Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 2. Wien, Freitag den 2. September 1864 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 2. Wien, Freitag den 2. September 1864 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 02.09.1864
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Musikalische Briefe. I. (Neue Errungenschaften: die kaiserliche Opernschule.)

Ed H. Sie haben sich mehr als einmal mit mir der Fort schritte erfreut, welche das öffentliche Musikleben Oesterreichs in den letzten zehn Jahren gemacht hat. Auch weiß ich Sie einverstanden, wenn mein Essay über die Geschichte des Wiener Concertlebens (in den drei letzten Bänden der „Oesterreichischen Revue“) das Jahr Achtundvierzig als den Punkt bezeichnet, von welchem bei uns auch im musikalischen Gemeinwesen eine neue Aera datirt. Wien hatte bei all’ seinem Tonreichthum doch auch auf diesem Gebiet „vormärzliche“ Zustände, die zum großen Theil in dem allgemeinen Charakter unserer damaligen Bildung, namentlich in der Isolirtheit derselben ihre Er klärung finden. Der Gedanke des geistigen Zusammengehens Oester eichs mit Deutschland, welcher in Wien die ganze Märzbewegung durchdrang, machte sich sofort auch auf musikalischem Gebiete geltend. Man wandte sich mit Heftigkeit von der allzulang bevorzugten ita lienischen Musik ab und der deutschen zu; man brach mit dem ein seitigen Cultus der Vergangenheit und öffnete den Fahnenträgern der modernen Ideen die Pforten. Nachträglich beeilte man sich, von den geistigen Processen Kenntniß zu nehmen, welche sich in Deutsch land auch in musikalischen Dingen vollzogen hatten. Auf Grund dieser Anschauungen trachtete man, endlich das Concertwesen, welches bei uns doch nur die zweite Rolle neben dem Theater gespielt, in größerem Styl zu organisiren, zu befestigen und nach allen Dimen sionen zu erweitern. Die Keime von 1848 gingen allerdings nicht so schnell auf, sehr allmälig folgte den revolutionirenden Ideen die reformirende That. Die nächsten Jahre waren eine Periode mühsam vorbereitenden, mitunter lästig zögernden Uebergangs. Allein in

stetigem Fortschritt traten nach einander die Errungenschaften unsers Musiklebens hervor, auf deren Besitz wir jetzt stolz sind: die Reorga nisation des Conservatoriums und die glänzende Reform der „Ge sellschaftsconcerte,“ Hellmesberger’s Quartettsoiréen, die Wieder aufnahme der „Philharmonischen Concerte“, die neuen Pflegestätten des Chorgesangs und der geistlichen Musik „Singverein“ und „Sing akademie“ etc. etc. Das sind Resultate, die nicht nur offen vorliegen, sondern sich alljährlich immer wieder neu in Scene setzen.

Neben und nach diesen Errungenschaften ist auch die allerneueste Zeit nicht unthätig stehen geblieben. Seit Kurzem sind wir im Be sitz einiger Einrichtungen, die allerdings nicht so augenfällig, sondern mehr aus dem Hintergrund, aus zweiter Hand wirken, die aber trotz dem volle Beachtung verdienen. Der musikalische Geschichtschreiber der Jahre 1862, 1863 und 1864 wird namentlich drei bleibende In stitutionen hervorheben, welche, verschieden in ihrer Tendenz und Tragweite, doch Merksteine unserer künstlerischen Entwicklung bilden: die Gründung einer kaiserlichen Opernschule, die Einführung der Normalstimmung und die Systemisirung jährlicher Künstler stipendien. Eine vierte neue Einrichtung pädagogischer Tendenz dürfte in Kurzem hinzutreten: die Einführung musikalischer Prüfungscommissionen für Inhaber öffentlicher Musikschulen und Musiklehrer an Staatslehranstalten.

Ich sehe Sie bedenklich lächeln, indem ich mit unserer „Opern schule“ anhebe und diese geheimnißvolle Sphynx in die Reihe unserer „Errungenschaften“ rücke. In Wahrheit kann ich mich so wenig als Sie rühmen, Resultate der „Opernschule“ gesehen zu haben. Die gegenwärtige Einrichtung und Leitung derselben flößt mir wenig Ver trauen ein. Dies Institut wird unter den obwaltenden Verhältnissen vielleicht für lange Zeit nicht dasjenige leisten, was man davon gewünscht und gehofft. Allein die Thatsache, daß wir eine von Privatinteressen unabhängige kaiserliche Opernschule besitzen, bleibt bei alledem erheblich genug. Sie ganz zu würdigen, muß man sich erin

nern, wie lange wir ein Institut der Art herbeigesehnt und wie drin gend die ersten Dramatungen Deutschlands für die Errichtung von Theaterschulen geschrieben und — vergebens geschrieben haben.

