sehen. Der
Stall war leer, die Thüre hing nur in einer Angel und unzählige Kreuzspinnen,
den Sommer hindurch halb groß geworden, ließen ihre Fäden in der Sonne glänzen
vor dem dunklen Eingang. An dem offen stehenden Scheunenthor, wo einst die
Früchte des festen Landes eingefahren, hing schlechtes Fischer- geräthe, zum
Zeugniß der verkehrten Wasserpfuscherei; auf dem Hofe war nicht ein Huhn und
nicht eine Taube, weder Katze noch Hund zu sehen, nur der Brunnen war noch als
etwas Lebendiges da, aber er floß nicht mehr durch die Röhre, sondern sprang
durch einen Riß nahe am Boden über diesen hin und setzte überall kleine Tümpel
an, so daß er das beste Sinnbild der Faulheit abgab. Denn während mit wenig Mühe
des Vaters das Loch zu verstopfen und die Röhre herzustellen
gewesen wäre, mußte sich Vrenchen nun abquälen, selbst das lautere Wasser dieser
Verkommenheit abzugewinnen und seine Wäscherei in den seichten Sammlungen am
Boden vorzunehmen, statt in dem vertrockneten und zerspällten Troge. Das Haus
selbst war ebenso kläglich anzusehen; die Fenster waren vielfältig zerbrochen
und mit Papier verklebt, aber doch waren sie das Freundlichste an dem Verfall;
denn sie waren, selbst die zerbrochenen Scheiben, klar und sauber gewaschen, ja
förmlich polirt und glänzten so hell, wie Vrenchens Augen, welche ihm in seiner
Armuth ja auch allen übrigen Staat ersetzen mußten. Und wie die krausen Haare
und die rothgelben Kattunhalstücher zu Vrenchens Augen, stand zu diesen
blinkenden Fenstern das wilde grüne Gewächs, was da durcheinander rankte um das
Haus, flatternde Bohnenwäldchen und eine ganze duftende Wild- niß von rothgelbem
Goldlack. Die Bohnen hielten sich, so gut sie konnten, hier an einem Har-
kenstiel oder an einem verkehrt in die Erde gesteckten Stumpfbesen, dort an
einer von Rost zerfressenen Helbarte oder Sponton, wie man es
27 «
nannte, als Vrenchens Großvater das Ding als Wachtmeister getragen, welches es
jetzt aus Notb in die Bohnen gepflanzt hatte; dort kletterten sie wieder lustig
eine verwitterte Leiter empor, die am Hause lehnte seit undenklichen Zeiten, und
hingen von da in die klaren Fensterchen hinunter wie Vrenchens Kräuselhaare in
seine Augen. Dieser mehr malerische als wirthliche Hof lag etwas beiseit und
hatte keine näheren Nachbarhäuser, auch ließ sich in diesem Augenblicke nirgends
eine lebendige Seele wahrnehmen; Sali lehnte daher in aller Sicherheit an einem
alten Scheunchen, etwa dreißig Schritte entfernt und schaute unverwandt nach dem
stillen wüsten Hause hinüber. Eine geraume Zeit lehnte und schaute er so, als
Vrenchen unter die Hausthür kam und lange vor sich hinblickte, wie mit allen
ihren Gedanken an einem Gegenstände hängend. Sali rührte sich nicht und wandte
kein Auge von ihr. Als sie endlich zufällig in dieser Richtung hinsah, fiel er
ihr in die Augen. Sie sahen sich eine Weile an, herüber und hinüber, als ob sie
eine Lusterscheinung betrachteten, bis sich Sali endlich aufrich-
tete und langsam über die Straße und über den Hof ging auf Vrenchen los. Als er
dem Mädchen nahe war, streckte es seine Hände gegen ihn aus und sagte: Sali! Er
ergriff die Hände und sah ihr immerfort in's Gesicht. Thränen stürzten aus ihren
Augen, während sie unter seinen Blicken vollends dunkelroth wurde, und sie
sagte: Was willst Du hier? "Nur Dich sehend erwiederte er, „wollen wir nicht
wieder gute Freunde sein?« „Und unsere Ältern?« fragte Vrenchen, sein weinendes
Gesicht zur Seite neigend, da es die Hände nicht frei hatte, um es zu bedecken.
„Sind wir Schuld an dem, was sie gethan und geworden sind?« sagte Sali,
„vielleicht können wir das Elend nur gut machen, wenn wir zwei zusammenhalten
und uns recht lieb sind!„ „Es wird nie gut kommen, antwortete Vrenchen mit einem
tiefen Seufzer, „geh in Gottes Namen Deiner Wege, Sali!« „ Bist Du allein?«
fragte dieser, „ kann
ich einen Augenblick hineinkommen?« „Der Vater ist zur Stadt, wie er sagte, um
Deinem Vater irgend etwas anzuhängen; aber hereinkommen kannst Du nicht, weil Du
später viel- leicht nicht so ungesehen weggehen kannst wie setzt!
Noch ist alles still und Niemand um den Weg, ich bitte Dich, geh setzt!« „Nein,
so geh' ich nicht! ich mußte seit gestern immer an Dich denken, und ich geh'
nicht so fort, wir müssen mit einander reden, wenigstens eine halbe Stunde lang
oder eine Stunde, das wird uns gut thun!« Vrenchcn besann sich ein Weilchen und
sagte dann: „Ich geh' gegen Abend auf unsern Acker hinaus, Du weißt welchen, wir
haben nur noch den, und hole etwas Gemüse. Ich weiß, daß Niemand weiter dort
sein wird, weil die Leute anderswo schneiden; wenn Du willst, so komm dort hin,
aber setzt geh' und nimm Dich in Acht, daß Dich Niemand sieht! Wenn auch kein
Mensch hier mehr mit uns umgeht, so würden sie doch ein solches Gerede machen,
daß es der Vater sogleich vernähme.« Sie ließen sich jetzt die Hände frei,
ergriffen sie aber auf der Stelle wieder und beide sagten gleichzeitig: „Und wie
geht es Dir auch?« Aber statt sich antworten fragten sie das Gleiche auf's Neue
und die Antwort lag nur in den beredten Augen, da sie nach Art der Verliebten
die Worte nicht mehr zu lenken wußten und ohne sich weiter etwas
zu sagen, endlich halb selig und halb traurig aus einander huschten. »Ich komme
recht bald hinaus, geh' nur gleich hin!^ rief Vrenchen noch nach.
Sali ging auch alsobald auf die stille schöne Anhöhe hinaus, über welche die
drei Acker sich erstreckten, und die prächtige stille Iulisonne, die fahrenden
weißen Wolken, welche über das reife wallende Kornfeld wegzogen, der glänzende
weiße Fluß, der unten vorüberwallte, alles dies erfüllte ihn zum ersten Male
seit langen Jahren wieder mit Glück und Zufriedenheit, statt mit Kummer, und er
warf sich der Länge nach in den durchsichtigen Halbschatten des Kornes, wo
dasselbe Martis wilden Acker begränzte, und guckte glückselig in den Himmel.
Obgleich es kaum eine Viertelstunde währte, bis Vrenchen nachkam und er an
nichts anderes dachte, als an sein Glück und dessen Namen, stand es doch
plötzlich und unverhofft vor ihm, auf ihn niedcrlächelnd, und froh erschreckt
sprang -er auf. »Vreeli!« rief er, und dieses gab ihm still und lächelnd beide
Hände, und Hand in
Keller, die Leute von Seldwyla. 18 Hand gingen sie nun das
flüsternde Korn entlang bis gegen den Fluß hinunter und wieder zurück, ohne viel
zu reden; sie legten zwei und drei Mal den Hin- und Herweg zurück, still,
glückselig und ruhig, so daß dieses einige Paar nun auch einem Sternbilde glich,
welches über die sonnige Rundung der Anhöhe und hinter derselben niederging, wie
einst die sicher gehenden Pflugzüge ihrer Vater. Als sie aber eins- mals die
Augen von den blauen Kornblumen aufschlugen, an denen sie gehastet, sahen sie
plötzlich einen andern dunklen Stern vor sich hergehen, einen schwärzlichen
Kerl, von dem sie nicht wußten, woher er so unversehens gekommen. Er mußte im
Korne gelegen haben; Vrenchen zuckte zusammen und Sali sagte erschreckt: Der
schwarze Geiger! In der That trug der Kerl, der vor ihnen Herstrich, eme Geige
mit dem Bogen unter dem Arm und sah übrigens schwarz genug aus; außer einem
schwarzen Filzhütchen und einem schwarzen rußigen Kittel, den er trug, war auch
sein Haar pechschwarz, so wie der ungeschorene Bart, das Gesicht und die Hände
aber ebenfalls geschwärzt; denn er trieb allerlei Handwerk,
meistens Kesselflicken, half auch den Kohlenbrennern und Pech- siedern in den
Wäldern, und ging mit der Geige nur auf einen guten Schick aus, wenn die Bauern
irgendwo lustig waren und ein Fest feierten. Sali und Vrenchen gingen
mäuschenstill hinter ihm drein und dachten, er würde vom Felde geben und
verschwinden, ohne sich umzusehen, und so schien es auch zu sein, denn er that,
als ob er nichts von ihnen merkte. Dazu waren sie in einem seltsamen Bann, daß
sie nicht wagten den schmalen Pfad zu verlassen und dem unheimlichen Gesellen
unwillkürlich folgten, bis an das Ende des Feldes, wo jener ungerechte
Steinhaufen lag, der das immer noch streitige Ackerzipfelchen bedeckte. Eine
zahllose Menge von Mohnblumen oder Klatschrosen hatte sich darauf angesiedelt,
weshalb der kleine Berg feuerroth aussah zur Zeit. Plötzlich sprang der schwarze
Geiger mit einem Satze auf die roth bekleidete Steinmasse hinauf, kehrte sich
und sah ringsum. Das Pärchen blieb stehen und sah Verlegen zu dem dunklen
Burschen hinauf; denn vorbei konnten sie nicht gehen, weil der Weg in
18 * das Dorf führte und umkehren mochten sie auch nicht vor
seinen Augen. Er sah sie scharf an und rief! "Ich kenne Euch, Ihr seid die
Kinder derer, die mir den Boden hier gestohlen haben! Es freut mich zu sehen,
wie gut Ihr gefahren seid und werde gewiß noch erleben, daß Ihr vor mir den Weg
alles Fleisches geht! Seht mich nur an, Ihr zwei Spatzen! Gefällt Euch meine
Nase, wie?« In der That besaß er eine schreckbare Nase, welche wie ein großes
Winkelmaß aus dem dürren schwarzen Gesicht ragte oder eigentlich mehr einem
tüchtigen Knebel oder Prügel glich, welcher in dies Gesicht geworfen worden war,
und unter dem ein kleines rundes Löchelchen von einem Munde sich seltsam stutzte
und zusammenzog, aus dem er unaufhörlich pustete, pfiff und zischte. Dazu stand
das kleine Filzhütchen ganz unheimlich, welches nicht rund und nicht eckig und
so sonderlich geformt war, daß es alle Augenblicke seine Gestalt zu verändern
schien, obgleich es unbeweglich saß, und von den Augen des Kerls war fast nichts
als das Weiße zu sehen, da die Sterne unaufhörlich auf einer blitzschnellen Wan-
derung begriffen waren und wie zwei Hasen im Zickzack
umhersprangen. "Seht mich nur an«, fuhr er fort, "Eure Vater kennen mich wohl
und jedermann in diesem Dorfe weiß wer ich bin, wenn er nur meine Nase ansieht.
Da haben sie vor Jahren ausgeschrieben, daß ein Stück Geld für den Erben dieses
Ackers bereit liege; ich habe mich zwanzig Mal gemeldet, aber ich habe keinen
Taufschein und keinen Heimathschein und meine Freunde, die Heimathlosen, die
meine Geburt gesehen, haben kein gültiges Zeugniß, und so ist die Frist längst
verlaufen und ich bin um den blutigen Pfennig gekommen mit dem ich hätte
auswandern können! Ich habe Eure Vater angefleht, daß sie mir bezeugen möchten,
sie müßten mich nach ihrem Gewissen für den rechten Erben halten; aber sie haben
mich von ihren Höfen gesagt und nun sind sie selbst zum Teufel gegangen! Item,
das ist der Welt Lauf, mir kann's recht sein, ich will Euch doch geigen, wenn
Ihr tanzen wollt!« Damit sprang er auf der andern Seite von den Steinen hinunter
und machte sich dem Dorfe zu, wo gegen Abend der Erntesegen eingebracht wurde
und die Leute guter Dinge waren. Als er verschwunden, ließ sich
das Paar ganz muthlos und betrübt aus die Steine nieder; sie ließen ihre
verschlungenen Hände fahren und stützten die traurigen Köpfe darauf; denn die
Erscheinung des Geigers und seine Worte hatten sie aus der glücklichen
Vergessenheit gerissen, in welcher sie wie zwei Kinder auf und abgewandelt, und
wie sie nun auf dem harten Grund ihres Elendes saßen, verdunkelte sich das
heitere Lebenslicht und ihre Gemüther wurden so schwer wie Steine.
Da erinnerte sich Vrenchen unversehens der wunderlichen Gestalt und der Nase des
Geigers, es mußte plötzlich hell auflachen und rief: "Der arme Kerl sieht gar zu
spaßhaft aus! Was für eine Nase!« und eine allerliebste sonnenhelle Lustigkeit
verbreitete sich über des Mädchens Gesicht, als ob sie nur geharrt hätte, bis
des Geigers Nase die trüben Wolken wegstieße. Sali sah Vrenchen an und sah diese
Fröhlichkeit. Es hatte die Ursache aber schon wieder vergessen und lachte nur
noch auf eigene Rechnung dem Sali in's Gesicht. Dieser, verblüfft
und erstaunt, starrte unwillkürlich mit lachendem Munde auf die Augen, gleich
einem Hungrigen, der ein süßes Weizenbrod erblickt, und rief: „Bei Gott, Vreeli!
wie schön bist Du!^ Vren- chen lachte ihn nur noch mehr an und hauchte dazu aus
klangvoller Kehle einige kurze muth- willige Lachtöne, welche dem armen Sali
nicht anders dünkten, als der Gesang einer Nachtigall. "O Du Here! rief er, wo
hast Du das gelernt? welche Teufelskünste treibst Du da? „Ach Du lieber Gott!
sagte Vrenchen mit schmeichelnder Stimme und nahm Sali'ö Hand, "das sind keine
Teufelskünste! Wie lange hätte ich gern einmal gelacht! Ich habe wohl zuweilen,
wenn ich ganz allein war, über irgend etwas lachen müssen, aber es war nichts
Rechts dabei; jetzt aber möchte ich Dich immer und ewig anlachen, wenn ich Dich
sehe, und ich möchte Dich wohl immer und ewig sehen! Bist Du mir auch ein
bischen recht gut? "O Vreeli! sagte er und sah ihr ergeben und treuherzig in die
Augen, ich habe noch nie ein Mädchen angesehen, es war mir immer, als ob ich
Dich einst lieb haben müßte und ohne daß ich wollte oder wußte,
hast Du mir doch immer im Sinn gelegen!« "Und Du mir auch, sagte Vrenchen, und
das noch viel mehr; denn Du hast mich nie angesehen und wußtest nicht, wie ich
geworden bin; ich aber habe dich zu Zeiten aus der Ferne und sogar heimlich aus
der Nähe recht gut betrachtet und wußte immer, wie Du aussiehst! Weißt Du noch,
wie oft wir als Kinder hieher gekommen sind? denkst Du noch des kleinen Wagens?
Wie kleine Leute sind wir damals gewesen und wie lang ist es her! Man sollte
denken wir wären recht alt?« "Wie alt bist Du jetzt?« fragte Sali voll Vergnügen
und Zufriedenheit, "Du mußt ungefähr siebzehn sein?« "Siebzehn und ein halbes
Jahr bin ich alt!« erwiederte Vrenchen, „und wie alt bist Du? Ich weiß aber
schon, Du bist bald zwanzig!« "Woher weißt Du das?« fragte Sali. "Gelt, wenn ich
es sagen wollte!« "Du willst es nicht sagen?« "Nein!« "Gewiß nicht?« "Nein,
nein!« "Du sollst es sagen!« "Willst Du mich etwa zwingen?« "Das wollen wir
sehen!« Diese einfältigen Worte führte Sali, um seine Hände zu beschäftigen und
mit unge-
schickten Liebkosungen, welche wie eine Straft aussehen sollten, das schöne
Mädchen zu bedrängen. Sie führte auch, sich wehrend, mit vieler Langmuth den
albernen Wortwechsel fort, der trotz seiner Leerheit beide witzig und süß genug
dünkte, bis Sali erbost und kühn genug war, Vrenchens Hände zu bezwingen und es
in die Mohnblumen zu drücken. Da lag es nun und zwinkerte in der Sonne mit den
Augen, seine Wangen glühten wie Purpur und sein Mund war halb geöffnet und ließ
zwei Reihen weiße Fähnchen durchschimmern. Fein und schön flössen die dunklen
Augenbraunen in einander und die sunge Brust hob und senkte sich muthwillig
unter sämmtlichen vier Händen, welche sich kunterbunt darauf streichelten und
bekriegten. Sali wußte sich nicht zu lassen vor Freuden, das schlanke schöne
Geschöpf vor sich zu sehen, es sein eigen zu wissen, und es dünkte ihm ein
Königreich. "Alle Deine weißen Zähne hast Du noch! lachte er, weißt Du noch, wie
oft wir sie einst gezählt haben? Kannst Du setzt zählen?« "Das sind sa nicht die
gleichen, Du Löhli! sagte Vrenchen, jene sind längst ausge-
fallen!« Sali wollte nun in seiner Einfalt jenes Spiel wieder erneuern und die
glänzenden Zahnperlen zählen; aber Vrenchen verschloß plötzlich den rothen Mund,
richtete sich auf und begann einen Kranz von Mohnrosen zu winden, den es sich
auf den Kopf setzte. Der Kranz war voll und breit und gab der bräunlichen Dirne
ein fabelhaftes reizendes Ansehen, und der arme Sali hielt in seinem Arm, was
reiche Leute theuer bezahlt hätten, wenn sie es nur gemalt an ihren Wänden
hätten sehen können. Zetzt sprang sie aber empor und rief: „Himmel, wie heiß ist
es hier! Da sitzen wir wie die Narren und lassen uns versengen! Komm, mein
Lieber! laß uns in's hohe Korn sitzen!« Sie schlüpften hinein so geschickt und
sachte, daß sie kaum eine Spur zurückließen, und bauten sich einen engen Kerker
in den goldenen Ähren, die ihnen hoch über den Kopf ragten, als sie drin saßen,
so daß sie nur den tiefblauen Himmel über sich sahen und sonst nichts von der
Welt. Sie umhalsten sich und küßten sich unverweilt und so lange bis sie
einstweilen müde waren, oder wie man es nennen will, wenn das Küssen zweier Verliebter auf eine oder zwei Minuten sich selbst überlebt und die
Vergänglichkeit alles Lebens mitten im Rausche der Blüthezeit ahnen läßt. Sie
hörten die Lerchen singen hoch über sich und suchten dieselben mit ihren
scharfen Augen, und wenn sie glaubten, flüchtig Eine in der Sonne aufblitzen zu
sehen, gleich einem plötzlich aufleuchtenden oder hinschießenden Stern am blauen
Himmel, so küßten sie sich wieder zur Belohnung und suchten einander zu
übervorthei- len und zu täuschen, so viel sie konnten. „Siehst Du, dort blitzt
Eine!« flüsterte Sali und Branchen erwiederte eben so leise: „Ich höre sie wohl,
aber ich sehe sie nicht!« „Doch, paß nur auf, dort wo das weiße Wölkchen steht
ein we-' nig rechts davon!« Und beide sahen eifrig hin und sperrten vorläufig
ihre Schnäbel auf, wie die jungen Wachteln im Neste, um sie unverzüglich auf
einander zu heften, wenn sie sich einbildeten, die Lerche gesehen zu haben. Auf
einmal hielt Vrenchen inne und sagte: „Dies ist also eine ausgemachte Sache, daß
Jedes von uns einen Schatz hat, dünkt es Dich nicht so?« „Ja, sagte Sali, es
scheint mir fast auch!« "Wie gefällt Dir denn Dein Schätzchen,
sagte Vrenchen, was ist es für ein Ding, was hast Du von ihm zu melden?« "Es ist
ein gar seines Ding, sagte Sali, es hat zwei braune Augen, einen rothen Mund und
läuft auf zwei Füßen; aber seinen Sinn kenn ich weniger als den Pabst zu Rom!
und was kannst Du von Deinem Schatz berichten?« "Er hat zwei braune Augen, einen
nichtsnutzigen Mund und braucht zwei verwegene starke Arme; aber seine Gedanken
sind mir unbekannter, als der türkische Kaiser!« "Es ist eigentlich wahr, sagte
Sali, daß wir uns weniger kennen, als wenn wir uns nie gesehen hätten, so fremd
hat uns die lange 'Zeit gemacht, seit wir groß geworden sind! Was ist alles
vorgegangen in Deinem Köpfchen, mein liebes Kind?« "Ach, nicht viel! tausend
Narrcnspofsen haben sich wollen regen, aber es ist mir immer so trübselig
ergangen, daß sie nicht aufkommen konnten!« "Du armes Schätzchen! sagte Sali,
ich glaube aber Du hast es hinter den Ohren, nicht?« "Das kannst Du ja nach und
nach erfahren, wenn Du mich recht lieb hast!« "Wenn Du einst meine Frau bist?«
Vrcnchen zitterte leis bei diesem letzten Worte und schmiegte
sich tiefer in Sali's Arme, ihn von Neuem lange und zärtlich küssend. Es traten
ihr dabei Thränen in die Augen und beide wurden auf einmal traurig, da ihnen
ihre Hoffnungsarme Zukunft in den Sinn kam und die Feindschaft ihrer Ältern.
Vrenchcn seufzte und sagte: Komm, ich muß nun gehen! und so erhoben sie sich und
gingen Hand in Hand aus dem Kornfeld, als sie Vrenchens Vater spähend vor sich
sahen. Mit dem kleinlichen Scharfsinn des müffigen Elendes hatte dieser, als er
dem Sali begegnet, neugierig gegrübelt, was der wohl allein im Dorfe zu suchen
ginge, und sich des gestrigen Vorfalles erinnernd, verfiel er, immer nach der
Stadt zu schlendernd, endlich auf die richtige Spur, rein aus Groll und
unbeschäftigter Bosheit, und nicht so bald gewann der Verdacht eine bestimmte
Gestalt, so kehrte er mitten in den Gassen von Seldwyla um und trollte wieder in
das Dorf hinaus, wo er seine Tochter in Haus und Hof und rings in den Hecken
vergeblich suchte. Mit wachsender Neugier rannte er auf den Acker hinaus, und
als er da Vrenchens Korb liegen sah, in welchem es die Früchte zu
holen pflegte, das Mädchen selbst aber nirgends erblickte, spähte er eben am
Korne des Nachbars herum, als die erschrockenen Kinder herauskamen.
Sie standen wie versteinert und Marti stand erst auch da und beschaute sie mit
bösen Blicken, bleich wie Blei; dann fing er fürchterlich an zu toben in
Geberden und Schimpfworten und langte zugleich grimmig nach dem jungen Burschen,
um ihn zu würgen; Sali wich aus und floh einige Schritte zurück, entsetzt über
den wilden Mann, sprang aber sogleich wieder zu, als er sah, daß der Alte statt
seiner nun das zitternde Mädchen faßte, ihm eine Ohrfeige gab, daß der rothe
Kranz herunterflog, und seine Haare um die Hand wickelte, um es mit sich fort zu
reißen und weiter zu mißhandeln. Ohne sich zu besinnen, raffte er einen Stein
auf und schlug mit demselben den Alten gegen den Kopf, halb in Angst um Vrenchen
und halb im Jähzorn. Marti taumelte ein wenig und sank dann bewußtlos aus den
Steinhaufen nieder und zog das erbärmlich aufschreiende Vrenchen mit. Sali befreite noch dessen Haare aus der Hand des Bewußtlosen und
richtete es auf; dann stand er da wie eine Bildsäule, rathlos und gedankenlos.
Das Mädchen, als es den wie todt daliegenden Vater sah, fuhr sich mit den Händen
über das erbleichende Gesicht, schüttelte sich und sagte: Hast Du ihn
erschlagen? Sali nickte lautlos und Vrenchen schrie: O Gott, Du lieber Gott! Es
ist mein Vater! der arme Mann! und sinnlos warf es sich über ihn und hob seinen
Kops auf, an welchem indessen kein Blut floß. Es ließ ihn wieder sinken, Sali
ließ sich auf der andern Seite des Mannes nieder und Beide schauten, still wie
das Grab und mit erlahmten reglosen Händen in das leblose Gesicht. Um nur etwas
anzufangen, sagte endlich Sali: "Er wird doch nicht gleich todt sein müssen? das
ist gar nicht ausgemacht!^ Vrenchen riß ein Blatt von einer Klatschrose ab und
legte es auf die erblaßten Lippen und es bewegte sich schwach. "Er athmet noch,
rief es, so lauf doch in's Dorf und hol' Hülfet Als Sali aufsprang und laufen
wollte, streckte es ihm die Hand nach und rief ihn zurück: Komm aber nicht mit
zurück und sage nichts, wie es zugegangen, ich werde auch
schweigen, man soll nichts aus mir herausbringen! sagte es und sein Gesicht, das
es dem armen rathlosen Burschen zuwandte, überfloß von schmerzlichen Thränen.
„Komm, küß mich noch ein Mal! Nein, geh, mach Dich sort! Es ist auS, eö ist ewig
auS, wir können nicht zusammenkommen!«. Es stieß ihn fort und er lief willenlos
dem Dorfe zu. Er begegnete einem Knäbchen, das ihn nicht kannte; diesem trug er
auf, die nächsten Leute zu holen und beschrieb ihm genau, wo die Hülfe nöthig
sei. Dann machte er sich verzweifelt fort und irrte die ganze Nacht im Gehölze
herum. Am Morgen schlich er in die Felder, um zu erspähen, wie es gegangen sei,
und hörte von frühen Leuten, welche mit einander sprachen, daß Marti noch lebe,
aber nichts von sich wisse, und wie das eine seltsame Sache sei, da kein Mensch
wisse, was ihm zugestoßen. Erst jetzt ging er in die Stadt zurück und verbarg
sich in dem dunkeln Elend des Hauses. Vrenchen hielt ihm Wort; es
war nichts aus ihm herauszufragen, als daß es selbst den Vater so gefunden habe,
und da er am andern Tage sich wieder tüchtig regte und athmete, freilich ohne
Bewußtsein, und überdies kein Kläger da war, so nahm man an, er sei betrunken
gewesen und auf die Steine gefallen und ließ die Sache auf sich beruhen.
Vrenchen pflegte ihn und ging nicht von seiner Seite, außer um die Arzneimittel
zu holen beim Doktor und etwa für sich selbst eine schlechte Suppe zu kochen;
denn es lebte beinahe von nichts, obgleich es Tag und Nacht auf sein mußte und
Niemand ihm half. Es dauerte beinahe sechs Wochen, bis der Kranke allmälig zu
seinem Bewußtsein kam, obgleich er vorher schon wieder aß und in seinem Bette
ziemlich munter war. Aber es war nicht das alte Bewußtsein, das er jetzt
erlangte, sondern es zeigte sich immer deutlicher, je mehr er sprach, daß er
blödsinnig geworden, und zwar auf die wunderlichste Weise. Er erinnerte sich nur
dunkel an das Geschehene und wie an etwas sehr lustiges, was ihn nicht weiter
berühre, lachte immer wie ein Narr und war sehr guter
Keller, die Leute von Seldwyla. 19 Dinge. Noch im Bette liegend
brachte er hundert närrische, sinnlos mutwillige Redensarten und Einfälle zum
Vorschein, schnitt Gesichter und zog sich die schwarzwollene Zipfelmütze in die
Augen und über die Nase herunter, daß diese aussah, wie ein Sarg unter einem
Bahrtuch. Das bleiche und abgehärmte Vrenchen hörte ihm geduldig zu, Thränen
vergießend über das thörichte Wesen, welches die arme Tochter noch mehr
ängstigte, als die frühere Bosheit; aber wenn der Alte zuweilen etwas gar zu
drolliges anstellte, so mußte es mitten in seiner Qual laut auflachen, da sein
unterdrücktes Wesen immer zur Lust aufzuspringen bereit war, wie ein gespannter
Bogen, worauf aber eine um so tiefere Betrübniß erfolgte. Als der Alte aber
ausstehen konnte, war gar nichts mehr mit ihm anzustellen, er machte nichts als
Dummheiten, lachte und stöberte um das Haus herum, setzte sich in die Sonne und
streckte die Zunge heraus oder hielt lange Reden in die Bohnen hinein.
Um die gleiche Zeit aber war es auch aus mit den letzten Überbleibseln seines
ehemaligen Besitzes und die Unordnung so weit gediehen, daß auch
sein Haus und der letzte Acker, seit geraumer Zeit verpfändet, nun gerichtlich
verkauft wurden. Denn der Bauer, welcher die zwei Acker des Manz gekauft,
benutzte die gänzliche Verkommenheit Martis und seine Krankheit und führte den
alten Streit wegen des strittigen Steinfleckes kurz und entschlossen zu Ende und
der verlorene Prozeß trieb Martis Faß vollends den Boden aus, indessen er in
seinem Blödsinne nichts mehr von diesen Dingen wußte. Die Versteigerung fand
statt; Marti wurde von der Gemeinde in einer Stiftung für dergleichen arme
Tröpfe auf öffentliche Kosten untergebracht; diese Anstalt befand sich in der
Hauptstadt des Länd- chens, der gesunde und eßbegierige Blödsinnige wurde noch
gut gefüttert, dann auf ein mit Ochsen bespanntes Wägelchen geladen, das ein
ärmlicher Bauersmann nach der Stadt führte, um zugleich einen oder zwei Säcke
Kartoffeln zu verkaufen, und Vrenchen setzte sich zu dem Vater auf das Fuhrwerk,
um ihn auf diesem letzten Gange zu dem lebendigen Begräbniß zu begleiten. Es war
eine traurige und bittere Fahrt, aber Vrenchen wachte sorgfältig über sei-
19 * nen Vater und ließ es ihm an nichts fehlen, und es sah sich
nicht um und ward nicht ungeduldig, wenn durch die Capriolen des Unglücklichen
die Leute aufmerksam wurden und dem Wägelchen nachliefen, wo sie durchführen.
Endlich erreichten sie das weitläufige Gebäude in der Stadt, wo die langen
Gänge, die Hofe und ein freundlicher Garten von einer Menge ähnlicher Tröpfe
belebt waren, die alle in weiße Kittel gekleidet waren und dauerhafte Lederkäpp-
chen auf den harten Köpfen trugen. Auch Marti wurde noch vor Vrenchens Augen in
diese Tracht gekleidet, und er freuete sich wie ein Kind darüber und tanzte
singend umher. »Gott grüß euch, ihr geehrten Herren!« rief er seine neuen
Genossen an, »ein schönes Haus habt ihr hier! Geh' heim, Vrenggel! und sag' der
Mutter, ich komme nicht mehr nach Haus, hier gefällt's mir bei Gott! Juchhei! Es
kreucht ein Igel über den Hag, ich hab' ihn hören bellen! O Meitli küß kein'
alten Knab, küß nur die jungen Gesellen! Alle die Wässerlein laufen in Rhein,
die mit dem Pflaumenaug', die muß es sein! Gehst Du schon, Vreeli? Du siehst ja
aus wie der Tod im Häfelein und geht es mir doch so
erfreulich! Die Füchsinn schreit im Felde: Halleo, halleo! das Herz thut ihr
weho! hoho!« Ein Aufseher gebot ihm Ruhe und führte ihn zu einer leichten
Arbeit, und Vrenchen ging das Fuhrwerk aufzusuchen. Es setzte sich auf den
Wagen, zog ein Stückchen Brod hervor und aß dasselbe; dann schlief es, bis der
Bauer kam und mit ihm nach dem Dorfe zurückfuhr. Sie kamen erst in der Nacht an.
Vrenchen ging nach dem Hause, in dem es geboren und nur zwei Tage bleiben
durste, und es war setzt zum ersten Mal in seinem Leben ganz allein darin. Es
machte ein Feuer, um das letzte Restchen Kaffee zu kochen, das es noch besaß,
und setzte sich auf den Heerd; denn es war ihm ganz elendiglich zu Muth. Es
sehnte sich und härmte sich ab, den Sali nur ein einziges Mal zu sehen und
dachte inbrünstig an ihn; aber die Sorgen und der Kummer verbitterten seine
Sehnsucht und diese machte die Sorgen wieder viel schwerer. So saß es und
stützte den Kopf in die Hände, als Jemand durch die offenstehende Thür
hereinkam. »Sali!« rief Vrenchen, als es auf- sah, und fiel ihm um
den Hals; dann sahen sich aber Beide erschrocken an und riefen: „Wie siehst Du
elend aus!,, Denn Sali sah nicht minder als Vrenchen bleich und abgezehrt aus.
Alles vergessend zog es ihn zu sich auf den Heerd und sagte: „Bist Du krank
gewesen, oder ist es Dir auch so schlimm gegangen?:, Sali antwortete: „Nein, ich
bin gerade nicht krank, außer vor Heimweh nach Dir! Bei uns geht es fetzt hoch
und herrlich zu; der Vater hat einen Einzug und Unterschleif von auswärtigem
Gefindel und ich glaube, so viel ich merke, ist er ein Diebshehlex geworden.
Deshalb ist jetzt einstweilen Hülle und Fülle in unserer Taverne, so lang es
geht und bis es ein Ende mit Schrecken nimmt. Die Mutter hilft dazu, aus
bitterlicher Gier, nur etwas im Hause zu sehen, und glaubt den Unfug noch durch
eine gewisse Aufsicht und Ordnung annehmlich und nützlich zu machen! Mich fragt
man nicht und ich konnte mich nicht viel darum kümmern; denn ich kann nur an
Dich denken Tag und Nacht. Da allerlei Landstreicher bei uns einkehren, so haben
wir alle Tage gehört, was bei euch vorgeht, worüber mein Vater
sich freut wie ein kleines Kind. Daß Dein Vater heute nach dem Spittel gebracht
wurde, haben wir auch vernommen; ich habe gedacht, Du werdest jetzt allein sein
und bin gekommen, um Dich zu sehend Vrenchen klagte ihm jetzt auch alles, was
sie drückte und was sie erlitt, aber mit so leichter zutraulicher Zunge, als ob
sie ein großes Glück beschriebe, weil sie glücklich war, Sali neben sich zu
sehen. Sie brachte inzwischen nothdürftig ein Becken voll warmen Kaffee
zusammen, welchen mit ihr zu theilen sie den Geliebten zwang. "Also übermorgen
mußt Du hier weg?« sagte Sali, „was soll denn um's Himmelswillen werden?« "Das
weiß ich nicht,« sagte Vrenchen, "ich werde dienen müssen und in die Welt
hinaus! Zch werde es aber nicht aushalten ohne Dich; und doch kann ich Dich nie
bekommen, auch wenn alles andere nicht wäre, blos weil Du meinen Vater
geschlagen und um den Verstand gebracht hast! Dies würde immer ein schlechter
Grundstein unserer Ehe sein und wir beide nie sorglos werden, nie!« Sali seufzte
und sagte: "Ich wollte auch schon hundert Mal Soldat werden oder mich in einer fremden Gegend als Knecht verdingen, aber ich kann noch
nicht fortgehen, so lange Du hier bist, und hernach wird es mich aufreiben. Ich
glaube das Elend macht meine Liebe zu Dir stärker und schmerzhafter, so daß es
um Leben und Tod geht! Ich habe von dergleichen keine Ahnung gehabt!« Vrenchen
sah ihn liebevoll lächelnd an; sie lehnten sich an die Wand zurück und sprachen
nichts mehr, sondern gaben sich schweigend der glückseligen Empfindung hin, die
sich über allen Gram erhob, daß sie sich im größten Ernste gut wären und geliebt
wüßten. Darüber schliefen sie friedlich ein auf dem unbequemen Heerde, ohne
Kissen und Pfühl, und schliefen so sanft und ruhig wie zwei Kinder in einer
Wiege. Schon graute der Morgen, als Sali zuerst erwachte; er weckte Vrenchen so
sacht er konnte; aber es duckte sich immer wieder an ihn, schlaftrunken, und
wollte sich nicht ermuntern. Da küßte er es heftig auf den Mund und Vrenchen
fuhr empor, machte die Augen weit auf und als es Sali erblickte, rief es:
»Herrgott! ich habe eben noch von Dir geträumt! Es träumte mir, wir tanzten mit
einander auf unse- rer Hochzeit, lange, lange Stunden! und waren
so glücklich, sauber geschmückt und es fehlte uns an nichts. Da wollten wir uns
endlich küssen und dürsteten darnach, aber immer zog uns Etwas auseinander und
nun bist Du es selbst gewesen, der uns gestört und gehindert hat! Aber wie gut,
daß Du gleich da bist!« Gierig fiel es ihm um den Hals und küßte ihn, als ob es
kein Ende nehmen sollte, »lind was hast Du denn geträumt?« fragte er und
streichelte ihm Wangen und Kinn. „Mir träumte, ich ginge endlos auf einer langen
Straße durch einen Wald und Du in der Ferne immer vor mir her; zuweilen sahest
Du nach mir um, winktest mir und lachtest und dann war ich wie im Himmel. Das
ist Alles!« Sie traten unter die offengebliebene Küchenthüre, die unmittelbar
in's Freie führte, und mußten lachen, als sie sich in's Gesicht sahen. Denn die
rechte Backe Vrenchens und die linke Salis, welche im Schlafe aneinander gelehnt
hatten, waren von dem Drucke ganz roth gefärbt, während die Bläffe der andern
durch die kühle Nachtluft noch erhöht war. Sie rieben sich zärtlich die kalte
bleiche Seite
ihrer Gesichter, um sie auch roth zu machen; die frische Morgenluft, der thauige
stille Frieden, der über der Gegend lag, das junge Morgenroth machten sie
fröhlich und selbstvergessen und besonders in Vrenchen schien ein freundlicher
Geist der Sorglosigkeit gefahren zu sein. "Morgen Abend muß ich also aus diesem
Hause fort,« sagte es, »und ein anderes Obdach suchen. Vorher aber möchte ich
Ein Mal, nur Ein Mal recht lustig sein, und zwar mit Dir; ich möchte recht
herzlich und fleißig mit Dir tanzen irgendwo, denn das Tanzen aus dem Traume
steckt mir immerfort im Sinn!« „Jedenfalls will ich dabei sein und sehen, wo Du
unterkommst,« sagte Sali, „und tanzen wollte ich auch gerne mit Dir, Du herziges
Kind! aber wo?« „Es ist Morgen Kirchweih an zwei Orten nicht sehr weit von
hier,« erwiederte Vrenchen, „da kennt und beachtet man uns weniger; draußen am
Wasser will ich auf Dich warten und dann können wir gehen, wohin es uns gefällt,
um uns lustig zu machen, einmal, Ein Mal nur! Aber je, wir haben ja gar kein
Geld!« setzte es traurig hinzu, „da kann nichts daraus werden!« „Laß nur,
sagte Sali, ich will schon etwas mitbringend „Doch nicht von Deinem Vater, von —
von dem Gestohlenen?« „Nein, sei nur ruhig! ich habe noch meine silberne Uhr
bewahrt bis dahin, die will ich verkaufen.« „Ich will Dir nicht abrathen, sagte
Vrenchen erröthend, denn ich glaube, ich müßte sterben, wenn ich nicht morgen
mit Dir tanzen könnte.« „Es wäre das Beste, wir Beide könnten sterben!« sagte
Sali, sie umarmten sich wehmüthig und schmerzlich zum Abschied, und als sie von
einander ließen, lachten sie sich doch freundlich an in der sichern Hoffnung auf
den nächsten Tag. „Aber wann willst Du denn kommen?« rief Vrenchen noch;
„spätestens um eilf Uhr Mittags, erwiederte er, wir wollen recht ordentlich
zusammen Mittag essen!« „Gut, gut! komm lieber um halb eilf schon!« Doch als
Sali schon im Gehen war, rief sie ihn noch einmal zurück und zeigte ein
plötzlich verändertes verzweiflungsvolleS Gesicht. „Es wird doch nichts daraus,
sagte sie bitterlich weinend, ich habe keine Sonntagsschuhe mehr! Schon gestern
habe ich diese groben hier anziehen müssen, um nach der Stadt zu kommen! Ich
weiß keine Schuhe aufzubringen!« Sali stand rathlos und verblüfft.
