Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 52. Wien, Samstag den 22. October 1864 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 52. Wien, Samstag den 22. October 1864 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 22.10.1864
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Hofoperntheater. („Der Prophet.“ — „Indra.“ — „Fra Diavolo.“ — „Faust.“)

Ed. H. Es hat etwas Wehmüthiges, zuzusehen, wie man im Opern hause mit geschäftiger Hast Ander’s Erbschaft vertheilt. Diese Partien Herrn Walter , jene Herrn Wachtel , die letzten endlich Herrn Ferenczy und — Ander ist „ersetzt.“ Das muß so sein, wir wissen und billigen es vollauf. Es geschieht aber Vieles auf Erden, was nothwendig und natürlich ist, und dennoch recht weh thut. Da wurde neulich Herrn Wachtel’sProphet“ beklatscht und bejubelt, als hätte niemals ein Ander an dieser Stätte das Krönungsschwert geschwun gen. Wachtel’s Leistung aber verhält sich zu der einstigen Ander’s unge fähr wie deren Gegenstand, der Schneider Johann von Leyden, sich zu Luther oder Melanchthon verhielt. Die Kluft zwischen der Darstel lung des neuen Künstlers und der des andern, jede als Ganzes, als poetisches Kunstwerk betrachtet — ist somit sehr breit. Sie darf uns nicht hindern, von einem etwas tiefer gerückten Standpunkt anzu erkennen, was Wachtel’s Prophet in seiner Künstlersphäre Ge lungenes enthielt. Wer Wachtel in einigen Rollen gehört, der konnte sich dessen „Johann von Leyden“ so ziemlich a priori construiren; der Kritiker, der Herrn Wachtel schon eine ziemliche Strecke lang be gleitet, darf sich somit wol kurz fassen. Herrn Wachtel’s Prophet war nicht schlechter, als wir ihn erwarteten, eher noch etwas besser. Daß Herr Wachtel poetischen Schwung, Tiefe und Feinheit der Em pfindung, überzeugende Wahrheit der Leidenschaft nicht besitze, also auch als Johann von Leyden nicht entfalten werde, konnte Jedermann wissen. Wir für unsern Theil vermissen diese Eigenschaften bei Johann von Leyden weniger schmerzlich als bei Raoul oder Arnold Melch thal, denn der „Prophet,“ von Anfang bis zu Ende eine charakter lose, unnatürliche Puppe und jeder echten Leidenschaft bar, ist nicht auf die Empfindung, sondern auf den Glanz angelegt. Glanz ist aber diejenige Wirkung, die Herr Wachtel vornehmlich erreicht. Zwei kleine Gesangstellen im zweiten Act ausgenommen, die Ander

mit so schmelzender Innigkeit vortrug, wird die Rolle des Pro pheten sich mit innerer Kälte des Darstellers nicht so schwer vereinigen lassen. Herr Wachtel hatte im zweiten und drit ten Act Momente, wo die unvergleichliche Kraft und Klang fülle seiner Stimme triumphirend wirkte und mit Leichtigkeit ein Tondickicht durchdrang, gegen welches jede andere Tenorstimme sich matt kämpft. Das Unglück war hier wieder nur die Maßlosigkeit, die Herrn Wachtel mitunter überkommt und den Ton auf Kosten der Rein heit übertreiben heißt. Herr Wachtel hatte einmal im zweiten und einmal im dritten Act das Mißgeschick, empfindlich zu hoch zu singen; für die Erzählung des Traumes war das Colorit viel zu kräftig und tageshell genommen, wir vermißten das geheimnißvoll Dämmernde des Traumlebens. Den vierten Act spielte Herr Wachtel in anständi gen Formen, über den fünften können wir nicht berichten, wir hören ihn am liebsten von der Straße aus. Alles in Allem, fehlt Herrn Wachtel’s Propheten der künstlerische Adel. Aeußerlich wirksam ist diese Leistung (von dem zweimaligen Mißgeschick des Distonirens abgese hen) kaum weniger, als die übrigen heroischen Partien dieses Sängers. Was dieselbe peinlich machte, war weniger ein Abstand derselben gegen Herrn Wachtel’s übriges Heldenrepertoire, als die allzufrische Erinnerung an Ander , dessen angeborener Adel und feingebildeter Kunstgeschmack selbst diesen jämmerlichsten aller dramatischen Helden mit einem poetischen Schein zu verklären wußte.