Als Eduard Devrient im Jahre 1839 das Pariser Conservatorium besichtigte, hatte er Gelegenheit, auch dem Unterricht der obersten Classe „für dramatischen Gesang“ beizuwohnen. Er fand in einem großen Saal ein allerliebstes Theater hergerichtet, auf wel chem die Eleven unter der Leitung der berühmten Sänger Nourrit und Derivis ihre Uebungen hielten. „Wie glücklich“, ruft er aus, „sind diese jungen Talente in Frankreich, daß ihnen eine solche Gele genheit zur Vorbereitung für die schwere Kunst der Bühne geboten wird! In ganz Deutschland müssen die jungen Leute durch Errathen, Versuche und gelegentliches Ablernen bei erfahrenen Künstlern das in vielen Jahren zu erlernen suchen, was dem Begünstigten hier in einem Halbjahre beizubringen ist.“ Dieser Klageruf des berühmten Dramaturgen fiel uns lebhaft ein, als die erste Kunde von unserer „Opernschule“ wie eine rettende Verheißung auftauchte. Allerdings nur für die Oper. In einem vollständigen Institut soll die Opern schule nur eine eigene Classe bilden; diese Stellung ist ihr auch in Paris angewiesen, wo die Theaterschule mit dem Conservatorium ver bunden ist. An die Großartigkeit des Pariser Instituts darf man nicht denken, wenn von der Wiener Opernschule die Rede ist.

Das Pariser Conservatorium, bekanntlich eine großartige Schö pfung der Revolution, besitzt ein weitläufiges, für 500 Zöglinge ein gerichtetes Gebäude. Bis zur Juli-Revolution, nach welcher erhebliche Einschränkungen eintraten, ertheilten 72 Professoren den Unterricht in ebenso viel Classen, deren keine mehr als 8 Zöglinge enthalten durfte. Die Eleven für die Bühne werden in 4 Classen unterrichtet, nur eine davon ist der Ausbildung der Operisten gewidmet. Jeder der 3 Professoren für das recitirende Drama hat wöchentlich zweimal eine zweistündige Lection zu ertheilen, daher findet an jedem Tag Unterricht statt und sämmtliche Schauspiel-Eleven (auch die

Operisten) müssen täglich dem Unterricht beiwohnen, um so auch von denjenigen Professoren zu lernen, denen sie nicht zur eigentlichen Unterweisung zugetheilt sind. Diese Professoren sind (oder waren) die erprobtesten, gebildetsten Künstler vom Théâtre français und der Großen Oper. Eine Theaterschule von solcher Vollständigkeit war in Wien durchaus nicht beabsichtigt. Ja, man schien jeder Rücksicht auf das recitirende Drama absichtlich aus dem Wege zu gehen, wie schon aus der Thatsache hervorleuchtet, daß eine dramaturgische Autorität, wie Laube, die Errichtung der Hofopernschule erst durch die Zeitun gen erfahren haben soll. Die Entbehrung des vollständigen Ganzen soll uns deshalb nicht ungerecht machen gegen das nützliche Fragment.

Stellen wir uns auf den praktischen Standpunkt der Hofopern direction und gestehen, daß die Sorge für die Zukunft ihrer Bühne ihr vorderhand als die dringendste erscheinen mußte. Die Klage über den zunehmenden Verfall des deutschen Opernwesens, namentlich der Gesangskräfte, ist eine allgemeine und begründete. Und doch möchte man leidenschaftlichen Tadlern oft antworten, wie jener Theaterhabitué, der auf die herausfordernde Frage: „Und wie gefällt denn Ihnen un sere jetzige miserable Oper?“ erwiderte: „Besser als im nächsten Jahr!“ Der Gedanke, durch eine planmäßige Vorsorge die nächste Zukunft des Operntheaters dem bloßen Zufall zu entreißen, liegt nahe genug. Wir sehen die Himmelsgabe schöner Stimmen selten werden, und noch seltener deren vollendete Ausbildung. „Unsere heutigen Sängerinnen haben meistens mit 30 Jahren keine Stimme mehr,“ hörte ich einmal in LondonJenny Lind äußern, — „das ist die Schuld mangelhafter und verkehrter Schulung. Die schönsten Stim men gehen durch Verwahrlosung zu Grunde. Ich singe noch mit Leichtigkeit,“ fügte sie nach einer Pause hinzu, „und hatte doch nie mals viel Stimme.“