"Keine Schuhe! sagte er, da mußt Du halt in diesen kommen!« "Nein, nein, in
denen kann ich nicht tanzen!« „Nun, so müssen wir welche kaufen?" "Wo, mit was?«
"Ei, in Seldwpl da giebt es Schuhläden genug! Geld werde ich in minder als zwei
Stunden haben.« "Aber ich kann doch nicht mit Dir in Seldwyl herumgehen, und
dann wird das Geld nicht langen, auch noch Schuhe zukaufen!" "Es muß! und ich
will die Schuhe kaufen und morgen mitbringen!« „O Du Närr- chen, sie werden fa
nicht passen, die Du kaufst!« "So gieb mir einen alten Schuh mit, oder halt,
noch besser, ich will Dir das Maß nehmen, das wird doch kein Herenwerk sein!«
"Das Maß nehmen? Wahrhaftig, daran hab' ich nicht gedacht! Komm, komm, ich will
Dir ein Schnürchen suchen!« Sie setzte sich wieder auf den Heerd, zog den Rock
etwas zurück und streifte den Schuh vom Fuße, der noch von der gestrigen Reise
her mit einem weißen Strumpfe bekleidet war. Sali kniete nieder und nahm so gut
er es verstand, das Maß, indem er den zierlichen Fuß der Länge und
Breite nach umspannte mit dem Schnürchen und sorgfältig Knoten in dasselbe
knüpfte. »Du Schuhmacher!« sagte Vren- chen und lachte erröthend und
freundschaftlich zu ihm nieder. Sali wurde aber auch roth und hielt den Fuß fest
in seinen Händen, länger als nöthig war, so daß Vrenchen ihn noch tiefer
erröthend zurückzog, den verwirrten Sali aber noch einmal stürmisch umhalste und
küßte, dann aber fortschickte.
Sobald er in der Stadt war, trug er seine Uhr zu einem Uhrmacher, der ihm sechs
oder sieben Gulden dafür gab, für die silberne Kette bekam er auch einige
Gulden, und er dünkte sich nun reich genug; denn er hatte, seit er groß war, nie
so viel Geld besessen auf einmal. Wenn nur erst der Tag vorüber und der Sonntag
angebrochen wäre, um das Glück damit zu erkaufen, das er sich von dem Tage
versprach, dachte er; denn wenn das Übermorgen auch um so dunkler und
unbekannter hereinragte, so gewann die ersehnte Lustbarkeit von Morgen nur einen
seltsamern erhöhten Glanz und Schein. Indessen brachte er die Zeit noch leidlich
hin, indem er ein Paar Schuhe für Vrenchen suchte, und dies war
ihm das vergnügteste Geschäft, das er je betrieben. Er ging von einem
Schuhmacher zum andern, ließ sich alle Weiberschuhe zeigen, die vorhanden waren,
und endlich handelte er ein leichtes und feines Paar ein, so hübsch, wie sie
Vrenchen noch nie getragen. Er verbarg die Schuhe unter seiner Weste und that
sie die übrige Zeit des Tages nicht mehr von sich; er nahm sie sogar mit in's
Bett und legte sie unter das Kopfkissen. Da er das Mädchen heute früh noch
gesehen und morgen wieder sehen sollte, so schlief er fest und ruhig, war aber
in aller Frühe munter und begann seinen dürftigen Sonntagsstaat zurecht zu
machen und auszuputzen, so gut es gelingen wollte. Es fiel seiner Mutter auf und
sie fragte verwundert, was er vor habe, da er sich schon lange nicht mehr so
sorglich angezogen. Er wolle einmal über Land gehen und sich ein wenig umthun,
erwiederte er, er werde sonst krank in diesem Hause. „Das ist mir die Zeit her
ein merkwürdiges Leben, murrte der Vater, und ein Herumschleichen!« „Laß ihn nur
gehen, sagte aber die Mutter, es thut ihm vielleicht gut, es ist
ja ein Elend, wie er aussieht!« »Hast Du Geld zum Spazierengehen? woher hast Du
es?« sagte der Alte. »Ich brauche keines!« sagte Sali. »Da hast Du einen
Gulden!« versetzte der Alte und warf ihm denselben hin. »Du kannst im Dorf in's
Wirthshaus gehen und ihn dort verzehren, damit sie nicht glauben, wir seien hier
so übel dran.« »Ich will nicht in's Dorf und brauche den Gulden nicht, behaltet
ihn nur!« »So hast Du ihn gehabt, es wäre Schad, wenn Du ihn haben müßtest, Du
Steck- kopf!« rief Man; und schob seinen Gulden wieder in die Tasche. Seine Frau
aber, welche nicht wußte, warum sie heute ihres Sohnes wegen so wehmüthig und
gerührt war, brachte ihm ein großes schwarzes Mailänder Halstuch mit rothem
Rande, das sie nur selten getragen und er schon früher gern gehabt hätte. Er
schlang es um den Hals und ließ die langen Zipfel fliegen, auch stellte er zum
ersten Mal den Hemdkragen, den er sonst immer umgeschlagen, ehrbar und männlich
in die Höhe, bis über die Ohren hinauf, in einer Anwandlung länd-
lichen Stolzes, und machte sich dann, seine Schuhe in der Brusttasche des
Rockes, schon nach sieben Uhr auf den Weg. Als er die Stube verließ, drängte ihn
ein seltsames Gefühl, Vater und Mutter die Hand zu geben und auf der Straße sah
er sich noch einmal nach dem Hause um. „Ich glaube am Ende, sagte Manz, der
Bursche streicht irgend einem Weibsbild nach, das hätten wir gerade noch
nöthig!« Die Frau sagte: "O wollte Gott! daß er vielleicht ein Glück machte! das
thäte dem armen Buben gut!« "Richtig! sagte der Mann, das fehlt nicht! das wird
ein himmlisches Glück geben, wenn er nur erst an eine solche Maultasche zu
gerathen das Unglück hat! das thäte dem armen Bübeli gut! natürlich!«
Sali richtete seinen Schritt erst nach dem Flusse zu, wo er Vrenchen erwarten
wollte; aber unterweges ward er anderen Sinnes und ging gradczu in's Dorf, um
Vrenchen im Hause selbst abzuholen, weil es ihm zu lang währte bis halb elf.
"Was kümmern uns die Leute!« dachte er. "Niemand hilft uns und ich bin ehrlich
und fürchte niemand!« So trat er un- erwartet in Vrenchens Stube
und eben so unerwartet fand er es schon vollkommen angekleidet und geschmückt
dasitzen und der Zeit harren, wo es gehen könne, nur die Schuhe fehlten ihm
noch. Aber Sali stand mit offenem Munde still in der Mitte der Stube, als er das
Mädchen erblickte, so schön sah es aus. Es hatte nur ein einfaches Kleid an von
blaugefärbter Leinwand, aber dasselbe war frisch und sauber und saß ihm sehr gut
um den schlanken Leib. Darüber trug es ein schneeweißes Mouffelinehalstuch und
dies war der ganze Anzug. Das braune gekräuselte Haar hatte es wohl geordnet und
die sonst so wilden Löckchen lagen nun fein und lieblich um den Kopf; da
Vrenchen seit vielen Wochen fast nicht aus dem Hause gekommen, so war seine
Farbe zarter und durchsichtiger geworden, so wie auch vom Kummer; aber in diese
Durchsichtigkeit goß jetzt die Liebe und die Freude ein Roth um das andere, und
an der Brust trug es einen schönen Blumenstrauß von Rosmarin, Rosen und
prächtigen Astern. Es saß am offenen Fenster und athmete still und hold die
frisch durchsonnte Morgenluft; wie es
Keller, die Leute von Seldivyla, 20
aber Sali erscheinen sah, streckte es ihm beide hübsche Arme entgegen, welche
vom Ellbogen an bloß waren, und rief: „Wie Recht hast Du,
daß Du schon setzt und hieher kommst! Aber hast Du mir Schuhe gebracht? Gewiß?
Nun steh' ich nicht auf, bis ich sie an habe!« Er
zog die Ersehnten aus der Tasche und gab ste
dem begierigen schönen Mädchen; es schleuderte die alten von sich, schlüpfte in
die neuen und sie paßten sehr gut. Erst setzt erhob es sich vom Stuhl, wiegte
sich in den neuen Schuhen und ging eifrig einige Mal auf und nieder.
Es zog das lange blaue Kleid etwas zurück und beschaute wohlgefällig die rothen
wollenen Schleifen, welche die Schuhe zierten, während Sali unaufhörlich die
feine reizende Gestalt betrachtete, welche da in lieblicher Aufregung vor ihm
sich regte und freute. „Du beschaust meinen Strauß? sagte Vrenchen, hab' ich
nicht einen schönen zusammengebracht? Du mußt wissen, dies sind die letzten
Blumen, die ich noch aufgefunden in dieser Wüstenei. Hier war noch ein Röschen,
dort eine Aster, und wie sie nun gebunden sind, würde man es ihnen nicht anse-
den, daß sie aus einem Untergänge zusammengesucht sind! Nun ist es aber Zeit,
daß ich fortkomme, nicht ein Blümchen mehr im Garten und das Haus auch leer!«
Sali sah sich um und bemerkte erst setzt, daß alle Fahrhabe, die noch da
gewesen, weggebracht war. "Du armes Vreeli!« sagte er, "haben sie Dir schon
Alles genommen?« "Gestern,« erwiederte eS, "haben sie's weggeholt, was sich von
der Stelle bewegen ließ und mir kaum mehr mein Bett gelassen. Ich hab's aber
auch gleich verkauft und hab' setzt auch Geld, sieh!« Es holte einige neu
glänzende Thalerstücke aus der Tasche seines Kleides und zeigte sie ihm.
"Damit,« fuhr es fort, "sagte der Waisenvogt, der auch hier war, solle ich mir
einen Dienst suchen in einer Stadt und ich solle mich heute gleich auf den Weg
machen!« "Da ist aber auch gar nichts mehr vorhanden,« sagte Sali, nachdem er in
die Küche geguckt hatte, "ich sehe kein Hölzchen, kein Pfänn- chen, kein Messer!
Hast Du denn auch nicht zu Morgen gegessen?« "Nichts!« sagte Vrenchen, "ich
hätte mir etwas holen können, aber ich dachte, ich wolle lieber hungrig bleiben,
damit
ich recht viel essen könne mit Dir zusammen, denn ich freue mich so sehr daraus,
Du glaubst nicht, wie ich mich freuet „Wenn ich Dich nur anrühren dürfte,« sagte
Sali, „so wollte ich Dir zeigen, wie es mir ist, Du schönes, schönes Ding!« „Du
hast Recht, Du würdest meinen ganzen Staat verderben, und wenn wir die Blumen
ein bischen schonen, so kommt es zugleich meinem armen Kopf zu gut, den Du mir
übel zuzurichten pflegst!« „So komm, setzt wollen wir ausrücken!« „Noch müssen
wir warten, bis das Bett abgeholt wird; denn nachher schließe ich das leere Haus
zu und gehe nicht mehr hieher zurück! Mein Bündelchen gebe ich der Frau
aufzuheben, die das Bett gekauft hat.« Sie setzten sich daher einander gegenüber
und warteten; die Bäuerin kam bald, eine vierschrötige Frau mit lautem Mundwerk,
und hatte einen Burschen bei sich, welcher die Bettstelle tragen sollte. Als
diese Frau Vrenchens Liebhaber erblickte und das geputzte Mädchen selbst,
sperrte sie Maul und Augen auf, stemmte die Arme unter, und schrie: „Ei sieh da,
Vreeli! Du treibst es sa schon gut! Hast einen Besucher und bist
gerüstet wie eine Prinzeß? « »Gelt aber!« sagte Vrenchen freundlich lachend,
»wißt ihr auch, wer das ist?« »Ei ich denke, das ist wohl der Sali Manz? Berg
und Thal kommen nicht zusammen, sagt man, aber die Leute! Aber nimm Dich doch in
Acht, Kind, und denk' wie es euren Ältern ergangen ist!« »Ei, das hat sich jetzt
gewendet und alles ist gut geworden« erwiederte Vrenchen lächelnd und freundlich
mittheilsam, ja beinahe herablassend »seht, Sali ist mein Hochzejter!« »Dein
Hochzeiter! was Du sagst!» »Ja und er ist ein reicher Herr, er hat
hunderttausend Gulden in der Lotterie gewonnen! Denket einmal, Frau!« Diese that
einen Sprung, schlug ganz erschrocken die Hände zusammen und schrie: »Hund —
hunderttausend Gulden!« »Hunderttausend Gulden!« versicherte Vrenchen ernsthaft.
»Herr Du meines Lebens! Es ist aber nicht wahr, Du lügst mich an, Kind!« »Nun,
glaubt was ihr wollt!» »Aber wenn es wahr ist und Du heirathest ihn, was wollt
ihr denn machen mit dem Gelde? Willst Du wirklich eine vornehme Frau werden?«
»Versteht sich, in drei Wochen halten wir die Hochzeit!« „Geh' mir
weg, Du bist eine häßliche Lügnerin!« „Das schönste Haus hat er schon gekauft in
Seldwyl mit einem großen Garten und Weinberg; ihr müßt mich auch besuchen, wenn
wir eingerichtet sind, ich zähle darauf!« „Allweg, Du Teufelsherlein, was Du
bist!« „Ihr werdet sehen, wie schön es da ist! einen herrlichen Kaffee werde ich
machen und euch mit feinem Eierbrod aufwarten, mit Butter und Honig!« „Du
Ketzerslösli! zähl' drauf, daß ich komme!« rief die Frau mit lüsternem Gesicht
und der Mund wässerte ihr; „kommt ihr aber um die Mittagszeit und seit ermüdet
vvm Markt, so soll euch eine kräftige Fleischbrühe und ein Glas Wein immer parat
stehen!" „Das wird mir baß thun!« „Und an etwas Zuckerwerk oder weißen Wecken
für die lieben Kinder zu Hause soll es euch auch nicht fehlen!« „Es wird mir
ganz schmachtend!« „Ein artiges Halstüchelchen oder ein Restchen Seidenzeug oder
ein hübsches altes Band für euere Röcke, oder ein Stück Zeug zu einer neuen
Schürze wird gewiß auch zu finden sein, wenn wir meine Kisten und Kasten
durchmustern in einer vertrauten Stunde!« Die Frau drehte sich auf
den Hacken herum und schüttelte jauchzend ihre Röcke. "Und wenn euer Mann ein
vortheilhastes Geschäft machen könnte mit einem Land- oder Viehhandel, und er
mangelt des Geldes, so wißt ihr, wo ihr anklopfen sollt. Mein lieber Sali wird
froh sein, jederzeit ein Stück Baares sicher und erfreulich anzulegen! Ich
selbst werde auch etwa einen Spaarpfennig haben, einer vertrauten Freundin
auszuhelfen!« Jetzt war der Frau nicht mehr zu helfen, sie sagte gerührt: "Ich
habe immer gesagt, Du seist ein braves und gutes und schönes Kind! Der Herr
wolle es Dir wohl ergehen lasten immer und ewiglich und es Dir gesegnen, was Du
an mir thust!« „Dagegen verlange ich aber auch, daß ihr es gut mit mir meint!«
"Allweg kannst Du das verlangen!« "Und daß ihr jederzeit eure Waaren, sei es
Obst, seien es Kartoffeln, sei es Gemüse, erst zu mir bringet und mir anbietet,
ehe ihr auf den Markt gehet, damit ich sicher sei, eine rechte Bäuerin an der
Hand zu haben, auf die ich mich verlassen kann! Was irgend Einer giebt für die
Waare, werde ich gewiß auch geben mit tausend Freuden, ihr kennt
mich ja! Ach, es ist nichts Schöneres, als wenn eine wohlhabende Stadtfrau, die
so rathlos in ihren Mauern sitzt und doch so vieler Dinge benöthigt ist, und
eine rechtschaffene ehrliche Landfrau, erfahren in allem Wichtigen und
Nützlichen, eine gute und dauerhafte Freundschaft zusammen haben! Es kommt Einem
zu gut in hundert Fällen, in Freud und Leid, bei Gevatterschaften und
Hochzeiten, wenn die Kinder unterrichtet werden, und konfir- mirt, wenn sie in
die Lehre kommen und wenn sie in die Fremde sollen! Bei Mißwachs und
Überschwemmungen, bei Feuersbrünsten und Hagelschlag, wofür uns Gott behüte!«
„Wofür uns Gott behüte! sagte die gute Frau schluchzend und trocknete mit ihrer
Schürze die Augen; „welch' ein verständiges und tiefsinniges Bräut- lein bist
Du, ja, Dir wird es gut gehen, da müßte keine Gerechtigkeit in der Welt sein!
Schön, sauber, klug und weise bist Du, arbeitsam und geschickt zu allen Dingen!
Keine ist feiner und besser als Du, in und außer dem Dorfe, und wer Dich hat,
der muß meinen, er sei im Himmelreich, oder er ist ein Schelm und
hat es mit mir zu thun. Hör' Sali! daß Du nur recht artlich bist mit meinem
Vreeli, oder ich will Dir den Meister zeigen, Du Glückskind, das Du bist, ein
solches Röslein zu brechen!«
So nehmt jetzt auch hier noch mein Bündel mit, wie ihr mir versprochen habt, bis
ich es abholen lassen werde! Vielleicht komme ich aber selbst in der Kutsche und
hole es ab, wenn ihr nichts dagegen habt! Ein Töpfchen Milch werdet ihr mir
nicht abschlagen alsdann, und etwa eine schöne Mandeltorte dazu werde ich schon
selbst mitbringen!« n Tausendskind! Gieb' her den Bündel!« Vrenchen lud ihr auf
das zusammengebundene Bett, das sie schon aus dem Kopfe trug, einen langen Sack,
in welchen es sein Plunder und Habseliges gestopft, so daß die arme Frau mit
einem schwankenden Thurme auf dem Haupte dastand. 11 Es wird mir doch fast zu
schwer auf einmal, sagte sie, könnte ich nicht zwei mal dran machen?« uNein
nein! wir müssen jetzt augenblicklich gehen, denn wir haben einen weiten Weg, um
vornehme Verwandte zu besuchen, die sich jetzt gezeigt haben, seit wir reich
sind! Ihr wißt ja, wie es geht!« uWeiß wohl! so behüt
20 * Dich Gott und denk' an mich in Deiner Herrlichkeit!^
Die Bäuerin zog ab mit ihrem Bündelthurme, mit Mühe das Gleichgewicht
behauptend, und hinter ihr drein ging ihr Knechtchcn, das sich in Vrenchens
einst buntbemalte Bettstatt hineinstellte, den Kopf gegen den mit verblichenen
Sternen bedeckten Himmel derselben stemmte und, ein zweiter Simson, die zwei
vorderen zierlich geschnitzten Säulen faßte, welche diesen Himmel trugen. Als
Vrenchen, an Sali gelehnt, dem Zuge nachschaute und den wandelnden Tempel
zwischen den Gärten sah, sagte es: „Das gäbe noch ein artiges Gartenhäuschen
oder eine Laube, wenn man's in einen Garten Pflanzte, ein Tischchen und ein
Bänklein drein stellte und Winden drum herumsäete! Wolltest Du mit darin sitzen,
Sali? ^ „Ja, Vreeli! besonders wenn die Winden aufgewachsen wären!« — „Was
stehen wir noch? sagte Vrenchen, nichts hält uns mehr zurück!« „So komm und
schließ das Haus zu!« „Wem willst Du denn den Schlüssel übergeben?« Vrenchen sah
sich um. „Hier an die Helbart wollen wir ihn hängen; sie ist über hundert Jahr
in diesem Hause gewesen, habe ich den Vater oft sagen hören,
nun steht sie da als der letzte Wächter!« Sie hingen den rostigen Hausschlüssel
an einen rostigen Schnörkel der alten Waffe, an welcher die Bohnen rankten, und
gingen davon. Vrenchen wurde aber bleicher und verhüllte ein Weilchen die Augen,
daß Sali es führen mußte, bis sie ein Dutzend Schritte entfernt waren. Es sah
aber nicht zurück. "Wo gehen wir nun zuerst hin?« fragte es. "Wir wollen
ordentlich über . Land gehen, erwiederte Sali, wo es uns freut den ganzen Tag,
uns nicht übereilen, und gegen Abend werden wir dann schon einen Tanzplatz
'finden!« "Gut!« sagte Vrenchen, "den ganzen Tag werden wir beisammen sein und
gehn wo wir Lust haben. Jetzt ist mir aber elend, wir wollen gleich im andern
Dorf einen Kaffee trinken!« „Versteht sich!« sagte Sali, „mach nur, daß wir aus
diesem Dorf wegkommen !«
Bald waren sie auch im freien Felde und gingen still neben einander durch die
Fluren; es war ein schöner Sonntagmorgen im September, keine Wolke stand am
Himmel, die Höhen und die Wälder waren mit einem zarten Dustgewebe
bekleidet, welches die Gegend geheimnißvoller und feierlicher machte, und von
allen Seiten tönten die Kirchenglocken herüber, hier das harmonische tiefe
Geläute einer reichen Ortschaft, dort die geschwätzigen zwei Bimmelglöcklein
eines kleinen armen Dörfchens. Das liebende Paar vergaß, was am Ende dieses
Tages werden sollte, und gab sich einzig der hoch aufathmen- den wortlosen
Freude hin, sauber gekleidet und frei, wie zwei Glückliche, die sich von
Rechtswegen angehören, in den Sonntag hineinzuwan- deln. Jeder in der
Sonntagsstille verhallende Ton oder ferne Ruf klang ihnen erschütternd durch die
Seele; denn die Liebe ist eine Glocke, welche das Entlegenste und
Gleichgültigste wieder tönen läßt und in eine besondere Musik verwandelt.
Obgleich sie hungrig waren, dünkte sie die halbe Stunde Weges bis zum nächsten
Dorfe nur ein Katzensprung lang zu sein und sie betraten zögernd das Wirthshaus
am Eingang des Ortes. Sali bestellte ein gutes Frühstück und während es bereitet
wurde, sahen sie mäuschenstill der sichern und freundlichen Wirthschaft in der großen reinlichen Gaststube zu. Der Wirth war zugleich ein
Bäcker, das eben Gebackene durchdustete angenehm das ganze Haus und Brod aller
Art wurde in gehäuften Körben Herbeigetragen, da nach der Kirche die Leute hier
ihr Weißbrod holten oder ihren Frühschoppen tranken. Die Wirthin, eine artige
und saubere Frau, putzte gelassen und freundlich ihre Kinder heraus, und so wie
eines entlassen war, kam es zutraulich zu Vrenchen gelaufen, zeigte ihm seine
Herrlichkeiten und erzählte von allem, dessen es sich erfreute und rühmte. Wie
nun der wohldustende starke Kaffee kam, setzten sich die zwei Leutchen
schüchtern an den Tisch, als ob sie da zu Gast gebeten wären. Sie ermunterten
sich jedoch bald und flüsterten bescheiden, aber glückselig mit einander; ach
wie schmeckte dem aufblühenden Vrenchen der gute Kaffee, der fette Rahm, die
frischen noch warmen Brödchen, die schöne Butter und der Honig, der Eierkuchen
und was alles noch für Leckerbissen da waren! sie schmeckten ihm, weil es den
Sali dazu ansah, und es aß so vergnügt, als ob es ein Jahr lang gefastet hätte.
Dazu freute es sich über das feine Ge- schirr, über die silbernen
Kaffeelöffelchen, denn die Wirthin schien sie sür rechtliche junge Leutchen zu
halten, die man anständig bedienen müsse und setzte sich auch ab und zu
plaudernd zu ihnen, und die Beiden gaben ihr verständigen Bescheid, welches ihr
gefiel. Es ward dem guten Vrenchen so wählig zu Muth, daß es nicht wußte, mochte
es lieber wieder ins Freie, um allein mit seinem Schatz herumzuschweifen durch
Auen und Wälder, oder mochte es lieber in der gastlichen Stube bleiben, um
wenigstens auf Stunden sich an einem stattlichen Orte zu Hause zu träumen. Doch
Sali erleichterte die Wahl, indem er ehrbar und geschäftig zum Aufbruch mahnte,
als ob sie einen bestimmten und wichtigen Weg zu machen hätten. Die Wirthin und
der Wirth begleiteten sie bis vor das Haus und entließen sie auf das
Wohlwollendste wegen ihres guten Benehmens trotz der durchscheinenden
Dürftigkeit, und das arme junge Blut verabschiedete sich mit den besten Manieren
von der Welt und wandelte sittig und ehrbar von hinnen. Aber auch als sie schon
wieder im Freien waren und einen stundenlangen Eichwald betraten, gingen sie noch in dieser Weise neben einander her, in angenehme Träume
vertieft, als ob sie nicht aus zank - und elenderfüllten vernichteten Häusern
herkämen, sondern guter Leute Kinder wären, welche in lieblicher Hoffnung
wandelten. Vren- chen senkte das Köpfchen tiefsinnig gegen seine
blumengeschmückte Brust und ging, die Hände sorglich an das Gewand gelegt,
einher auf dem glatten feuchten Waldboden, Sali dagegen schritt schlank
aufgerichtet, rasch und nachdenklich, die Augen auf die festen Eichenstämme
geheftet wie ein Bauer, der überlegt, welche Bäume er am Vortheilhaftesten
fällen soll. Endlich erwachten sie aus diesen vergeblichen Träumen, sahen sich
an und entdeckten, daß sie immer noch in der Haltung gingen, in welcher sie das
Gasthaus verlassen, errötheten und ließen traurig die Köpfe hängen. Aber Jugend
hat keine Tugend, der Wald war grün, der Himmel blau und sie allein in der
weiten Welt, und sie überließen sich alsbald wieder diesem Gefühle. Doch blieben
sie nicht lange mehr allein, da die schöne Waldstraße sich belebte mit
lustwandelnden Gruppen von jungen Leuten sowie mit einzelnen Paaren, welche schäkernd und singend die Zeit nach der Kirche verbrachten. Denn
die Landleute haben so gut ihre ausgesuchten Promenaden und Lustwälder, wie die
Städter, nur mit dem Unterschied, daß dieselben keine Unterhaltung kosten und
noch schöner sind; sie spazieren nicht nur mit einem besondern Sinn des Sonntags
durch ihre blühenden und reifenden Felder, sondern sie machen sehr gewählte
Gänge durch Gehölze und an grünen Halden entlang, setzen sich hier auf eine
anmu- thige fernsichtige Hohe, dort an einen Waldrand, lassen ihre Lieder
ertönen und die schöne Wild- niß ganz behaglich auf sich einwirken; uud da sie
dies offenbar nicht zu ihrer Pönitenz thun, sondern zu ihrem Vergnügen, so ist
wohl anzunehmen, daß sie Sinn für die Natur haben, auch abgesehen von ihrer
Nützlichkeit. Immer brechen sie was Grünes ab, junge Bursche wie alte
Mütterchen, welche die alten Wege ihrer Jugend aufsuchen, und selbst steife
Landmänner in den besten Geschäftsjahren, wenn sie über Land gehen, schneiden
sich gern eine schlanke Gerte, sobald sie durch einen Wald gehen, und schälen
die Blätter ab, von denen sie nur oben ein grünes Büschel stehen
lassen. Solche Ruthe tragen sie wie ein Scepter vor sich hin; wenn sie in eine
Amtsstube oder Kanzlei treten, so stellen sie die Gerte ehrerbietig in einen
Winkel, vergessen aber auch nach den ernstesten Verhandlungen nie, dieselbe
säuberlich wieder mitzunehmen und unversehrt nach Hause zu tragen, wo eö erst
dem kleinsten Söhnchen gestattet ist, sie zu Grunde zu richten. Warum thun sie
dies? —> Als Sali und Vrenchen die vielen Spaziergänger sahen, lachten sie in's
Fäustchen und freuten sich, auch gepaart zu sein, schlüpften aber seitwärts auf
engere Waldpfade, wo sie sich in tiefen Ein- samkeiten verloren. Sie hielten
sich auf, wo es sie freute, eilten vorwärts und ruhten wieder, und wie keine
Wolke am reinen Himmel stand, trübte auch keine Sorge in diesen Stunden ihr
Gemüth, sie vergaßen woher sie kamen und wohin sie gingen und benahmen sich so
fein und ordentlich dabei, daß trotz aller frohen Erregung und Bewegung
Vrenchens niedlicher einfacher Aufputz so frisch und unversehrt blieb, wie er am
Anfang gewesen war. Sali betrug sich auf diesem Wege nicht wie ein beinahe
zwanzigsähri-
Keller, die Leuie von Seldwyl«. 21 ger Landbursche oder der Sohn
eines verkommenen Schenkwirthes, sondern wie wenn er einige Jahre jünger und
sehr wohl erzogen wäre und es war beinahe komisch, wie er nur immer sein feines
lustiges Vrenchen ansah, voll Zärtlichkeit, Sorgfalt und Achtung. Denn die armen
Leutchen mußten an diesem einen Tage, der ihnen vergönnt war, alle Manieren und
Stimmungen der Liebe durchleben und sowohl die verlorenen Tage der zarteren Zeit
nachholen als das leidenschaftliche Ende vorausnehmen mit der Hingabe ihres
Lebens.
So liefen sie sich wieder hungrig und waren erfreut, von der Hohe eines
schattenreichen Berges ein glänzendes Dorf vor sich zu sehen, wo sie Mittag
halten wollten. Sie stiegen rasch hinunter, betraten dann aber ebenso sittsam
diesen Ort, wie sie den vorigen verlassen. Es war Niemand um den Weg, der sie
erkannt hätte; denn besonders Vrenchen war die letzten Jahre hindurch gar nicht
unter die Leute und noch weniger in andere Dörfer gekommen. Deshalb stellten sie
ein wohlgefälliges ehrsames Pärchen vor, das irgend einen angelegentlichen Gang
thut. Sie gingen in's erste Wirthshaus des Dorfes, wo Sali ein
erkleckliches Mahl bestellte; ein eigener Tisch wurde ihnen sonntäglich gedeckt
und sie saßen wieder still und bescheiden daran und beguckten die schön
getäfelten Wände von gehöhntem Nußbaumholz, das ländliche aber glänzende und
wohlhabende Büffet von gleichem Holze, und die klaren weißen Fenstervorhänge.
Die Wirthin trat zuthulr'ch herzu und setzte ein Geschirr voll frischer Blumen
auf den Tisch. "Bis die Suppe kommt, sagte sie, konnt ihr, wenn es euch gefällig
ist, einstweilen die Augen sättigen an dem Strauße. Allem Anschein nach, wenn es
erlaubt ist zu fragen, seid ihr ein junges Brautpaar, das gewiß nach der Stadt
geht, um sich morgen kopuliren zu lassenVrenchen wurde roth und wagte nicht
aufzusehen, Sali sagte auch nichts und die Wirthin fuhr fort: "Nun, ihr seid
freilich noch wohl jung beide, aber jung geheirathet lebt lang, sagt man
zuweilen, und ihr seht wenigstens hübsch und brav aus und braucht euch nicht zu
verbergen. Ordentliche Leute können etwas zuwege bringen, wenn sie so jung
zusammen kommen und fleißig
21 * und treu sind. Aber das muß man freilich sein, denn die Zeit
ist kurz und doch lang und es kommen viele Tage, viele Tage! Je nun, schön genug
sind sie und amüsant dazu, wenn man gut Haus hält damit! Nichts für ungut, aber
es freut mich, euch anzusehen, so ein schmuckes Pärchen seid ihr!^ Die Kellnerin
brachte die Suppe, und da sie einen Theil dieser Worte noch gehört und lieber
selbst geheirathet hätte, so sah sie Vrenchen mit scheelen Augen an, welches
nach ihrer Meinung so gedeihliche Wege ging. In der Nebenstube ließ die
unliebliche Person ihren Umnuth frei und sagte zur Wirthin, welche dort zu
schaffen hatte, so laut, daß man es hören konnte: „Das ist wieder ein rechtes
Hu- delvölkchen, das wie es geht und steht nach der Stadt läuft und sich
kopuliren läßt, ohne einen Pfennig, ohne Freunde, ohne Aussteuer und ohne
Aussicht, als auf Armuth und Bettelei! Wo soll das noch hinaus, wenn solche
Dinger hei- rathen, die die Jüppe noch nicht allein anziehen und keine Suppe
kochen können? Ach der hübsche junge Mensch kann mich nur dauern, der ist schön
petschirt mit seiner jungen Gungeline la "Bscht! willst Du wohl
schweigen, Du hastiges Ding! sagte die Wirthin, denen lasse ich nichts
geschehen! Das sind gewiß zwei recht ordentliche Leutlein aus den Bergen, wo die
Fabriken sind; dürftig sind sie gekleidet, aber sauber, und wenn sie sich nur
gern haben und arbeitsam sind, so werden sie weiter kommen als Du mit Deinem
bösen Maul! Du kannst freilich noch lang warten, bis Dich Einer abholt, wenn Du
nicht freundlicher bist, Du Essighafen!«
So genoß Vrenchen alle Wonnen einer Braut, die zur Hochzeit reiset: die
wohlwollende Ansprache und Aufmunterung einer sehr vernünftigen Frau, den Neid
einer heirathslustigen bösen Person, welche aus Ärger den Geliebten lobte und
bedauerte, und ein leckeres Mittagsmahl an der Seite eben dieses Geliebten. Es
glühte im Gesicht, wie eine rothe Nelke, das Herz klopfte ihm, aber es aß und
trank nichts desto minder mit gutem Appetit und war mit der aufwartenden
Kellnerin nur um so artiger, konnte aber nicht unterlassen, dabei den Sali
zärtlich anzusehen und mit ihm zu lispeln, so daß es diesem auch ganz kraus im
Gemüth wurde. Sie saßen indessen lang und gemächlich am Tische,
wie wenn sie zögerten und sich scheuten, aus der holden Täuschung herauszugehen.
Die Wirthin brachte zum Nachtisch süßes Backwerk und Sali bestellte feineren und
stärkeren Wein dazu, welcher Vren- chen feurig durch die Adern rollte, als es
ein wenig davon trank; aber es nahm sich in Acht, nippte blos zuweilen und saß
so züchtig und verschämt da, wie eine wirkliche Braut. Halb spielte es aus
Schalkheit diese Rolle und aus Lust, zu versuchen, wie es thue, halb war es ihm
in der That so zu Muth und vor Bangigkeit und heißer Liebe wollte ihm das Herz
brechen, so daß es ihm zu eng ward innerhalb der vier Wände und es zu gehen
begehrte. Es war als ob sie sich scheuten, auf dem Wege wieder so abseits und
allein zu sein, denn sie gingen unverabredet auf der Hauptstraße weiter, mitten
durch die Leute und sahen weder rechts noch links. Als sie aber aus dem Dorfe
waren und auf das nächstgelegene zugingen, wo Kirchweih war, hing sich Vrenchen
an Sali's Arm und flüsterte mit zitternden Worten: "Sali! warum sollen wir uns
nicht haben und glücklich sein!« »Ich weiß auch nicht warum!«
erwiederte er und heftete seine Augen an den milden Herbstsonnenschein, der auf
den Auen webte und er mußte sich bezwingen und das Gesicht ganz sonderbar
verziehen. Sie standen still, um sich zu küssen; aber es zeigten sich Leute und
sie unterließen es und zogen weiter. Das große Kirchdorf, in welchem Kirchweih
war, war schon belebt von der Lust des Volkes; aus dem stattlichen Gasthofe
tönte eine pomphafte Tanzmusik, da die jungen Dörfler schon um Mittag den Tanz
angehoben, und auf dem Platz vor dem Wirthshause war ein kleiner Markt
aufgeschlagen, bestehend aus einigen Tischen mit Süßigkeiten und Backwerk und
ein paar Buden mit Flitterstaqt, um welche sich die Kinder und dasjenige Volk
drängten, welches sich einstweilen mehr mit Zusehen begnügte. Sali und Vrenchen
traten auch zu den Herrlichkeiten und ließen ihre Augen darüber fliegen; denn
beide hatten zugleich die Hand in der Tasche und jedes wünschte dem andern etwas
zu schenken, da sie zum ersten und einzigen Male mit einander zu Markt waren;
Sali kaufte ein Haus von Lebkuchen, wel- ches mit Zuckerguß
freundlich geweißt war, mit einem grünen Dach, auf welchem weiße Tauben saßen
und aus dessen Schornstein ein Amörchen guckte als Kaminfeger; an den offenen
Fenstern umarmten sich pausbäckige Leutchen mit winzig kleinen rothen Mündchen,
die sich recht eigentlich küßten, da der flüchtige praktische Maler mit einem
Kleckschen gleich zwei Mündchen gemacht, die so in einander verflossen. Schwarze
Pünktchen stellten muntere Äuglein vor. Auf der roscnrothen Hausthür aber waren
diese Verse zu lesen:
Tritt in mein Haus, o Liebste!
Doch sei Dir unverhehlt:
Drin wird allein nach Küssen
Gerechnet und gezählt.
Die Liebste sprach: O Liebster,
»Mich schrecket nichts zurück!«
»Hab' Alles wohl erwogen:«
»Zn Dir nur lebt mein Glück!«
»Und wenn ich's recht bedenke,«
»Kam ich deswegen auch!«
Nun denn, spazier' mit Segen
Herein und üb' den Brauch! Ein Herr in einem blauen Frack und eine
Dame mit einem sehr hohen Busen komplimentieren sich diesen Versen gemä^ in das
Haus hinein, links und rechts an die Mauer gemalt. Vrenchen schenkte Sali
dagegen ein Herz, auf dessen einer Seite ein Zettelchen klebte mit den Worten:
Ein süßer Mandelkern steckt in dem -Herze hier,
Doch süßer als der Mandelkern ist meine Lieb' zu Dir.
Und auf der andern Seite:
Wenn Du dies Herz gegessen vergiß dies Sprüchlein nicht: Viel eh'r als meine
Liebe mein braunes Auge bricht!
Sie lasen eifrig die Sprüche und nie ist etwas Gereimtes und Gedrucktes schöner
befunden und tiefer empfunden worden, als diese Pfefferkuchensprüche; sie
hielten, was sie lasen, in besonderer Absicht auf sich gemacht, so gut schien es
ihnen zu passen. »Ach, seufzte Vrenchen, Du schenkst mir ein Haus! Ich habe Dir
auch eines und erst das wahre geschenkt; denn unser Herz ist jetzt unser Haus,
darin wir wohnen, und wir tragen so unsere Wohnung mit uns, wie die Schnecken!
Andere haben wir nicht!« „Dann sind wir aber zwei Schnecken, von
denen jede das Häuschen der andern trägt!« sagte Sali, und Vrenchen erwiederte:
„Desto weniger dürfen wir von einander gehen, damit jedes seiner Wohnung nah
bleibt!« Doch wußten sie nicht, daß sie in ihren Reden eben so artige Witze
machten, als auf den vielfach geformten Lebkuchen zu lesen waren, und fuhren
fort, diese süße einfache Liebesliteratur zu studi- ren, die da ausgebreitet lag
und besonders auf vielfach verzierte kleine und große Herzen geklebt war. Alles
dünkte sie schön und einzig zutreffend; als Vrenchen auf einem vergoldeten
Herzen, das wie eine Lyra mit Saiten bespannt war, las: Mein Herz ist wie ein
Zitherspiel, rührt man es viel, so tönt es viel! ward ihm so musikalisch zu
Muth, daß es glaubte, sein eigenes Herz klingen zu hören. Ein Napoleonsbild war
da, welches aber auch der Träger eines verliebten Spruches sein mußte, denn es
stand darunter geschrieben: Groß war der Held Napoleon, sein Schwert von Stahl,
sein Herz von Thon; meine Liebe trägt ein Röslein frei, doch ist ihr Herz wie
Stahl so treu! — Wäh- rend sie aber beiderseitig in das Lesen
vertieft schienen, nahm jedes die Gelegenheit wahr, einen heimlichen Einkauf zu
machen. Sali kaufte für Vrenchen ein vergoldetes Ringelchcn mit einem grünen
Glassteinchen, und Vrenchen einen Ring von schwarzem GemShorn, auf welchem ein
goldenes Vergißmeinnicht eingelegt war. Wahrscheinlich hatten sie den gleichen
Gedanken, sich diese armen Zeichen bei der Trennung zu geben.