Da seit den „Rheinnixen“ (4. Februar d. J. !) keine neue Oper zur Aufführung kam, müssen wir uns mit den wenigen Brosamen von Neubesetzungen und Neuscenirungen behelfen, welche die Hof opern-Direction dem Publicum gütig zuwirft. Zwei Reprisen kleineren Genres haben seit jenen „Rheinnixen“ einzig und allein die bleierne Monotonie des Repertoirs unterbrochen: „ Indra “ und „Fra Diavolo .“ Welchen Schein von Berechtigung Flotow’s „Indra“ haben mochte, neu einstudirt zu werden, ist uns ein Räthsel. Die Oper hat hier schon als Novität nicht gefallen, zu einer Zeit (1852), wo man in Frl. Wildauer und Herrn Erl noch frische Kräfte besaß und Flotow’s populärer Name ein Uebriges that. Jeder weitere Versuch, dies ab geschmackte Stück wieder hervorzuziehen, fand das Publicum schwieriger

und unwilliger, bis endlich das neueste Experiment gar kein Publicum mehr fand. Wir besuchten — bethört von kritischer Gewissen haftigkeit — die neuscenirte „Indra“ und sahen sie ihre Schlangendressur vor leeren Bänken üben. Wir bedauern, daß Künst lern wie Frau Dustmann , Beck und Walter diese ganz un nöthige Prüfung nicht erspart geblieben. Wir entsinnen uns kaum einer zweiten Oper, deren drei Hauptrollen so gleichmäßig schaal, geistlos und unwirksam wären, wie diese „Indra“ mit ihrem Camoens und dem König. Die ganze ernsthafte Partie der Oper — also weit aus die größte — ist unerträglich in ihrer prätentiösen Trivialität. Nur die heiteren Partien, namentlich die beiden komischen Figuren des Wirthes und der Wirthin, sind gelungen und entschädigen uns durch ihre gute Laune, ihre hübschen, muntern Melodien. Obwol nur episodisch an die Haupthandlung angelehnt, sind diese Wirthsleute doch die einzig möglichen Retter der ganzen Oper.

Die Wiederaufnahme der „Indra“ hätte nur dann zur Noth einen Sinn gehabt, wenn man das Ehepaar mit zwei jugendlichen frischen Stimmen hätte besetzen können. Herr Erl und Fräulein Wildauer machten aber die heitern Scenen der Oper in Wahrheit zu den trübsten. Wir hegen die aufrichtigste Hochschätzung für die großen Verdienste dieser beiden Veteranen und haben diese Gesinnung mehr als einmal bethätigt; aber die größte Pietät wird sich mit sol chen Doppelproductionen absoluter Stimmlosigkeit nicht zufriedenstel len können. So wandelte denn die „Indra“ nach abermals begangenem „Verbrechen der verbotenen Rückkehr“ wieder in jene Abtheilung des Theater-Archivs zurück, wo bereits mehrere jüngstverstorbene Flo tow ’sche Opern ihrer Auferstehung (hoffentlich vergebens) ent gegenharren.

Es ist eine eigenthümliche Carriere, die Flotow’s in der Theater welt. Mit zwei kleinen, netten, aber nichts weniger als bedeutenden Opern macht er sich mit einem Schlag bekannt und beliebt. Alle deutschen Bühnen, von der größten bis zur kleinsten, nehmen sofort Besitz von „Stradella“ und „Martha“ und cultiviren sie 20 Jahre lang. Gibt es etwas Vortheilhafteres, als in Deutschland eine melo diöse kleine Oper zu schreiben, die anspruchslos und leicht zu besetzen