Durch ein eigenes Institut für’s Erste schöne Stimmen zur Oper heranzulocken, sodann sie methodisch für die Bühne auszubilden, und drittens durch die Wohlthat dieser Ausbildung ein natürliches Vorrecht auf ihre dauernde Verwendung zu erwerben — das mochten die leitenden Gesichtspunkte bei der Gründung der Hofopernschule

sein. Die innere Organisation dieses Institutes, das in Oesterreich nur an dem Mailänder Conservatorium eine Analogie besaß, blieb, so interessant sie jedem Theaterfreund sein mußte, in eigenthümliches Halbdunkel gehüllt. Blos die Grundzüge wurden veröffentlicht, vieles Andere konnte nur in der Theaterkanzlei eingesehen werden, während doch in Allem und Jedem die größte Publicität angezeigt war. Die Hauptbestimmungen (wenn sie nicht seither wieder verändert wurden), sind, soweit sie uns hier interessiren, folgende: Die k. k. Hofopern schule ist eine „vom Theater vollständig unabhängige“ (?) Hofanstalt, unter der Oberleitung des Oberstkämmerer-Amtes. Sie hat für die Heranbildung eines „kräftigen Nachwuchses an Gesangskünstlern“ für das Hofoperntheater zu sorgen. Die Mädchen und Jünglinge, welche sich der Oper zuwenden wollen, werden (nicht über 30 an der Zahl) nach einer Aufnahmsprüfung in den „niederen Curs“ eingereiht, welcher drei Jahrgänge umfaßt. Diejenigen Eleven, deren Fleiß und Talent nach Ablauf dieser Zeit zu höhern Erwartungen berechtigt, treten ein in die eigentlichen Ausbildungsclassen, den fünf Jahre um fassenden „höhern Curs“. Für diese Zeit von acht Jahren muß jeder Eintretende sich verpflichten. Er erhält unentgeltlichen Unterricht im Gesang, Clavierspiel, den Anfangsgründen des Generalbaßes, in Mimik und Declamation. In den ersten Jahren haben die Eleven nur ihrer Ausbildung obzuliegen und beziehen keinerlei Remuneration. „Vom vierten Jahrgang an,“ werden sie im Chor oder in kleinen Rollen nach dem Maß ihrer Eignung bei den Opernvorstellungen verwendet und beziehen dafür Remunerationen, welche Anfangs zwi schen 25 und 60 fl., in den letzten Jahren zwischen 150 und 120 fl. monatlich betragen. Die Zöglinge, — welche ein förmliches Decret als „Eleven der k. k. Hofopernschule“ erhalten, — dürfen ohne Zu stimmung bei keinerlei öffentlichen Productionen mitwirken, sich außer den (einmonatlichen) Ferien von Wien nicht entfernen und vor Ab lauf der acht Jahre kein Engagement eingehen.

Das wichtigste Bedenken gegen diese Bestimmungen, betrifft die Verwendung der Eleven im Theaterchor. Diese Verwendung ist that sächlich noch in weit größerem als dem statutenmäßigen Umfang vor

genommen worden; die Eleven wurden nicht erst im vierten, sondern bereits im ersten Jahrgang der Opernschule auf das Ausgiebigste im Opernchor verwendet. Offenbach’s „Rheinnixe“ und die zweimonatliche italienische Saison haben die Eleven bedenklich in Athem erhalten: den ganzen Winter und Frühling hindurch war das Auswendiglernen nichtsnutziger Chöre fast der einzige Lehrstoff, Theaterproben und Vor stellungen die überwiegende Beschäftigung der Eleven. Am Schluß der italienischen Saison habe ich mich ausführlich über diesen Punkt und die falsche Richtung, in welche die Operschule damit geräth, ausgesprochen und kann nur wiederholen, daß dieses Institut zu etwas ganz anderem bestimmt war und bestimmt ist, als zu einer Wind lade, welche lediglich unsern athemlosen Theaterchor mit Luft zu speisen hat. Im Detail hat die Organisation ihre guten und bedenk lichen Seiten. In der Hauptsache wird — (von der oben gerügten Verwendung abgesehen) — das Gedeihen der Opernschule, wie aller ähnlichen Institute, wesentlich von den leitenden und lehrenden Per sönlichkeiten abhängen. Die künstlerische Richtung und wissenschaft liche Bildung des Directors der Opernschule sind hiebei um so wichtigere Erfordernisse, als er statutenmäßig den Lehrgang und die Methode bestimmt, so daß die einzelnen Fachlehrer pädagogisch und ästhetisch nicht selbständig sind. Was wieder diese Lehrer betrifft, so hat uns das Beispiel Frankreichs gezeigt, daß man sie dort für wichtig genug hält, um sie aus den ersten dramatischen Künstlern der Pariser Bühnen zu wählen. In welchem Maße die leitenden und lehrenden Kräfte an unserer Hofopernschule ihrer Aufgabe gewachsen sind, werden wol in nicht allzulanger Zeit die Resultate dieses In stitutes darthun. Wir wollen nicht verzagen, wenn gegenwärtig manche Stelle mittelmäßig besetzt erscheint: die Persönlichkeiten wech seln, das Institut bleibt. Und diese, die Opernschule, wie sie sein kann und soll, ist immerhin eine Thatsache, die der Musikhistoriker unter den Wiener Kunst-Errungenschaften dieses Decenniums auf zählen wird.