Während sie in diese Dinge sich versenkten, waren sie so vergessen, daß sie
nicht bemerkten, wie nach und nach ein weiter Ring sich um sie gebildet hatte
von Leuten, die sie aufmerksam und neugierig betrachteten. Denn da viele junge
Bursche und Mädchen aus ihrem Dorfe hier waren, so waren sie erkannt worden, und
Alles stand jetzt in einiger Entfernung um sie herum und sah mit Verwunderung
auf das wohlge- putzte Paar, welches in andächtiger Innigkeit die Welt um sich
her zu vergessen schien. "Ei seht! hieß es, das ist ja wahrhaftig das Vrenchen
Marti und der Sali aus der Stadt! Die haben sich ja säuberlich gefunden und
verbunden! Und welche Zärtlichkeit und Freundschaft, seht doch,
seht! Wo die wohl hinaus wollen?« Die Verwunderung dieser Zuschauer war ganz
seltsam gemischt aus Mitleid mit dem Unglück, aus Verachtung der Verkommenheit
und Schlechtigkeit der Ältern und aus Neid gegen das Glück und die Einigkeit des
Paares, welches auf eine ganz ungewöhnliche und säst vornehme Weise verliebt und
aufgeregt schien und in dieser rückhaltlosen Hingebung und Selbstvergessenheit
dem rohen Völkchen eben so fremd erschien, wie in seiner Verlassenheit und
Armuth. Als sie daher endlich aufwachten und um sich sahen, erschauten sie
nichts als gaffende Gesichter von allen Seiten, Niemand grüßte sie und sie
wußten nicht, sollten sie Jemand grüßen und diese Verfremdung und
Unfreundlichkeit war von beiden Seiten mehr Verlegenheit als Absicht. Es wurde
Vrenchen bang und heiß, es wurde bleich und roth, Sali nahm es aber bei der Hand
und führte das arme Wesen hinweg, das ihm mit seinem Haus in der Hand willig
folgte, obgleich die Trompeten im Wirthshause lustig schmetterten und Vrenchen
so gern tanzen wollte. „Hier können wir nicht tanzen! sagte Sali, als sie sich
etwas entfernt hatten, wir würden hier wenig Freude haben, wie es
scheint!« »Jedenfalls« sagte Vrenchen traurig, »es wird auch am besten sein, wir
lassen es ganz bleiben und ich sehe, wo ich ein Unterkommen finde!« »Nein,« rief
Sali, »Du sollst einmal tanzen, ich habe Dir darum Schuhe gebracht! Wir wollen
gehen, wo das arme Volk sich lustig macht, zu dem wir jetzt auch gehören, da
werden sie uns nicht verachten; im Paradiesgärtchen wird jedesmal auch getanzt,
wenn hier Kirchweih ist, da es in die Kirchge- meinde gehört, und dorthin wollen
wir gehen, dort kannst Du zur Noth auch übernachten.« Vrenchen schauerte
zusammen bei dem Gedanken, nun zum ersten Mal an einem unbekannten Ort zu
schlafen, doch folgte es willenlos seinem Führer, der jetzt alles war, was es in
der Welt hatte. Das Paradiesgärtlein war ein schöngelegenes Wirthshaus an einer
einsamen Berghalde, das weit über das Land weg sah, in welchem aber an solchen
Vergnügungstagen nur das ärmere Volk, die Kinder der ganz kleinen Bauern und
Tagelöhner und sogar mancherlei fahrendes Gesinde verkehrte. Vor hundert Zah-
ren war es als ein kleines Landhaus von einem reichen Sonderling gebaut worden,
nach welchem Niemand mehr da wohnen mochte, und da der Platz sonst zu nichts zu
gebrauchen war, so ge- rieth der wunderliche Landsitz in Verfall und zuletzt in
die Hände eines Wirthes, der da sein Wesen trieb. Der Name und die demselben
entsprechende Bauart waren aber dem Hause geblieben. Es bestand nur aus einem
Erdgeschoß, über welchem ein offener Estrich gebaut war, dessen Dach an den vier
Ecken von Bildern aus Sandstein getragen wurde, so die vier Erzengel vorstellten
und gänzlich verwittert waren. Auf dem Gesimse des Daches saßen rings herum
kleine musizirende Engel mit dicken Kopsen und Bäuchen, den Triangel, die Geige,
die Flöte, Eimbel und Tamburin spielend, ebenfalls aus Sandstein, und die
Instrumente waren ursprünglich vergoldet gewesen. Die Decke inwendig, sowie die
Brustwehr des Estrichs und das übrige Gemäuer des Hauses waren mit verwaschenen
Freskomalereien bedeckt, welche lustige Engelscharen, sowie singende und
tanzende Heilige darstellten. Aber alles war verwischt und un-
deutlich wie ein Traum und überdies reichlich mit Weinreben übersponnen, und
blaue reifende Trauben hingen überall in dem Laube. Um das Haus herum standen
verwilderte Kastanienbäume, und knorrige starke Rvsenbüsche, auf eigene Hand
fortlebend, standen da und dort so wild herum, wie anderswo die Hollunderbäume.
Der Estrich diente zum Tanzsaal; als Sali mit Vrenchen daher kam, sahen sie
schon von weitem die Paare unter dem offenen Dache sich drehen, und rund um das
Haus zechten und lärmten eine Menge lustiger Gäste. Vrenchen, welches andächtig
und wehmüthig sein Liebeshaus trug, glich einer heiligen Kirchenpatronin auf
alten Bildern, welche das Modell eines Domes oder Klosters auf der Hand hält, so
sie gestiftet; aber aus der frommen Stiftung, die ihm im Sinne lag, konnte
nichts werden. Als es aber die wilde Musik hörte, welche vom Estrich ertönte,
vergaß es sein Leid und verlangte endlich nichts, als mit Sali zu tanzen. Sie
drängten sich durch die Gäste, die vor dem Hause saßen und in der Stube,
verlumpte Leute aus Seldwyla, die eine billige Landpartie machten, armes Volk
von allen En- den, und stiegen die Treppe hinauf und sogleich
drehten sie sich im Walzer herum, keinen Blick von einander abwendend. Erst als
der Walzer zu Ende, sahen sie sich um; Vrcnchen hatte sein Haus zerdrückt und
zerbrochen und wollte eben betrübt darüber werden, als es noch mehr erschrak
über den schwarzen Geiger, in dessen Nähe sie standen. Er saß auf einer Bank,
die auf einem Tische stand und sah so schwarz aus wie gewöhnlich; nur hatte er
heute einen grünen Tannenbusch auf sein Hütchen gesteckt, zu seinen Füßen hatte
er eine Flasche Rothwein und ein Glas stehen, welche er nie umstieß, obgleich er
fortwährend mit den Beinen strampelte, wenn er geigte, und so eine Art von
Eiertanz damit vollbrachte. Neben ihm saß noch ein schöner aber trauriger junger
Mensch mit einem Waldhorn und ein Bucklicher stand an einer Baßgeige. Sali
erschrak auch, als er den Geiger erblickte; dieser grüßte sie aber auf das
Freundlichste und rief: „Ich habe doch gewußt, daß ich euch noch einmal
aufspielen werde! So macht euch nur recht lustig, ihr Schätzchen und thut mir
Bescheid!^ Er bot Sali das volle Glas und
Sali trank und that ihm Bescheid. Als der Geiger sah, wie erschrocken Vrcnchen
war, suchte er ihm freundlich zuzureden und machte einige fast anmuthige
Scherze, die es zum Lachen brachten. Es ermunterte sich wieder und nun waren sie
froh, hier einen Bekannten zu haben und gewissermaßen unter dem besonderen
Schutze des Geigers zu stehen. Sie tanzten nun ohne Unterlaß, sich und die Welt
vergessend in dem Drehen, Singen und Lärmen, welches in und außer dem Hause
rumorte und vom Berge weit ' in die Gegend hinausschallte, welche sich allmälig
in den silbernen Duft des Herbstabends hüllte. Sie tanzten bis es dunkelte und
der größere Theil der lustigen Gäste sich schwankend und fohlend nach allen
Seiten entfernte. Was noch zurückblieb, war das eigentliche Hudelvölkchen,
welches nirgends zu Hause war und sich zum guten Tag auch noch eine gute Nacht
machen wollte. Unter diesen waren einige, welche mit dem Geiger gut bekannt
schienen und fremdartig aussahen in ihrer zusammengewürfelten Tracht. Besonders
ein funger Bursche fiel auf, der eine grüne Manchesterfacke trug und einen
zerknitterten
Keller, die Leute von Seldwyla. 22 Strohhut, um den er einen Kranz
von Ebereschen oder Vogelbeerbüscheln gebunden hatte. Dieser führte eine wilde
Person mit sich, die einen Rock von kirschrothem weiß getüpfeltem Kattun trug
und sich einen Reifen von Neben- schoßen um den Kopf gebunden, so daß an jeder
Schläfe eine blaue Traube hing. Dies Paar war das ausgelassenste von allen,
tanzte und sang unermüdlich und war in allen Ecken zugleich. Dann war noch ein
schlankes hübsches Mädchen da, welches ein schwarzseidenes abgeschossenes Kleid
trug und ein weißes Tuch um den Kops, daß der Zipfel über den Rücken fiel. Das
Tuch zeigte rothe, eingewobene Streifen, und war eine gute leinene Handzwehle
oder Serviette. Darunter leuchteten aber ein paar veilchenblaue Augen hervor. Um
den Hals und auf der Brust hing eine sechsfache Kette von Vogelbeeren auf einen
Faden gezogen und ersetzte die schönste Korallenschnur. Diese Gestalt tanzte
fortwährend allein mit sich selbst und verweigerte hartnäckig mit einem der
Gesellen zu tanzen. Nichts desto minder bewegte sie sich anmuthig und leicht
herum und lächelte jedesmal, wenn sie sich an dem traurigen
Waldhornbläser vor- überdrehte, wozu dieser immer den Kopf abwandte. Noch einige
andere vergnügte Frauensleute waren da mit ihren Beschützern, alle von dürftigem
Aussehen, aber sie waren um so lustiger und in bester Eintracht unter einander.
Als es gänzlich dunkel war, wollte der Wirth keine Lichter anzünden, da er
behauptete, der Wind lösche sie aus, auch ginge der Vollmond sogleich auf und
für das, was ihm diese Herrschaften einbrächten, sei das Mondlicht gut genug.
Diese Eröffnung wurde mit großem Wohlgefallen aufgenommen; die ganze
Gesellschaft stellte sich an die Brüstung des luftigen Saales und sah dem
Aufgange des Gestirnes entgegen, dessen Nöthe schon am Horizonte stand, und
sobald der Mond aufging und sein Licht quer durch den Estrich des
Paradiesgärtels warf, tanzten sie im Mondschein weiter, und zwar so still, artig
und seelenvergnügt, als ob sie im Glänze von hundert Wachskerzen tanzten. Das
seltsame Licht machte Alle vertrauter und so konnten Sali und Vrenchen nicht
umhin, sich unter die gemeinsame Lustbarkeit zu mischen und auch mir andern zu
22 * tanzen. Aber jedesmal, wenn sie ein Weilchen getrennt
gewesen, flogen sie zusammen und feierten ein Wiedersehen, als ob sie sich Jahre
lang gesucht und endlich gefunden. Sali machte ein trauriges und unmuthiges
Gesicht wenn er mit einer Andern tanzte und drehte fortwährend das Gesicht nach
Vrenchen hin, welches ihn nicht ansah, wenn es vorüberdrehte, glühte wie eine
Purpurrose und überglücklich schien, mit wem es auch tanzte. "Bist Du
eifersüchtig, Sali?« fragte es ihn, als die Musikanten müde waren und aufhörten.
„Gott bewahre!« sagte er, "ich wüßte nicht, wie ich es anfangen sollte!« „Warum
bist Du denn so bös, wenn ich mit Andern tanze?« "Ich bin nicht darüber bös,
sondern weil ich mit Andern tanzen muß! Ich kann kein anderes Mädchen ausstehen,
es ist mir, als wenn ich ein Stück Holz im Arm habe, wenn Du es nicht bist!«
"Und Du? wie geht es Dir?" "O, ich bin immer wie im Himmel, wenn ich nur tanze
und weiß, daß Du zugegen bist! Aber ich glaube, ich würde sogleich todt
umfallen, wenn Du weggingest und mich da ließest!« Sie waren hinabgegangen und standen vor dem Hause; Vrenchen umschloß ihn mit beiden Armen,
schmiegte seinen heißen zitternden Leib an ihn, drückte seine glühende Wange,
die von heißen Thränen feucht war, an sein Gesicht und sagte schluchzend: »Wir
können nicht zusammen sein und doch kann ich nicht von Dir lassen, nicht einen
Augenblick mehr, nicht eine Minute!^ Sali umarmte und drückte das Mädchen heftig
an sich und bedeckte es mit Küssen. Seine verwirrten Gedanken rangen nach einem
Ausweg, aber er sah keinen. Wenn auch das Elend und die Hoffnungslosigkeit
seiner Herkunft zu überwinden gewesen wären, so war seine Jugend und unerfahrene
Leidenschaft nicht beschaffen, eine lange Zeit der Prüfung und Entsagung
vorzunehmen und zu übersehen, und dann wäre erst noch Vrenchens Vater da
gewesen, welchen er zeitlebens elend gemacht. Das Gefühl, in der bürgerlichen
Welt nur in einer ganz ehrlichen und gewissenfreien Ehe glücklich sein zu
können, war in ihm eben so lebendig wie in Vrenchen und in beiden verlassenen
Wesen war es die letzte Flamme der Ehre, die in früheren Zeiten in ihren Häusern
geherrscht hatte und welche die sich sicher fühlenden Vater durch
einen unscheinbaren Mißgriff über den Haufen geworfen, als sie, eben diese Ehre
zu äufnen wähnend durch Vermehrung ihres Eigenthums, so gedankenlos sich das Gut
eines Verschollenen aneigneten, ganz gefahrlos, wie sie meinten. Das geschieht
nun freilich alle Tage; aber zuweilen stellt das Schicksal ein Erempel auf und
läßt zwei solche Äufner ihrer Hausehre und ihres Gutes zusammentreffen, die sich
dann unfehlbar aufreiben und auffressen wie zwei wilde Thiere. Denn die Mehrer
des Reiches verrechnen sich nicht nur auf den Thronen, sondern zuweilen auch in
den niedersten Hütten und langen ganz am entgegengesetzten Ende an, als wohin
sie zu kommen trachteten und der Schild der Ehre ist im Umsehen eine Tafel der
Schande. Sali und Vrenchen hatten aber noch die Ehre ihres Hauses gesehen in
zarten Kindersahren und erinnerten sich, wie wohlgepflegte Kinderchen sie
gewesen und wie ihre Väter ausgesehen wie andere Männer, geachtet und sicher.
Dann waren sie auf lange getrennt worden und als sie sich wiederfanden, sahen
sie in sich zugleich das ver- schwundene Glück des Hauses und
beider Neigung klammerte sich nur um so heftiger in einander. Sie mochten so
gern fröhlich und glücklich sein, aber nur auf einem guten Grund und Boden, und
dieser schien ihnen unerreichbar, während ihr wallendes Blut am liebsten gleich
zusammengeströmt wäre. „Nun ist es Nacht, rief Vrenchen, und wir sollen uns
trennen!« „Ich soll nach Hause gehen und Dich allein lassen?« rief Sali, „nein,
das kann ich nicht!« „Dann wird es Tag werden und nicht besser um uns stehen!«
„Ich will euch einen Rath geben, ihr närrischen Dinger!« tönte eine schrille
Stimme hinter ihnen und der Geiger trat vor sie hin. „Da steht ihr, sagte er,
und wißt nicht wo aus und hättet euch gern. Ich rathe euch, nehmt euch, wie ihr
seid und säumet nicht. Kommt mit mir und meinen guten Freunden in die Berge, da
brauchet ihr keinen Pfarrer, kein Geld, keine Schriften, keine Ehre, kein Bett,
nichts als eueren guten Willen! Es ist gar nicht so übel bei uns, gesunde Luft
und genug zu essen, wenn man thätig ist; die grünen Wälder sind unser Haus, wo wir uns lieb haben, wie es uns gefällt, und im Winter
machen wir uns die wärmsten Schlupfwinkel oder kriechen den Bauern in's warme
Heu. Also kurz entschlossen, haltet gleich hier Hochzeit und kommt mit uns, dann
seid ihr aller Sorgen los und habt euch für immer und ewiglich, so lang es euch
gefällt wenigstens; denn alt werdet ihr bei unserem freien Leben, das könnt ihr
glauben! Denkt nicht etwa, daß ich euch nachtragen will, was eure Alten an mir
gethan! Nein! es macht mir zwar Vergnügen, euch da angekommen zu sehen, wo ihr
seid; allein damit bin ich zufrieden, und werde euch behilflich und dienstfertig
sein, wenn ihr mir folgt.« Er sagte das wirklich in einem aufrichtigen und
gemüthlichen Tone. »Nun, besinnt euch ein bischen, aber folget mir, wenn ich
euch gut zum Rath bin! Laßt fahren die Welt und nehmet euch und fraget Niemandem
was nach! Denkt an das lustige Hochzeitbett im tiefen Wald oder auf einem
Heustock, wenn es euch zu kalt ist!^ Damit ging er in's Haus. Vrenchen zitterte
in Salis Armen und dieser sagte: „Was meinst Du dazu? Mich dünkt, es wäre nicht
übel, die ganze Welt in den Wind zu schlagen und uns dafür zu
lieben ohne Hinderniß und Schranken!« Er sagte es aber mehr als einen
verzweifelten Scherz, denn im Ernst. Vrenchen aber erwiederte ganz treuherzig
und küßte ihn: „Nein, dahin möchte ich nicht gehen, denn da geht es auch nicht
nach meinem Sinne zu. Der junge Mensch mit dem Waldhorn und das Mädchen in dem
seidenen Rock gehören auch so zu einander und sollen sehr verliebt gewesen sein.
Nun sei letzte Woche die Person ihm zum ersten Mal untreu geworden, was ihm
nicht in den Kopf wolle und deshalb sei er so traurig und schmolle mit ihr und
mit den Andern, die ihn auslachen. Sie aber thut eine muthwillige Buße, indem
sie allein tanzt und mit Niemand spricht, und lacht ihn auch nur aus damit. Dem
armen Musikanten sieht man es jedoch an, daß er sich noch heute mit ihr
versöhnen wird. Wo es aber so hergeht, möchte ich nicht fein, denn nie möcht'
ich Dir untreu werden, wenn ich auch sonst noch alles ertragen würde, um Dich zu
besitzen!« Indessen aber fieberte das arme Vrenchen immer heftiger an Salis
Brust; denn schon seit dem Mittag, wo jene Wirthin es für eine
Braut gehalten und es eine solche ohne Widerrede vorgestellt, lohte ihm das
Brautwcsen im Blute und je hoffnungsloser es war, um so wilder und
unbezwinglicher. Dem Sali erging es eben so schlimm, da die Reden des Geigers,
so wenig er ihnen folgen mochte, dennoch seinen Kopf verwirrten und er sagte mit
rathlos stockender Stimme: »Komm herein, wir müssen wenigstens noch was essen
und trinken. Sie gingen in die Gaststube, wo Niemand mehr war, als die kleine
Gesellschaft der Heimathlosen, welche bereits um einen Tisch saß und eine
spärliche Mahlzeit hielt. »Da kommt unser Hochzeit- paar!^ rief der Geiger,
»jetzt seid lustig und fröhlich und laßt euch zusammengehen!« Sie wurden an den
Tisch genöthigt und flüchteten sich vor sich selbst an denselben hin; sie waren
froh, nur für den Augenblick unter Leuten zu sein. Sali bestellte Wein und
reichlichere Speisen, und es begann eine große Fröhlichkeit. Der Schmollende
hatte sich mit der Untreuen versöhnt und das Paar liebkoste sich in begieriger
Seligkeit; das andere wilde Paar sang und
trank und ließ es ebenfalls nicht an Liebesbezeugungen fehlen, und der Geiger
nebst dem buckligen Baßgeiger lärmten in's Blaue hinein. Sali und Vrenchen waren
still und hielten sich umschlungen; auf einmal gebot der Geiger Stille und
führte eine spaßhafte Ceremonie auf, welche eine Trauung vorstellen sollte. Sie
mußten sich die Hände geben und die Gesellschaft stand auf und trat der Reihe
nach zu ihnen, um sie zu beglückwünschen und in ihrer Verbrüderung willkommen zu
heißen. Sie ließen es geschehen, ohne ein Wort zu sagen, und betrachteten es als
einen Spaß, während es sie doch kalt und heiß durchschauerte.
Die kleine Versammlung wurde jetzt immer lauter und aufgeregter, angefeuert
durch den stärkeren Wein, bis plötzlich der Geiger zum Aufbruch mahnte. "Wir
haben weit, rief er, und Mitternacht ist vorüber! Auf! wir wollen dem Brautpaar
das Geleit geben und ich will vorausgeigen, daß es eine Art hat!^ Da die
rathlosen Verlassenen nichts besseres wußten und überhaupt ganz verwirrt waren,
ließen sie abermals geschehen, daß man sie voranstellte und die
übrigen zwei Paare einen Zug hinter ihnen formirten, welchen der Bucklige
beschloß mit seiner Baßgeige auf dem Rücken. Der Schwarze zog voran und spielte
auf seiner Geige wie besessen den Berg hinunter, und die anderen lachten, sangen
und sprangen hintendrein. So strich der tolle nächtliche Zug durch die stillen
Felder und durch das Heimathdorf Salis und Vrenchenö, dessen Bewohner längst
schliefen.
Als sie durch die stillen Gassen kamen und an ihren verlorenen Vaterhäusern
vorüber, er- ^ griff sie eine schmerzhaft wilde Laune und sie tanzten mit den
Andern um die Wette hinter dem Geiger her, küßten sich, lachten und weinten. Sie
tanzten auch den Hügel hinauf, über welchen der Geiger sie anführte, wo die drei
Äcker lagen, und oben strich der schwärzliche Kerl die Geige noch einmal so
wild, sprang und hüpfte wie ein Gespenst, und seine Gefährten blieben nicht
zurück in der Ausgelassenheit, so daß es ein wahrer Blocksberg war auf der
stillen Höhe; selbst der Bucklige sprang keuchend mit seiner Last herum und
keines schien mehr das andere zu sehen. Sali faßte Vrenchen fester
in den Arm und zwang es still zu stehen; denn er war zuerst zu sich gekommen. Er
küßte es, damit es schweige, heftig auf den Mund, da es sich ganz vergessen
hatte und laut sang. Es verstand ihn endlich und sie standen still und
lauschend, bis ihr tobendes Hochzeitgeleite das Feld entlang gerast war und,
ohne sie zu vermissen , am Ufer des Stromes hinauf sich verzog. Die Geige, das
Gelächter der Mädchen und die Jauchzer der Bursche tönten aber noch eine gute
Zeit durch die Nacht, bis zuletzt alles verklang und still wurde.
Diesen sind wir entflohen, sagte Sali, aber wie entfliehen wir uns selbst? Wie
meiden wir uns?«
Vrenchen war nicht im Stande zu antworten und lag hochaufathmend an seinem
Halse. "Soll ich Dich nicht lieber ins Dorf zurückbringen und Leute wecken, daß
sie Dich aufnehmen? Morgen kannst Du ja dann Deines Weges ziehen und gewiß wird
es Dir wohl gehen, Du kommst überall fort!«
"Fortkommen, ohne Dich!«
"Du mußt mich vergessen!« „Das werde ich nie!« Könntest denn Du es
thun.'
„Darauf kommt's nicht an, mein Herz! sagte Sali und streichelte ihm die heißen
Wangen, je nachdem es sie leidenschaftlich an seiner Brust herumwarf,« es
handelt sich jetzt nur um Dich; Du bist noch so ganz jung und es kann Dir noch
auf allen Wegen gut gehend
„Und Dir nicht auch, Du alter Mann?«
„Komm!« sagte Sali und zog es fort. Aber sie gingen nur einige Schritte und
standen wieder still, um sich bequemer zu umschlingen und zu herzen. Die Stille
der Welt sang und mu- sizirte ihnen durch die Seelen, man hörte nur den Fluß
unten sacht und lieblich rauschen im langsamen Ziehen.
„Wie schön ist es da rings herum! Hörst Du nicht etwas tönen, wie ein schöner
Gesang oder ein Geläute!«
„Es ist das Wasser das rauscht! Sonst ist alles still.«
Nein, es ist noch etwas anderes, hier, dort hinaus, überall tönt's!« "Ich glaube, wir hören unser eigenes Blut in unsern Ohren rauschen!»
Sie horchten ein Weilchen auf diese eingebildeten oder wirklichen Töne, welche
von der großen Stille herrührten oder welche sie mit den magischen Wirkungen des
Mondlichtes verwechselten, welches nah und fern über die grauen Herbstnebel
wallte, welche tief auf den Gründen lagen. Plötzlich fiel Vrenchen etwas ein; es
suchte in seinem Brustgewand und sagte: "Ich habe Dir noch ein Andenken gekauft,
das ich Dir geben wollte!» Und es gab ihm den einfachen Ring und steckte ihm
denselben selbst an den Finger. Sali nahm sein Ringlein auch hervor und steckte
ihn an Vrenchens Hand, indem er sagte: So haben wir die gleichen Gedanken
gehabt! Vrenchen hielt seine Hand in das bleiche Silberlicht und betrachtete den
Ring. "Ei, wie ein feiner Ring!» sagte es lachend; "nun sind wir aber doch
verlobt und versprochen, Du bist mein Mann und ich Deine Frau, wir wollen es
einmal einen Augenblick lang denken, nur bis jener Nebelstreif am Mond vorüber
ist oder bis wir zwölf gezählt haben! Küsse mich zwölfmal!«
Sali liebte gewiß eben so stark als Branchen, aber die Heirathsfrage war in ihm
doch nicht so leidenschaftlich lebendig als ein bestimmtes Entweder — oder, als
ein unmittelbares Sein oder Nichtsein, wie in Vrenchen, welches nur das Eine zu
fühlen fähig war und mit leidenschaftlicher Entschiedenheit unmittelbar Tod oder
Leben darin sah. Aber setzt ging ihm endlich ein Licht aus und das weibliche
Gefühl des jungen Mädchens ward in ihm auf der Stelle zu einem wilden und heißen
Verlangen und eine glühende Klarheit erhellte ihm die Sinne. So heftig er
Vrenchen schon umarmt und liebkost hatte, that er es setzt doch ganz anders und
stürmischer und übersäete es mit Küssen. Vrenchen fühlte trotz aller eigenen
Leidenschaft auf der Stelle diesen Wechsel und ein heftiges Zittern durchfuhr
sein ganzes Wesen, aber ehe jener Nebelstreif am Monde vorüber war, war es auch
davon ergriffen. Im heftigen Schmeicheln und Ringen begegneten sich ihre
ringgeschmückten Hände und faßten sich fest, wie von selbst eine Trauung vollziehend, ohne den Befehl eines Willens. Sa- lis Herz klopfte
bald wie mit Hämmern, bald stand es still, er athmete schwer und sagte leise: Es
giebt Eines für uns, Vrenchen, wir halten Hochzeit zu dieser Stunde und gehen
dann aus der Welt — dort ist das tiefe Wasser — dort scheidet uns Niemand mehr
und wir sind zusammen gewesen — ob kurz oder lang, das kann uns dann gleich
sein. —
Vrenchen sagte sogleich: »Sali — was Du da sagst, habe ich schon lang bei mir
gedacht und ausgemacht, nämlich daß wir sterben könnten und dann Alles vorbei
wäre — so schwör' mir es, daß Du es mit mir thun willst!«
»Es ist schon so gut wie gethan, es nimmt Dich Niemand mehr aus meiner Hand, als
der Tod!« rief Sali außer sich. Vrenchen aber athmete hoch aus, Thränen der
Freude entströmten seinen Augen; es raffte sich auf und sprang leicht wie ein
Vogel über das Feld gegen den Fluß hinunter. Sali eilte ihm nach; denn er
glaubte, es wolle ihm entfliehen, und Vrenchen glaubte er wolle es zurückhalten,
so sprangen sie einander nach und Vrenchen lachte wie ein
Keller, die Leute von Scldwyla. 23 Kind, welches sich nicht will
fangen lassen. »Reut es Dich schon?« rief Eines zum Andern, als sie am Flusse
angekommen waren und sich ergriffen; -»nein! es freut mich immer mehr!«
erwiederte ein Jedes. Aller Sorgen ledig gingen sie am Ufer hinunter und
überholten die eilenden Wasser, so hastig suchten sie eine Stätte, um sich
niederzulassen; denn ihre Leidenschaft sah fetzt nur den Rausch der Seligkeit,
der in ihrer Vereinigung lag, und der ganze Werth und Inhalt des übrigen Lebens
drängte sich in diesem zusammen; was danach kam, Tod und Untergang, war ihnen
ein Hauch, ein Nichts, und sie dachten weniger daran, als ein Leichtsinniger
denkt, wie er den andern Tag leben will, wenn er seine letzte Habe verzehrt.
i, Meine Blumen gehen mir voraus, rief Vrenchen, sieh, sie sind ganz dahin und
verwelkt!« Es nahm sie von der Brust, warf sie ins Wasser und sang laut dazu:
"Doch süßer als ein Mandelkern ist meine Lieb' zu Dir!«
"Halt! rief Sali, hier ist Dein Brautbett!«
Sie waren an einen Fahrweg gekommen, der vom Dorfe her an den Fluß führte, und
hier war eine Landungsstelle, wo ein großes Schiff, hoch mit
Heu beladen, angebunden lag. In wilder Laune begann er unverweilt die starken
Seile loszubinden, Vrenchen fiel ihm lachend in den Arm und rief: "Was willst Du
thun? Wollen wir den Bauern ihr Heuschiff stehlen zu guter Letzt?« «Das soll die
Aussteuer sein, die sie uns geben, eine schwimmende Bettstelle und ein Bett, wie
noch keine Braut gehabt! Sie werden überdies ihr Eigenthum unten wieder finden,
wo es sa doch hin soll und werden es nicht wissen, was damit geschehen ist.
Sieh, schon schwankt es und will hinaus!«
Das Schiff lag einige Schritte vom Ufer entfernt im tieferen Wasser. Sali hob
Vrenchen mit seinen Armen hoch empor und schritt durch das Wasser gegen das
Schiff; aber es liebkoste ihn so heftig ungeberdig und zappelte wie ein Fisch,
daß er im ziehenden Wasser keinen Stand halten konnte. Es strebte Gesicht und
Hände ins Wasser zu tauchen und rief: "Ich will auch das kühle Wasser versuchen!
Weißt Du noch, wie kalt und naß unsere Hände waren, als wir sie uns zum ersten
Mal gaben? Fische fingen wir damals, jetzt werden wir selber
Fische sein und zwei schöne großes »Sei ruhig, Du lieber Teufel!« sagte Sali,
der Mühe hatte zwischen dem tobenden Liebchen und den Wellen sich aufrecht zu
halten, »es zieht mich sonst fort!« Er hob seine Last in das Schiff und schwang
sich nach; er hob sie auf die hvchgebettete weiche und duftende Ladung und
schwang sich auch hinauf, und als sie oben saßen, trieb das Schiff allmälig in
die Mitte des Stromes hinaus und schwamm dann, sich langsam drehend, zu Thal.
Der Fluß zog bald durch hohe dunkle Wälder, die ihn überschatteten, bald durch
offenes Land; bald an stillen Dörfern vorbei, bald an einzelnen Hütten; hier
gerietst er in eine Stille, daß er einem ruhigen See glich und das Schiff beinah
still hielt, dort strömte er um Wälder und ließ die schlafenden Ufer schnell
hinter sich; und als die Morgenröthe aufstieg, tauchte zugleich eine Stadt mit
ihren Thürmen aus dem silbergrauen Strome. Der untergehende Mond, roth wie Gold,
legte eine glänzende Bahn den Strom hinauf und auf dieser kam das Schiff langsam
überquer gefahren. Als es sich der Stadt näherte, glitten im
Froste des Herbstmorgens zwei bleiche Gestalten, die sich fest umwanden, von der
dunklen Masse herunter in die kalten Fluthen.
Das Schiff legte sich eine Weile nachher unbeschädigt an eine Brücke und blieb
da stehen. Als man später unterhalb der Stadt die Leichen fand und ihre Herkunft
ausgemittelt hatte, war in den Zeitungen zu lesen, zwei junge Leute, die Kinder
zweier blutarmen zu Grunde gegangenen Familien, welche in unversöhnlicher
Feindschaft lebten, hätten im Wasser den Tod gesucht, nachdem sie einen ganzen
Nachmittag herzlich mit einander getanzt und sich belustigt auf einer Kirch-
weih. Es sei dies Ereigniß vermuthlich in Verbindung zu bringen mit einem
Heuschiff aus jener Gegend, welches ohne Schiffleute in der Stadt gelandet sei,
und man nehme an, die jungen Leute haben das Schiff entwendet, um darauf ihre
verzweifelte und gottverlassene Hochzeit zu halten, abermals ein Zeichen von der
um sich greifenden Entsittlichung und Verwilderung der Leidenschaften.
Was die Sittlichkeit betrifft, so bezweckt diese Erzählung
keineswegs, die That zu beschönigen und zu verherrlichen; denn höher als diese
verzweifelte Hingebung wäre jedenfalls ein entsagendes Zusammenraffen und ein
stilles Leben voll treuer Mühe und Arbeit gewesen, und da diese die mächtigsten
Zauberer sind in Verbindung mit der Zeit, so hätten sie vielleicht noch alles
möglich gemacht; denn sie verändern mit ihrem unmerklichen Einflüsse die Dinge,
vernichten die Vorurtheile, stellen die Ehre her und erneuen das Gewissen, so
daß die wahre Treue nie ohne Hoffnung ist.
Was aber die Verwilderung der Leidenschaften angeht, so betrachten wir diesen
und ähnliche Vorfälle, welche alle Tage im niederen Volke vorkommen, nur als ein
weiteres Zeugniß, daß dieses allein es ist, welches die Flamme der kräftigen
Empfindung und Leidenschaft nährt und wenigstens die Fähigkeit des Sterbens für
eine Herzenssache aufbewahrt, daß sie zum Troste der Romanzendichter nicht aus
der Welt verschwindet. Das gleichgültige Eingehen und Lösen von »Verhältnissen«
unter den gebildeten Ständen von heute, das selbstsüchtige frivole Spiel mit
denselben, die große Leichtigkeit, mit welcher heut- zutage junge
Leutchen zu trennen und auseinander zu bringen sind, wenn ihre Neigung irgend
außer der Berechnung liegt, sind zehnmal widerwärtiger, als jene Unglückssälle,
welche jetzt die Protokolle der Polizeibehörden füllen und ehedem die
Schreibtafeln der Balladensänger füllten. Wir sehen alle Tage etwa einen
wohlgekleideten Herrn, der seine Frau oder Braut mitten auf der Straße plötzlich
stehen läßt und auf die Seite springt, weil irgend einem Schlächter eine alte
Kuh entsprungen ist und bedrohlich dahergerannt kommt. Höchstens aus der Ferne,
hinter einer Hausthür hervor, schwingt er sein Stückchen und macht: Bscht!
Bscht! Solche Leute werden sich allerdings nicht aus Eigensinn und Leidenschaft
um's Leben bringen, wenn man sie trennen will. Ebensowenig diejenigen, welche in
allen Zeitungen ihre "stattgefundene» Verlobung anzeigen und vierzehn Tage
darauf einen Jnseratenkrieg führen, wo jeder Part sich rühmt und behauptet, das
"Verhältniß» zuerst abgebrochen zu haben. Die drei gerechten
Ramimnacher.
Aie Leute von Seldwyla haben bewiesen, daß eine ganze Stadt von Ungerechten oder
Leichtsinnigen zur Noth fortbestehen kann im Wechsel der Zeiten und des
Verkehrs; die drei Kammmacher aber, daß nicht drei Gerechte lang unter einem
Dache leben können, ohne sich in die Haare zu gerathen. Es ist hier aber nicht
die himmlische Gerechtigkeit gemeint oder die natürliche Gerechtigkeit des
menschlichen Gewissens, sondern jene blutlose Gerechtigkeit, welche aus dem
Vaterunser die Bitte gestrichen hat: Und vergieb uns unsere Schulden, wie auch
wir vergeben unsern Schuldnern! weil sie keine Schulden macht und auch keine »
ausstehen ^ hat; welche Niemandem zu Leid lebt, aber auch Niemandem zu Gefallen,
wohl arbeiten und erwerben, aber nichts ausgeben will und an der
Arbeitstreue nur einen Nutzen, aber keine Freude findet. Solche Gerechte werfen
keine Laternen ein, aber sie zünden auch keine an und kein Licht geht von ihnen
aus; sie treiben allerlei Hanthierung und eine ist ihnen so gut wie die andere,
wenn sie nur mit keiner Fährlichkeit verbunden ist; am liebsten siedeln sie sich
dort an, wo recht viele Ungerechte in ihrem Sinne sind; denn sie unter einander,
wenn keine solche zwischen ihnen wären, würden sich bald abreiben, wie
Mühlsteine, zwischen denen kein Korn liegt. Wenn diese ein -hlr^lück betrifft,
so sind sie höchst verwundert unNHkm- mern, als ob sie am Spieße stücken, da sie
doch Niemandem was zu Leid gethan haben; denn sie betrachten die Welt als eine
große wohlge- sicherte Pvlizeianstalt, wo keiner eine Kontra- ventionskuße zu
fürchten braucht, wenn er vor seiner Thüre fleißig kehrt, keine Blumentöpfe
unverwahrt vor das Fenster stellt und kein Wasser aus demselben gießt.
Zu Seldwyl bestand ein Kammmachergeschäft, dessen Inhaber gcwohnterweise alle
fünf bis sechs Jahre wechselten, obgleich es ein gutes Geschäft
23 * war, wenn es fleißig betrieben wurde; denn die Krämer, welche
die umliegenden Jahrmärkte besuchten, holten da ihre Kammwaaren. Außer den
nothwendigen Hornstriegeln aller Art wurden auch die wunderbarsten Schmuckkämme
sür die Dorsschönen und Dienstmägde verfertigt aus schönem durchsichtigen
Ochsenhorn, in welches die Kunst der Gesellen (denn die Meister arbeiteten nie)
ein tüchtiges braunrothes Schildpattgewölke beizte, se nach ihrer Phantasie, so
daß, wenn man die Kämme gegen das Licht hielt, man die herrlichen Sonnenauf- und
Niedergänge zu se- hen'Maubte, rothe Schäfchenhimmel, Gewitterstürme und andere
gesprenkelte Naturerscheinungen. Im Sommer, wenn die Gesellen gerne wanderten
und rar waren, wurden sie mit Höflichkeit behandelt und bekamen guten Lohn und
gutes Essen; im Winter aber, wenn sie ein Unterkommen suchten und häufig zu
haben waren, mußten sie sich ducken, Kämme machen, was das Zeug halten wollte,
für geringen Lohn, die Meisterin stellte einen Tag wie den andern eine Schüssel
Sauerkraut auf den Tisch und der Meister sagte: das sind Fische! Wenn dann ein
Ge- selle zu sagen wagte: bitt' um Verzeihung, es ist Sauerkraut!
so bekam er auf der Stelle den Abschied und mußte wandern in den Winter hinaus.
Sobald aber die Wiesen grün wurden und die Wege gangbar, sagten sie: Es ist doch
Sauerkraut! und schnürten ihr Bündel. Denn wenn dann auch die Meisterin auf der
Stelle einen Schinken auf das Kraut warf und der Meister sagte: Meiner Seel! ich
glaubte es wären Fische! Nun, dieses ist doch gewiß ein Schinken! so sehnten sie
sich doch hinaus, da alle "drei Gesellen in einem zweischläfigen Verschlafen
mußten und sich den Winter durch herzlich satt bekamen wegen der Rippenstöße und
erfrorenen Seiten.