ist? Gibt es ein dankbareres Publicum für ein wirklich populäres Talent? Mit diesen zwei Opern waren aber auch Flotow’s Erfolge wie abgeschnitten. Große oder kleine, ernste oder komische Opern mochte der Auber von Weillenburg produciren, — es fiel Alles durch. Am sanftesten noch die „Indra,“ deren Text ihm sein Gutsnachbar, der Wassichderwalderzähler Putlitz verfertigte. Es sollte etwas Beson deres werden, — etwas Exotisch-romantisch-sentimentales; was hätte besser getaugt, als diese indische Präziosa, die einen verwundeten König mittelst einer Schlangenpolka curirt und von dem Dichter Camoëns beim Spazierengehen katholisch gemacht wird, ohne es zu wissen. Flotow hatte seine dramatische Begabung verkannt und seine musikalische überschätzt, als er sich zu diesem Stoff verstieg. Was ihm dabei glückte, war, wie gesagt, das komische Beiwerk und das mun tere Volkstreiben in der Sommernacht zu Lissabon. Es ist Schade, daß man diese Blumen nicht einfach herausheben und in ein anderes Gärtchen versetzen kann. In der Nachbarschaft von Indra’s Schlangen sind sie bis jetzt noch allerwärts umgekommen. — „König Sebastian“ (Indra) und „Franz Baldung“ (Rheinnixen) waren die ersten zwei Rollen, welche Herrn Walter aus dem Reper toir Ander’s zufielen. Mit keiner von beiden kann der Sänger eine Feder an den Hut stecken, im Gegentheil gehört aufrichtige Resigna tion dazu. Ungleich bedeutender und dankbarer ist die Titelpartie in Gounod’s „Faust“, welche jetzt gleichfalls Herr Walter singt. Wäre er der dramatischen Aufgabe des ersten und des letzten Actes völlig gewachsen, er würde seinen Vorgänger nahezu erreichen. Rein lyrische Stellen, wie deren „Faust“ so viele enthält, trägt Herr Walter sehr hübsch vor; der dunkle Timbre seiner Tenorstimme, selbst die etwas schwere Bildung des gleichsam aus der Tiefe der Brust heraufgeholten Tones (im Gegensatz zu dem hellen Colorit und dem augenblicklichen Anschlag Wachtel’s) eignet sich so vortrefflich für den Ausdruck inniger, nur sanft bewegter Empfindung. Er ist der gemüthvolle, feinere, auch musikalischere Sänger, Wachtel der glänzendere. Die Neubesetzung des „Valentin“ durch Herrn v. Bignio kommt der Oper zu statten, welche mit der meisterhaften Darstellung Gretchens durch Frau Dustmann ihre alte Anziehungskraft ungeschwächt aus übt. Auch Herr Schmid ist uns nach längerer Erkrankung wieder

zurückgegeben, das Publicum hat den König der deutschen Bassisten mit geziemendem Applaus bewillkommt.

Die zweite ältere Oper, die nach längerer Pause wieder zum Vorschein kam, ist Auber’sFra Diavolo.“ Die graciösesten, fri schen Melodien sind hier mit so anspruchsloser, geistreicher Charakteristik behandelt, der Ton des Conversations-Lustspiels so glücklich gehoben und schattirt durch komische und romantische Elemente, daß wir mit un gestörtem und noch unverringertem Behagen uns an dem reizenden Bild chen ergötzen. Die hiesige Aufführung hat uns Vergnügen bereitet, wenn sie auch nicht jeden Wunsch befriedigt. Herr Wachtel ist ohne Zweifel einer der besten deutschen Fra Diavolo’s, wenn dieser auch mit Roger’s oder Montaubry’s feiner und geistreicher Darstel lung keinen Vergleich aushält. Fräulein Tellheim bewies als Zer line unzweifelhafte Fortschritte in Spiel und Gesang; allerdings muß ersteres an Wärme und Leben, letzterer an Leichtigkeit und Correctheit noch erheblich gewinnen. In Costümfragen scheint weder Herr Wachtel noch Fräulein Tellheim gut berathen.