Einsmals kam aber ein ordentlicher und sanfter Geselle angereist aus irgend
einem der sächsischen Lande, der fügte sich in Alles, arbeitete wie ein
Thierlein und war nicht zu vertreiben, so daß er zuletzt ein bleibender Hausrath
wurde in dem Geschäft und mehrmals den Meister wechseln sah, da es die Jahre her
gerade etwas stürmischer herging als sonst. Jobst streckte sich in dem Bette so
steif er konnte und be- hauptete seinen Platz zunächst der Wand
Winter und Sommer; er nahm das Sauerkraut willig für Fische und im Frühjahr mit
bescheidenem Dank ein Stückchen von dem Schinken. Den kleineren Lohn legte er so
gut zur Seite, wie den größeren, denn er gab nichts aus, sondern sparte sich
alles auf. Er lebte nicht, wie andere Handwerksgesellen, trank nie einen
Schoppen, verkehrte mit keinem Landsmann noch mit anderen jungen Gesellen,
sondern stellte sich des Abends unter die Hausthüre und schäkerte mit den asten
Weibern, hob ihnen die Waffereimer auf oen Kopf, wenn er besonders freigebiger
Laune war, und ging mit den Hühnern zu Bett, wenn nicht reichliche Arbeit da
war, daß er für besondere Rechnung die Nacht durcharbeiten konnte. Am Sonntag
arbeitete er ebenfalls bis in den Nachmittag hinein, und wenn es das herrlichste
Wetter war; man denke aber nicht, daß er dies mit Frohsinn und Vergnügen that,
wie Johann der muntere Seifensieder; vielmehr war er bei dieser freiwilligen
Mühe niedergeschlagen und beklagte sich fortwährend über die Mühseligkeit des
Lebens. War dann der Sonntagnachmittag ge- *
kommen, so ging er in seinem Arbeitsschmutz und in den klappernden Pantoffeln
über die Gasse und holte sich bei der Wäscherin das frische Hemd und das
geglättete Vorhemdchen, den Vatermörder oder das bessere Schnupftuch und trug
diese Herrlichkeiten auf der flachen Hand mit elegantem Gesellenschritt vor sich
her nach Hause. Denn im Arbeitsschurz und in den Schlappschuhen beobachten
manche Gesellen immer einen eigenthümlich gezierten Gang, als ob sie in höheren
Sphären schwebten, besonders die gebildeten Buchbinder, die lustigen Schuhmacher
und die seltenen sonderbaren Kammmacher. In seiner Kammer bedachte sich Iobst
aber noch wohl, ob er das Hemd oder das Vorhemdchen auch wirklich anziehen
wolle, denn er war bei aller Sanstmuth und Gerechtigkeit ein kleiner
Schweinigel, oder ob es die alte Wäsche noch für eine Woche thun müsse und er
bei Hause bleiben und noch ein Bischen arbeiten wolle. In diesem Falle setzte er
sich mit einem Seufzer über die Schwierigkeit und Mühsal der Welt von neuem
dahinter und schnitt verdrossen seine Zähne in die Kämme oder er wandelte das
Horn in Schildkrötschalen um, wobei er aber so nüchtern und
phantasielos verfuhr, daß er immer die gleichen drei trostlosen Kleckse darauf
schmierte, denn wenn es nicht unzweifelhaft vorgeschrieben war, so wandte er
nicht die kleinste Mühe an eine Sache. Entschloß er sich aber zu einem
Spaziergang, so putzte er sich eine oder zwei Stunden lang peinlich heraus, nahm
sein Spazierstöckchen und wandelte steif ein wenig vor's Thor, wo er demüthig
und langweilig herumstand und langweilige Gespräche führte mit andern
Herumständern, die auch nichts besseres zu thun wußten, etwa alte arme
Seldwyler, welche nicht mehr in's Wirthshaus gehen konnten. Mit solchen stellte
er sich dann gern vor ein im Bau begriffenes Haus, vor ein Saatfeld, vor einen
Wetterbeschädigten Apfelbaum oder vor eine neue Zwirnfabrik und düftelte auf das
Angelegentlichste über diese Dinge, deren Zweckmäßigkeit und den Kostenpunkt,
über die Jahrshoffnungen und den Stand der Feldfrüchte, von was allem er nicht
den Teufel verstand. Es war ihm auch nicht darum zu thun; aber die Zeit verging
ihm so auf die billigste und kurzweiligste Weise nach seiner Art
und die alten Leute nannten ihn nur den artigen und vernünftigen Sachsen, denn
sie verstanden auch nichts. Als die Seldwyler eine große Aktienbrauerei
anlegten, von der sie sich ein gewaltiges Leben versprachen, und die
weitläufigen Fundamente aus dem Boden ragten, stöckerte er manchen Sonntag Abend
darin herum, mit Kennerblicken und mit dem scheinbar lebendigsten Interesse die
Fortschritte des Baues untersuchend, wie wenn er ein alter Bauverstän- diger und
der größte Biertrinker wäre. "Aber nein! rief er ein Mal um das andere, des is
ein fameses Wergg! des giebt eine großartigte Anstalt! Aber Geld kosten duhts,
na das Geld! Aber Schade, hier mißte mir des Gewehlbe doch en Bisgen dieser sein
und die Mauer um eine Idee stärger!« Bei alle dem dachte er sich gar nichts, als
daß er noch recht zeitig zum Abendessen wolle, eh' es dunkel werde; denn dieses
war der einzige Tort, den er seiner Frau Meisterin anthat, daß er nie das
Abendbrot versäumte am Sonntag, wie etwa die anderen Gesellen, sondern daß sie
seinetwegen allein zu Hause bleiben oder sonst wie Bedacht auf ihn nehmen mußte. Hatte er sein Stückchen Braten oder Wurst versorgt, so
wurmisirte er noch ein Weilchen in der Kammer herum und ging dann zu Bett, dies
war dann ein vergnügter Sonntag für ihn gewesen.
Bei all' diesem anspruchlosen, sanften und ehrbaren Wesen ging ihm aber nicht
ein leiser Zug von innerlicher Ironie ab, wie wenn er sich heimlich über die
Leichtsinnigkeit und Eitelkeit der Welt lustig machte und er schien die Größe
und Erheblichkeit der Dinge nicht undeutlich zu bezweifeln und sich eines viel
tieferen Gedankenplanes bewußt zu sein. In der That machte er auch zuweilen ein
so kluges Gesicht, besonders wenn er die sachverständigen sonntäglichen Reden
führte, daß man ihm wohl ansah, wie er heimlich viel wichtigere Dinge im Sinne
trage, wogegen alles, was andere unternahmen, bauten und aufrichteten, nur ein
Kinderspiel wäre. Der große Plan, welchen er Tag und Nacht mit sich herumtrug
und welcher sein stiller Leitstern war die ganzen Jahre lang, während er in
Seldwyl Geselle war, bestand darin, sich so lange seinen Verdienst aufzusparen,
bis er hinreiche, eines schönen Morgens das Geschäft, wenn es
gerade vakant würde, anzukaufen und ihn selbst zum Inhaber und Meister zu
machen. Dies lag all' seinem Thun und Trachten zu Grunde, da er wohl bemerkt
hatte, wie ein fleißiger und sparsamer Mann allhier wohl gedeihen müßte, ein
Mann, welcher seinen eigenen stillen Weg ginge und von der Sorglosigkeit der
Andern nur den Nutzen aber nicht die Nachtheile zu ziehen wüßte. Wenn er aber
erst Meister wäre, dann wollte er bald so viel erworben haben, um sich auch
einzubürgern, und dann erst gedachte er so klug und zweckmäßig zu leben, wie
noch nie ein Bürger in Seldwyl, sich um gar nichts zu kümmern, was nicht seinen
Wohlstand mehre, nicht einen Deut auszugeben, aber deren so viele als möglich an
sich zu ziehen in dem leichtsinnigen Strudel dieser Stadt. Dieser Plan war eben
so einfach als richtig und begreiflich, besonders da er ihn auch ganz gut und
ausdauernd durchführte; denn er hatte schon ein hübsches Sümmchen zurückgelegt,
welches er sorgfältig verwahrte und sicherer Berechnung nach mit der Zeit groß
genug werden mußte zur Erreichung dieses Zieles. Aber
Keller, die Leute von Seldwyla. 24 das Unmenschliche an diesem so
stillen und friedfertigen Plane war nur, daß Jobst ihn überhaupt gefaßt hatte;
denn nichts in seinem Herzen zwang ihn, gepade in Seldwyla zu bleiben, weder
eine Vorliebe für die Gegend, noch für die Leute, weder für die politische
Verfassung dieses Landes, noch für seine Sitten. Dies alles war ihm so
gleichgültig, wie seine eigene Heimath, nach welcher er sich gar nicht
zurücksehnte; an hundert Orten in der Welt konnte er sich mit seinem Fleiß und
mit seiner Gerechtigkeit eben so wohl festhalten, wie hier; aber er hatte keine
freie Wahl und ergriff in seinem öden Sinne die erste zufällige Hoffnungsfaser,
die siH ihm bot, um sich daran zu hängen und sich daran groß zu saugen. Wo es
mir wohl geht, da ist mein Vaterland! heißt es sonst und dieses Sprichwort soll
unangetastet bleiben für diejenigen, welche auch wirklich eine bessere und
nothwendige Ursache ihres Wohlergehens im neuen Vaterlande auszuweisen haben,
welche in freiem Entschlüsse in die Welt hinausgegangen, um sich rüstig einen
Vortheil zu erringen und als geborgene Leute zurückzukehren, oder welche einem
unwohnlichen Zustande in Schaaren entfliehen und dem Zuge der Zeit
gehorchend, die neue Völkerwanderung über die Meere mit wandern; oder welche
irgendwo treuere Freunde gefunden haben, als daheim, oder ihren eigensten
Neigungen mehr entsprechende Verhältnisse oder durch irgend ein schöneres
menschliches Band festgebunden wurden. Aber auch das neue Land ihres
Wohlergehens werden alle diese wenigstens lieben müssen, wo sie eigentlich sind
und auch da zur Noth einen Menschen vorstellen. Aber Jobst wußte kaum wo er war;
die Einrichtungen und Gebräuche der Schweizer waren ihm unverständlich, und er
sagte blos zuweilen: »Ja, ja, die Schweizer sind politische Leute! Es ist
gewißlich, wie ich glaube, eine schöne Sache um die Politik, wenn man Liebhaber
davon ist! Ich für meinen Theil bin kein Kenner davon, wo ich zu Haus bin, da
ist es nicht der Brauch gewesene Die Sitten der Seldwyler waren ihm zuwider und
machten ihn ängstlich, und wenn sie einen Tumult oder Zug vorhatten, hockte er
zitternd zuhinterst in der Werkstatt und fürchtete Mord und Todtschlag. Und
dennoch war es sein einziges Denken und
24 » sein großes Geheimniß, hier zu bleiben' bis an das Ende
seiner Tage. Auf alle Punkte der Erde sind solche Gerechte hingestreut, die aus
keinem anderen Grunde sich dahin verkrümmeltcn, als weil sie zufällig an ein
Saugeröhrchen des guten Auskommens geriethen, und sie saugen still daran ohne
Heimweh nach dem alten, ohne Liebe zu dem neuen Lande, ohne einen Blick in die
Weite und ohne einen für die Nähe, und gleichen daher weniger dem freien
Menschen, als jenen niederen Organismen, wunderlichen Thierchen und
Pflanzensaamen, die durch Luft und Wasser an die zufällige Stätte ihres
Gedeihens getragen worden.
So lebte er ein Jährchen um das andere in Seldwyla und äufnete seinen heimlichen
Schatz, welchen er unter einer Fliese seines Kammerbodens vergraben hielt. Noch
konnte sich kein Schneider rühmen, einen Batzen an ihm verdient zu haben, denn
noch war der Sonntagsrock, mit dem er angereist, im gleichen Zustande wie
damals. Noch hatte kein Schuster einen Pfennig von ihm gelöst, denn noch waren
nicht einmal die Stiefelsohlen durchgelaufen, die bei seiner
Ankunft das Äußere seines Felleisens geziert; denn das Jahr hat nur zwei und
fünfzig Sonntage, und von diesen wurde nur die Hälfte zu einem kleinen
Spaziergange verwandt. Niemand konnte sich rühmen, je ein kleines oder großes
Stück Geld in seiner Hand gesehen zu haben; denn wenn er seinen Lohn empfing,
verschwand dieser auf der Stelle auf die geheimnißvollste Weise, und selbst wenn
er vor das Thor ging, steckte er nicht einen Deut zu sich, so daß es ihm gar
nicht möglich war, etwas auszugeben. Wenn Weiber mit Kirschen, Pflaumen oder
Birnen in die - Werkstatt kamen und die anderen Arbeiter ihre Gelüste
befriedigten, hatte er auch tausend und ein Gelüste, welche er dadurch zu
beruhigen wußte, daß er mit der größten Aufmerksamkeit die Verhandlung mit
führte, die hübschen Kirschen und Pflaumen streichelte und betastete und zuletzt
die Weiber, welche ihn für den eifrigsten Käufer genommen, verblüfft abziehen
ließ, sich seiner Enthaltsamkeit freuend, und mit zufriedenem Vergnügen, mit
tausend kleinen Rathschlägen, wie sie die gekauften Äpfel braten oder schälen
sollten, sah er seine Mitgesellen essen. Aber so wenig Jemand eine
Münze von ihm zu besehen kriegte, eben so wenig erhielt Jemand von ihm je ein
barsches Wort, eine unbillige Zumuthung oder ein schiefes Gesicht; er wich
vielmehr allen Händeln auf das sorgfältigste aus und nahm keinen Scherz übel,
den man sich mit ihm erlaubte; und so neugierig er war, den Verlauf von allerlei
Klatschereien und Streitigkeiten zu betrachten und zu beurtheilen, da solche
jederzeit einen kostenfreien Zeitvertreib gewährten, während andere Gesellen
ihren rohen Gelagen nachgingen, so hütete er sich wohl, sich in etwas zu mischen
und über einer Unvorsichtigkeit betreffen zu lassen. Kurz er war die
merkwürdigste Mischung von wahrhaft heroischer Weisheit und Ausdauer und von
sanfter schnöder Herz- und Gefühllosigkeit.
Einst war er schon seit vielen Wochen der einzige Geselle in dem Geschäft und es
war ihm so wohl in dieser Ungestörtheit wie einem Fisch im Wasser. Besonders des
Nachts freute er sich des breiten Raumes im Bette und benutzte sehr ökonomisch
diese schöne Zeit, sich für die kommenden Tage zu entschädigen und seine Per-
son gleichsam zu verdreifachen, indem er unaufhörlich die Lage
wechselte und sich vorstellte, als ob drei zumal im Bette lägen, von denen zwei
den dritten ersuchten, sich doch nicht zu geniren und es sich bequem zu machen.
Dieser Dritte war er selbst und er wickelte sich auf die Einladung hin wollüstig
in die ganze Decke oder spreizte die Beine weit auseinander, legte sich quer
über das Bett oder schlug in harmloser Lust Purzelbäume darin. Eines Tages aber,
als er noch beim Abendscheine schon im Bette lag, kam unverhofft noch ein
fremder Geselle zugesprochen und wurde von der Meisterin in die Schlaskammer
gewiesen. Jobst lag eben in wichtigem Behagen mit dem Kopfe am Fußende und mit
den Füßen auf den Pfülmen, als der Fremde eintrat, sein schweres Felleisen
abstellte und unverweilt anfing, sich auszuziehen, da er müde war. Jobst
schnellte blitzschnell herum und streckte sich steif an seinen ursprünglichen
Platz an der Wand, und er dachte: „Der wird bald wieder ausrechen, da es Sommer
ist und lieblich zu wandern ch In dieser Hoffnung ergab er sich mit stillen
Seufzern in sein Schicksal und war der nächtlichen Rippenstöße und
des Streites um die Decke gewärtig, die es nun absetzen würde. Aber wie erstaunt
war er, als der Neuangekommene, obgleich es ein Baier war, sich mit höflichem
Gruße zu ihm ins Bett legte, sich eben so friedlich und manierlich, wie er
selbst, am andern Ende des Bettes verhielt und ihn während der ganzen Nacht
nicht im mindesten belästigte. Dies unerhörte Abenteuer brachte ihn so um alle
Ruhe, daß er, während der Baier wohlgemuth schlief, diese Nacht kein Auge
zuthat. Am Morgen betrachtete er den wundersamen Schlafgefährten mit äußerst
aufmerksamen Mienen und sah, daß es ein ebenfalls nicht mehr junger Geselle war,
der sich mit anständigen Worten nach den Umständen und dem Leben hier
erkundigte, ganz in der Weise, wie er es etwa selbst gethan haben würde. Sobald
er dies nur bemerkte, hielt er an sich und verschwieg die einfachsten Dinge, wie
ein großes Geheimniß, trachtete aber dagegen das Geheimniß des Baiers zu
ergründen; denn daß derselbe ebenfalls eines besaß, war ihm von weitem
anzusehen; wozu sollte er sonst ein so verständiger, sanftmüthiger und ge- wiegter Mensch sein, wenn er nicht irgend etwas heimliches, sehr
Vortheilhaftes vorhatte? Nun suchten sie sich gegenseitig die Würmer aus der
Nase zu ziehen, mit der größten Vorsicht und Friedfertigkeit, in halben Worten
und auf an- muthigen Umwegen. Keiner gab eine vernünftige klare Antwort und doch
wußte nach Verlauf einiger Stunden jeder, daß der Andere nichts mehr oder
minder, als sein vollkommner Doppelgänger sei. Als im Lauf des Tages Fridolin
der Baier mehrmals nach der Kammer lief und sich dort zu schaffen machte, nahm
Iobst die Gelegenheit wahr, auch einmal hinzuschleichen, als jener bei der
Arbeit saß, und durchmusterte im Fluge die Habseligkeiten Fridolins; er
entdeckte aber nichts weiter, als fast die gleichen Siebensächelchen, die er
selbst besaß, bis auf die hölzerne Nadelbüchse, welche aber hier einen Fisch
vorstellte, während Iobst scherzhafter Weise ein kleines Wickelkindchen besaß,
und statt einer zerrissenen französischen Sprachlehre für das Volk, welche Iobst
bisweilen durchblätterte, war bei dem Baier ein gut gebundenes Büchlein zu
finden, betitelt: Die kalte und warme Küpe, ein unentbehrliches
Handbuch für Blaufärber. Darin war aber mit Bleistift geschrieben: Unterfand für
die 3 Kreizer, welche ich dem Nassauer geborgt. Hieraus schloß er, daß es ein
Mann war, der das Scinige zusammenhielt, und spähete unwill- kührlich am Boden
herum, und bald entdeckte er eine Fliese, die ihm gerade so vorkam, als ob sie
kürzlich herausgenommen wäre und unter derselben lag auch richtig ein Schatz in
ein altes halbes Schnupftuch und mit Zwirn umwickelt, fast ganz so schwer wie
der seinige, welcher zum Unterschied in einem zugebundenen Socken steckte.
Zitternd drückte er die Backsteinplatte wieder zurecht, zitternd aus Aufregung
und Bewunderung der fremden Größe und aus tiefer Sorge um sein Geheimniß.
Stracks lief er hinunter in die Werkstatt und arbeitete, als ob es gälte, die
Welt mit Kämmen zu versehen, und der Baier arbeitete, als ob der Himmel noch
dazu gekämmt werden müßte. Die nächsten acht Tage bestätigten durchaus diese
erste gegenseitige Auffassung; denn war Jvbst fleißig und genügsam, so war
Fridolin thätig und enthaltsam mit den gleichen bedenklichen Seufzern über das
Schwierige solcher Tu- gend; war aber Iobst heiter und weise, so
zeigte sich Fridolin spaßhaft und klug; war jener bescheiden, so war dieser
demüthig, jener schlau und ironisch, dieser durchtrieben und beinahe satyrisch,
und machte Iobst ein friedlich einfältiges Gesicht zu einer Sache, die ihn
ängstigte, so sah Fridolin unübertrefflich wie ein Esel aus. Es war nicht sowohl
ein Wettkampf, als die Übung wohl- bewußter Meisterschaft, die sie beseelte,
wobei keiner verschmähte, sich den andern zum Vorbild zu nehmen und ihm die
feinsten Züge eines vollkommenen Lebenswandels, die ihm etwa noch fehlten,
nachzuahmen. Sie sahen sogar so einträchtig und verständnißinnig aus, daß sie
eine gemeinsame Sache zu machen schienen, und glichen so zwei tüchtigen Helden,
die sich ritterlich vertragen und gegenseitig stählen, ehe sie sich befehden.
Aber nach kaum acht Tagen kam abermals einer zugereist, ein Schwabe, Namens
Dietrich, worüber die Beiden eine stillschweigende Freude empfanden, wie über
einen lustigen Maßstab, an welchem ihre stille Größe sich messen konnte, und sie
gedachten das arme Schwäbchen, welches gewiß ein rechter Taugenichts war, in die
Mitte zwischen ihre Tugenden zu nehmen, wie zwei Löwen ein
Äffchen, mit dem sie spielen.
Aber wer beschreibt ihr Erstaunen, als der Schwabe sich gerade so benahm, wie
sie selbst, und sich die Erkennung, die zwischen ihnen vorgegangen, noch einmal
wiederholte zu Dritt, wodurch sie nicht nur dem Dritten gegenüber in eine
unverhoffte Stellung geriethen, sondern sie selbst unter sich in eine ganz
veränderte Lage kamen.
Schon als sie ihn im Bette zwischen sich nahmen, zeigte sich der Schwabe als
vollkommen ebenbürtig und lag wie ein Schwefelholz so strack und ruhig, so daß
immer noch ein bischen Raum zwischen jedem der Gesellen blieb und daö Deckbett
auf ihnen lag, wie ein Papier auf drei Häringen. Die Lage wurde nun ernster und
indem alle drei gleichmäßig sich gegenüberstanden, wie die Winkel eines
gleichseitigen Dreieckes, und kein vertrauliches Verhältniß mehr zwischen zweien
möglich war, kein Waffenstillstand oder amnuthi- ger Wettstreit, waren sie allen
Ernstes beflissen, einander aus dem Bett und dem Haus hinaus zu dulden. Als der
Meister sah, daß diese drei Käuze sich alles gefallen ließen, um
nur da zu bleiben, brach er ihnen an Lohn ab und gab ihnen geringere Kost; aber
desto fleißiger arbeiteten sie und setzten ihn in den Stand, große Verrathe von
billigen Waaren in Umlauf zu bringen und vermehrten Bestellungen zu genügen,
also daß er ein Heidengeld durch die stillen Gesellen verdiente und eine wahre
Goldgrube an ihnen besaß. Er schnallte sich den Gurt um einige Löcher weiter und
spielte eine große Rolle in der Stadt, während die thörichten Arbeiter in der
dunklen Werkstatt Tag und Nacht sich abmühten und sich gegenseitig
Hinausarbeiten wollten. Dietrich, der Schwabe, welcher der jüngste war, erwies
sich als ganz vom gleichen Holze geschnitten, wie die zwei andern, nur besaß er
noch keine Ersparniß, denn er war noch zu wenig gereist. Dies wäre ein
bedenklicher Umstand für ihn gewesen, da Jobst und Fridolin einen zu großen
Vorsprung gewannen, wenn er nicht als ein erfindungsreiches Schwäblein eine neue
Zaubermacht heraufbeschworen hätte, um den Vortheil der andern aufzuwiegen. Da
sein Gemüth nämlich von jeglicher Leidenschaft krei war, so frei
wie dasjenige seiner Nebengesellen, außer von der Leidenschaft, gerade hier und
nirgends anders sich anzusiedeln und den Vortheil wahrzunehmen, so erfand er den
Gedanken, sich zu verlieben und um die Hand einer Person zu werben, welche
ungefähr so viel besaß, als der Sachse und der Baier unter den Fliesen liegen
hatten. Es gehörte zu den besseren Eigenthümlichkeiten der Seldwyler, daß sie um
einiger Mittel willen keine häßlichen oder unliebenswür- digen Frauen nahmen; in
große Versuchung geriethen sie ohnehin nicht, da es in ihrer Stadt keine reichen
Erbinnen gab, weder schöne noch unschöne, und so behaupteten sie wenigstens die
Tapferkeit, auch die kleineren Brocken zu verschmähen und sich lieber mit
lustigen und hübschen Wesen zu verbinden, mit welchen sie einige Jahre Staat
machen konnten. Daher wurde es dem ausspähenden Schwaben nicht schwer, sich den
Weg zu einer tugendhaften Jungfrau zu bahnen, welche in derselben Straße wohnte
und von der er, im klugen Gespräche mit alten Weibern, in Erfahrung gebracht,
daß sie einen Gültbries von siebenhundert Gulden ihr Eigenthum nenne. Dies war Züs Bünzlin, eine Tochter von acht und zwanzig Jahren,
welche mit ihrer Mutter, der Wäscherin, zusammen lebte, aber über jenes
väterliche Erbtheil unbeschränkt herrschte. Sie hatte den Brief in einer kleinen
lackirten Lade liegen, wo sie auch die Zinsen davon, ihren Tauszettel, ihren
Consirmationsschein und ein bemaltes und vergoldetes Osterei bewahrte; ferner
ein halbes Dutzend silberne Theelöffel, ein Vaterunser mit Gold auf einen rothen
durchsichtigen Glasstoff gedruckt, den sie Menschenhaut nannte, einen
Kirschkern, in welchen das Leiden Christi geschnitten war und eine Büchse aus
durchbrochenem und mit rothem Tafft unterlegten Elfenbein, in welcher ein
Spiegelchen war und ein silberner Fingerhut; ferner war darin ein anderer
Kirschkern, in welchem ein winziges Kegelspiel klapperte, eine Nuß, worin eine
kleine Muttergottes hinter Glas lag, wenn man sie öffnete, ein silbernes Herz,
worin ein Riech- schwämmchen steckte, und eine Bonbonbüchse aus Zitronenschaale,
auf deren Deckel eine Erdbeere gemalt war, und in welcher eine goldene
Stecknadel auf Baumwolle lag, die ein Vergißmein- nicht
vorstellte, und ein Medaillon mit einem Monument von Haaren; ferner ein Bündel
vergilbter Papiere mit Recepten und Geheimnissen, ein Fläschchen mit
Hoffmannstropfen, ein anderes mit kölnischem Wasser und eine Büchse mit Moschus;
eine andere, worin ein Endchen Marderdreck lag, und ein Körbchen aus
wohlriechenden Halmen geflochten, so wie eines, aus Glasperlen und
Gewürznägclein zusammengesetzt; endlich ein kleines Buch, in himmelblaues
geripptes Papier gebunden mit silbernem Schnitt, betitelt: Goldene Lebensregeln
für die Jungfrau als Braut, Gattin und Mutter; und ein Traumbüchlein, ein
Briefsteller, fünf oder sechs Liebesbriefe und ein Schnepper zum Aderlässen;
denn einst hatte sie ein Verhältniß mit einem Barbiergesellen oder
Chirurgiegehülfen gepflogen, welchen ste zu ehelichen gedachte, und da sie eine
geschickte und überaus verständige Person war, so hatte sie von ihrem Liebhaber
gelernt, die Ader zu schlagen, Blutigel und Schröpfköpfe anzusetzen und
dergleichen mehr und konnte ihn selbst sogar schon rasiren. Allein er hatte sich
als ein unwürdiger Mensch gezeigt, bei welchem
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leichtlich ihr ganzes Lebensglück aufs Spiel gesetzt war, und so hatte sie mit
trauriger aber weiser Entschlossenheit das Verhältniß gelöst. Die Geschenke
wurden von beiden Seiten zurückgegeben mit Ausnahme des Schneppers; diesen
vorenthielt sie als ein Unterpfand für einen Gulden und acht und vierzig
Kreuzer, welche sie ihm einst baar geliehen; der Unwürdige behauptete aber,
solche nicht schuldig zu sein, da sie das Geld ihm bei Gelegenheit eines Balles
in die Hand gegeben, um die Auslagen zu bestrei- ten, und sie hätte zweimal so
viel verzehrt, als er. So behielt er den Gulden und die acht und vierzig Kreuzer
und sie den Schnepper, mit welchem sie unter der Hand allen Frauen ihrer
Bekanntschaft Ader ließ und manchen schönen Batzen verdiente. Aber jedesmal,
wenn sie das Instrument gebrauchte, mußte sie mit Schmerzen der niedrigen
Gesinnungsart dessen gedenken, der ihr so nahe gestanden und beinahe ihr Gemahl
geworden wäre!
Dies Alles war in der lackirten Lade enthalten, wohl verschlossen, und diese war
wiederum in einem alten Nußbaumschrank aufgehoben, dessen
Keller, die Leute von Selbwyla. 25 Schlüssel die Züs Bünzlin
allfort in der Tasche trug. Die Person selbst hatte dünne röthliche Haare und
Wasserblaue Augen, welche nicht ohne Reiz waren und zuweilen sanft und weise zu
blicken wußten; sie besaß eine große Menge Kleider, von denen sie nur wenige und
stets die ältesten trug, aber immer war sie sorgsam und reinlich angezogen, und
eben so sauber und aufgeräumt sah es in der Stube aus. Sie war sehr fleißig und
half ihrer Mutter bei ihrer Wäscherei, indem sie die feineren Sachen Plättete
und die Hauben und Manschetten der Seldwy- lerinnen wusch, womit sie einen
schönen Pfennig gewann; von dieser Thätigkeit mochte es auch kommen, daß sie
allwöchentlich die Tage hindurch, wo gewaschen wurde, jene strenge und gemessene
Stimmung inne hielt, welche die Weiber immer während einer Wäsche befällt, und
daß diese Stimmung sich in ihr festsetzte ein für allemal an diesen Tagen; erst
wenn das Glätten anging, griff eine größere Heiterkeit Platz, welche bei Züsi
aber jederzeit mit Weisheit gewürzt war. Den gemessenen Geist beurkundete auch
die Hauptzierde der Wohnung, ein Kranz von vier-
eckigen, genau abgezirkelten Seifenstückcn, welche rings aus das Gesimse des
Tannengetäfels gelegt waren zum Hartwerden, behufs besserer Nutznießung. Diese
Stücke zirkelte ab und schnitt aus den frischen Tafeln mittelst eines
Messingdrahtes jederzeit ZüS selbst. Der Draht hatte zwei Queerhölzchen an den
Enden zum bequemen Anfassen und Durchschneiden der weichen Seife, einen schönen
Zirkel aber zum Eintheilen hatte ihr ein Zeugschmidtgesell verfertigt und
geschenkt, mit welchem sie einst so gut wie versprochen war. Von demselben
rührte auch ein blanker kleiner Gewürzmörser her, welcher das Gesimse ihres
Schrankes zierte zwischen der blauen Theekanne und dem bemalten Blumenglas;
schon lange war ein solches artiges Mörserchen ihr Wunsch gewesen, und der
aufmerksame Zeugschmied kam daher wie gerufen, als er an ihrem Namenstage damit
erschien und auch was zum Stoßen mitbrachte: eine Schachtel voll Zimmet, Zucker,
Nägelein und Pfeffer. Den Mörser hing er dazumal vor der Stubenthüre, ehe er
eintrat, mit dem einen Henkel an den kleinen Finger, und hub mit dem Stößel ein
schönes Geläute an, wie mit einer Glocke, so daß es ein fröhlicher
Morgen ward. Aber kurz darauf entfloh der falsche Mensch aus der Gegend und ließ
nie wieder von sich hören. Sein Meister verlangte obenein noch den Mörser
zurück, da der Entflohene ihn seinem Laden entnommen aber nicht bezahlt habe.
Aber Züs Bünzlin gab das werthe Andenken nicht heraus, sondern führte einen
tapfern und heftigen kleinen Proceß darum, den sie selbst vor Gericht
vertheidigte auf Grundlage einer Rechnung für gewaschene Vorhemden des
Entwichenen. Dies waren, als sie den Streit um den Mörser führen mußte, die
bedeutsamsten und schmerzhaftesten Tage ihres Lebens, da sie mit ihrem tiefen
Verstände die Dinge und besonders das Erscheinen vor Gericht um solch' zarter
Sache willen viel lebendiger begriff und empfand, als andere leichtere Leute.
Doch erstritt sie den Sieg und behielt den Mörser.
Wenn aber die zierliche Seifengallerie ihre Werkthätigkeit und ihren eracten
Sinn verkündete, so pries nicht minder ihren erbaulichen und geschulten Geist
ein Häufchen unterschiedlicher Bücher, welches am Fenster ordentlich
aufgeschich- tet lag und in denen sie des Sonntags fleißig las.
Sie besaß noch alle ihre Schulbücher seit vielen Jahren her und hatte auch nicht
Eines verloren, sowie sie auch noch die ganze kleine Gelehrsamkeit im Gedächtniß
trug, und sie wußte noch den Katechismus auswendig, wie das De- klinirbuch, das
Rechenbuch, wie das Geographie- buch, die biblische Geschichte und die
weltlichen Lesebücher; auch besaß sie einige der hübschen Geschichten von
Christoph Schmid und dessen kleine Erzählungen mit den artigen Spruchversen am
Ende, wenigstens ein halbes Dutzend verschiedene Schatzkästlein und
Rosengärtchen zum Aufschlagen, eine Sammlung Kalender voll bewährter
mannigfacher Erfahrung und Weisheit, einige merkwürdige Prophezeiungen, eine
Anleitung zum Kartenschlagen, ein Erbauungsbuch auf alle Tage des Jahres für
denkende Jungfrauen und ein altes Eremplar von Schillers Räubern, welches sie so
oft las, als sie glaubte es genugsam vergessen zu haben, und jedesmal wurde sie
von Neuem gerührt, hielt aber sehr verständige und sichtende Reden darüber.
Alles, was in diesen Büchern stand, hatte sie auch im Kopfe und
wußte auf das Schönste darüber und über noch viel mehr zu sprechen. Wenn sie
zufrieden und nicht zu sehr beschäftigt war, so ertönten unaufhörliche Reden aus
ihrem Munde und alle Dinge wußte sie heimzuweisen und zu beurtheilen und Jung
und Alt, Hoch und Niedrig, Gelehrt und Ungelehrt mußte von ihr lernen und sich
ihrem Urtheile unterziehen, wenn sie lächelnd oder sinnig erst ein Weilchen
aufgemerkt hatte, worum es sich handle; sie sprach zuweilen so viel und so
salbungsvoll, wie eine gebildete Blinde, die nichts von der Welt sieht und deren
einziger Genuß ist, sich selbst reden zu hören. Von der Stadtschule her und aus
dem Kvnfir- mationsunterrichte hatte sie die Übung ununterbrochen beibehalten,
Aufsätze und geistliche Me- morirungen und allerhand spruchweise Schemata zu
schreiben, und so verfertigte sie zuweilen an stillen Sonntagen die
wunderbarsten Aufsätze, indem sie an irgend einen wohlklingenden Titel, den sie
gehört oder gelesen, die sonderbarsten und unsinnigsten Sätze anreihte, ganze
Bogen voll, wie sie ihrem seltsamen Gehirn entsprangen, wie z. B. Über das
Nutzbringende eines Krankenbet- tes, über den Tod, über die
Heilsamkeit des Entsagens, über die Größe der sichtbaren Welt und das
Geheimnißvolle der unsichtbaren, über das Landleben und dessen Freuden, über die
Natur, über die Träume, über die Liebe, Einiges über das Erlösungswcrk Christi,
drei Punkte über die Selbstgerechtigkeit, Gedanken über die Unsterblichkeit. Sie
las ihren Freunden und Anbetern diese Arbeiten laut vor und wem sie recht
wohlwollte, dem schenkte sie einen oder zwei solcher Aufsätze und der mußte sie
in die Bibel legen, wenn er eine hatte. Diese ihre geistige Seite hatte ihr
einst die tiefe und aufrichtige Neigung eines jungen Buchbindergesellen
zugezogen, welcher alle Bücher las, die er einband, und ein strebsamer,
gefühlvoller und unerfahrener Mensch war. Wenn er sein Waschbündel zu Züsis
Mutter brachte, dünkte er im Himmel zu sein, so wohl gefiel es ihm, solche
herrliche Reden zu hören, die er sich selbst schon so oft identisch gedacht aber
nicht auszustoßen getraut hatte. Schüchtern und ehrerbietig näherte er sich der
abwechselnd strengen und beredten Jungfrau, und sie gewährte ihm ihren Umgang
und band ihn an sich während eines Jahres, aber nicht ohne ihn
ganz in den Schranken klarer Hoffnungslosigkeit zu halten, die sie mit sanfter,
aber unerbittlicher Hand verzeichnete. Denn da er neun Jahre jünger war als sie,
arm wie eine Maus und ungeschickt zum Erwerb, der für einen Buchbinder in
Seldwyla ohnehin nicht erheblich war, weil die Leute da nicht lasen und wenig
Bücher binden ließen, so verbarg sie sich keinen Augenblick die Unmöglichkeit
einer Vereinigung und suchte nur seinen Geist aus alle Weise an ihrer eigenen
Entsagungsfähigkeit heranzubilden und in einer Wolke von buntscheckigen Phrasen
einzubalsamiren. Er hörte ihr andächtig zu und wagte zuweilen selbst einen
schönen Ausspruch, den sie ihm aber, kaum geboren, todtmachte mit einem noch
schöneren; dies war das geistigste und edelste ihrer Jahre, durch keinen
gröberen Hauch getrübt, und der junge Mensch band ihr während derselben alle
ihre Bücher neu ein, und bauete überdies während vieler Nächte und vieler
Feiertage ein kunstreiches und kostbares Denkmal seiner Verehrung. Es war ein
großer chinesischer Tempel aus Papparbeit mit unzähligen Behältern
und geheimen Fächern, den man in vielen Stücken auseinander nehmen konnte. Mit
den feinsten farbigen und gepreßten Papieren war er beklebt und überall mit
Goldbördchen geziert. Spiegelwände und Säulen wechselten ab und hob man ein
Stück ab oder öffnete ein Gelaß, so erblickte man neue Spiegel und verborgene
Bilderchen, Blumenbouquets und liebende Pärchen; an den ausgeschweiften Spitzen
der Dächer hingen all- wärts kleine Glvcklein. Auch ein Uhrgehäuse für eine
Damenuhr war angebracht mit schönen Häckchen an den Säulen, um die goldene Kette
daran zu henken und an dem Gebäude hin und herzuschlängeln; aber bisjetzt hatte
sich noch kein Uhrenmacher genähert, welcher eine Uhr, und kein Goldschmied,
welcher eine Kette auf diesen Altar gelegt hätte. Eine unendliche Mühe und
Kunstfertigkeit war an diesem sinnreichen Tempel verschwendet und der
geometrische Plan nicht minder mühevoll, als die saubere genaue Arbeit. Als das
Denkmal eines schön verlebten Jahrs fertig war, ermunterte Züs Bünzlin den guten
Buchbinder, mit Bezwingung ihrer selbst, sich nun loszureißen und seinen Stab
weiter zu setzen, da ihm die Welt offen stehe und ihm, nachdem er
in ihrem Umgänge, in ihrer Schule so sehr sein Herz veredelt habe, gewiß noch
das schönste Glück lachen werde, während sie ihn nie vergessen und sich der
Einsamkeit ergeben wolle. Er weinte wahrhaftige Thränen, als er sich so schicken
ließ und aus dem Städtlein zog. Sein Werk dagegen thronte seitdem aus Züsis
altvaterischer Komode, von einem meergrünen Gazeschleier bedeckt, dem Staub und
allen unwürdigen Blicken entzogen. Sie hielt es so heilig, daß sie es
ungebraucht und neu erhielt und gar nichts in die Behältnisse steckte, auch
nannte sie den Urheber desselben in der Erinnerung Emanuel, während er Veit
geheißen, und sagte Jedermann, nur Emanuel habe sie verstanden und ihr Wesen
erfaßt. Nur ihm selber hatte sie das selten zugestanden, sondern ihn in ihrem
strengen Sinne kurz gehalten und zur höheren Anspornung ihm häufig gezeigt, daß
er sie am wenigsten verstehe, wenn er sich am meisten einbilde, es zu thun.
Dagegen spielte er ihr auch einen Streich, und legte in einem doppelten Boden,
auf dem innersten Grunde des Tempels, den allerschönsten Brief,
von Thränen benetzt, worin er eine unsägliche Betrübniß, Liebe, Verehrung und
ewige Treue aussprach, und in so hübschen und unbefangenen Worten, wie sie nur
das wahre Gefühl findet, welches sich in eine Verirgasse verrannt hat. So schöne
Dinge hatte er gar nie ausgesprochen, weil sie ihn niemals zu Worte kommen ließ.
Da sie aber keine Ahnung hatte von dem verborgenen Schatze, so geschah es hier,
daß das Schicksal gerecht war und eine falsche Schöne das nicht zu Gesicht
bekam, was sie nicht zu sehen verdiente. Auch war es ein Symbol, daß sie es war,
welche das thörichte, aber innige und aufrichtig gemeinte Wesen des Buchbinders
nicht verstanden^/
Schon lange hatte sie das Leben der drei Kammmacher gelobt und dieselben drei
gerechte und verständige Männer genannt; denn sie hatte sie wohl beobachtet. Als
daher Dietrich der Schwabe begann, sich länger bei ihr aufzuhalten, wenn er sein
Hemde brachte oder holte, und ihr den Hof zu machen, benahm sie sich
freundschaftlich gegen ihn und hielt ihn mit trefflichen Gesprächen stundenlang
bei sich fest, und Dietrich redete ihr voll Bewunderung nach dem
Munde, so stark er konnte; und sie vermochte ein tüchtiges Lob zu ertragen, ja
sie liebte den Pfeffer desselben um so mehr, je stärker er war, und wenn man
ihre Weisheit pries, hielt sie sich möglichst still, bis man das Herz geleert,
worauf sie mit erhöhter Salbung den Faden aufnahm und das Gemälde da und dort
ergänzte, das man von ihr entworfen. Nicht lange war Dietrich bei Züs aus und
eingegangen, so hatte sie ihm auch schon den Gültbrief gezeigt, und er war voll
guter Dinge und that gegen seine Gefährten so heimlich, wie Einer, der das Per-
petuum mobile erfunden hat. Jobst und Frido- lin kamen ihm jedoch bald auf die
Spur und erstaunten über seinen tiefen Geist und über seine Gewandtheit. Jobst
besonders schlug sich förmlich vor den Kopf; denn schon seit Jahren ging er ja
auch in das Haus und noch nie war ihm eingefallen, etwas anderes da zu suchen,
als seine Wäsche; er haßte vielmehr die Leute beinahe, weil sie die einzigen
waren, bei welchen er einige baare Pfennige Herausklauben mußte allwöchentlich.
An eine eheliche Verbindung pflegte er nie zu denken, weil er
unter einer Frau nichts anderes denken konnte, als ein Wesen, das etwas von ihm
wollte, was er nicht schuldig sei, und etwas von Einer selbst zu wollen, was ihm
nützlich sein könnte, fiel ihm auch nicht ein, da er nur sich selbst vertraute
und seine kurzen Gedanken nicht über den nächsten und allerengsten Kreis seines
Geheimnisses hinausgingen. Aber setzt galt es, dem Schwäbchen den Rang
abzulaufen, denn dieses konnte mit den siebenhundert Gulden der Jungfer Züs
schlimme Geschichten ausstellen, wenn es sie erhielt, und die siebenhundert
Gulden selbst bekamen auf einmal einen verklärten Glanz und Schimmer in den
Augen des Sachsen wie des Baiers. So hatte Dietrich, der erfindungsreiche, nur
ein Land entdeckt, welches alsobald Gemeingut wurde und theilte das herbe
Schicksal aller Entdecker; denn die zwei andern folgten sogleich seiner Fährte
und stellten sich ebenfalls bei Züs Bünzlin auf, und diese sah sich von einem
ganzen Hof verständiger und ehrbarer Kammmacher umgeben. Das gefiel ihr
ausnehmend wohl; noch nie hatte sie mehrere Verehrer auf einmal besessen, wes-
halb es eine neue Geistesübung für sie ward, diese drei mit
der größten Klugheit und Unparteilichkeit zu behandeln und im Zaume zu halten
und sie so lange mit wunderbaren Reden zur Entsagung und Uneigennützigkeit
aufzumuntern, bis der Himmel über das Unabänderliche etwas entschiede. Denn da
Jeder von ihnen ihr insbesondere sein Geheimniß und seinen Plan vertraut hatte,
so entschloß sie sich auf der Stelle, denjenigen zu beglücken, welcher sein Ziel
erreiche und Inhaber des Geschäftes würde. Den Schwaben, welcher es nur durch
sie werden konnte, schloß sie aber davon aus und nahm sich vor, diesen
jedenfalls nicht zu heirathen; weil er aber der jüngste, klügste und
liebenswürdigste der Gesellen war, so gab sie ihm durch manche stille Zeichen
noch am ehesten einige Hoffnung und spornte durch die Freundlichkeit, mit
welcher sie ihn besonders zu beaufsichtigen und zu regieren schien, die anderen
zu größerem Eifer an, so daß dieser arme Columbus, der das schöne Land erfunden
hatte, vollständig der Narr im Spiele ward. Alle drei wetteiferten mit einander
in der Ergebenheit, Bescheidenheit und Verständigkeit und in der
unmuthigen Kunst, sich von der gestrengen Jungfrau im Zaume halten zu lasten und
sie ohne Eigennutz zu bewundern, und wenn die ganze Gesellschaft bei einander
war, glich sie einem seltsamen Konventikel, in welchem die sonderbarsten Reden
geführt wurden. Trotz aller Frömmigkeit und Demuth geschah es doch alle
Augenblicke, daß Einer oder der Andere, vom Lobpreisen der gemeinsamen Herrin
plötzlich abspringend, sich selbst zu loben und herauszustreichen versuchte und
sich, sanft von ihr zurechtgewiesen, beschämt unterbrochen sah oder anhören
mußte, wie sie ihm die Tugenden der Übrigen entgegenhielt, die er eiligst
anerkannte und hervorhob.
Aber dies war ein strenges Leben für die armen Kammmacher; so kühl sie von
Gemüth waren, gab es doch, seit einmal ein Weib im Spiele, ganz ungewohnte
Erregungen der Eifersucht, der Besorgniß, der Furcht und der Hoffnung; sie
rieben sich in Arbeit und Sparsamkeit beinahe auf und magerten sichtlich ab; sie
wurden schwermüthig und während sie vor den Leuten und besonders bei Züs sich
der friedlichsten
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Beredtsamkeit beflissen, sprachen sie, wenn sie zusammen bei der Arbeit oder in
ihrer Schlafkammer saßen, kaum ein Wort mit einander und legten sich seufzend in
ihr gemeinschaftliches Bett, noch immer so still und verträglich wie drei
Bleistifte. Ein und derselbe Traum schwebte allnächtlich über dem Kleblatt, bis
er einst so lebendig wurde, daß Iobst an der Wand sich herumwarf und den
Dietrich anstieß; Dietrich fuhr zurück und stieß den Fridolin, und nun brach in
den schlummertrunkenen Gesellen ein wilder Groll aus und in dem Bette der
schreck- barste Kampf, indem sie während drei Minuten sich so heftig mit den
Füßen stießen, traten und ausschlugen, daß alle sechs Beine sich in einander
verwickelten und der ganze Knäuel unter furchtbarem Geschrei aus dem Bette
purzelte. Sie glaubten, völlig erwachend, der Teufel wolle sie holen, oder es
seien Räuber in die Kammer gebrochen; sie sprangen schreiend auf, Iobst stellte
sich auf seinen Stein, Fridolin eiligst auf seinen und Dietrich auf denjenigen,
unter welchem sich bereits auch seine kleine Ersparniß angesetzt hatte, und
indem sie so in einem Dreieck standen, zit-
terten und mit den Armen vor sich hin in die Lust schlugen, schrien sie Zeter
Mordio und riefen: Geh' fort! Geh' fort! bis der erschreckte Meister in die
Kammer drang und die tollen Gesellen beruhigte. Zitternd vor Furcht, Groll und
Scham zugleich krochen sie endlich wieder ins Bett und lagen lautlos neben
einander bis zum Morgen. Aber der nächtliche Spuck war nur ein Vorspiel gewesen
eines größeren Schreckens, der sie setzt erwartete, als der Meister ihnen beim
Frühstück eröffnete, daß er nicht mehr drei Arbeiter brauchen könne und daher
zwei von ihnen wandern müßten. Sie hatten nämlich des Guten zu viel gethan und
so viel Waare zu- weg gebracht, daß ein Theil davon liegen blieb, indeß der
Meister den vermehrten Erwerb dazu verwendet hatte, das Geschäft, als es auf dem
Gipfelpunkt stand, um so rascher rückwärts zu bringen und ein solch lustiges
Leben führte, daß er bald doppelt so viel Schulden hatte, als er einnahm. Daher
waren ihm die Gesellen, so fleißig und enthaltsam sie auch waren, plötzlich eine
überflüssige Last. Er sagte ihnen zum Trost, daß sie ihm alle drei gleich lieb
und werth
Keller, die Leute von Seldwyla. 26 wären und es ihnen überließe,
unter sich auszumachen, welcher dableiben und welche wandern sollten. Aber sie
machten nichts aus, sondern standen da bleich wie der Tod und lächelten einer
den andern an; dann geriethen sie in eine furchtbare Aufregung, da dies die
verhängniß- vollste Stunde war; denn die Ankündigung des Meisters war ein
sicheres Zeichen, daß er es nicht lange mehr treiben und das Kammfabrikchen
endlich wieder käuflich würde. Also war das Ziel, nachdem sie Alle gestrebt,
nahe und glänzte wie ein himmlisches Jerusalem, und zwei sollten vor den Thoren
desselben umkehren und ihm den Rücken wenden. Ohne alle fürdere Rücksicht
erklärte Jeder, da bleiben zu wollen, und wenn er ganz umsonst arbeiten müsse.
Der Meister konnte aber auch dies nicht brauchen und versicherte sie, daß zwei
von ihnen jedenfalls gehen müßten; sie fielen ihm zu Füßen, sie rangen die
Hände, sie beschworen ihn und Jeder bat insbesondere für sich, daß er ihn
behalten möchte, nur noch zwei Monate, nur noch vier Wochen. Allein er wußte
wohl, worauf sie spekulirten, ärgerte sich darüber und machte sich mit ihnen
lustig, indem er Plötzlich einen spaßhaften Ausweg vorschlug, wie sie die Sache
entscheiden sollten. "Wenn ihr euch durchaus nicht einigen wollt, sagte er,
welche von euch den Abschied wollen, so will ich euch die Weise angeben, wie ihr
die Sache entscheidet, und so soll es dann sein und bleiben! Morgen ist Sonntag,
da zahle ich euch aus, ihr packt euer Felleisen, ergreift euren Stab und wandert
alle drei einträchtiglich zum Thore hinaus, eine gute halbe Stunde weit, auf
welche Seite ihr wollt. Alsdann ruhet ihr euch aus und könnt auch einen Schoppen
trinken, wenn ihr mögt, und habt ihr das gethan, so wandert ihr wieder in die
Stadt herein und welcher dann der Erste sein wird, der mich von Neuem um Arbeit
anspricht, den werde ich behalten; die anderen aber werden unausbleiblich gehen,
wo es ihnen beliebt!« Sie fielen ihm abermals zu Füßen und baten ihn, von diesem
grausamen Vorhaben abzustehen, aber umsonst; er blieb fest und unerbittlich.
Unversehens sprang der Schwabe auf und rannte wie besessen zum Hause hinaus und
zu Züs Bünzlin hinüber; kaum gewahrten dies Iobst und der Baier, so unterbrachen sie ihr Lamentiren und rannten ihm nach, und die verzweifelte
Szene war alsobald in die Wohnung der erschrockenen Jungfrau verlegt.
Diese war sehr betroffen und bewegt durch das unerwartete Abenteuer; doch faßte
sie sich zuerst, und die Lage der Dinge überschauend, beschloß sie, ihr eigenes
Schicksal an des Meisters wunderlichen Einfall zu knüpfen und betrachtete diesen
als eine höhere Eingebung; sie holte gerührt ein Schätzkästlein hervor und stach
mit einer Nadel zwischen die Blätter, und der Spruch, welchen sie aufschlug,
handelte vom unentwegten Verfolgen eines guten Zieles. Darauf ließ sie die
aufgeregten Gesellen aufschlagen, und alles, was diese aufschlugen, handelte vom
eifrigen Wandel aus dem schmalen Wege, vom Vorwärtsgehen ohne Rückschauen, von
einer Laufbahn, kurz vom Laufen und Rennen aller Art, so daß der morgende
Wettlauf deutlich vom Himmel vorgeschrieben schien. Da sie aber befürchtete, daß
Dietrich als der Jüngste leicht am besten springen und die Palme erringen
konnte, beschloß sie, selbst mit den drei Liebhabern auszuziehen
und zu sehen, was etwa zu ihrem Vortheil zu machen wäre; denn sie wünschte, daß
nur einer der zwei ältern Sieger würde, und es war ihr ganz gleichgültig,
welcher. Sie befahl daher den Wehklagenden und sich Bezankenden Ruhe und
Ergebung und sagte: "Wisset, meine Freunde, daß Nichts ohne Bedeutung geschieht,
und so merkwürdig und ungewöhnlich die Zumuthung eures Meisters ist, so müssen
wir sie doch als eine Fügung ansehen und uns mit einer höheren Weisheit, von
welcher der muthwillige Mann nichts ahnt, dieser jähen Entscheidung unterwerfen.
Unser friedliches und verständiges Zusammenleben ist zu schön gewesen, als daß
es noch lange so erbaulich statt finden könnte; denn ach! alles Schöne und
Ersprießliche ist ja so vergänglich und vorübergehend, und nichts besteht in die
Länge, als das Übel, das Hartnäckige und die Einsamkeit der Seele, die wir
alsdann mit unserer frommen Vernünktigkeit betrachten und beobachten. Daher
wollen wir, ehe sich etwa ein böser Dämon des Zwiespaltes unter uns erhebt, uns
lieber vorher freiwillig trennen und auseinander scheiden, wie die lieben
Frühlings-
lüftlein, wenn sie ihren eilenden Lauf am Himmel nehmen, ehe wir auseinander
fahren wie der Sturmwind des Herbstes. Ich selbst will euch hinausbegleiten auf
dem schweren Wege und zugegen sein, wenn ihr den Prüfungslauf antretet, damit
ihr einen fröhlichen Muth fasset und einen schönen Antrieb hinter euch habt,
während vor euch das Ziel des Sieges winkt. Aber so wie der Sieger sich seines
Glückes nicht überheben wird, so sollen die, welche unterliegen, nicht verzagen
und keinen Gram oder Groll von bannen nehmen, sondern unsers liebevollen
Andenkens gewärtig sein und als vergnügte Wan- dersünglinge in die weite Welt
ziehen; denn die Menschen haben viele Städte gebauet, welche so schön oder noch
schöner sind, wie Seldwyla; Rom ist eine große merkwürdige Stadt, allwo der
heilige Vater wohnt, und Paris ist eine gar mächtige Stadt mit vielen Seelen und
herrlichen Pallästen, und in Constantinopel herrscht der Sultan, von türkischem
Glauben, und Lissabon, welches einst durch ein Erdbeben verschüttet ward, ist
desto schöner wieder aufgebaut worden. Wien ist die Hauptstadt von Österreich
und die Kaiserstadt genannt, und London ist die reichste Stadt der
Welt, in Engelland gelegen, an einem Fluß, der die Themse benannt wird. Zwei
Millionen Menschen wohnen da! Petersburg aber ist die Haupt- und Residenzstadt
von Rußland, so wie Neapel die Hauptstadt des Königreiches gleichen Namens, mit
dem feuerspeienden Berg Vesuvius, auf welchem einst einem englischen
Schiffshauptmann eine verdammte Seele erschienen ist, wie ich in einer
merkwürdigen Reisebeschreibung gelesen habe, welche Seele einem gewissen John
Smidt angehöret, der vor hun- dertundsunfzig Jahren ein gottloser Mann gewesen
und nun besagtem Hauptmann einen Auftrag ertheilte an seine Nachkommen in
England, damit er erlöst würde; denn der ganze Feuerberg ist ein Aufenthalt der
Verdammten, wie auch in des gelehrten Peter Haslers TraktatuS über die
muthmaßliche Gelegenheit der Hölle zu lesen ist. Noch viele andere Städte giebt
es, wovon ich nur noch Mailand, Venedig, das ganz im Wasser gebaut ist, Lyon,
Marseilingen, Straßburg, Köllen und Amsterdam nennen will; Paris hab' ich schon
gesagt, aber noch nicht Nürn-
bcrg, Augsburg und Frankfurt, Basel, Bern und Genf, alles schöne Städte, so wie
das schöne Zürich, und weiterhin noch eine Menge, mit deren Auszählung ich nicht
fertig würde. Denn Alles bat seine Grenzen, nur nicht die Erfindungsgabe der
Menschen, wclcke sich all- wärtS ausbreiten und alles umcrncbnien, was ibnen
nichlich scheint. Wenn sie gerecht find, so wird es idvcn gelingen, aber der
Ungerechte vergebet wie das Gras der Felder und wie ein Rauch. Viele und
erwädlt, aber wenige und
berufen. Aus allen diesen Gründen» und in noch manch' anderer Hinsicht, die uns
die Pflicht und die Tugend unseres reinen Gewissens auferlegen, wollen wir uns
dem Schichsalsrnsc unterziehen. Darum gebet und bereiten euch zur Wanderschaft,
aber als gerechte und sanitmütvige Männer, die ibrcn Wertb in sich tragen, wo nr
auch hingeben, und deren Krad überall Wurzel schlägt, welche. was üc auch
ergreifen mögen, sich sagen können: ich bade das bessere Dbcü erwählt l-- Du
Kammmachcr wollten aber von Allem nichts boren, sondern beüürrmcv die kluge Zus,
daß ür Einen von ihnen auscrwablcv und da-
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bleiben heißen solle, und Jeder meinte damit sich selbst. Aber sie hütete sich,
eine Wahl zu treffen und kündigte ihnen ernsthaft und gebieterisch an, daß sie
ihr gehorchen müßten, ansonst sie ihnen ihre Freundschaft auf immer entziehen
würde. Jetzt rannte Jobst, der älteste, wieder davon und in das Haus des
Meisters hinüber, und spornstreichs rannten die anderen hinter ihm her,
befürchtend, daß er dort etwas gegen sie unternähme, und so schössen sie den
ganzen Tag umher, wie Sternschnuppen und wurden sich untereinander so zuwider
wie drei Spinnen in einem Netz. Die halbe Stadt sah dies seltsame Schauspiel der
verstörten Kammmacher, die bislang so still und ruhig gewesen, und die alten.
Leute wurden darüber ängstlich und hielten die Erscheinung für ein unnatürliches
Vorzeichen schwerer Begebenheiten. Gegen Abend wurden sie matt und erschöpft,
ohne daß sie sich eines Besseren besonnen und zu etwas entschieden hatten, und
legten sich zähneklappernd in das alte Bett; Einer nach dem Anderen kroch unter
die Decke und lag da, wie vom Tode hingestreckt, in verwirrten Gedanken, bis ein
heilsamer Schlaf
26 * ihn umfing. Iobst war der erste, welcher in aller Frühe
erwachte und sah, daß ein heiterer Frühlingsmorgen in die Kammer schien, in
welcher er nun schon seit sechs Jahren geschlafen. So dürftig das Gemach aussah,
so erschien es ihm doch wie ein Paradies, welches er verlassen sollte und zwar
so ungerechter Weise. Er ließ seine Augen umhergehen an den Wänden und zählte
alle die vertrauten Spuren von den vielen Gesellen, die hier schon gewohnt
kürzere oder längere Zeit; hier hatte der seinen Kopf zu reiben gepflegt und
einen dunklen Fleck verfertigt, dort hatte jener einen Nagel eingeschlagen, um
seine Pfeife daran zu hängen, und das rothe Schnürchen hing noch daran. Welche
gute Menschen waren das gewesen, daß sie so harmlos wieder davon gegangen,
während diese, welche neben ihm lagen, durchaus nicht weichen wollten. Dann
heftete er sein Auge auf die Gegend zunächst seinem Gesichte, und betrachtete da
die kleineren Gegenstände, welche er schon tausend Mal betrachtet, wenn er des
Morgens oder am Abend noch bei Tageshelle im Bette lag und sich eines seligen,
kostenfreien Daseins erfreute. Da war eine beschädigte Stelle in
dem Bewurf, welche wie ein Land aussah mit Seen und Städten, und ein Häufchen
von groben Sandkörnern stellte eine glückselige Inselgruppe vor; weiterhin
erstreckte sich eine lange Schweinsborste, welche aus dem Pinsel gefallen und in
der blauen Tünche stecken geblieben war; denn Jobst hatte im letzten Herbst
einmal ein kleines Restchen solcher Tünche gesunden und damit es nicht umkommen
sollte, eine Viertclswandseite damit angestrichen, so weit es reichen wollte,
und zwar hatte er die Stelle bemalt, wo er zunächst im Bette lag. Jenseits der
Schweinsborste aber ragte eine ganz geringe Erhöhung, wie ein kleines blaues
Gebirge, welches einen zarten Schlagschatten über die Borste weg nach den
glückseligen Inseln hinüber warf. Über dies Gebirge hatte er schon den ganzen
Winter gegrübelt, da es ihm dünkte, als ob es früher nicht dagewesen wäre. Wie
er nun mit seinem traurigen, duselnden Auge dasselbe suchte und Plötzlich
vermißte, traute er seinen Sinnen kaum, als er statt desselben einen kleinen
kahlen Fleck an der Mauer fand, dagegen sah, wie der winzige blaue Berg nicht
weit davon sich bewegte und zu wandeln schien. Erstaunt fuhr Jobst
in die Höhe, als ob er ein blaues Wunder sähe, und sah, daß es eine Wanze war,
welche er also im vorigen Herbst achtlos mit der Farbe überstrichen, als sie
schon in Erstarrung dagesessen hatte. Jetzt aber war sie von der Frühlingswärme
neu belebt, hatte sich aufgemacht und stieg eben in diesem Augenblicke mit ihrem
blauen Rücken unverdrossen die Wand hinan. Er blickte ihr gerührt und voll
Verwunderung nach; so lange sie im Blauen ging, war sie kaum von der Wand zu
unterscheiden; als sie aber aus dem gestrichenen Bereich hinaus trat und die
letzten vereinzelten Spritze hinter sich hatte, wandelte das gute himmelblaue
Thier- chen weithin sichtbar seine Bahn durch die dunkleren Bezirke. Wehmüthig
sank Jobst in den Pfülmen zurück; so wenig er sich sonst aus dergleichen machte,
rührte diese Erscheinung doch setzt ein Gefühl in ihm auf, als ob er doch auch
endlich wieder wandern müßte, und es bedünkte ihm ein gutes Zeichen zu sein, daß
er sich in das Unabänderliche ergeben und sich wenigstens. mit gutem Willen auf
den Weg machen solle. Durch diese ruhigeren Gedanken kehrte seine
natürliche Besonnenheit und Weisheit zurück, und indem er die Sache näher
überlegte, fand er, daß wenn er sich ergebungsvoll und bescheiden anstelle, sich
dem schwierigen Werke unterziehe und dabei sich zusammennehme und klug verhalte,
er noch am ehesten über seine Nebenbuhler obsiegen könne. Sachte stieg er aus
dem Bette und begann, seine Sachen zu ordnen und vor allem seinen Schatz zu
heben und zu unterst in das alte Felleisen zu verpacken. Darüber erwachten
sogleich seine Gefährten; wie diese sahen, daß er so gelassen sein Bündel
schnürte, verwunderten sie sich sehr und noch mehr, als Jobst sie mit
versöhnlichen Worten anredete und ihnen einen guten Morgen wünschte. Weiter ließ
er sich aber nicht aus, sondern fuhr in seinem Geschäfte still und friedfertig
fort. Sogleich, obschon sie nicht wußten, was er im Schilde führe, witterten sie
eine Kriegslist in seinem Benehmen und ahmten es auf der Stelle nach, höchst
aufmerksam auf Alles, was er ferner beginnen würde. Hierbei war es seltsam, wie
sie alle drei zum ersten Mal offen ihre Schätze un- ter den
Fliesen hervorholten und dieselben ohne sie zu zählen, in die Ranzen versorgten.
Denn sie wußten schon lange, daß Jeder das Geheimniß der übrigen kannte, und
nach alter ehrlicher Weise mißtrauten sie sich nicht in der Weise, daß sie eine
Verletzung des Eigenthums befürchteten und jeder wußte wohl, daß ihn die anderen
nicht berauben würden, wie denn in den Schlafkammern der Handwerksgesellen,
Soldaten und dergleichen kein Verschluß und kein Mißtrauen besteht.
So waren sie unversehens zum Aufbruch gerüstet, der Meister zahlte ihnen den
Lohn aus und gab ihnen ihre Wanderbücher, in welche von der Stadt und vom
Meister die allerschönsten Zeugnisse geschrieben waren über ihre gute andauernde
Führung und Vortrefflichkeit, und sie standen wehmuthsvoll vor der Hausthüre der
Züs Bünzlin, in lange braune Röcke gekleidet mit alten verwaschenen Staubhemden
darüber, und die Hüte, obgleich sie verjährt und abgebürstet genug waren,
sorglich mit Wachsleinwand überzogen. Hinten auf dem Felleisen hatte jeder ein
kleines Wägelchen befestigt, um das Gepäck
»15
darauf zu ziehen, wenn es in's Weite ginge; sie dachten aber die Räder nicht zu
brauchen, und deßwegen ragten dieselben hoch über ihrem Rücken. Iobst stützte
sich auf einen ehrbaren Rohrstock, Fridolin auf einen roth und schwarz
geflammten und gemalten Eschenstab, und Dietrich auf ein abenteuerliches
Stockungeheuer, um welches sich ein wildes Geflecht von Zweigen wand. Er schämte
sich aber beinahe dieses prahlerischen Dinges, da es noch aus der ersten
Wanderzeit herstammte, wo er bei weitem noch nicht so gesetzt und vernünftig
gewesen wie jetzt. Viele Nachbaren und deren Kinder umstanden die ernsten drei
Männer und wünschten ihnen Glück auf den Weg. Da erschien Züs unter der Thüre,
mit feierlicher Miene, und zog an der Spitze der Gesellen gefaßten Muthes aus
dem Thore. Sie hatte ihnen zu Ehren einen ungewöhnlichen Staat angelegt, trug
einen großen Hut mit mächtigen gelben Bändern, ein rosafarbenes Jndiennekleid
mit verschollenen Ausladungen und Verzierungen, eine schwarze Sammetschärpe mit
einer Tombackschnalle und rothe Saffianschuhe mit Fransen besetzt. Dazu trug sie einen grün seidenen großen Ritikül, welchen sie mit gedörrten
Birnen und Pflaumen gefüllt hatte, und hielt ein Sonnenschirmchen ausgespannt,
auf welchem oben eine große Lyra aus Elfenbein stand. Sie hatte auch ihr
Medaillon mit dem blonden Haardenkmal umgehängt und das goldene Vergißmeinnicht
vorgesteckt und trug weiße gestrickte Handschuhe. Sie sah freundlich und zart
aus in all' diesem Schmuck, ihr Antlitz war leicht gcröthet und ihr Busen schien
sich höher als sonst zu heben, und die ausziehenden Nebenbuhler wußten sich
nicht zu lassen vor Wehmuth und Betrübniß, denn die äußerste Lage der Dinge, der
schöne Frühlingstag, der ihren Auszug beschien und Züsis Putz mischten in ihre
gespannten Empfindungen fast etwas von dem, was man wirklich Liebe nennt. Vor
dem Thore ermähnte aber die freundliche Jungfrau ihre Liebhaber, die Felleisen
auf die Räderchcn zu stellen und zu ziehen, damit sie sich nicht unnöthiger
Weise ermüdeten. Sie thaten es und als sie hinter dem Städtlein hinaus die Berge
hinan fuhren, war es fast wie ein Artillericwesen, das da hinauffuhrwerkte, um
oben eine Batterie zu besetzen. Als sie eine gute halbe Stunde
dahin gezogen, machten sie Halt auf einer anmuthigen Anhöhe, über welche ein
Kreuzweg ging, und setzten sich unter eine Linde in einen Halbkreis, wo man eine
weite Aussicht genoß und über Wälder, Seen und Ortschaften wegsah. Züs öffnete
ihren Beutel und gab Jedem eine Handvoll Birnen und Pflaumen, um sich zu
erfrischen, und sie saßen so eine geraume Weile schweigend und ernst, nur mit
den schnalzenden Zungen, wenn sie die süßen Früchte damit zerdrückten, ein
sanftes Geräusch erregend.
Dann begann Züs indem sie einen Pflau- menkern fortwarf und die davon gefärbten
Fingerspitzen am jungen Grase abwischte, zu sprechen: „Lieben Freunde! Sehet,
wie schön und weitläufig die Welt ist, rings herum voll herrlicher Sachen und
voll Wohnungen der Menschen! Und dennoch wollte ich wetten, daß in dieser
feierlichen Stunde nirgends in dieser weiten Welt vier so rechtfertige und
gutartige Seelen bei einander versammelt sitzen, wie wir hier sind, so sinnreich
und bedachtsam von Gemüth, so zugethan allen arbeitsamen Übungen und Tugenden,
der Eingezogenheit,
Keller, die Leute von Seldwyla. 27 der Sparsamkeit, der
Friedfertigkeit und der innigen Freundschaft. Wie viele Blumen stehen hier um
uns herum, von allen Arten, die der Frühling hervorbringt, besonders die gelben
Schlüsselblumen, welche einen wohlschmeckenden und gesunden Thee geben; aber
sind sie gerecht oder arbeitsam? sparsam, vorsichtig und geschickt zu klugen und
lehrreichen Gedanken? Nein, es sind unwissende und geistlose Geschöpfe,
unbeseelt und vernunftlos vergeuden sie ihre Zeit, und so schön sie sind, wird
ein todtes Heu daraus, während wir in unserer Tugend ihnen so weit überlegen
sind und ihnen wahrlich an Zier der Gestalt nichts nachgeben; denn Gott hat uns
nach seinem Bilde geschaffen und uns seinen göttlichen Odem eingeblascn. O,
könnten wir doch ewig hier so sitzen in diesem Paradiese und in solcher
Unschuld; ja, meine Freunde, es ist mir so, als wären wir sämmtlich im Stande
der Unschuld, aber durch eine sündenlose Erkenntniß veredelt; denn wir alle
können, Gott sei Dank, lesen und schreiben und haben alle eine geschickte
Handtierung gelernt. Zu vielem hätte ich Geschick und Anlagen und getraute mir
wohl, Dinge zu verrichten, wie sie i
das gelehrteste Fräulein nicht kann, wenn ich über meinen Stand hinausgehen
wollte; aber die Bescheidenheit und die Demuth sind die vornehmste Tugend eines
rechtschaffenen Frauenzimmers und es genügt mir zu wissen, daß mein Geist nicht
werthlos und verachtet ist vor einer höheren Einsicht. Schon Viele haben mein
begehrt, die meiner nicht werth waren, und nun auf einmal sehe ich drei würdige
Junggesellen um mich versammelt, von denen ein Jeder gleich werth wäre, mich zu
besitzen! Beniestet darnach, wie mein Herz in diesem wunderbaren Überflüsse
schmachten muß, und nehmet euch Jeder ein Beispiel an mir und denket euch, Jeder
wäre von drei gleich werthen Jungfrauen umblühet, die sein begehrten, und er
könnte sich um deswillen zu keiner hinneigen und gar keine bekommen! Stellt euch
doch recht lebhaft vor, um Jeden von euch buhleten drei Jungfern Bünzlin, und
säßen so um euch her, gekleidet wie ich und von gleichem Ansehen, so daß ich
gleichsam verneun- facht hier vorhanden wäre und euch von allen Seiten anblickte
und nach euch schmachtete! Thut ihr dies?u
27 * Die wackeren Gesellen hörten verwundert auf zu kauen und
studierten mit einfältigen Gesichtern, die seltsame Aufgabe zu lösen. Das
Schwäblein kam zuerst damit zu Stande und rief mit lüsternem Gesicht: „ Ja,
wertheste Jungfer Züs! wenn Sie es denn gütigst erlauben, so sehe ich Sie nicht
nur dreifach, sondern verhundertfacht um mich herumschweben und mich mit
huldreichen Äuglein anblicken und mir tausend Küßlein anbieten!«
„Nicht doch!« sagte Züs unwillig verweisend, „nicht in so ungehöriger und
übertriebener Weise! Was fällt Ihnen denn ein, unbescheidener Dietrich? Nicht
hundertfach und nicht Küßlein anbietend habe ich es erlaubt, sondern nur
dreifach für Jeden und in züchtiger und ehrbarer Manier, daß mir nicht zu nahe
geschieht!«
„Ja,« rief fetzt endlich Jobst und zeigte mit einem abgenagten Birnenstiel um
sich her, „nur dreifach aber in größter Ehrbarkeit sehe ich die liebste Jungfer
Bünzli um mich her spazieren und mir wohlwollend zuwinken, indem sie die Hand
auf's Herz legt! Ich danke sehr, danke, danke ergebenst!« sagte er schmunzelnd,
sich nach drei Seiten verneigend, als ob er wirklich die
Erscheinungen sähe. "So ist's recht,« sagte Züs lächelnd, „wenn irgend ein
Unterschied zwischen euch besteht, so seid Ihr doch der Begabteste, lieber
Iobst, wenigstens der Verständigste!« Der Baier Fridolin war immer noch nicht
fertig mit seiner Vorstellung, da er aber den Iobst so loben hörte, wurde es ihm
angst und er rief eilig: "Ich sehe auch die liebste Jungfrau Bünzli dreifach um
mich her spazieren in größter Ehrbarkeit und mir wollüstig zuwinken, indem sie
die Hand auf —
"Pfui, Baier!« schrie Züs und wandte das Gesicht ab, "nicht ein Wort weiter!
Woher nehmen Sie den Muth, von mir in so wüsten Worten zu reden und sich solche
Sauereien einzubilden? Pfui, psui!« Der arme Baier war wie vom Donner gerührt
und wurde glühend roth, ohne zu wissen wofür; denn er hatte sich gar nichts
eingebildet und nur ungefähr dem Klänge nach gesagt, was er von Zobstcn gehört,
da er gesehen, wie dieser für seine Rede belobt worden. Züs wandte sich wieder
zu Dietrich und sagte: "Nun, lieber Dietrich, haben Sie's noch
nicht auf eine etwas bescheidenere Art zuwege gebracht?« „Ja, mit Ihrer
Erlaubniß,« erwiederte er, froh wieder angeredet zu werden, „ich erblicke Sie
jetzt nur dreimal um mich her, freundlich aber anständig mich anschauend und mir
drei weiße Hände bietend, welche ich küsse!«
„Gut denn!« sagte Züs, „und Sie Frido- lin? sind Sie noch nicht von Ihrer
Abirrung zurückgekehrt? Kann sich Ihr ungestümes Blut noch nicht zu einer
wohlanständigen Vorstellung beruhigen?,, „Um Vergebung!« sagte Fridolin
kleinlaut, „ich glaube jetzt drei Jungfern zu sehen, die mir gedörrte Birnen
anbieten und mir nicht abgeneigt scheinen. Es ist keine schöner, als die andere,
und die Wahl unter ihnen scheint mir ein bitteres Kraut zu sein!«
„Nun also,« sprach Züs, „da ihr in euerer Einbildungskraft von neun solchen ganz
gleich werthen Personen umgeben seid und in diesem liebreizenden Überflüsse
dennoch Mangel in euerem Herzen leidet, ermesset danach meinen eigenen Zustand;
und wie ihr an mir sahet, daß ich mich weisen und bescheidenen Herzens zu fassen
weiß, so nehmet doch ein Beispiel an meiner Stärke und gelobet mir
und euch untereinander, euch ferner zu vertragen und, wie ich liebevoll von euch
scheide, euch eben so liebevoll von einander zu trennen, wie auch das Schicksal,
das eurer wartet, entscheiden möge! So leget denn alle eure Hände zusammen in
meine Hand und gelobt es!«
»Ja, wahrhaftig,« rief Jobst, »ich will es wenigstens thun, an mir soll's nicht
fehlen!« und die andern zwei riefen eiligst: »An mir auch nicht, an mir auch
nicht!« und sie legten alle die Hände zusammen, wobei sich jedoch Jeder vornahm,
auf alle Fälle zu springen, so gut er vermochte. »An mir soll es wahrhaftig
nicht fehlen!« wiederholte Jobst, »denn ich bin von Jugend auf barmherziger und
einträchtiger Natur gewesen. Noch nie habe ich einen Streit gehabt und konnte
nie ein Thierlein leiden sehen; wo ich noch gewesen bin, habe ich mich gut
vertragen und das beste Lob geerntet ob meines geruhsamen Betragens; denn
obgleich ich gar manche Dinge auch ein bischen verstehe und ein verständiger
junger Mann bin, so hat man nie gesehen, daß ich mich in etwas mischte, was mich
nichts an- ging, und habe stets meine Pflicht auf eine
einsichtsvolle Weise gethan. Ich kann arbeiten, so viel ich will, und es schadet
mir nichts, da ich gesund und wohlauf bin und in den besten Jahren! Alle meine
Meisterinnen haben noch gesagt, ich sei ein Tauscndsmcnsch, ein Ausbund, und mit
mir sei gut auskommen! Ach! ich glaube wirklich selbst, ich könnte leben wie im
Himmel mit Ihnen, allerliebste Jungfer Züs!«
»Ei!« sagte der Baier eifrig, "das glaub' ich wohl, das wäre auch keine Kunst,
mit der Jungfer wie im Himmel zu leben! Das wollt' ich mir auch zutrauen, denn
ich bin nicht auf den Kopf gefallen! Mein Handwerk versteh' ich aus dem Grund
und weiß die Dinge in Ordnung zu halten, ohne ein Unwort zu verlieren. Nirgends
habe ich Händel bekommen, obgleich ich in den größten Städten gearbeitet habe,
und niemals habe ich eine Katze geschlagen oder eine Spinne getödtet. Ich bin
mäßig und enthaltsam und mit jeder Nahrung zufrieden, und ich weiß mich am
Geringfügigsten zu vergnügen und damit zufrieden zu sein. Aber ich bin auch
gesund und munter und kann etwas aushalten, ein gutes Gewissen ist
das beste Lebenselirir, alle Thiere lieben mich und laufen mir nach, weil sie
mein gutes Gewissen wittern, denn bei einem ungerechten Menschen wollen sie
nicht bleiben. Ein Pudclhund ist mir einst drei Tage lang nachgefolgt, als ich
aus der Stadt Ulm verreiste, und ich mußte ihn endlich einem Bauersmann in
Gewahrsam geben, da ich als ein demüthiger Handwerksgescll kein solches Thier
ernähren konnte, und als ich durch den Böhmerwald reiste, sind die Hirsche und
Rehe auf zwanzig Schritt noch stehen geblieben und haben sich nicht vor mir
gefürchtet. Es ist wunderbar, wie selbst die wilden Thiere sich bei den Menschen
auskeimen und wissen, welche guten Herzens sind!^
-»Ja, das muß wahr sein rief der Schwabe, ,'seht ihr nicht, wie dieser Fink
schon die ganze Zeit da vor mir herumfliegt und sich mir zu nähern sucht? Und
jenes Eichhörnchen auf der Tanne sieht sich immerfort nach mir um, und hier
kriecht ein kleiner Käfer allfort an meinem Beine und will sich durchaus nicht
vertreiben lassen! Dem muß es gewiß recht wohl sein bei mir, dem lieben guten
ThierchenU- Jetzt wurde aber Züs eifersüchtig und sagte etwas
heftig: „Bei mir wollen alle Thiere gern bleiben! Einen Vogel hab' ich acht
Jahre gehabt und er ist sehr ungern von mir weggestorben; unsere Katze streicht
mir nach, wo ich geh' und stehe, und des Nachbars Tauben drängen und zanken sich
vor meinem Fenster, wenn ich ihnen Brosamen streue! Wunderbare Eigenschaften
haben die Thiere je nach ihrer Art! Der Löwe folgt gern den Königen nach und den
Helden, und der Elephant begleitet den Fürsten und den tapfern Krieger; das
Kameel trägt den Kaufmann durch die Wüste und bewahrt ihm frisches Wasser in
seinem Bauch, und der Hund begleitet seinen Herrn durch alle Gefahren und stürzt
sich für ihn in das Meer! Der Delphin liebet die Musik und folgt den Schiffen,
und der Adler den Kriegsherren. Der Affe ist ein menschenähnliches Wesen und
thut Alles, was er die Menschen thun sieht, und der Papagey versteht unsere
Sprache und plaudert mit uns, wie ein Alter! Selbst die Schlangen lassen sich
zähmen und tanzen auf dbr Spitze -ihres Schwanzes; das Krokodill weint
menschliche Thränen und wird von den Bürgern dort geachtet und
verschont; der Strauß läßt sich satteln und reiten wie ein Roß; der wilde Büffel
ziehet den Wagen des Menschen und das gehörnte Rennthier seinen Schlitten. Das
Einhorn liefert ihm das schneeweiße Elfenbein und die Schildkröte ihre
durchsichtigen Knochen« —
„Mit Verlaub,« sagten alle drei Kammmacher zugleich, „hierin irren Sie sich
gewißlich, das Elfenbein wird aus den Elephantenzähnen gewonnen und die
Schildpattkämme macht man aus der Schaale und nicht aus den Knochen der
Schildkröte!«
Züs wurde feuerroth und sagte: „Das ist noch die Frage, denn ihr habt gewiß
nicht gesehen, wo man es hernimmt, sondern verarbeitet nur die Stücke; ich irre
mich sonst selten, doch sei dem wie ihm wolle, so lasset mich ausreden: nicht
nur die Thiere haben ihre merkwürdigen von Gott eingepflanzten Besonderheiten,
sondern selbst das todte Gestein, so aus den Bergen gegraben wird. Der Kristall
ist durchsichtig wie Glas, der Marmor aber hart und geädert, bald weiß und bald
schwarz; der Bernstein hat elec- irische Eigenschaften und ziehet
den Blitz an; aber dann verbrennt er und riecht wie Weihrauch. Der Magnet zieht
Eisen an, auf die Schiefertafeln kann man schreiben, aber nicht auf den Diamant,
denn dieser ist hart wie Stahl; auch gebraucht ihn der Glaser zum
Glasschneider:, weil er klein und spitzig ist. Ihr sehet, liebe Freunde, daß ich
auch ein Weniges von den Thieren zu sagen weiß! Was aber mein Verhältniß zu
ihnen betrifft, so ist dies zu bemerken: Die Katze ist ein schlaues und listiges
Thier und ist daher nur schlauen und listigen Menschen anhänglich; die Taube
aber ist ein Sinnbild der Unschuld und Einfalt und kann sich nur von
einfältigen, schuldlosen Seelen angezogen fühlen. Da mir nun Katzen und Tauben
anhänglich sind, so folgt hieraus, daß ich klug und einfältig, schlau und
unschuldig zugleich bin, wie es denn auch heißt: Seid klug wie die Schlangen und
einfältig wie die Tauben! Auf diese Weise können wir allerdings die Thiere und
ihr Verhältniß zu uns würdigen und manches daraus lernen, wenn wir die Sache
recht zu betrachten wissen.«
Die armen Gesellen wagten nicht ein Wort weiter zu sagen; Züs
hatte sie gut zugedeckt und sprach noch viele hochtrabende Dinge durcheinander,
daß ihnen Hören und Sehen verging. Sie bewunderten aber Züsis Geist und
Beredsamkeit, und in dieser Bewunderung dünkte sich keiner zu schlecht, dieses
Kleinod zu besitzen, besonders da diese Zierde eines Hauses so wohlfeil war und
nur in einer rastlosen Zunge bestand. Ob sie selbst dessen, was sie so hoch
stellen, auch werth seien und etwas damit anzufangen wüßten, fragen sich solche
Schwachköpfe zu allerletzt oder auch gar nicht, sondern sie sind wie die Kinder,
welche nach Allem greifen, was ihnen in die Augen glänzt, von allen bunten
Dingen die Farben abschlecken und ein Schellenspiel ganz in den Mund stecken
wollen, statt es blos an die Ohren zu halten. So erhitzten sie sich immer mehr
in der Begierde und Einbildung, diese ausgezeichnete Person zu erwerben, und je
schnöder, herzloser und eitler Züs unsinnige Phrasen wurden, desto gerührter und
jämmerlicher waren die Kammmacher zuweg. Zugleich fühlten sie einen heftigen
Durst von dem trockenen Obste, welches sie inzwischen aufgegessen; Jobst und der
Baier suchten im Gehölz nach Wasser, fanden eine Quelle und
tranken sich voll kaltes Wasser. Der Schwabe hingegen hatte listiger Weise ein
Fläsch- chen mitgenommen, in welchem er Kirschgeist mit Wasser und Zucker
gemischt, welches liebliche Getränk ihn stärken und ihm einen Vorschub gewähren
sollte beim Laufen; denn er wußte, daß die Andern zu sparsam waren, um etwas
mitzunehmen oder eine Einkehr zu halten. Dies Fläschchen zog er setzt eilig
hervor, während jene sich mit Wasser füllten, und bot es der Jungfer Züs an; sie
trank es halb aus, es schmeckte ihr vortrefflich und erquickte sie und sie sah
den Dietrich dabei überquer ganz holdselig an, daß ihm der Rest, welchen er
selber trank, so lieblich schmeckte wie Cypcrwein und ihn gewaltig stärkte. Er
konnte sich nicht enthalten, Züsis Hand zu ergreifen und ihr zierlich die
Fingerspitzen zu küssen; sie tippte ihm leicht mit dem Zeigefinger auf die
Lippen und er that, als ob er darnach schnappen wollte und machte dazu ein Maul,
wie ein lächelnder Karpfen; Züs schmunzelte falsch und freundlich, Dietrich
schmunzelte schlau und süßlich; sie saßen auf der Erde sich gegen-
über und tätschelten zuweilen mit den Schuhsohlen gegeneinander, wie wenn sie
sich mit den Füßen die Hände geben wollten. Züs beugte sich ein wenig vornüber
und legte die Hand auf seine Schulter, und Dietrich wollte eben dies holde Spiel
erwiedern und fortsetzen, als der Sachse und der Baier zurückkamen und bleich
und stöhnend zuschauten. Denn es war ihnen von dem vielen Wasser, welches sie an
die genossenen Backbirnen geschüttet, plötzlich elend geworden und das
Herzeleid, welches sie bei dem Anblicke des spielenden Paares empfanden,
vereinigte sich mit dem öden Gefühle des Bauches, so daß ihnen der kalte Schweiß
auf der Stirne stand. Züs verlor aber die Fassung nicht, sondern winkte ihnen
überaus freundlich zu und rief: »Kommet, ihr Lieben, und setzet euch doch auch
noch ein bischen zu mir her; daß wir noch ein Weilchen und zum letzten Mal
unsere Eintracht und Freundschaft genießenJobst und Fridolin drängten sich
hastig herbei und streckten ihre Beine aus; Züs ließ dem Schwaben die eine Hand,
gab Jobsten die andere und berührte mit den Füßen Fridolins Stiefelsohlen,
während sie mit dem Angesicht Einen nach dem Andern der Reihe nach
anlächelte. So giebt es Virtuosen, welche viele Instrumente zugleich spielen,
auf dem Kopfe ein Glockenspiel schütteln, mit dem Munde die Panspfeife blasen,
mit den Händen die Guitarre spielen, mit den Knieen die Cymbel schlagen, mit dem
Fuß den Dreiangel und mit den Ellbogen eine Trommel, die ihnen auf dem Rücken
hängt.