Die gelungenste Partie der Vorstellung ist das englische Ehe paar. Herr Meyerhofer gibt den Lord Cockburn, Fräulein Bettel heim die Lady mit so wirksamer Komik, daß ihr Erscheinen jedesmal die heiterste Stimmung hervorruft. Ueberdies war der gesang liche Theil dieser zwei Rollen nie zuvor so trefflich durchge führt, wie er es jetzt ist. Da eine Charge wie die Lady gänzlich außerhalb des Rollenfachs von Fräulein Bettelheim liegt, war uns diese gelungene Leistung um so überraschender. Jede neue Rolle dieser jungen Sängerin dünkt uns eine neue Mahnung an die Direction, ihrem Talent endlich einen größeren, würdigeren Spiel raum zu geben. Die „Recensionen“ veröffentlichten vor Kurzem das Urtheil eines kunstsinnigen Franzosen über unsere Oper. Entzückt von der Stimme Fräulein Bettelheim’s, konnte er nicht begreifen, daß diese Sängerin immer nur in unbedeutenden Rollen, meist als alte Haushälterin u. dergl., beschäftigt wurde. „Wie würde man in Paris den Schatz einer solchen Stimme zu verwerthen wissen!“ ruft der Fremde aus. „Welche Oper würde man nicht ihretwegen hervor suchen und neu einstudiren!“ Der Pariser hat vollkommen Recht. Vor Zeiten hätte eine Direction für eine Stimme wie die der

Bettelheim eigens Opern schreiben lassen, ja die Componisten hätten auf diesen Auftrag schwerlich erst gewartet. Es ist möglich, daß Fräulein Bettelheim in großen dramatischen Partien nicht gleich den höchsten Anforderungen entsprechen wird (obgleich ihre Azucena zu den besten Erwartungen berechtigt) — darum handelt es sich vor derhand gar nicht. Ein junges Talent von solcher Begabung braucht einen Spielraum, um seine Kräfte kennen zu lernen, sie zu üben, zu stärken.

Die Monotonie unseres Repertoirs, das sich in einem Dutzend Opern herumdreht, ist oft genug gerügt worden. Wir möchten, ohne das Thema dieser Klage hier neu aufzunehmen, nur ein Motiv betonen, das gewöhnlich wenig beachtet wird: das künstlerische Interesse der Sänger. Jeder dramatische Künstler, sei er talentvoller Anfänger oder fertiger Meister, bedarf neuer Aufgaben für sein Talent. Sein Geist (wenn nur überhaupt Geist da ist) will und muß Neues schaffen. Ein Künstler, der jahrelang an zehn bis zwölf abgespielte Rollen gefesselt ist, und seien es die dankbarsten, verliert die Freiheit des Schaffens, verliert die Lust und das Vertrauen zu seiner Kunst. Er muß zur Maschine werden, und wird sich dessen um so schmerz licher bewußt, je weniger er ursprünglich mit einer Maschine gemein hatte. Wir haben früher der trefflichen Darstellung Gretchens durch Frau Dustmann erwähnt. Wie ist es erklärlich, daß Frau Dust mann, die doch weitaus die bedeutendste dramatische Kraft an unserer Opernbühne ist, seit jenem „Gretchen“ keine einzige neue Rolle mehr erhielt? Das sind nun bald drei Jahre. Würde nicht anderwärts jede einsichtsvolle Direction sich durch den Besitz einer solchen Kraft veranlaßt fühlen, wenigstens das Beste und Passendste des älteren classischen Repertoirs neu zu beleben, wenn es schon wirklich an neuen Erscheinungen fehlt? Nicht nur der Zuschauer, auch der Schau spieler bedarf neuer Stücke, ja sie sind ihm in noch weit höherem Maß als jenem unentbehrliche geistige Nahrung. Wer „artistischer“ Director in Wahrheit ist und nicht blos heißt, weiß und beherzigt dies vor Allem, — wir erinnern daran, was im Burgtheater für die Entfaltung des Talents der Wolter geschehen ist.