Dann aber erhob sie sich von der Erde, strich ihr Kleid, welches sie sorgfältig
aufgeschürzt hatte, zurecht und sagte: "Nun ist es wohl Zeit, liebe Freunde! daß
wir uns aufmachen und daß ihr euch zu jenem ernsthaften Gange rüstet, welchen
euch der Meister in seiner Thorheit auferlegt, wir aber als die Anordnung eines
höheren Geschickes ansehen! Tretet diesen Weg an voll schonen Eifers aber ohne
Feindschaft noch Neid gegen einander und überlasset dem Sieger willig die
Krone!^
Wie von einer Wespe gestochen sprangen die Gesellen auf und stellten sich auf
die Beine. Da standen sie nun und sollten mit denselben einander den Rang
ablaufen, mit denselben guten Beinen, welche bislang nur in
bedachtem ehrbarem Schritt gewandelt! Keiner wußte sich mehr zu entsinnen, daß
er je einmal gesprungen oder gelaufen wäre; am ehesten schien sich noch der
Schwabe zu trauen und mit den Füßen sogar leise zu scharren und dieselben
ungeduldig zu heben. Sie sahen sich ganz sonderbar und verdächtig an, waren
bleich und schwitzten dabei, als ob sie schon im heftigsten Laufen begriffen
wären.
"Gebet euch, sagte Züs, noch einmal die Hand!» Sie thaten es, aber so willenlos
und lässig, daß die drei Hände kalt von einander abglitten und abfielen wie
Blcihände. «Sollen wir denn wirklich das Thorenwerk beginnen?» sagte Iobst und
wischte sich die Augen, welche anfingen zu träufeln. «Ja, versetzte der Baier,
sollen wir wirklich laufen und springen?» und begann zu weinen. «Und Sie,
allerliebste Jungfer Bünzlin?» sagte Iobst heulend, «wie werden Sie sich denn
verhalten?» «Mir geziemt,» antwortete sie und hielt sich das Schnupftuch vor die
Augen, «mir geziemt zu schweigen, zu leiden und zuzusehen!» Der Schwabe sagte
Keller, die Leute von Seldwyla. 28
»34
freundlich und listig: »Aber dann nachher, Jungfer Bäbidu , 1 0 Dietrich!
erwiederte sie sanft, wissen Sie nicht, daß es heißt, der Zug des Schicksals ist
des Herzens StimmeUnd dabei sah sie ihn von der Seite so verblümt an, daß er
abermals die Beine hob und Lust verspürte, sogleich in Trab zu gerathen. Während
die zwei Nebenbuhler ihre kleinen Felleisenfuhrwerke in Ordnung brachten und
Dietrich das Gleiche that, streifte sie mehrmals mit Nachdruck seinen Elbogen
oder trat ihm auf den Fuß; auch wischte sie ihm den Staub von dem Hute, lächelte
aber gleichzeitig den Andern zu, wie wenn sie den Schwaben auslachte, doch so,
daß es dieser nicht sehen konnte. Alle drei bliesen setzt mächtig die Backen auf
und bliesen große Seufzer in die Lust. Sie sahen sich um nach allen Seiten,
nahmen die Hüte ab, wischten sich den Schweiß von der Stirn, strichen die steif
geklebten Haare und setzten die Hüte wieder auf. Nochmals schauten sie nach
allen Winden und schnappten nach Lust. Züs erbarmte sich ihrer und war so
gerührt, daß sie selbst weinte. »Hier sind noch drei dürre Pflaumen, sagte sie,
nehmt Jeder eine in den Mund und behaltet sie darin, das wird
euch erquicken! So ziehet denn dahin und kehret die Thorheit der Schlechten um
in Weisheit der Gerechten! Was sie zum Muthwillen ausgcsonnen, das verwandelt in
ein erbauliches Werk der Prüfung und der Selbstbeherrschung, in eine sinnreiche
Schlußhandlung eines langjährigen Wohlverhaltens und Wett- laufes in der
Tugend!^ Jedem steckte sie die Pflaume in den Mund, und er sog daran. Jobst
drückte die. Hand auf seinen Magen und rief: „Wenn es denn sein muß, so sei es
in's Himmels Namens und plötzlich fing er, indem er den Stock erhob, mit stark
gebogenen Knieen mächtig an auszuschreiten und zog sein Felleisen an sich. Kaum
sah dies Fridolin, so folgte er ihm nach mit langen Schritten, und ohne sich
ferner umzusehen, eilten sie schon ziemlich hastig die Straße hinab. Der Schwabe
war der letzte, der sich aufmachte, und ging mit listig vergnügtem Gesicht und
scheinbar ganz gemächlich neben Züs her, wie wenn er seiner Sache sicher und
edelmüthig seinen Gefährten einen Vorsprung gönnen wollte. Züs belobte seine
28 * freundliche Gelassenheit und hing sich vertraulich an seinen
Arm. »Ach, es ist doch schön, sagte sie mit einem Seufzer, eine feste Stütze zu
haben im Leben! Selbst wenn man hinlänglich begabt ist mit Klugheit und Einsicht
und einen tugendhaften Weg wandelt, so geht es sich auf diesem Wege doch viel
gemüthlicher am vertrauten Freundesarme!« »Der Tausend, ei ja wohl, das wollte
ich wirklich meinen!^ erwiederte Dietrich und stieß ihr den Elbogen tüchtig in
die Seite, indem er zugleich nach seinen Nebenbuhlern spähte, ob der Vorsprung
auch nicht zu groß würde, »sehen Sie wohl, wertheste Jungfer! Kommt es Ihnen
allendlich? Merken Sie, wo Barthel den Most holt?^ »O Dietrich, lieber Dietrich!
sagte sie mit einem noch viel stärkeren Seufzer, »ich fühle mich oft recht
einsam»Hopsele, so muß es kommen!^ rief er und sein Herz hüpfte wie ein Häschen
im Weißkohl. »O Dietrich!^ rief sie und drückte sich fester an ihn; es ward ihm
schwül und sein Herz wollte zerspringen vor pfiffigem Vergnügen; aber zugleich
entdeckte er, daß seine Vorläufer nicht mehr sichtbar, sondern um eine Ecke herum verschwunden waren. Sogleich wollte er sich losreißen
von Züsis Arm und jenen nachspringen; aber sie hielt ihn so fest, daß es ihm
nicht gelang, und klammerte sich an, wie wenn sie schwach würde. „Dietrich!
flüsterte sie, die Augen verdrehend, lassen Sie mich jetzt nicht allein, ich
vertraue auf Sie, stützen Sie mich!» „Den Teufel noch einmal, lassen Sie mich
los Jungfer! rief er ängstlich, „oder ich komm' zu spät und dann ade
Zipfelmütze!» „Nein, nein! sie dürfen mich nicht verlassen, ich fühle, mir wird
übel!» jammerte sie. „Übel oder nicht übel!» schrie er und riß sich gewaltsam
los; er sprang auf eine Erhöhung und sah sich um und sah die Läufer schon im
vollen Rennen weit den Berg hinunter. Nun setzte er zum Sprung an, schaute sich
aber im selben Augenblick noch ein Mal nach Züs um. Da sah er sie, wie sie am
Eingänge eines engen schattigen Waldpfades saß und lieblich lockend ihm mit den
Händen winkte. Diesem Anblicke konnte er nicht widerstehen, sondern eilte, statt
den Berg hinunter, wieder zu ihr hin. Als sie ihn kommen sah, stand sie auf und
ging tiefer in das Holz hinein, sich nach ihm umsehend; denn sie
dachte ihn auf alle Weise vom Laufen abzuhalten und so lange zu verirrn, bis er
zu spät käme und nicht in Seldwyl bleiben könne.
Allein der erfindungsreiche Schwabe änderte zu selber Zeit seine Gedanken und
nahm sich vor, sein Heil hier oben zu erkämpfen, und so geschah es, daß es ganz
anders kam, als die listige Person es hoffte. Sobald er sie erreicht und an
einem verborgenen Plätzchen mit ihr allein war, fiel er ihr zu Füßen und
bestürmte sie mit den feurigsten Liebeserklärungen, welche ein Kammmacher je
gemacht hat. Erst suchte sie ihm Ruhe zu gebieten und, ohne ihn fortzuscheuchen,
auf gute Manier hinzuhalten, indem sie alle ihre Weisheiten und Anmuthungen
spielen ließ. Als er ihr aber Himmel und Hölle vorstellte, wozu ihm sein
aufgeregter und gespannter Unternehmungsgeist herrliche Zauberworte lieh, als er
sie mit Zärtlichkeiten jeder Art überhäufte und bald ihrer Hände, bald ihrer
Füße sich zu bemächtigen suchte und ihren Leib und ihren Geist, alles was an ihr
war, lobte und rühmte, daß der Himmel hätte grün werden mögen, als
dazu die Witterung und der Wald so still und lieblich waren, verlor Züs endlich
den Compaß, als ein Wesen, dessen Gedanken am Ende doch so kurz sind als seine
Sinne, ihr Herz krabbelte so ängstlich und wehrlos, wie ein Käfer, der auf dem
Rücken liegt, und Dietrich besiegte es in jeder Weise. Sie hatte ihn in dies
Dickicht verlockt, um ihn zu verrathen und war im Handumdrehen von dem
Schwäbchen erobert; dies geschah nicht, weil sie etwa eine besonders verliebte
Person war, sondern weil sie als eine kurze Natur trotz aller eingebildeten
Weisheit doch nicht über ihre eigene Nase weg sah. Sie blieben wohl eine Stunde
in dieser kurzweiligen Einsamkeit, umarmten sich immer aufs Neue und gaben sich
tausend Küß- chen. Sie schwuren sich ewige Treue und in aller Aufrichtigkeit und
wurden einig, sich zu heirathen auf alle Fälle.
Unterdessen hatte sich in der Stadt die Kunde von dem seltsamen Unternehmen der
drei Gesellen verbreitet und der Meister selbst zu seiner Belustigung die Sache
bekannt gemacht,
44 «
deshalb freuten sich die Seldwyler auf das unverhoffte Schauspiel und waren
begierig, die gerechten und ehrbaren Kammmacher zu ihrem Spaße laufen und
ankommen zu sehen. Eine große Menschenmenge zog vor das Thor und lagerte sich zu
beiden Seiten der Straße, wie wenn man einen Schnellläufer erwartet. Die Knaben
kletterten auf die Bäume, die Alten und Nück- gesetzten saßen im Grase und
rauchten ihr Pfeifchen, vergnügt, daß sich ihnen ein so wohlfeiles Vergnügen
aufgethan. Selbst die Herren waren ausgerückt, um den Hauptspaß mit anzusehen,
saßen fröhlich diskurirend in den Gärten und Lauben der Wirthshäuser und
bereiteten eine Menge Wetten vor. In den Straßen, durch welche die Läufer kommen
mußten, waren alle Fenster geöffnet, die Frauen hatten in den Vi- sitenstuben
rothe und weiße Kissen ausgelegt, die Arme darauf zu legen, und zahlreichen
Damen- besuch empfangen, so daß fröhliche Kaffeegesellschaften aus dem Stegreif
entstanden und die Mägde genug zu laufen hatten, um Kuchen und Zwieback zu
holen. Vor dem Thore aber sahen jetzt die Buben auf den höchsten Bäumen eine kleine Staubwolke sich nähern und begannen zu rufen: Sie kommen,
sie kommen! Und nicht lange dauerte es, so kamen Fridolin und Jobst wirklich wie
ein Sturmwind herangesaust, mitten auf der Straße, eine dicke Wolke Staubes
aufrührend. Mit der einen Hand zogen sie die Felleisen, welche wie toll über die
Steine flogen, mit der andern hielten sie die Hüte fest, welche ihnen im Nacken
saßen, und ihre langen Röcke flogen und wehten um die Wette. Beide waren von
Schweiß und Staub bedeckt, sie sperrten den Mund auf und lechzten nach Athem,
sahen und hörten nichts, was um sie her vorging und dicke Thränen rollten den
armen Männern über die Gesichter, welche sie nicht abzuwischen Zeit hatten. Sie
liefen sich dicht auf den Fersen, doch war der Baier voraus um eine Spanne. Ein
entsetzliches Geschrei und Gelächter erhob sich und dröhnte, so weit das Ohr
reichte. Alles raffte sich auf und drängte sich dicht an den Weg, von allen
Seiten rief es: So recht, so recht! Lauft, wehr' Dich Sachs! halt Dich brav,
Baier! Einer ist schon abgefallen, es sind nur noch zwei! Die Herren in den
Gärten standen auf den Tischen und wollten sich ausschütten vor
Lachen. Ihr Gelächter dröhnte aber donnernd und fest über den haltlosen Lärm der
Menge weg, die auf der Straße lagerte und gab das Signal zu einem unerhörten
Freudentage. Die Buben und das Gesinde! strömten hinter den zwei armen Gesellen
zusammen und ein wilder Haufen, eine furchtbare Wolke erregend, wälzte sich mit
ihnen dem Thore zu; selbst Weiber und junge Gaffenmädchen liefen mit und
mischten ihre hellen quiekenden Stimmen in das Geschrei der Burschen. Schon
waren sie dem Thore nah, dessen Thürme von Neugierigen besetzt waren, die ihre
Mützen schwenkten, die zwei rannten wie scheu gewordene Pferde, das Herz voll
Qual und Angst; da knieete ein Gassenjunge wie ein Kobold aus Jobstens fahrendes
Felleisen und ließ sich unter dem Beifallsgeschrei der Menge mitfahren. Jobst
wandte sich und flehte ihn an, loszulassen, auch schlug er mit dem Stocke nach
ihm; aber der Junge duckte sich und grinste ihn an. Darüber gewann Fridolin
einen größeren Vorsprung und wie Jobst es merkte, warf er ihm den Stock zwischen
die Füße, daß er hinstürzte. Wie aber Jobst über ihn wegsprin- gen
wollte, erwischte ihn der Baier am Rockschoß und zog sich daran in die Höhe;
Jobst schlug ihm auf die Hände und schrie: Laß los, laß los! Fridolin ließ nicht
los, Jobst packte dafür seinen Rockschoß und nun hielten sie sich gegenseitig
fest und drehten sich langsam zum Thore hinein, nur zuweilen einen Sprung
versuchend, um einer dem andern zu entrinnen. Sie weinten, schluchzten und
heulten wie Kinder und schrieen in unsäglicher Beklemmung: O Gott! laß los! Du
lieber Heiland, laß los Jobst! laß los Fridolin! laß los Du Satan! dazwischen
schlugen sie sich fleißig auf die Hände, kamen aber immer um ein Weniges
vorwärts. Hut und Stock hatten sie verloren, zwei Buben trugen dieselben, die
Hüte auf die Stöcke gesteckt, voran und hinter ihnen her wälzte sich der tobende
Haufen; alle Fenster waren von der Damenwelt besetzt, welche ihr silbernes
Gelächter in die unten tosende Brandung warf, und seit langer Zeit war man nicht
mehr so fröhlich gestimmt gewesen in dieser Stadt. Das rauschende Vergnügen
schmeckte den Bewohnern so gut, daß kein Mensch den zwei Ringenden
ihr Ziel zeigte, des Meisters Haus, an welchem sie endlich angelangt. Sie selber
sahen es nicht, sie sahen überhaupt nichts, und so wälzte sich der tolle Zug
durch das ganze Städtchen und zum andern Thore wieder hinaus. Der Meister hatte
lachend unter dem Fenster gelegen, und nachdem er noch ein Stündchen aus den
endlichen Sieger gewartet, wollte er eben weggehen, um die Früchte seines
Schwankes zu genießen, als Dietrich und Züs still und unversehens bei ihm
eintraten.
Diese hatten nämlich unterdessen ihre Gedanken zusammen gethan und berathen, daß
der Kammmachermeister wohl geneigt sein dürfte, da er doch nicht lang mehr
machen würde, sein Geschäft gegen eine baare Summe zu verkaufen. Züs wollte
ihren Gültbrief dazu hergeben und der Schwabe sein Geldchen auch dazuthun, und
dann wären sie die Herren der Sachlage und könnten die andern zwei auslachen.
Sie trugen ihre Vereinigung dem überraschten Meister vor; diesem leuchtete es
sogleich ein, hinter dem Rücken seiner Gläubiger, ehe es zum Bruch kam, noch
schnell den Handel abzuschließen und unverhofft des baaren
Kaufpreises habhaft zu werden. Rasch wurde Alles festgestellt und ehe die Sonne
unterging, war Jungfer Bünzlin die rechtmäßige Besitzerin des
Kammmachergeschäfts und ihr Bräutigam der Miether des Hauses, in welchem
dasselbe lag, und so war Züs, ohne es am Morgen geahnt zu haben, endlich erobert
und gebunden durch die Handlichkeit des Schwäbchens.
Halb todt vor Scham, Mattigkeit und Ärger lagen Jobst und Fridolin in der
Herberge, wohin man sie geführt hatte, nachdem sie auf dem freien Felde endlich
umgefallen waren, ganz in einander verbissen. Die ganze Stadt, da sie einmal
aufgeregt war, hatte die Ursache schon vergessen und feierte eine lustige Nacht.
In vielen Häusern wurde getanzt und in den Schenken wurde gezecht und gesungen,
wie an den größten Seldwylertagen; denn die Seldwyler brauchten nicht viel Zeug,
um mit Meisterhand eine Lustbarkeit daraus zu formen. Als die beiden armen
Teufel sahen, wie ihre Tapferkeit, mit welcher sie gedacht hatten, die Thorheit
der Welt zu benutzen, nur dazu gedient hatte, dieselbe triumphiren zu lassen und
sich selbst zum allge- meinen Gespött zu machen, wollte ihnen das
Herz brechen; denn sie hatten nicht nur den weisen Plan mancher Jahre verfehlt
und vernichtet, sondern auch den Ruhm besonnener und rechtlich ruhiger Leute
eingebüßt.
Jobst, der der älteste war und sieben Jahre hier gewesen, war ganz verloren und
konnte sich nicht zurecht finden. Ganz schwermüthig zog er vor Tag wieder aus
der Stadt, und hing sich an der Stelle, wo sie Alle gestern gesessen, an einen
Baum. Als der Baier eine Stunde später da vorüber kam und ihn erblickte, faßte
ihn ein solches Entsetzen, daß er wie wahnsinnig davon rannte, sein ganzes Wesen
veränderte und, wie man nachher hörte, ein liederlicher Mensch und alter
Handwerksbursch wurde, der keines Menschen Freund war.
Dietrich der Schwabe allein blieb ein Gerechter und hielt sich oben in dem
Städtchen; aber er hatte nicht viel Freude daran; denn Züs ließ ihm gar nicht
den Ruhm davon, regierte und unterdrückte ihn und betrachtete sich selbst als
die alleinige Quelle alles Guten.
8Mget, das Aützchen.
Ein Mährchen.
Wenn ein Seldwyler einen schlechten Handel gemacht hat oder angeführt worden
ist, so sagt man zu Seldwyla: Er hat der Katze den Schmeer s abgekauft! Dies
Sprichwort ist zwar auch anderwärts gebräuchlich, aber nirgends hört man es so
oft wie dort, was vielleicht daher rühren mag, daß es in dieser Stadt eine alte
Sage giebt über den Ursprung und die Bedeutung dieses Sprichwortes.
Vor mehreren hundert Jahren, heißt es, wohnte zu Seldwyla eine ältliche Person
allein mit einem schönen, grau und schwarzen Kätzchen, welches in aller
Vergnügtheit und Klugheit mit ihr lebte und Niemandem, der es ruhig ließ, etwas
zu Leide that. Seine einzige Leidenschaft war die Jagd, welche es
jedoch mit Vernunft und Mäßigung befriedigte, ohne sich durch den Umstand, daß
diese Leidenschaft zugleich einen nützlichen Zweck hatte und seiner Herrin wohl-
gefiel, beschönigen zu wollen und allzusehr zur Grausamkeit hinreißen zu lassen.
Es fing und tödtete daher nur die zudringlichsten und frechsten Mäuse, welche
sich in einem gewissen Umkreise des Hauses betreten ließen, aber diese dann mit
zuverlässiger Geschicklichkeit; nur selten verfolgte es eine besonders pfiffige
Maus, welche seinen Zorn gereizt hatte, über diesen Umkreis hinaus und erbat
sich in diesem Falle mit vieler Höflichkeit von den Herren Nachbaren die
Erlaubniß, in ihren Häusern ein wenig mausen zu dürfen, was ihm gerne gewährt
wurde, da es die Milchtöpfe stehen ließ, nicht an die Schinken hinaufsprang,
welche etwa an den Wänden hingen, sondern seinem Geschäfte still und aufmerksam
oblag und, nachdem es dieses verrichtet, sich mit dem Mäuslein im Maule
anständig entfernte. Auch war das Kätzchen gar nicht scheu und unartig, sondern
zutraulich gegen Jedermann und floh nicht vor vernünftigen Leuten;
vielmehr ließ es sich von solchen einen guten Spaß gefallen und selbst ein
bischen an den Ohren zupfen, ohne zu kratzen; dagegen ließ es sich von einer Art
dummer Menschen, von welchen es behauptete, daß die Dummheit aus einem unreifen
und nichtsnutzigen Herzen käme, nicht das Mindeste gefallen und ging ihnen
entweder aus dem Wege, oder versetzte ihnen einen ausreichenden Hieb über die
Hand, wenn sie es mit einer Plumpheit molestirten.
Spiegel, so war der Name des Kätzchens wegen seines glatten und glänzenden
Pelzes, lebte so seine Tage heiter, zierlich und beschaulich dahin, in
anständiger Wohlhabenheit und ohne Überhebung. Er saß nicht zu oft auf der
Schulter seiner freundlichen Gebieterin, um ihr die Bissen von der Gabel
wegzufangen, sondern nur, wenn er merkte, daß ihr dieser Spaß angenehm war; auch
lag und schlief er den Tag über selten auf seinem warmen Kissen hinter dem Ofen,
sondern hielt sich munter und liebte es eher, auf einem schmalen Treppengeländer
oder in der Dachrinne zu liegen und sich philosophischen Betrachtungen und der
Beobachtung
Keller, die Leute von Seldwyla. 29 der Welt zu überlassen. Nur
jeden Frühling und Herbst einmal wurde dies ruhige Leben eine Woche lang
unterbrochen, wenn die Veilchen blühten oder die milde Wärme des
Alteweibersommers die Veilchenzeit nachäffte. Alsdann ging Spiegel seine eigenen
Wege, streifte in verliebter Begeisterung über die fernsten Dächer und sang die
allerschönstcn Lieder. Als ein rechter Don Juan bestand er bei Tag und Nacht die
bedenklichsten Abenteuer, und wenn er sich zur Seltenheit einmal im Hause sehen
ließ, so erschien er mit einem so verwegenen, burschikosen, ja liederlichen und
zerzausten Aussehen, daß die stille Person, seine Gebieterin, fast unwillig
ausrief: „Aber Spiegel! Schämst Du Dich denn nicht, ein solches Leben zu
führen?« Wer sich aber nicht schämte, war Spiegel; als ein Mann von Grundsätzen,
der wohl wußte, was er sich zur wohlthätigen Abwechslung erlauben durfte,
beschäftigte er sich ganz ruhig damit, die Glätte seines Pelzes und die
unschuldige Munterkeit seines Aussehens wieder herzustellen, und er fuhr sich so
unbefangen mit dem feuchten
45 l
Pfötchen über die Nase, als ob gar nichts geschehen wäre.
Allein dies gleichmäßige Leben nahm plötzlich ein trauriges Ende. Als das
Kätzchen Spiegel eben in der Blüthe seiner Jahre stand, starb die Herrin
unversehens an Altersschwäche und ließ das schöne Kätzchen herrenlos und
verwaist zurück. Es war das erste Unglück, welches ihm widerfuhr, und mit jenen
Klagetönen, welche so schneidend den bangen Zweifel an der wirklichen und
rechtmäßigen Ursache eines großen Schmerzes ausdrücken, begleitete es die Leiche
bis auf die Straße und strich den ganzen übrigen Tag rathlos im Hause und rings
um dasselbe her. Doch seine gute Natur, seine Vernunft und Philosophie geboten
ihm bald, sich zu fassen, das Unabänderliche zu tragen und seine dankbare
Anhänglichkeit an das Haus seiner todten Gebieterin dadurch zu beweisen, daß er
ihren lachenden Erben seine Dienste anbot und sich bereit machte, denselben mit
Rath und That beizustehcn, die Mäuse ferner im Zaume zu halten und überdies
ihnen manche gute Mittheilung zu machen, welche die Thörichten nicht verschmäht hätten, wenn sie eben nicht unvernünftige Menschen gewesen wären.
Aber diese Leute ließen Spiegel gar nicht zu Worte kommen, sondern warfen ihm
die Pantoffeln und das artige Fuß- schemelchen der Seligen an den Kops, so oft
er sich blicken ließ, zankten sich acht Tage lang unter einander, begannen
endlich einen Prozeß und schloffen das Haus bis auf Weiteres zu, so daß nun gar
Niemand darin wohnte.
Da saß nun der arme Spiegel traurig und verlassen auf der steinernen Stufe vor
der Hausthüre und hatte Niemand, der ihn hinein ließ. Des Nachts begab er sich
wohl auf Umwegen unter das Dach des Hauses, und im Anfang hielt er sich einen
großen Theil des Tages dort verborgen und suchte seinen Kummer zu verschlafen;
doch der Hunger trieb ihn bald an das Licht und nöthigte ihn, an der warmen
Sonne und unter den Leuten zu erscheinen, um bei der Hand zu sein und zu
gewärtigen, wo sich etwa ein Maul voll geringer Nahrung zeigen möchte. Je
seltener dies geschah, desto aufmerksamer wurde der gute Spiegel, und alle seine
moralischen Eigenschaften gingen in dieser
Aufmerksamkeit auf, so daß er sehr bald sich selber nicht mehr gleich sah. Er
machte zahlreiche Ausflüge von seiner Hausthüre aus und stahl sich scheu und
flüchtig über die Straße, um manchmal mit einem schlechten unappetitlichen
Bissen, dergleichen er früher nie angesehen, manchmal mit gar Nichts
zurückzukehren. Er wurde von Tag zu Tag magerer und zerzauster, dabei gierig,
kriechend und feig; all' sein Muth, seine zierliche Katzenwürde, seine Vernunft
und Philosophie waren dahin. Wenn die Buben aus der Schule kamen, so kroch er in
einen verborgenen Winkel, sobald er sie kommen hörte, und guckte nur hervor, um
aufzupassen, welcher von ihnen etwa eine Brodrinde wegwürfe und merkte sich den
Ort, wo sie hinfiel. Wenn der schlechteste Köter von Weitem ankam, so sprang er
hastig fort, während er früher gelassen der Gefahr in's Auge geschaut und böse
Hunde oft tapfer gezüchtigt hatte. Nur wenn ein grober und einfältiger Mensch
daher kam, dergleichen er sonst klüglich gemieden, blieb er sitzen, obgleich das
arme Kätzchen mit dem Neste seiner Menschenkenntniß den Lümmel recht gut
erkannte; allein die Noth zwang Spiegelchen, sich zu täuschen und
zu hoffen, daß der Schlimme ausnahmsweise einmal es freundlich streicheln und
ihm einen Bissen darreichen werde. Und selbst wenn er statt dessen nun doch
geschlagen oder in den Schwanz gekneift wurde, so kratzte er nicht, sondern
duckte sich lautlos zur Seite und sah dann noch verlangend nach der Hand, die es
geschlagen und gekneift, und welche nach Wurst oder Häring roch.
Als der edle und kluge Spiegel so heruntergekommen war, saß er eines Tages ganz
mager und traurig auf seinen, Steine und blinzelte in der Sonne. Da kam der
Stadtherenmeister Pineiß des Weges, sah das Kätzchen und stand vor ihm still.
Etwas Gutes hoffend, obgleich es den Unheimlichen wohl kannte, saß Spiegelchen
demüthig auf dem Stein und erwartete, was der Herr Pineiß etwa thun oder sagen
würde. Als dieser aber begann und sagte: "Na, Katze! Soll ich Dir Deinen Schmeer
ablaufend da verlor es die Hoffnung; denn es glaubte, der Stadtherenmeister
wolle es seiner Magerkeit wegen verhöhnen. Doch erwiederte er bescheiden
und lächelnd, um es mit Niemand zu verderben: „Ach, der Herr Pineiß belieben zu
scherzen!« „Mit Nichten! rief Pineiß,« es ist mir voller Ernst! Ich brauche
Katzenschmeer vorzüglich zur Hexerei; aber er muß mir vertragsmäßig und
freiwillig von den werthen Herren Katzen abgetreten werden, sonst ist er
unwirksam. Ich denke, wenn je ein wackeres Kätzlein in der Lage war, einen
vorthcilhaften Handel abzuschließen, so bist es Du! Begieb Dich in meinen
Dienst; ich füttere Dich herrlich heraus, mache Dich fett und kugelrund mit
Würstchen und gebratenen Wachteln. Auf dem ungeheuer hohen alten Dache meines
Hauses, welches nebenbei gesagt das köstlichste Dach von der Welt ist für eine
Katze, voll interessanter Gegenden und Winkel, wächst auf den sonnigsten Höhen
treffliches Spitzgras, grün wie Smaragd, schlank und fein in den Lüsten
schwankend, Dich einladend, die zartesten Spitzen abzubeißen und zu genießen,
wenn Du Dir an meinen Leckerbissen eine leichte Unverdaulichkeit zugezogen hast.
So wirst Du bei trefflicher Gesundheit bleiben und mir dereinst einen kräftigen
brauchbaren Schmeer liefern!« Spiegel hatte schon längst die Ohren
gespitzt und mit wässerndem Mäulchen gelauscht; doch war seinem geschwächten
Verstände die Sache noch nicht klar, und er versetzte daher: „das ist soweit
nicht übel, Herr Pineiß! Wenn ich nur wüßte, wie ich alsdann, wenn ich doch, um
Euch meinen Schmeer abzutreten, mein Leben lassen muß, des verabredeten Preises
habhaft werden und ihn genießen soll, da ich nicht mehr bin?« „Des Preises
habhaft werden?« sagte der Hexenmeister verwundert, „den Preis genießest Du ja
eben in den reichlichen und üppigen Speisen, womit ich Dich fett mache, das
versteht sich von selber! doch will ich Dich zu dem Handel nicht zwingen!« Und
er machte Miene, sich von bannen begeben zu wollen. Aber Spiegel sagte hastig
und ängstlich: „Ihr müßt mir wenigstens eine mäßige Frist gewähren über die Zeit
meiner höchsten erreichten Nund- heit und Fettigkeit hinaus, daß ich nicht so
jählings von hinnen gehen muß, wenn jener angenehme und ach! so traurige
Zeitpunkt herangekommen und entdeckt ist!«
„Es sei!« sagte Herr Pineiß mit anschei- nender Gutmüthigkeit,
"bis zum nächsten Vollmond sollst Du Dich alsdann Deines angenehmen Zustandes
erfreuen dürfen, aber nicht länger! denn in den abnehmenden Mond hinein darf es
nicht gehen, weil dieser einen vermindernden Einfluß auf mein wohlerworbenes
Eigenthum ausüben würde ^
Das Kätzchen beeilte sich zuzuschlagen und unterzeichnete einen Vertrag, welchen
der Hexenmeister im Verrath bei sich führte, mit seiner scharfen Handschrift,
welche sein letztes Besitzthum und Zeichen besserer Tage war.
"Du kannst Dich nun zum Mittagessen bei mir einfindcn, Katers sagte der Herer,
"Punkt zwölf Uhr wird gegessen!^ "Ich werde so frei sein, wenn Zhr's erlaubt!^
sagte Spiegel und fand sich pünktlich um die Mittagsstunde bei Herrn Pineiß ein.
Dort begann nun während einiger Monate ein höchst angenehmes Leben für das
Kätzchen; denn es hatte auf der Welt weiter nichts zu thun, als die guten Dinge
zu verzehren, die man ihm vorsetzte, dem Meister bei der Hererei zuzuschauen,
wenn es mochte, und auf dem Dache spazieren zu gehen. Dies Dach
29 * glich einem ungeheuren schwarzen Nebelspalter oder
Dreiröhrenhut, wie man die großen Hüte der schwäbischen Bauern nennt, und wie
ein solcher Hut ein Gehirn voller Nucken und Finten überschattet, so bedeckte
dies Dach ein großes, dunkles und winkliges Haus voll Herenwerk und
Tausendsgeschichten. Herr Pineiß war ein Kann-Alleö, welcher hundert Änlichen
versah, Leute kurirte, Wanzen vertilgte, Zähne auszog und Geld auf Zinsen lieh;
er war der Vormünder aller Waisen und Wittwen, schnitt in seinen Mußestunden
Federn, das Dutzend für einen Pfennig, und machte schöne schwarze Dinte; er
handelte mit Ingwer und Pfeffer, mit Wagenschmiere und Rvsoli, mit Heftlein und
Schuh- nägeln, er renovirte die Thurmuhr und machte jährlich den Kalender mit
der Witterung, den Bauernregeln, und dem Aderlaßmännchen; er verrichtete
zehntausend rechtliche Dinge am hellen Tag um mäßigen Lohn, und einige
unrechtliche nur in der Finsterniß und aus Privatleidenschaft, oder hing auch
den rechtlichen, ehe er sie aus seiner Hand entließ, schnell noch ein unrecht-
liches Schwänzchen an, so klein wie die Schwänz-
chen der jungen Frösche, gleichsam nur der Possierlichkeit wegen. Überdies
machte er das Wetter in schwierigen Zeiten, überwachte mit seiner Kunst die
Heren, und wenn sie reif waren, ließ er sie verbrennen; für sich trieb er die
Hexerei nur als wissenschaftlichen Versuch und zum Hausgebrauch, sowie er auch
die Stadtgesetze, die er redigirte und ins Reine schrieb, unter der Hand
probirte und verdrehte, um ihre Dauerhaftigkeit zu ergründen. Da die Seldwyler
stets einen solchen Bürger brauchten, der alle »«lustigen kleinen und großen
Dinge für sie that, so war er zum Stadtherenmeister ernannt worden und
bekleidete dies Amt schon seit vielen Jahren mit unermüdlicher Hingebung und
Geschicklichkeit, früh und spät. Daher war sein Haus von unten bis oben
vollgestopft mit allen erdenklichen Dingen, und Spiegel hatte viel Kurzweil,
Alles zu besehen und zu beriechen.
Doch im Ansang gewann er keine Aufmerksamkeit für andere Dinge, als für das
Essen. Er schlang gierig alles hinunter, was Pinciß ihm darreichte, und mochte
kaum von einer Zeit zur andern warten. Dabei überlud er sich den
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Magen und mußte wirklich auf das Dach gehen, um dort von den grünen Gräsern
abzubeißen und sich von allerhand Unwohlsein zu kuriren. Als der Meister diesen
Heißhunger bemerkte, freute er sich und dachte, das Kätzchen würde solcherweise
recht bald fett werden, und je besser er daran wende, desto klüger verfahre und
spare er im Ganzen. Er baute daher für Spiegel eine ordentliche Landschaft in
seiner Stube, indem er ein Wäldchen von Tannen- bäumchcn aufstellte, kleine
Hügel von Steinen und Moos errichtete und einen kleinen See anlegte. Auf die
Däumchen setzte er duftig gebratene Lerchen, Finken, Meisen und Sperlinge, je
nach der Jahrszeit, so daß da Spiegel immer etwas herunter zu holen und zu
knabbern vorfand. In die kleinen Berge versteckte er in künstlichen MauSlöchern
herrliche Mäuse, welche er sorgfältig mit Waizenmehl gemästet, dann ausgeweidet,
mit zarten Speckriemchen gespickt und gebraten hatte. Einige dieser Mäuse konnte
Spiegel mit der Hand hervorholen, andere waren zur Erhöhung des Vergnügens
tiefer verborgen, aber an einen Faden gebunden, an wel-
chem Spiegel sie behutsam hervorziehen mußte, wenn er diese Lustbarkeit einer
nachgeahmten Jagd genießen wollte. Das Becken des See's aber füllte Pineiß alle
Tage mit frischer Milch, damit Spiegel in der süßen seinen Durst lösche, und
ließ gebratene Gründlinge darin schwimmen, da er wußte, daß Katzen zuweilen auch
die Fischerei lieben. Aber da nun Spiegel ein so herrliches Leben führte, thun
und lassen, essen und trinken konnte, was ihm beliebte und wann es ihm einfiel,
so gedieh er allerdings zusehens an seinem Leibe; sein Pelz wurde wieder glatt
und glänzend und sein Auge munter; aber zugleich nahm er, da sich seine
Geisteskräfte in gleichem Maße wieder ansammelten, bessere Sitten an, die wilde
Gier legte sich, und weil er jetzt eine traurige Erfahrung hinter sich hatte, so
wurde er nun klüger als zuvor. Er mäßigte sich in seinen Gelüsten und fraß nicht
mehr, als ihm zuträglich war, indem er zugleich wieder vernünftigen und
tiefsinnigen Betrachtungen nachging und die Dinge wieder durchschaute. So holte
er eines Tages einen hübschen Kramets- vogel von den Ästen herunter, und als er
den- selben nachdenklich zerlegte, fand er dessen kleinen Magen
ganz kugelrund angefüllt mit frischer unversehrter Speise. Grüne Kräutchen,
artig zusammengerollt, schwarze und weiße Samenkörner und eine glänzend rothe
Beere waren da so niedlich und dicht in einander gepfropft, als ob ein
Mütterchen für ihren Sohn das Ränzchen zur Reise gepackt hätte. Als Spiegel den
Vogel langsam verzehrt und das so vergnüglich gefüllte Mäglein an seine Klaue
hing und philosophisch betrachtete, rührte ihn das Schicksal des armen Vogels,
welcher nach so friedlich verbrachtem Geschäft so schnell sein Leben lassen
mußte, daß er nicht einmal die eingepackten Sachen verdauen konnte. „Was hat er
nun davon gehabt, der arme Kerl, sagte Spiegel, daß er sich so fleißig und
eifrig genährt hat, daß dies kleine Söckchen aussieht, wie ein wohl vollbrachtes
Tagewerk? Diese rothe Beere ist es, die ihn aus dem freien Walde in die Schliuge
des Vogelstellers gelockt hat. Aber er dachte doch, seine Sache noch besser zu
machen und sein Leben an solchen Beeren zu fristen, während ich, der ich so eben
den unglücklichen Vogel gegessen, daran mich nur um einen Schritt
näher zum Tode gegessen habe! Kann man einen elendere» und feigeren Vertrag
abschließen, als sein Lebe» noch ein Weilchen fristen zu lassen, um es dann um
diesen Preis doch zu verlieren? Wäre nicht ein freiwilliger und schneller Tod
vorzuziehen gewesen für einen entschlossenen Kater? Aber ich habe keine Gedanken
gehabt, und nun da ich wieder solche habe, sehe ich nichts vor mir, als das
Schicksal dieses Krametsvogels; wenn ich rund genug bin, so muß ich von hinne«,
aus keinem andern Grunde, als weil ich rund bin. Ein schöner Grund für einen
lebenslustige» und gedankenreichen Katzmann! Ach, könnte ich aus dieser Schlinge
kommend
Er vertiefte sich nun in vielfältige Grübeleien, wie das gelingen möchte; aber
da die Zeit der Gefahr noch nicht da war, so wurde es ihm nicht klar und er fand
keinen Ausweg; aber als ein kluger Mann ergab er sich bis dahin der Tugend und
der Selbstbeherrschung, welches immer die beste Vorschule und Zeitverwendung
ist, bis sich etwas entscheiden soll. Er verschmähte das weiche Kiffen, welches
ihm Pi- miß zurechtgelegt hatte, damit er fleißig darauf schlafen
und fett werden sollte, und zog es vor, wieder auf schmalen Gesimsen und hohen
gefährlichen Stellen zu liegen, wenn er ruhen wollte. Ebenso verschmähte er die
gebratenen Vogel und die gespickten Mäuse und fing sich lieber auf den Dächern,
da er nun wieder einen rechtmäßigen Iagdgrund hatte, mit List und Gewandtheit
einen schlichten lebendigen Sperling, oder auf den Speichern eine flinke Maus,
und solche Beute schmeckte ihm vortrefflicher, als das gebratene Wild in
Pineißens künstlichem Gehäge, während sie ihn nicht zu fett machte; auch die
Bewegung und Tapferkeit, sowie der wiedererlangte Gebrauch der Tugend und
Philosophie verhinderten ein zu schnelles Fettwerden, so daß Spiegel zwar gesund
und glänzend aussah, aber zu Pineißens Verwunderung auf einer gewissen Stufe der
Beleibtheit stehen blieb, welche lange nicht das erreichte, was der Hexenmeister
mit seiner freundlichen Mästung bezweckte; denn dieser stellte sich darunter ein
kugelrundes, schwerfälliges Thier vor, welches sich nicht vom Ruhekissen bewegte
und aus eitel Schmeer bestand.
Aber hierin hatte sich seine Hererei eben geirrt und er wußte bei aller
Schlauheit nicht, daß wenn man einen Esel füttert, derselbe ein Esel bleibt,
wenn man aber einen Fuchsen speiset, derselbe nichts anders wird, als ein Fuchs;
denn jede Creatur wächst sich nach ihrer Weise aus. Als Herr Pineiß entdeckte,
wie Spiegel immer auf demselben Punkte einer wohlgenährten, aber geschmeidigen
und rüstigen Schlankheit stehen blieb, ohne eine erkleckliche Fettigkeit
anzusetzen, stellte er ihn eines Abends plötzlich zur Rede und sagte barsch:
"Was ist das, Spiegel? Warum frissest Du die guten Speisen nicht, die ich Dir
mit so viel Sorgfalt und Kunst präparire und herstelle? Warum fängst Du die
gebratenen Vogel nicht auf den Bäumen, warum suchst Du die leckeren Mäuschen
nicht in den Berghöhlen? Warum fischest Du nicht mehr in dem See? Warum Pflegst
Du Dich nicht? Warum schläfst Du nicht auf dem Kissen? Warum strapazirst Du Dich
und wirst mir nicht fett?^ "Ei, Herr Pineiß! sagte Spiegel, weil es mir wohler
ist auf diese Weise! Soll ich meine kurze Frist nicht auf die Art verbringen,
die mir am an-
Keller, die Leute von Seldwyla. 30 genehmsten ist?« „Wie! rief
Pineiß, Du sollst so leben, rast Du dick und rund wirst und nicht Dich abjagen!
Ich merke aber wohl, wo Du hinauswillst! Du denkst mich zu äffen und
hinzuhalten, daß ich Dich in Ewigkeit in diesem Mittelzustande herumlaufen
lasse? Mit Nichten soll Dir das gelingen! Es ist Deine Pflicht, zu essen und zu
trinken und Dich zu pflegen, aus daß Du dick werdest und Schmeer bekommst! Auf
der Stelle entsage daher dieser hinterlistigen und kontraktwidrigen Mäßigkeit,
oder ich werde ein Wörtlein mit Dir sprechen!«
Spiegel unterbrach sein behagliches Spinnen, das er angefangen, um seine Fassung
zu behaupten, und sagte: „Ich weiß kein Sterbenswörtchen davon, daß in dem
Contrakt steht, ich solle der Mäßigkeit und einem gesunden Lebenswandel
entsagen! Wenn der Herr Stadtherenmeister darauf gerechnet hat, daß ich ein
fauler Schlemmer sei, so ist das nicht meine Schuld! Ihr thut tausend rechtliche
Dinge des Tages, so lasset dieses auch noch hinzukommen und uns beide hübsch in
der Ordnung bleiben; denn Ihr wißt ja wohl, daß Euch mein Schmeer nur nützlich ist, wenn er auf rechtliche Weise erwachsen!« »Ei du
Schwätzer! rief Pineiß erbost, willst Du mich belehren? Zeig' her, wie weit bist
Du denn eigentlich gediehen, Du Müs- siggänger? Vielleicht kann man Dich doch
bald abthun!« Er griff dem Kätzchen an den Bauch; allein dieses fühlte sich
dadurch unangenehm gekitzelt und hieb dem Hexenmeister einen scharfen Kratz über
die Hand. Diesen betrachtete Pineiß aufmerksam, dann sprach er: »Stehen wir so
miteinander, du Bestie? Wohlan, so erkläre ich Dich hiermit feierlich, kraft des
Vertrages, für fett genug! Ich begnüge mich mit dem Ergebniß und werde mich
desselben zu versichern wissen! In fünf Tagen ist der Mond voll, und bis dahin
magst Du Dich noch Deines Lebens erfreuen, wie es geschrieben steht, und nicht
eine Minute länger!« Damit kehrte er ihm den Rücken und überließ ihn seinen
Gedanken.
Diese waren jetzt sehr bedenklich und düster; so war denn die Stunde doch nahe,
wo der gute Spiegel seine Haut lassen sollte? Und war mit aller Klugheit gar
nichts mehr zu machen? Seufzend stieg er auf das hohe Dach, dessen
30 * Firste dunkel in den schönen Herbstabendhimmel emporragten.
Da ging der Mond über der Stadt auf und warf seinen Schein auf die schwarzen
bemoosten Hohlziegel des alten Daches, ein lieblicher Gesang tönte in Spiegels
Ohren und eine schneeweiße Kätzin wandelte glänzend über einen benachbarten
First weg. Sogleich vergaß Spiegel die Todesaussichten, in welchen er lebte, und
erwiederte mit seinem schönsten Katerliede den Lobgesang der Schönen. Er eilte
ihr entgegen und war bald im hitzigen Gefecht mit drei fremden Katern begriffen,
die er muthig und wild in die Flucht schlug. Dann machte er der Dame feurig und
ergeben den Hof und brachte Tag und Nacht bei ihr zu, ohne an den Pineiß zu
denken oder im Hause sich sehen zu lasten. Er sang wie eine Nachtigall die
schönen Mondnächte hindurch, sagte hinter der weißen Geliebten her über die
Dächer, durch die Gärten, und rollte mehr als einmal im heftigen Minnespiel oder
im Kampfe mit den Rivalen über hohe Dächer hinunter und fiel auf die Straße;
aber nur um fich aufzuraffen, das Fell zu schütteln und die wilde Jagd seiner Leidenschaften von Neuem anzuheben. Stille und laute
Stunden, süße Gefühle und zorniger Streit, unmuthiges Zwiegespräch, witziger
Gedankenaustausch, Ränke und Schwänke der Liebe und Eifersucht, Liebkosungen und
Raufereien, die Gewalt des Glückes und die Leiden des Unsterns ließen den
verliebten Spiegel nicht zu sich selbst kommen, und als die Scheibe des Mondes
voll ward, war er von allen diesen Aufregungen und Leidenschaften so
heruntergekommen, daß er jämmerlicher, magerer und zerzauster aussah, als je. Im
selben Augenblicke rief ihm Pineiß aus einem Dachthürmchen: »Spiegelchen, Spie-
gelchen! Wo bist Du? Komm doch ein Bischen nach Häufele
Da schied Spiegel von der weißen Freundin, welche zufrieden und kühl miauend
ihrer Wege ging und wandte sich stolz seinem Henker zu. Dieser stieg in die
Küche hinunter, raschelte mit dem Contract uud sagte: "Komm Spiegelchen, komm
Spiegelchen!« und Spiegel folgte ihm und setzte sich in der Hexenküche trotzig
vor den Meister hin in'all' seiner Magerkeit und Zer- zaustheit. Als Herr Pineiß
erblickte, wie er so schmählich um seinen Gewinn gebracht war,
sprang er wie besessen in die Höhe und schrie wüthend: i?Was seh' ich? Du
Schelm, Du gewissenloser Spitzbube! Was hast Du mir gethan?^ Außer sich vor Zorn
griff er nach einem Besen und wollte Spiegele,'« schlagen; aber dieser krümmte
den schwarzen Rücken, ließ die Haare empor starren, daß ein fahler Schein
darüber knisterte, legte die Ohren zurück, prustete und funkelte den Alten so
grimmig an, daß dieser voll Furcht und Entsetzen drei Schritt zurück sprang. Er
begann zu fürchten, daß er einen Herenmcister vor sich habe, welcher ihn foppe
und mehr könne, als er selbst. Ungewiß und kleinlaut sagte er: "Ist der ehrsame
Herr Spiegel vielleicht vom Handwerk? Sollte ein gelehrter Zaubermeister beliebt
haben, sich in dero äußere Gestalt zu verkleiden, da er nach Gefallen über sein
Leibliches gebieten und genau so beleibt werden kann, als es ihm angenehm dünkt,
nicht zu wenig und nicht zu viel, oder unversehens so mager wird, wie ein
Gerippe, um dem Tode zu entschlüpfen?^
Spiegel beruhigte sich wieder und sprach ehrlich: „Nein, ich bin kein Zauberer!
Es ist
allein die süße Gewalt der Leidenschaft, welche mich so heruntergebracht und zu
meinem Vergnügen Euer Fett dahin genommen hat. Wenn wir übrigens jetzt unser
Geschäft von Neuem beginnen wollen, so will ich tapfer dabei sein und drein
beißen! Setzt mir nur eine recht schöne und große Bratwurst vor, denn ich bin
ganz erschöpft und hungrig!u Da packte Pi- neiß den Spiegel wüthend am Kragen,
sperrte ihn in den Gänsestall, der immer leer war, und schrie: »Da sieh zu, ob
Dir Deine süße Gewalt der Leidenschaft noch einmal heraushilft und ob sie
stärker ist, als die Gewalt der Hexerei und meines rechtlichen Vertrages! Jetzt
heißt's: Vogel friß und stirbt Sogleich briet er eine lange Wurst, die so lecker
duftete, daß er sich nicht enthalten konnte, selbst ein Bischen an beiden
Zipfeln zu schlecken, ehe er sie durch das Gitter steckte. Spiegel fraß sie von
vorn bis hinten auf, und indem er sich behaglich den Schnurrbart putzte und den
Pelz leckte, sagte er zu sich selber: "Meiner Seel! es ist doch eine schöne
Sache um die Liebe! Die hat mich für diesmal wieder aus der Schlinge gezogen.
Jetzt will ich mich ein wenig ausruhen und trachten, daß ich durch
Beschaulichkeit und gute Nahrung wieder zu vernünftigen Gedanken komme! Alles
hat seine Zeit! Heute ein Bischen Leidenschaft, morgen ein wenig Besonnenheit
und Ruhe, ist jedes in seiner Weise gut. Dies Gefängniß ist gar nicht so übel
und es läßt sich gewiß etwas Ersprießliches darin ausdenken!^ Pineiß aber nahm
sich nun zusammen und bereitete alle Tage mit aller seiner Kunst solche
Leckerbissen, und in solch reizender Abwechslung und Zuträg- lichkeit, daß der
gefangene Spiegel denselben nicht widerstehen konnte; denn Pineißens Verrath an
freiwilligem und rechtmäßigem Katzen- schmeer nahm alle Tage mehr ab und drohte
nächstens ganz auszugehen, und dann war der Herer ohne dies Hauptmittel ein
geschlagener Mann. Aber der gute Hexenmeister nährte mit dem Leibe Spiegels
dessen Geist immer wieder mit, und es war durchaus nicht von dieser unbequemen
Zuthat loszukommen, weshalb auch seine Hexerei sich hier als lückenhaft erwies.
Als Spiegel in seinem Käfig ihm endlich fett genug dünkte, säumte er nicht
länger, son- dern stellte vor den Augen des aufmerksamen Katers
alle Geschirre zurecht und machte ein Helles Feuer auf dem Hecrd, um den lang
ersehnten Gewinn auszukochen. Dann wetzte er ein großes Messer, öffnete den
Kerker, zog Spie- gelchen hervor, nachdem er die Küchenthüre wohl verschlossen,
und sagte wohlgemuth: "Komm, Du Sapperlöter! wir wollen Dir den Kopf abschneiden
vor der Hand, und dann das Fell abziehen! Dieses wird eine warme Mütze für mich
geben, woran ich Einfältiger noch gar nicht gedacht habe! Oder soll ich Dir erst
das Fell abziehen und dann den Kopf abschneiden?« "Nein, wenn es Euch gefällig
ist, sagte Spiegel demüthig, lieber zuerst den Kopf abschneiden!« "Hast Recht,
Du armer Kerl!« sagte Herr Pi- neiß, „wir wollen Dich nicht unnütz quälen! Alles
was Recht ist!« "Dies ist ein wahres Wort!« sagte Spiegel mit einem erbärmlichen
Seufzer und legte das Haupt ergebungsvoll auf die Seite, "0 hätt' ich doch
jederzeit gethan, was Recht ist, und nicht eine so wichtige Sache leichtsinnig
unterlassen, so könnte ich jetzt mit besserem Gewissen sterben, denn ich sterbe
gern; aber ein Unrecht erschwert mir den sonst so willkommenen
Tod, denn was bietet mir das Leben? Nichts als Furcht, Sorge und Armuth und zur
Abwechslung einen Sturm verzehrender Leidenschaft, die noch schlimmer ist, als
die stille zitternde Furcht!« "Ei, welches Unrecht, welche wichtige Sachen
fragte Pineiß neugierig. "Ach, was hilft das Reden jetzt noch, seufzte Spiegel,
geschehen ist geschehen und jetzt ist Reue zu spät!« "Siehst Du Sappermenter,
was für ein Sünder Du bist?« sagte Pineiß, „und wie wohl Du Deinen Tod
verdienst? Aber was Tausend hast Du denn angestellt? Hast Du mir vielleicht
etwas entwendet, entfremdet, verdorben? Hast Du mir ein himmelschreiendes
Unrecht gethan, von dem ich noch gar nichts weiß, ahne, vermuthe, Du Satan? Das
sind mir schöne Geschichten! Gut, daß ich noch dahinter komme! Auf der Stelle
beichte mir, oder ich schinde und siede Dich lebendig aus? Wirst Du sprechen
oder nicht?« „Ach nein!« sagte Spiegel, "wegen Euch habe ich mir nichts
vorzuwerfen. Es betrifft die zehntausend Goldgülden meiner seligen Gebieterin —
aber was hilft Reden! — Zwar — wenn ich bedenke und Euch ansehe,
so möchte es vielleicht doch nicht ganz zu spät sein — wenn ich Euch betrachte,
so sehe ich, daß Ihr ein noch ganz schöner und rüstiger Mann seid, in den besten
Jahren — sagt doch, Herr Pineiß! Habt Ihr noch nie etwa den Wunsch verspürt,
Euch zu verehlichen, ehrbar und vortheilhaft? Aber was schwatze ich! Wie wird
ein so kluger und kunstreicher Mann auf dergleichen müffige Gedanken kommen! Wie
wird ein so nützlich beschäftigter Meister an thörichte Weiber denken! Zwar
allerdings hat auch die Schlimmste noch irgend was an sich, was etwa nützlich
für einen Mann ist, das ist nicht abzuleugnen! Und wenn sie nur halbwegs was
taugt, so ist eine gute Hausfrau etwa weiß am Leibe, sorgfältig im Sinne,
zuthulich von Sitten, treu von Herzen, sparsam im Verwalten, aber
verschwenderisch in der Pflege ihres Mannes, kurzweilig in Worten und angenehm
in ihren Thaten, einschmeichelnd in ihren Handlungen! Sie küßt den Mann mit
ihrem Munde und streichelt ihm den Bart, sie umschließt ihn mit ihren Armen und
kraut ihm hinter den Ohren, wie er es wünscht, kurz, sie thut
tausend Dinge, die nicht zu verwerfen sind. Sie hält sich ihm ganz nah zu oder
in bescheidener Entfernung, je nach seiner Stimmung, und wenn er seinen
Geschäften nachgeht, so stört sie ihn nicht, sondern verbreitet unterdessen sein
Lob in und außer dem Hause; denn sie läßt nichts an ihn kommen und rühmt Alles,
was an ihm ist! Aber das Unmuthigste ist die wunderbare Beschaffenheit ihres
zarten leiblichen Daseins, welches die Natur so verschieden gemacht hat von
unserm Wesen bei anscheinender Menschenähnlichkeit, daß es ein fortwährendes
Meerwunder in einer glück- haften Ehe bewirkt und eigentlich die allerdurch-
triebenste Hererei in sich birgt! Doch was schwatze ich da wie ein Thor an der
Schwelle des Todes! Wie wird ein weiser Mann auf dergleichen Eitelkeiten sein
Augenmerk richten! Verzeiht, Herr Pineiß, und schneidet mir den Kopf ab!»
Pineiß aber rief heftig: »So halt doch endlich inne, Du Schwätzer! und sage mir:
Wo ist eine Solche und hat sie zehntausend Gvld- gülden?»
"Zehntausend Goldgülden?» sagte Spiegel. „Nun ja, rief Pineiß
ungeduldig, sprachest Du nicht eben erst davon?«
„Nein, antwortete Jener, das ist eine andere Sache! Die liegen vergraben an
einem Orte!«
„Und was thun sie da, wem gehören sie?« schrie Pineiß.
„Niemand gehören sie, das ist eben meine Gewissensbürde, doch ich hätte sie
unterbringen sollen! Eigentlich gehören sie Jenem, der eine solche Person
heirathet, wie ich eben beschrieben habe. Aber wie soll man drei solche Dinge
zusammenbringen in dieser gottlosen Stadt. Zehntausend Goldgülden, eine weiße,
feine und gute Hausfrau, und einen weisen rechtschaffenen Mann? Daher ist
eigentlich meine Sünde nicht allzugroß, denn der Auftrag war zu schwer für eine
arme Katze!«
„Wenn Du jetzt, rief Pineiß, nicht bei der Sache bleibst, und sie verständlich
der Ordnung nach darthust, so schneide ich Dir vorläufig den Schwanz und beide
Ohren ab! Jetzt fang an!«
„Da Ihr es befehlt, so muß ich die Sache wohl erzählen,« sagte Spiegel und
setzte sich ge- lassen auf seine Hinterfüße, »obgleich dieser
Aufschub meine Leiden nur vergrößert!« Pineiß steckte das scharfe Messer
zwischen sich und Spiegel in die Diele und setzte sich neugierig auf ein
Fäßchen, um zuzuhören, und Spiegel fuhr fort:
»Ihr wisset doch, Herr Pineiß, daß die brave Person, meine selige Meisterin,
unverhci- rathet gestorben ist als eine alte Jungfer, die in aller Stille viel
Gutes gethan und Niemanden zuwider gelebt hat. Aber nicht immer war es um sie
her so still und ruhig zugegangen, und obgleich sie niemals von bösem Gemüth
gewesen, so hatte sie doch einst viel Leid und Schaden angerichtet; denn in
ihrer Jugend war sie das schönste Fräulein weit und breit, und was von jungen
Herren und lecken Gesellen in der Gegend war oder des Weges kam, verliebte sich
in sie und wollte sie durchaus heirathen. Nun hatte sie wohl große Lust, zu
heirathen, und einen hübschen, ehrenfesten und klugen Mann zu nehmen und sie
hatte die Auswahl, da sich Einheimische und Fremde um sie stritten und einander
mehr als ein Mal die Degen in den Leib rannten, um den Vorrang zu
gewinnen. Es bewarben sich um sie und versammelten sich kühne und verzagte,
listige und treuherzige, reiche und arme Freier, solche mit einem guten und
anständigen Geschäft, und solche, welche als Kavaliere zierlich von ihren Renten
lebten; dieser mit diesen, jener mit jenen Vorzügen, beredt oder schweigsam, der
Eine munter und liebenswürdig, und ein Anderer schien es mehr in sich zu haben,
wenn er auch etwas einfältig aussah; kurz, das Fräulein hatte eine so
vollkommene Auswahl, wie es ein mannbares Frauenzimmer sich nur wünschen kann.
Allein sie besaß außer ihrer Schönheit ein schönes Vermögen von vielen tausend
Goldgülden und diese waren die Ursache, daß sie nie dazu kam, eine Wahl treffen
und einen Mann nehmen zu können, denn sie verwaltete ihr Gut mit trefflicher
Umsicht und Klugheit und legte einen großen Werth auf dasselbe, und da nun der
Mensch immer von seinen eigenen Neigungen aus andere beurtheilt, so geschah es,
daß sie, sobald sich ihr ein ach- tungswerther Freier genähert und ihr halbwegs
gefiel, alsobald sich einbildete, derselbe begehre
48 «
sie nur um ihres Gutes willen. War einer reich, so glaubte sie, er würde sie
doch nicht begehren, wenn sie nicht auch reich wäre, und von den Unbemittelten
nahm sie vollends als gewiß an, daß sie nur ihre Goldgülden im Auge hätten und
sich daran gedächten gütlich zu thun, und das arme Fräulein, welches doch selbst
so große Dinge auf den irdischen Besitz hielt, war nicht im Stande, diese Liebe
zu Geld und
Gut an ihren Freiern von der Liebe zu ihr
selbst zu unterscheiden, oder, wenn sie wirklich etwa vorhanden war, dieselbe
nachzusehen und zu verzeihen. Mehrere Male war sie schon so gut wie verlobt und
ihr Herz klopfte endlich
stärker; aber plötzlich glaubte sie aus irgend einem Zuge zu entnehmen, daß sie
verrathen sei und man einzig an ihr Vermögen denke, und sie brach unverweilt die
Geschichte entzwei und zog sich voll Schmerzen, aber unerbittlich zurück.
Sie prüfte Alle, welche ihr nicht mißfielen, auf hundert Arten, so daß eine
große Gewandtheit dazu gehörte, nicht in die Falle zu gehen, und zuletzt Keiner
mehr sich mit einiger Hoffnung nähern konnte, als wer ein durchaus geriebener
und verstellter Mensch war, so daß schon aus diesen Gründen
endlich die Wahl wirklich schwer wurde, weil solche Menschen dann zuletzt doch
eine unheimliche Unruhe erwecken und die peinlichste Ungewißheit bei einer
Schönen zurücklassen, je geriebener und geschickter sie sind. Das Hauptmittel,
ihre Anbeter zu prüfen, war, daß sie ihre Uneigennützigkeit auf die Probe
stellte und sie alle Tage zu großen Ausgaben, zu reichen Geschenken und zu
wohlthätigen Handlungen veranlaßte. Aber sie mochten es machen, wie sie wollten,
so trafen sie doch nie das Rechte; denn zeigten sie sich freigebig und
aufopfernd, gaben sie glänzende Feste, brachten sie ihr Geschenke dar, oder
anvertrauten ihr beträchtliche Gelder für die Armen, so sagte sie plötzlich,
dies Alles geschehe nur, um mit einem Würmchen den Lachs zu fangen, oder mit der
Wurst nach der Speckseite zu werfen, wie man zu sagen pflegt. Und sie vergabte
die Geschenke sowohl wie das anvertraute Geld an Klöster und milde Stiftungen
und speisete die Armen; aber die betrogenen Freier wies sie unbarmherzig ab.
Bezeigten sich dieselben aber zurückhaltend oder gar knauserig,
Keller, die Leute von Seldwyla. 31 so war der Stab sogleich über
sie gebrochen, da sie das noch viel übler nahm und daran eine schnöde und nackte
Rücksichtslosigkeit und Eigenliebe zu erkennen glaubte. So kam es, daß sie,
welche ein reines und nur ihrer Person hingegebenes Herz suchte, zuletzt von
lauter verstellten, listigen und eigensüchtigen Freiersleuten umgeben war, aus
denen sie nie klug wurde und die ihr das Leben verbitterten. Eines Tages fühlte
sie sich so mißmuthig und trostlos, daß sie ihren ganzen Hof aus dem Hause wies,
dasselbe zuschloß und nach Mailand verreiste, wo sie eine Base hatte. Als sie
über den St. Gotthard ritt auf einem Eselein, war ihre Gesinnung so schwarz und
schaurig, wie das wilde Gestein, das sich aus den Abgründen empor thürmte, und
sie fühlte die heftigste Versuchung, sich von der Teufelsbrücke in die tobenden
Gewässer der Reuß hinabzustürzen. Nur mit der größten Mühe gelang es den zwei
Mägden, die sie bei sich hatte, und die ich selbst noch gekannt habe, welche
aber nun schon lange todt sind, und dem Führer, sie zu beruhigen und von der
finstern Anwandlung abzubringen. Doch langte sie bleich und
traurig in dem schönen Land Italien an, und so blau dort der Himmel war, wollten
sich ihre dunklen Gedanken doch nicht aufhellen. Aber als sie einige Tage bei
ihrer Base verweilt, sollte unverhofft eine andere Melodie ertönen und ein
Frühlingsanfang in ihr aufgehen, von dem sie bis dato noch nicht viel gewußt.
Denn es kam ein junger Landsmann in das Haus der Base, der ihr gleich beim
ersten Anblick so wohl gefiel, daß man wohl sagen kann, sie verliebte sich jetzt
von selbst und zum ersten Mal. Es war ein schöner Jüngling, von guter Erziehung
und edlem Benehmen, nicht arm und nicht reich zur Zeit, denn er hatte nichts als
zehntausend Goldgulden, welche er von seinen verstorbenen Ältern ererbt und
womit er, da er die Kaufmannschaft erlernt hatte, in Mailand einen Handel mit
Seide begründen wollte, denn er war unternehmend und klar von Gedanken und hatte
eine glückliche Hand, wie es unbefangene und unschuldige Leute oft haben; denn
auch dies war der junge Mann; er schien, so wohlgelehrt er war, doch so arglos
und unschuldig wie ein Kind. Und obgleich er ein
31 * Kaufmann war und ein so unbefangenes Gemüth, was schon
zusammen eine köstliche Seltenheit ist, so war er doch fest und ritterlich in
seiner Haltung und trug sein Schwert so keck zur Seite, wie nur ein geübter
Kriegsmann es tragen kann. Dies Alles, sowie seine frische Schönheit und Jugend
bezwängen das Herz des Fräuleins dermaßen, daß sie kaum an sich halten konnte
und ihn mit großer Freundlichkeit begegnete. Sie wurde wieder heiter und wenn
sie dazwischen auch traurig war, so geschah dies in dem Wechsel der Liebesfurcht
und Hoffnung, welche immerhin ein edleres und angenehmeres Gefühl war, als jene
peinliche Verlegenheit in der Wahl, welche sie früher unter den vielen Freiern
empfunden. Jetzt kannte sie nur eine Mühe und Besorgniß, diejenige nämlich, dem
schönen und guten Jüngling zu gefallen, und je schöner sie selbst war, desto
demüthigcr und unsicherer war sie jetzt, da sie zum ersten Male eine wahre
Neigung gefaßt hatte. Aber auch der junge Kaufmann hatte noch nie eine solche
Schönheit gesehen, oder war wenigstens noch keiner so nahe gewesen und von ihr
so freund- lich und artig behandelt worden. Da sie nun, wie
gesagt, nicht nur schön, sondern auch gut von Herzen und fein von Sitten war, so
ist es nicht zu verwundern, daß der offene und frische Jüngling, dessen Herz
noch ganz frei und unerfahren war, sich ebenfalls in sie verliebte und das mit
aller Kraft und Nückhaltlosigkeit, die in seiner ganzen Natur lag. Aber
vielleicht hätte das nie Jemand erfahren, wenn er in seiner Einfalt nicht
aufgemuntert worden wäre durch des Fräuleins Zuthulichkeit, welche er mit
heimlichem Zittern und Zagen für eine Erwiederung seiner Liebe zu halten wagte,
da er selber keine Verstellung kannte. Doch bezwäng er sich einige Wochen und
glaubte die Sache zu verheimlichen; aber Jeder sah ihm von Weitem an, daß er zum
Sterben verliebt war, und wenn er irgend in die Nähe des Fräuleins gerieth oder
sie nur genannt wurde, so sah man auch gleich, in wen er verliebt war. Er war
aber nicht lange verliebt, sondern begann wirklich zu lieben mit aller
Heftigkeit seiner Jugend, so daß ihm das Fräulein das Höchste und Beste auf der
Welt wurde, an welches er ein für allemal das Heil und den ganzen
Werth seiner eigenen Person setzte. Dies gefiel ihr über die Maßen wohl; denn es
war in allem, was er sagte oder that, eine andere Art, als sie bislang erfahren
und dies bestärkte und rührte sie so tief, daß sie nun gleichermaßen der
stärksten Liebe anheim fiel und nun nicht mehr von einer Wahl für sie die Rede
war. Jedermann sah diese Geschichte spielen und es wurde offen darüber
gesprochen und vielfach gescherzt. Dem Fräulein war es höchlich wohl dabei, und
indem ihr das Herz vor banger Erwartung zerspringen wollte, half sie den Roman
von ihrer Seite doch ein wenig verwickeln und ausspinnen, um ihn recht
auszukosten und zu genießen. Denn der junge Mann beging in seiner Verwirrung so
köstliche und kindliche Dinge, dergleichen sie niemals erfahren, und für sie ein
Mal schmeichelhafter und angenehmer waren, als das andere. Er aber in seiner
Gradheit und Ehrlichkeit konnte es nicht lange so aushalten; da Jeder darauf
anspielte und sich einen Scherz erlaubte, so schien es ihm eine Komödie zu
werden, als deren Gegenstand ihm seine Geliebte viel zu gut und heilig war, und was ihr ausnehmend behagte, das machte ihn bekümmert, ungewiß
und verlegen um sie selber. Auch glaubte er sie zu beleidigen und zu
hintergehen, wenn er da lange eine so heftige Leidenschaft zu ihr herumtrüge und
unaufhörlich an sie denke, ohne daß sie eine Ahnung davon habe, was doch gar
nicht schicklich sei und ihm selber nicht recht! Daher sah man ihm eines Morgens
von Weitem an, daß er etwas vorhatte und er bekannte ihr seine Liebe in einigen
Worten, um es Ein Mal und nie zum zweiten Mal zu sagen, wenn er nicht glücklich
sein sollte. Denn er war nicht gewohnt zu denken, daß ein solches schönes und
wohlbcschaffenes Fräulein etwa nicht ihre wahre Meinung sagen und nicht auch
gleich zum ersten Mal ihr unwiderrufliches Ja oder Nein erwiedern sollte. Er war
eben so zart gesinnt, als heftig verliebt, eben so spröde als kindlich und eben
so stolz als unbefangen, und bei ihm galt es gleich auf Tod und Leben, auf Ja
oder Nein, Schlag um Schlag. In demselben Augenblicke aber, in welchem das
Fräulein sein Geständniß anhörte, das sie so sehnlich erwartet, überfiel sie ihr
altes Mißtrauen und es fiel ihr zur unglücklichen Stunde ein, daß
ihr Liebhaber ein Kaufmann sei, welcher am Ende nur ihr Vermögen zu erlangen
wünsche, um seine Unternehmungen zu erweitern. Wenn er daneben auch ein wenig in
ihre Person verliebt sein sollte, so wäre ja das bei ihrer Schönheit kein
sonderliches Verdienst und nur um so empörender, wenn sie eine bloße wünsch-
bare Zugabe zu ihrem Golde vorstellen sollte. Anstatt ihm daher ihre Gegenliebe
zu gestehen und ihn wohl aufzunehmen, wie sie am liebsten gethan hätte, ersann
sie auf der Stelle eine neue List, um seine Hingebung zu prüfen, und nahm eine
ernste, fast traurige Miene an, indem sie ihm vertraute, wie sie bereits mit
einem jungen Mann verlobt sei in ihrer Heimat, welchen sie auf das
Allerherzlichste liebe. Sie habe ihm das schon mehrmals mittheilen wollen, da
sie ihn, den Kaufmann nämlich, als Freund sehr lieb habe, wie er wohl habe sehen
können aus ihrem Benehmen, und sie vertraue ihm wie einem Bruder. Aber die
ungeschickten Scherze, welche in der Gesellschaft aufgekommen seien, hätten ihr
eine vertrauliche Unterhaltung erschwert; da er nun aber selbst
sie mit seinem braven und edlen Herzen überrascht und dasselbe vor ihr
aufgethan, so könne sie ihm für seine Neigung nicht besser danken, als in dem
sie ihm eben so offen sich anvertraue. Ja, fuhr sie fort, nur demjenigen könne
sie angehören, welchen sie einmal erwählt habe, und nie würde es ihr möglich
sein, ihr Herz einem anderen Mannesbilde zuzuwenden, dies stehe mit goldenem
Feuer in ihrer Seele geschrieben und der liebe Mann wisse selbst nicht, wie lieb
er ihr sei, so wohl er sie auch kenne! Aber ein trüber Unstern hätte sie
betroffen; ihr Bräutigam sei ein Kaufmann, aber so arm wie eine Maus; darum
hätten sie den Plan gefaßt, daß er aus den Mitteln der Braut einen Handel
begründen solle; der Anfang sei gemacht und Alles auf das Beste eingeleitet, die
Hochzeit sollte in diesen Tagen gefeiert werden, da wollte ein unverhofftes
Mißgeschick, daß ihr ganzes Vermögen plötzlich ihr angetastet und abgestritten
wurde und vielleicht für immer verloren gehe, während der arme Bräutigam in
nächster Zeit seine ersten Zahlungen zu leisten habe an die Mailänder
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und Venetl'anischen Kaufleute, worauf sein ganzer Credit, sein Gedeihen und
seine Ehre beruhe, nicht zu sprechen von ihrer Vereinigung und glücklichen
Hochzeit! Sie sei in der Eile nach Mailand gekommen, wo sie begüterte Verwandte
habe, um da Mittel und Auswege zu finden; aber zu einer schlimmen Stunde sei sie
gekommen; denn nichts wolle sich fügen und schicken, während der Tag immer näher
rücke, und wenn sie ihrem Geliebten nicht helfen könne, so müsse sie sterben vor
Traurigkeit. Denn es sei der liebste und beste Mensch, den man sich denken
könne, und würde sicherlich ein großer Kaufherr werden, wenn ihm geholfen würde,
und sie kenne kein anderes Glück mehr auf Erden, als dann dessen Gemahlin zu
sein! Als sie diese Erzählung beendet, hatte sich der arme schöne Jüngling schon
lange entfärbt und war bleich wie ein weißes Tuch. Aber er ließ keinen Laut der
Klage vernehmen und sprach nicht ein Sterbenswörtchen mehr von sich selbst und
von seiner Liebe, sondern fragte bloß traurig, auf wie viel sich denn die
eingegangenen Verpflichtungen des glücklich unglücklichen Bräutigams
beliefen? Auf zehn tausend Goldgulden! antwortete sie noch viel trauriger. Der
junge traurige Kaufherr stand auf, ermähnte das Fräulein, guten Muthes zu sein,
da sich gewiß ein Ausweg zeigen werde, und entfernte sich von ihr, ohne daß er
sie anzusehen wagte, so sehr fühlte er sich betroffen und beschämt, daß er sein
Auge auf eine Dame geworfen, die so treu und leidenschaftlich einen Andern
liebte. Denn der Arme glaubte jedes Wort von ihrer Erzählung wie ein Evangelium.
Dann begab er sich ohne Säumniß zu seinen Handelsfreunden und brachte sie durch
Bitten und Einbüßung einer gewissen Summe dahin, seine Bestellungen und Einkäufe
wieder rückgängig zu machen, welche er selbst in diesen Tagen auch grad mit
seinen zehntausend Goldgulden bezahlten sollte und worauf er seine ganze
Laufbahn bauete, und ehe sechs Stunden verflossen waren, erschien er wieder bei
dem Fräulein mit seinem ganzen Besitzthum und bat sie um Gotteswillen diese
Aushülfe von ihm annehmen zu wollen. Ihre Augen funkelten vor freudiger
Überraschung und ihre Brust pochte wie ein Hammerwerk; sie fragte ihn, wo er denn dies Capital hergenommen, und er erwiederte, er habe es auf
seinen guten Namen geliehen und würde es, da seine Geschäfte sich glücklich
wendeten, ohne Unbequemlichkeit zurückerstatten können. Sie sah ihm deutlich an,
daß er log und daß es sein einziges Vermögen und ganze Hoffnung war, welche er
ihrem Glücke opferte; doch stellte sie sich, als glaubte sie seinen Worten. Sie
ließ ihren freudigen Empfindungen freien Lauf und that grausamer Weise, als ob
diese dem Glücke gälten, nun doch ihren Erwählten retten und heirathen zu
dürfen, und sie konnte nicht Worte finden, ihre Dankbarkeit auszudrücken. Doch
plötzlich besann sie sich und erklärte, nur unter Einer Bedingung die
großmüthige That annehmen zu können, da sonst Alles Zureden unnütz wäre.
Befragt, worin diese Bedingung bestehe, verlangte sie das heilige Versprechen,
daß er an einem bestimmten Tage sich bei ihr einfinden wolle, um ihrer. Hochzeit
beizuwohnen und der beste Freund und Gönner ihres zukünftigen Ehegemahls zu
werden, sowie der treuste Freund, Schützer und Berather ihrer selbst. Erröthcnd
bat er sie, von diesem Be- zehren abzustehen; aber umsonst wandte
er alle Gründe an, um sie davon abzubringen, umsonst stellte er ihr vor, daß
seine Angelegenheiten jetzt nicht erlaubten, nach der Schweiz zurückzureisen,
und daß er von einem solchen Abstecher einen erheblichen Schaden erleiden würde.
Sie beharrte entschieden auf ihrem Verlangen und schob ihm sogar sein Gold
wieder zu, da er sich nicht dazu verstehen wollte. Endlich versprach er es, aber
er mußte ihr die Hand darauf geben und eS ihr bei seiner Ehre und Seligkeit
beschwören. Sie bezeichnete ihm genau den Tag und die Stunde, wann er eintreffen
solle und alles dies mußte er bei seinem Christenglauben und bei seiner
Seligkeit beschwören. Erst dann nahm sie sein Opfer an und ließ den Schatz
vergnügt in ihre Schlafkammer tragen, wo sie ihn eigenhändig in ihrer Reisetruhe
verschloß und den Schlüssel in den Busen steckte. Nun hielt sie sich nicht
länger in Mailand auf, sondern reiste eben so fröhlich über den Sankt Gotthard
zurück, als schwermüthig sie hergekommen war. Auf der Teuselsbrücke, wo sie
hatte hinabspringen wollen, lachte sie wie eine Unkluge und warf
mit Hellem Jauchzen ihrer wohlklingenden Stimme einen Granatblüthenstrauß in die
Neust, welchen sie vor der Brust trug, kurz ihre Lust war nicht zu bändigen, und
es war die fröhlichste Reise, die je gethan wurde. Heimgekehrt, öffnete und
lüftete sie ihr Haus von oben bis unten und schmückte es, als ob sie einen
Prinzen erwartete. Aber zu Häupten ihres Bettes legte sie den Sack mit den
zehntausend Goldgulden und legte des Nachts den Kopf so glückselig auf den
harten Klumpen und schlief darauf, wie wenn es das weichste Flaumkiffen gewesen
wäre. Kaum konnte sie den verabredeten Tag erwarten, wo sie ihn sicher kommen
sah, da sie wußte, daß er nicht das einfachste Versprechen, geschweige denn
einen Schwur brechen würde, und wenn es ihm um das Leben ginge. Aber der Tag
brach an und der Geliebte erschien nicht und es vergingen viele Tage und Wochen,
ohne daß er von sich hören ließ. Da fing sie an an allen Gliedern zu zittern und
verfiel in die größte Angst und Bangigkeit; sie schickte Briefe über Briese nach
Mailand, aber Niemand wußte ihr zu sagen, wo er geblieben sei.
Endlich aber stellte es sich durch einen Zufall heraus, daß der junge Kaufherr
aus einem blutrotsten Stück Seidendamast, welches er von seinem Handelsanfang
her im Haus liegen und bereits bezahlt hatte, sich ein Kriegskleid hatte
anfertigen lassen und unter die Schweizer gegangen war, welche damals eben im
Solde des Königs Franz von Frankreich den Mailändischen Krieg mitftritten. Nach
der Schlacht bei Pavia, in welcher so viele Schweizer das Leben verloren, wurde
er auf einem Haufen erschlagener Spaniolen liegend gefunden von vielen
tödtlichen Wunden zerrissen und sein rothes Sei- dengewand von unten bis oben
zerschlitzt und zersetzt. Eh' er den Geist ausgab, sagte er einem neben ihm
liegenden Seldwyler, der minder übel zugerichtet war, folgende Botschaft in'ö
Gedächtniß und bat ihn, dieselbe auszurichten, wenn er mit dem Leben davon käme!
»Liebstes Fräulein! Obgleich ich Euch bei meiner Ehre, bei meinem
Christenglauben und bei meiner Seligkeit geschworen habe, auf Euerer Hochzeit zu
erscheinen, so ist es mir dennoch nicht möglich gewesen, Euch nochmals zu sehen
und einen Andern des höchsten Glückes theilhaftig zu erblicken,
das es für mich geben könnte. Dieses habe ich erst in Euerer Abwesenheit
verspürt und habe vorher nicht gewußt, welch' eine strenge und unheimliche Sache
es ist um solche Liebe, wie ich zu Euch habe, sonst würde ich mich zweifelsohne
besser davor gehütet haben. Da es aber einmal so ist, so wollte ich lieber
meiner weltlichen Ehre und meiner geistlichen Seligkeit verloren und in die
ewige Verdammniß eingehen als ein Meineidiger, denn noch einmal in Euerer Nähe
erscheinen mit einem Feuer in der Brust, welches stärker und unauslöschlicher
ist, als das Höllenfeuer, und mich dieses kaum wird verspüren lassen. Betet
nicht etwa für mich, schönstes Fräulein, denn ich kann und werde nie selig
werden ohne Euch, sei es hier oder dort, und somit lebt glücklich und seid
gegrüßt!^ So hatte in dieser Schlacht, nach welcher König Franziskus sagte:
„Alles verloren, außer der Ehrest der unglückliche Liebhaber alles verloren, die
Hoffnung, die Ehre, das Leben und die ewige Seligkeit, nur die Liebe nicht, die
ihn verzehrte. Der Seldwyler kam glücklich davon, und sobald er
sich in etwas erholt und außer Gefahr sah, schrieb er die Worte des Umgekommenen
getreu auf seine Schreibtafel, um sie nicht zu vergessen, reis'te nach Hause,
meldete sich bei dem unglücklichen Fräulein und las ihr die Botschaft so steif
und kriegerisch vor, wie er zu thun gewohnt war, wenn er sonst die Mannschaft
seines Fähnleins verlas; denn es war ein Feldlieutcnant. Das Fräulein aber
zerraufte sich die Haare, zerriß ihre Kleider und begann so laut zu schreien und
zu weinen, daß man es die Straße auf und nieder hörte und die Leute
zusammenliefen. Sie schleppte wie wahnsinnig die zehntausend Goldgulden herbei,
zerstreute sie auf dem Boden, warf sich der Länge nach darauf hin und küßte die
glänzenden Goldstücke. Ganz von Sinnen, suchte sie den umherrollenden Schatz
zusammen zu raffen und zu umarmen, als ob der verlorene Geliebte darin zugegen
wäre. Sie lag Tag und Nacht auf dem Golde und wollte weder Speise noch Trank zu
sich nehmen; unaufhörlich liebkoste und küßte sie das kalte Metall, bis sie
mitten in einer Nacht plötzlich aufstand, den Schatz emsig hin
Keller, die Leute von Seldwyla. 32 und her eilend nach dem Garten
trug und dort unter bitteren Thränen in den tiefen Brunnen warf und einen Fluch
darüber aussprach, daß er niemals Jemand anderm angehören solle.«
Als Spiegel soweit erzählt hatte, sagte Pineiß: "Und liegt das schöne Geld noch
in dem Brunnen?« "Ja, wo sollte es sonst liegen?« antwortete Spiegel, "denn nur
ich kann es herausbringen und habe es bis zur Stunde noch nicht gethan!« "Ei ja
so, richtig! sagte Pineiß, „ich habe es ganz vergessen über Deiner Geschichte!
Du kannst nicht übel erzählen, Du Sapperlöter! und es ist mir ganz gelüstig
worden nach einem Weibchen, die so für mich eingenommen wäre; aber sehr schön
müßte sie sein! Doch erzähle jetzt schnell noch, wie die Sache eigentlich
zusammenhängt!« "Es dauerte manche Jahre, sagte Spiegel, bis das Fräulein aus
bittern Seelenleiden so weit zu sich kam, daß sie anfangen konnte, die stille
alte Jungfer zu werden, als welche ich sie kennen lernte. Ich darf mich
berühmen, daß ich ihr einziger Trost und ihr vertrautester Freund geworden bin
in ihrem einsamen Leben bis an ihr stilles Ende. Als sie aber
dieses herannahen sah, vergegenwärtigte sie sich noch ein Mal die Zeit ihrer
fernen Jugend und Schönheit und erlitt noch einmal mit milderen ergebenen
Gedanken erst die süßen Erregungen und dann die bittern Leiden jener Zeit, und
sie weinte still sieben Tage und Nächte hindurch über die Liebe des Jünglings,
deren Genuß sie durch ihr Mißtrauen verloren hatte, so daß ihre alten Augen noch
kurz vor dem Tode erblindeten. Dann bereute sie den Fluch, welchen sie über
jenen Schatz ausgesprochen und sagte zu mir, indem sie mich mit dieser wichtigen
Sache beauftragte: "Ich bestimme nun anders, lieber Spiegel! und gebe Dir die
Vollmacht, daß Du meine Verordnung vollziehest. Sieh' Dich um und suche, bis Du
eine bildschöne, aber unbemittelte Frauensperson findest, welcher es ihrer
Armuth wegen an Freiern gebricht! Wenn sich dann ein verständiger, rechtlicher
und hübscher Mann finden sollte, der sein gutes Auskommen hat, und die Jungfrau
ungeachtet ihrer Armuth, nur allein von ihrer Schönheit bewegt, zur Frau
begehrt, so soll dieser Mann mit den stärksten Eiden sich verpflichten,
derselben so treu, aufopfernd und unabänderlich ergeben zu sein,
wie es mein unglücklicher Liebster gewesen ist, und dieser Frau sein Leben lang
in allen Dingen zu willfahren. Dann gieb der Braut die zehntausend Goldgulden,
welche im Brunnen liegen, zur Mitgift, daß sie ihren Bräutigam am Hochzeitmorgen
damit überrasche! So sprach die Selige und ich habe meiner widrigen Geschicke
wegen versäumt, dieser Sache nachzugehen und muß nun befürchten, daß die Arme
deswegen im Grabe noch beunruhigt sei, was für mich eben auch nicht die
angenehmsten Folgen haben kann!«
Pineiß sah den Spiegel mißtrauisch an und sagte: „Wärst Du wohl im Stande,
Bürschchen! mir den Schatz ein wenig nachzuweisen und augenscheinlich zu
machen?«
„Zu jeder Stunde!« versetzte Spiegel, „aber Ihr müßt wissen, Herr
Stadtherenmeister! daß Ihr das Gold nicht etwa so ohne Weiteres herausfischen
dürftet. Man würde Euch unfehlbar das Genick umdrehen; denn es ist nicht anz
geheuer in dem Brunnen, ich habe darüber bestimmte Jnzichten,
welche ich aus Rücksichten nicht näher berühren darf!«
„Hei, wer spricht denn von Herausholen?« sagte Pineiß etwas furchtsam, „führe
mich einmal hin und zeige mir den Schatz! Oder vielmehr will ich Dich führen an
einem guten Schnürlcin, damit Du mir nicht entwischest!«
„Wie Ihr wollt!« sagte Spiegel, „übernehmt auch eine andere lange Schnur mit und
eine
Blendlaterne, welche Ihr daran in den Brunnen hinablassen könnt; denn der ist
sehr tief und
dunkel!« Pineiß befolgte diesen Rath und führte das muntere Kätzchen nach dem
Garten jener Verstorbenen. Sie überstiegen mit einander die Mauer und Spiegel
zeigte dem Herer den Weg zu dem alten Brunnen, welcher unter verwildertem
Gebüsche verborgen war. Dort ließ Pineiß sein Laternchen hinunter, begierig
nachblickend, während er den angebundenen Spiegel nicht von der Hand ließ. Aber
richtig sah er in der Tiefe das
Gold funkeln unter dem grünlichen Wasser und rief: „Wahrhaftig, ich seh's, es
ist wahr!
Spiegel Du bist ein Tausendskerl!« Dann guckte er wieder eifrig hinunter und
sagte: „Mögen es auch zehntausend sein?« "Ja das ist nun nicht zu
schwören! sagte Spiegel, ich bin nie da unten gewesen und hab's nicht gezählt!
Ist auch möglich, daß die Dame dazumal einige Stücke auf dem Wege verloren hat,
als sie den Schatz hieher trug, da sie in einem sehr aufgeregten Zustande war.«
„Nun, seien es auch ein Dutzend oder mehr weniger!« sagte Herr Pineiß, res soll
mir darauf nicht ankommen!« Er setzte sich auf den Rand des Brunnens, Spiegel
setzte sich auch nieder und leckte sich das Pfötchen. "Da wäre nun der Schatz!«
sagte Pineiß, indem er sich hinter den Ohren kratzte, rund hier wäre auch der
Mann dazu; fehlt nur noch das bildschöne Weib!« "Wie?« sagte Spiegel. "Ich
meine, es fehlt nur noch diejenige, welche die Zehntausend als Mitgift bekommen
soll um mich damit zu überraschen am Hochzeitmorgen, und welche alle jene
angenehmen Tugenden hat, von denen Du gesprochen!« "Hm! versetzte Spiegel, die
Sache verhält sich nicht ganz so, wie Ihr sagt! Der Schatz ist da, wie Ihr
richtig einseht; das schöne Weib habe ich, um es aufrichtig zu gestehen,
allbereits auch schon ausgespürt; aber mit dem Mann, der sie unter
diesen schwierigen Umständen heirathen möchte, da hapert es eben; denn
heutzutage muß die Schönheit obenein vergoldet sein, wie die Weihnachtsnüsse,
und je hohler die Köpfe werden, desto mehr sind sie bestrebt, die Leere mit
einigem Weibergut nachzufüllen, damit sie die Zeit besser zu verbringen
vermögen; da wird dann mit wichtigem Gesicht ein Pferd besehen und ein Stück
Sammet gekauft, mit Laufen und Rennen eine gute Armbrust bestellt, und der
Büchsenschmied kommt nicht aus dem Hause; da heißt es, ich muß meinen Wein
einheimsen und meine Fässer putzen, meine Bäume putzen lassen und mein Dach
decken! ich muß meine Frau in's Bad schicken, sie kränkelt und kostet mich viel
Geld, und muß mein Holz fahren lassen und mein Ausstehendes eintreiben; ich habe
ein Paar Windspiele gekauft und meine Bracken vertauscht, ich habe einen schönen
eichenen Ausziehtisch eingehandelt und meine große Nußbaumlade dran gegeben; ich
habe meine Bohnenstangen geschnitten, meinen Gärtner fortgejagt, mein Heu
verkauft und meinen Salat
5N4
gesäet, immer mein und mein vom Morgen bis zu Abend. Manche sagen sogar: ich
habe meine Wäsche die nächste Woche, ich muß meine Betten sonnen, ich muß eine
Magd dingen und einen neuen Metzger haben, denn den alten will ich abschaffen;
ich habe ein allerliebstes Waffeleisen erstanden, durch Zufall, und habe mein
silbernes Zimmetbüchschen verkauft, es war mir so nichts nütze; alles das sind
wohlverstanden die Sachen der Frau, und so verbringt ein solcher Kerl die Zeit
und stiehlt unserm Herrgott den Tag ab, indem er alle diese Verrichtungen
aufzählt, ohne einen Streich zu thun. Wenn es hoch kommt und ein solcher Patron
sich etwa ducken muß, so wird er vielleicht sagen: unsere Kühe und unsere
Schweine, aber —« Pineiß riß den Spiegel an der Schnur, daß er miau! schrie, und
rief: "Genug, Du Plappermaul! Sag' setzt unverzüglich: wo ist sie, von der Du
weißtDenn die Auszählung aller dieser Herrlichkeiten und Verrichtungen, die mit
einem Weibergute verbunden sind, hatte dem dürren Hexenmeister den Mund nur noch
wässeriger gemacht. Spiegel sagte erstaunt: "Wollt Ihr denn
wirklich das Ding unternehmen, Herr Pineiß? «
„Versteht sich will ich! Wer sonst als ich? Drum heraus damit: wo ist
Diejenige?«
"Damit Ihr hingehen und sie freien könnt?«
"Ohne Zweifel!« "So wisset, die Sache geht nur durch meine Hand! mit mir müßt
Ihr sprechen, wenn Ihr Geld und Frau wollt!« sagte Spiegel kaltblütig und
gleichgültig und fuhr sich mit den beiden Pfoten eifrig über die Ohren, nachdem
er sie jedesmal ein bischen naß gemacht. Pineiß besann sich sorgfältig, stöhnte
ein bischen und sagte: "Ich merke, Du willst unsern Kontrakt aufheben und Deinen
Kopf salviren!«
"SchieneEuch das so uneben und unnatürlich?«
"Du betrügst mich am Ende und belügst mich, wie ein Schelm!«
"Dieß ist auch möglich!« sagte Spiegel. "Ich sage Dir: Betrüge mich nicht!« rief
Pineiß gebieterisch.
"Gut, so betrüge ich Euch nicht!« sagte Spiegel.
"Wenn Du's thust!«
32 "So thu' ich's.k
"Quäle mich nicht, Spiegelchen!^ sprach Pineiß beinahe weinerlich, und Spiegel
erwiederte setzt ernsthaft: "Ihr seid ein wunderbarer Mensch, Herr Pineiß! Da
haltet Ihr mich an einer Schnur gefangen und zerrt daran, daß mir der Athem
vergeht! Ihr lasset das Schwert des Todes über mir schweben seit länger als zwei
Stunden, was sag' ich! seit einem halben Jahre! und nun sprecht Ihr: Quäle mich
nicht, Spiegelchen!
Wenn Ihr erlaubt, so sage ich Euch in Kürze: Es kann mir nur lieb sein, jene
Liebes- pflicht gegen die Todte doch noch zu erfüllen und für das bewußte
Frauenzimmer einen tauglichen Mann zu finden und Ihr scheint mir allerdings in
aller Hinsicht zu genügen; es ist keine Leichtigkeit, ein Weibstück wohl
unterzubringen, so sehr dies auch scheint, und ich sage noch einmal: ich bin
froh, daß Ihr euch hierzu bereit finden lasset! Aber umsonst ist der Tod! Eh'
ich ein Wort weiter spreche, einen Schritt thue, ja eh' ich nur den Mund noch
einmal aufmache, will ich erst meine Freiheit wieder haben und mein
Leben versichert! Daher nehmt diese Schnur weg und legt den Kontrakt hier auf
den Brunnen, hier auf diesen Stein, oder schneidet mir den Kopf ab, Eins von
Beiden!»
"Ei Du Tollhäusler und Obenhinaus! sagte Pineiß, Du HiHkops! so streng wird es
nicht gemeint sein? Das will ordentlich besprochen sein und muß jedenfalls ein
neuer Vertrag geschlossen werden!» Spiegel gab keine Antwort mehr und saß
unbeweglich da, ein, zwei und drei Minuten. Da ward dem Meister bänglich, er zog
seine Brieftasche hervor, klaubte seufzend den Schein heraus, las ihn noch
einmal durch und legte ihn dann zögernd vor Spiegel hin. Kaum lag das Papier
dort, so schnappte es Spiegel auf und verschlang es; und obgleich er heftig
daran zu würgen hatte, so dünkte es ihn doch die beste und gedeihlichste Speise
zu sein, die er je genossen, und er hoffte, daß sie ihm noch auf lange wohl
bekommen und ihn rundlich und munter machen würde. Als er mit der angenehmen
Mahlzeit fertig war, begrüßte er den Hexenmeister höflich und sagte: »Ihr werdet
unfehlbar von mir hören, Herr
5«>8
Pineiß, und Weib und Geld sollen Euch nicht entgehen. Dagegen macht Euch bereit,
recht verliebt zu sein, damit Ihr jene Bedingungen einer unverbrüchlichen
Hingebung an die Liebkosungen Euerer Frau, die schon so gut wie Euer ist, ja
beschworen und erfüllen könnt! Und hiermit bedanke ich mich des Vorläufigen für
genossene Pflege und Beköstigung und beurlaube mich!«
Somit ging Spiegel seines Weges und freute sich über die Dummheit des
Herenmeisters, welcher glaubte sich selbst und alle Welt betrügen zu können,
indem er ja die gehoffte Braut nicht uneigennützig, aus bloßer Liebe zur
Schönheit ehelichen wollte, sondern den Umstand mit den zehntausend Goldgulden
vorher wußte. Indessen hatte er schon eine Person im Auge, welche er dem
thörichten Hexenmeister aufzuhalsen gedachte für seine gebratenen Krametsvögel,
Mäuse und Würstchen.
Dem Hause des Herrn Pineiß gegenüber war ein anderes Haus, dessen vordere Seite
auf das sauberste geweißt war und dessen Fenster immer frisch gewaschen
glänzten. Die be- schcidenen Fenstervorhänge waren immer
schneeweiß und wie so eben geplättet, und eben so weiß war der Habit und das
Kopf- und Halstuch einer alten Beghine, welche in dem Hause wohnte, also daß ihr
nonnenartiger Kopfputz, der ihre Brust bekleidete, immer wie aus Schreibpapier
gefaltet aussah, so daß man gleich darauf hätte schreiben mögen; das hätte man
wenigstens auf der Brust bequem thun können, da sie so eben und so hart war wie
ein Brett. So scharf die weißen Kanten und Ecken ihrer Kleidung, so scharf war
auch die lange Nase und das Kinn der Beghine, ihre Zunge und der böse Blick
ihrer Augen; doch sprach sie nur wenig mit der Zunge und blickte wenig mit den
Augen, da sie die Verschwendung nicht liebte und Alles nur zur rechten Zeit und
mit Bedacht verwendete. Alle Tage ging sie drei Mal in die Kirche, und wenn sie
in ihrem frischen, weißen und knitternden Zeuge und mit ihrer weißen spitzigen
Nase über die Straße ging, liefen die Kinder furchtsam davon und selbst
erwachsene Leute traten gern hinter die Hausthüre, wenn es noch Zeit war. Sie
stand aber wegen ihrer strengen Frömmigkeit und Eingezo- genheit
in großem Rufe und besonders bei der Geistlichkeit in hohem Ansehen, aber selbst
die Pfaffen verkehrten lieber schriftlich mit ihr, als mündlich, und wenn sie
beichtete, so schoß der Pfarrer jedesmal so schweißtriefend aus dem Beichtstuhl
heraus, als ob er aus einem Backofen käme. So lebte die fromme Beghine, die
keinen Spaß verstand, in tiefein Frieden und blieb ungeschoren. Sie machte sich
auch mit Niemand zu schaffen und ließ die Leute gehen, vorausgesetzt, daß sie
ihr aus dem Wege gingen; nur auf ihren Nachbar Pineiß schien sie einen besondern
Haß geworfen zu haben; denn so oft er sich an seinem Fenster blicken ließ, warf
sie ihm einen bösen Blick hinüber und zog augenblicklich ihre weißen Vorhänge
vor, und Pineiß fürchtete sie wie das Feuer, und wagte nur zuhinterst in seinem
Hause, wenn Alles gut verschlossen war, etwa einen Witz über sie zu machen. So
weiß und hell aber das Haus der Beghine nach der Straße zu aussah, so schwarz
und räucherig, unheimlich und seltsam sah es von hinten aus, wo es jedoch fast
gar nicht gesehen werden konnte, als von den Vögeln des Himmels
und den Katzen auf den Dächern, weil es in eine dunkle Winkelei von himmelhohen
Brandmauern ohne Fenster hinein gebaut war, wo nirgends ein menschliches Gesicht
sich sehen ließ. Unter dem Dache dort hingen alte zerrissene Unterröcke, Körbe
und Kräutersäcke, auf dem Dache wuchsen ordentliche Eibenbäumchen und
Dornsträucher, und ein großer rußiger Schornstein ragte unheimlich in die Luft.
Aus diesem Schornstein aber fuhr in der dunklen Nacht nicht selten eine Here auf
ihrem Besen in die Höhe, jung und schön und splitternackt, wie Gott die Weiber
geschaffen und der Teufel sie gern sieht. Wenn sie aus dem Schornstein fuhr, so
schnupperte sie mit dem feinsten Naschen und mit lächelnden Kirschenlippen in
der frischen Nachtlust und fuhr in dem weißen Scheine ihres Leibes dahin, indeß
ihr langes rabenschwarzes Haar wie eine Nachtfahne hinter ihr herflatterte. In
einem Loch am Schornstein, saß ein alter Eulen- vogel und zu diesem begab sich
jetzt der befreite Spiegel, eine fette Maus im Maule, die er unterwegs gefangen.
„Wünsch' guten Abend, liebe Frau Eule! Eifrig auf der Wacht?«
sagte er und die Eule erwiederte: „Muß wobt! Wünsch' gleichfalls guten Abend!
Ihr habt Euch lang nicht sehen lassen, Herr Spiegel!«
„Hat seine Gründe gehabt, werde Euch das erzählen. Hier habe ich Euch ein
Mäuschen gebracht, schlecht und recht, wie es die Jahrszeit giebt, wenn Jhr's
nicht verschmähen wollt! Ist die Meisterin ausgeritten?«
„Noch nicht, sie will erst gegen Morgen auf ein Stündchen hinaus. Habt Dank für
die schöne Maus! Seid doch immer der höfliche Spiegel! Habe hier einen
schlechten Sperling zur Seite gelegt, der mir heut zu nahe flog; wenn Euch
beliebt, so kostet den Vogel! Und wie ist es Euch denn ergangen?«
„Fast wunderlich, erwiederte Spiegel, sie wollten mir an den Kragen. Hört, wenn
es Euch gefällig ist.« Während sie nun vergnüglich ihr Abendessen einnahmen,
erzählte Spiegel der aufmerksamen Eule Alles, was ihn betroffen und wie er sich
aus den Händen des Herrn Pinciß befreit habe. Die Eule sagte: „Da
wünsch ich tausendmal Glück, nun seid Ihr wieder ein gemachter Mann und könnt
gehen, wo Ihr wollt, nachdem Ihr mancherlei erfahren!«
„Damit sind wir noch nicht zu Ende, sagte Spiegel, der Mann muß seine Frau und
seine Goldgulden haben!«
„Seid Ihr von Sinnen, dem Schelm noch wohlzuthun, der Euch das Fell abziehen
wollte?«
„Ei, er hat es doch rechtlich und vertragsmäßig thun können, und da ich ihn in
gleicher Münze wieder bedienen kann, warum sollt' ich es unterlassen? Wer sagt
denn, daß ich ihm wohl thun will? Jene Erzählung war eine reine Erfindung von
mir, meine in Gott ruhende Meisterin war eine simple Person, welche in ihrem
Leben nie verliebt, noch von Anbetern umringt war, und jener Schatz ist ein
ungerechtes Gut, das sie einst ererbt und in den Brunnen geworfen hat, damit sie
kein Unglück daran erlebe. „Verflucht sei, wer es da herausnimmt und verbraucht«
sagte sie. „Es macht sich also in Betreff des Wohlthuns?«
„Dann ist die Sache freilich anders! Aber nun, wo wollt Ihr die entsprechende
Frau her-
Keller, die Leute von Seldwyla. 33 nehmen?,, "Hier aus diesem
Schornstein! deshalb bin ich gekommen, um ein vernünftiges Wort mit Euch zu
reden! Möchtet Ihr denn nicht einmal wieder frei werden aus den Banden dieser
Here? Sinnt nach, wie wir sie fangen und mit dem alten Bösewicht verheirathenla
"Spiegel, Ihr braucht Euch nur zu nähern, so weckt Ihr mir ersprießliche
Gedanken.^
"Das wußt' ich wohl, daß Ihr klug seid! Ich habe das Meinige gethan und es ist
besser, daß Ihr auch Euren Senf dazu gebt und neue Kräfte vorspannt, so kann es
gewiß nicht fehlen I«.
„Da alle Dinge so schön zusammentreffen, so brauche ich nicht lang zu sinnen,
mein Plan ist längst gemacyt!^ "Wie fangen wir sie?^ "Mit einem neuen
Schnepfengarn aus guten starken Hanfschnüren; geflochten muß es sein von einem
zwanzigjährigen Jägerssohn, der noch kein Weib angesehen hat, und es muß schon
dreimal der Nachtthau darauf gefallen sein, ohne daß sich eine Schnepfe
gefangen; der Grund aber hiervon muß dreimal eine gute Handlung sein. Ein
solches Netz ist stark genug, die Here zu fangen.« „Nun bin ich
neugierig, wo Ihr ein solches hernehmt, sagte Spiegel, denn ich weiß, daß Ihr
keine vergeblichen Worte schwatzt!«
„Es ist auch schon gefunden, wie für uns gemacht; in einem Walde nicht weit von
hier sitzt ein zwanzigjähriger Jägerssohn, welcher noch kein Weib angesehen hat;
denn er ist blind geboren. Deswegen ist er auch zu Nichts zu gebrauchen , als
zum Garnflechten und hat vor einigen Tagen ein neues, sehr schönes Schne-
pfengarn zu Stande gebracht. Aber als der alte Jäger es zum ersten Male
ausspannen wollte, kam ein Weib daher, welches ihn zur Sünde verlocken wollte;
es war aber so häßlich, daß der alte Mann voll Schreckens davon lief und das
Garn am Boden liegen ließ. Darum ist ein Thau darauf gefallen, ohne daß sich
eine Schnepfe fing, und war also eine gute Handlung daran Schuld. Als er des
andern Tages hinging, um das Garn abermals auszuspannen, kam eben ein Reiter
daher, welcher einen schweren Mantelsack hinter sich hatte; in diesem war ein
Loch, aus welchem von Zeit zu Zeit ein Goldstück auf die Erde fiel. Da ließ der
Jä-
33 * ger das Garn abermals liegen und lief eifrig hinter dem
Reiter her und sammelte die Goldstücke in seinen Hut, bis der Reiter sich
umkehrte, es sah und voll Grimm seine Lanze auf ihn richtete. Da bückte der
Jäger sich erschrok- ken, reichte ihm den Hut dar und sagte: Erlaubt, gnädiger
Herr, Ihr habt hier viel Gold verloren, das ich Euch sorgfältig aufgelesen! Dies
war wiederum eine gute Handlung, indem das ehrliche Finden eine der
schwierigsten und besten ist; er war aber so weit von dem Schne- pfengarn
entfernt, daß er es die zweite Nacht im Walde liegen ließ und den nähern Weg
nach Hause ging. Am dritten Tag endlich, welcher gestern war, als er eben wieder
auf dem Wege war, traf er eine hübsche Gevattersfrau an, die dem Alten um den
Bart zu gehen pflegte und der er schon manches Häslein geschenkt hat. Darüber
vergaß er die Schnepfen gänzlich und sagte am Morgen: Ich habe den armen
Schnepf- lein des Leben geschenkt; auch gegen Thiere muß man barmherzig sein!
Und um dieser drei guten Handlungen willen fand er, daß er setzt zu gut sei für
diese Welt, und ist heute Vormittag bei Zeiten in ein Kloster
gegangen. So liegt das Garn noch ungebraucht im Walde und ich darf es nur holend
"Holt es geschwind! sagte Spiegel, es wird gut sein zu unserm Zweck!«. „Ich will
es holen, sagte die Eule, steht nur so lang Wache für mich in diesem Loch, und
wenn etwa die Meisterin den Schornstein hinauf rufen sollte, ob die Lust rein
sei? so antwortet, indem Ihr meine Stimme nachahmt: Nein, es stinkt noch nicht
in der Fechtschul'! Spiegel stellte sich in die Nische und die Eule flog still
über die Stadt weg nach dem Wald. Bald kam sie mit dem Schnepfengarn zurück und
fragte: Hat sie schon gerufen? "Noch nichts sagte Spiegel.
Da spannten sie das Garn aus über den Schornstein und setzten sich daneben still
und klug; die Luft war dunkel und es ging ein leichtes Morgenwindchen, in
welchem ein paar Sternbilder flackerten. »Ihr sollt sehen, flüsterte die Eule,
wie geschickt die durch den Schornstein heraufzusäuseln versteht, ohne sich die
blanken Schultern schwarz zu machend "Ich hab sie
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noch nie so nah gesehen, erwiederte Spiegel leise, wenn sie uns nur nicht zu
fassen kriegt!«
Da rief die Here von unten: Ist die Lust rein? Die Eule rief: "Ganz rein, es
stinkt herrlich in der Fechtschul'! und alsobald kam die Here herausgefahren und
wurde in dem Garne gefangen, welches die Katze und die Eule eiligst
zusammenzogen und verbanden. "Halt fest!« sagte Spiegel, und "Binde gut!« die
Eule. Die Here zappelte und tobte mäuschenstill, wie ein Fisch im Netz; aber es
half ihr nichts und das Garn bewährte sich auf das Beste. Nur der Stiel ihres
Besens ragte durch die Maschen. Spiegel wollte ihn sachte herausziehen, erhielt
aber einen solchen Nasenstüber, daß er beinahe in Ohnmacht siel und einsah, wie
man auch einer Löwin im Netz nicht zu nahe kommen dürfe. Endlich hielt sich die
Here still und sagte: "Was wollt ihr denn von mir, ihr wunderlichen Thiere?«
„Ihr sollt mich aus Eurem Dienste entlassen und meine Freiheit zurückgeben!«
sagte die Eule. "So viel Geschrei und wenig Wolle!« sagte die Here, "Du bist
frei, mach' dieß Garn auf!« '"Noch nicht! sagte Spiegel, der immer
51S
noch seine Nase rieb, Ihr müßt Euch verpflichten, den Stadtherenmeister Pineiß,
Euren Nachbar, zu heirathen auf die Weise, wie wir Euch sagen werden, und ihn
nicht mehr zu verlassen!« Da fing die Here wieder an zu zappeln und zu prusten
wie der Teufel, und die Eule sagte: »Sie will nicht d'ran!« Spiegel aber sagte:
»Wenn Ihr nicht ruhig seid und Alles thut, was wir wünschen, so hängen wir das
Garn sammt seinem Inhalte da vorn an den Drachenkopf der Dachtraufe, nach der
Straße zu, daß man Euch morgen sieht und die Here erkennt! Sagt also: Wollt Ihr
lieber unter dem Vorsitze des Herrn Pineiß gebraten werden, oder ihn braten,
indem Ihr ihn heirathet?«
Da sagte die Here mit einem Seufzer: »So sprecht, wie meint Ihr die Sache?« Und
Spiegel setzte ihr Alles zierlich auseinander, wie es gemeint sei und was sie zu
thun hätte. »Das ist allenfalls noch auszuhalten, wenn es nicht anders sein
kann!« sagte sie und ergab sich unter den stärksten Formeln, die eine Here
binden können. Da thaten die Thiere das Gefängniß auf und ließen sie heraus. Sie
bestieg sogleich den Besen, die Eule setzte sich hinter sie auf
den Stiel und Spiegel zuhinterst auf das Reisigbündel und hielt sich da fest,
und so ritten sie nach dem Brunnen, in welchen die Here Hinabfuhr, um den Schatz
herauf zu holen.
Am Morgen erschien Spiegel bei Herrn Pineiß und meldete ihm, daß er die bewußte
Person ansehen und freien könne; sie sei aber allbereits so arm geworden, daß
sie, gänzlich verlassen und verstoßen, vor dem Thore unter einem Baum sitze und
bitterlich weine. Sogleich kleidete sich Herr Pineiß in sein abgeschabtes gelbes
Sammtwämschen, das er nur bei feierlichen Gelegenheiten trug, setzte die bessere
Pudelmütze auf und umgürtete sich mit seinem Degen; in die Hand nahm er einen
alten grünen Handschuh, ein Balsamstäschchen, worin einst Balsam gewesen und das
noch ein Bischen roch, und eine papierne Nelke, woraus er mit Spiegel vor das
Thor ging, um zu freien. Dort traf er ein weinendes Frauenzimmer sitzen unter
einem Weidenbaum, von so großer Schönheit, wie er noch nie gesehen; aber ihr
Gewand war so dürftig und zerrissen, daß, sie mochte sich auch
schamhaft geberden wie sie wollte, immer da oder dort der schneeweiße Leib ein
Bischen durchschimmerte. Pineiß riß die Augen aus und konnte vor heftigem
Entzücken kaum seine Bewerbung vorbringen. Da trocknete die Schöne ihre Thränen,
gab ihm mit süßem Lächeln die Hand, dankte ihm mit einer himmlischen Glok-
kenstimme für seine Großmuth und schwur, ihm ewig treu zu sein. Aber im selben
Augenblicke erfüllte ihn eine solche Eifersucht und Neideswuth auf seine Braut,
daß er beschloß, sie vor keinem menschlichen Auge jemals sehen zu lassen. Er
ließ sich bei einem uralten Einsiedler mit ihr trauen und feierte das
Hochzeitmahl in seinem Hause, ohne andere Gäste, als Spiegel und die Eule,
welche ersterer mitzubringen sich die Erlaubniß erbeten hatte. Die zehntausend
Goldgulden standen in einer Schüssel auf dem Tisch und Pineiß griff zuweilen
hinein und wühlte in dem Golde; dann sah er wieder die schöne Frau an, welche in
einem meerblauen Sammetkleide dasaß, das Haar mit einem goldenen Netze
umflochten und mit Blumen geschmückt, und den weißen Hals mit Perlen umgeben. Er
wollte sie fortwährend küssen, aber sie wußte verschämt und
züchtig ihn abzuhalten, mit einem verführerischen Lächeln, und schwur, daß sie
dieses vor Zeugen und vor Anbruch der Nacht nicht thun würde. Dies machte ihn
nur noch verliebter und glückseliger, und Spiegel würzte das Mahl mit lieblichen
Gesprächen, welche die schöne Frau mit den angenehmsten, witzigsten und
einschmeichelndsten Worten fortführte, so daß der Hexenmeister nicht wußte, wie
ihm geschah vor Zufriedenheit. Als es aber dunkel geworden, beurlaubten sich die
Eule und die Katze und entfernten sich bescheiden; Herr Pineiß begleitete sie
bis unter die Hausthüre mit einem Lichte und dankte dem Spiegel nochmals, indem
er ihn einen trefflichen und höflichen Mann nannte, und als er in die Stube
zurückkehrte, saß die alte weiße Beghine, seine Nachbarin, am Tisch und sah ihn
mit einem bösen Blick an. Entsetzt ließ Pineiß den Leuchter fallen und lehnte
sich zitternd an die Wand. Er hing die Zunge heraus und sein Gesicht war so fahl
und spitzig geworden, wie das der Beghine. Diese aber stand auf, näherte sich
ihm und trieb ihn vor sich her in die Hochzeitkammer, wo sie mit
höllischen Künsten ihn auf eine Folter spannte, wie noch kein Sterblicher
erlebt. So war er nun mit der Alten unauflöslich verehlicht, und in der Stadt
hieß es, als es ruchbar wurde: Ei seht, wie stille Wasser tief sind! Wer hätte
gedacht, daß die fromme Beghine und der Herr Stadt- herenmeister sich noch
verheirathen würden! Nun, es ist ein ehrbares und rechtliches Paar, wenn auch
nicht sehr liebenswürdig!
Herr Pineiß aber führte von nun an ein erbärmliches Leben; seine Gattin hatte
sich sogleich in den Besitz aller seiner Geheimnisse gesetzt und beherrschte und
unterdrückte ihn vollständig. Es war ihm nicht die geringste Freiheit und
Erholung gestattet, er mußte heren vom Morgen bis zum Abend, was das Zeug halten
wollte, und wenn Spiegel vorüberging und es sah, sagte er freundlich: „Immer
fleißig, fleißig, Herr Pineiß?^
Seit dieser Zeit sagt man zu Seldwpla: Er hat der Katze den Schmeer abgekauft!
besonders wenn Einer eine böse und widerwärtige Frau erhandelt hat.