Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 92. Wien, Donnerstag den 1. December 1864 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 92. Wien, Donnerstag den 1. December 1864 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 01.12.1864
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Musik. (Concerte. Liedertafel. Fräulein Artôt als Margarethe.)

Ed. H. Ein schönes Fest möchten wir das „Gesellschafts- Concert“ vom letzten Sonntag nennen. Nicht blos in dem allgemeinen Sinn, der jeden Ort, wo Schönes in schöner Weise vorgeführt wird, zum Festsaal erhebt, sondern in dem specielleren der festlichen Begrüßung eines verehrten Gastes.

Franz Lachner war von München eigens hieherge kommen, um seine „zweite Orchester-Suite in E-moll“ zu dirigiren; mit lang anhaltendem Beifall begrüßte das Publi cum sein Erscheinen. Dieser Willkomm — Lachner hätte ihn überall verdient und gefunden — hatte in Wien doch noch eine intimere Färbung und Bedeutung. Nicht allzu viele von den Zuhörern mochten aus eigener Erinnerung der Zeit ge denken, wo Lachner in Wien thätig war, aber der Beifall klang, als wüßten sie’s Alle und fühlten es lebhaft durch.

Vor 40 Jahren war Lachner als junger Musiker, unbe mittelt und unbekannt, aus Baiern nach Wien gewandert. Ein günstiger Stern hat ihn geleitet, und in Lachner’s schneller Carriere uns doch endlich wieder einmal sehen lassen, „wie sich Verdienst und Glück verketten“.

Nicht lange nach seiner Einwanderung ward Lachner Capellmeister am Kärntnerthor-Theater (1826), das er erst 1834 verließ, um einem Ruf nach Mannheim und bald dar auf nach München zu folgen.

Während des Decenniums 18241834 war Lachner einer der thätigsten und beliebtesten Musiker in Wien. Meh rere Akademien veranstaltete Lachner selbst (im kleinen Redou

tensaal), um seinen Compositionen Bahn zu brechen. Bald bedurfte es aber nicht mehr der eigenen Initiative: Lachner’sche Lieder erklangen fast in allen Akademien und die „Preis-Sym phonie“ (1835) erhob ihn vollends zum Hausheiligen der „Spiritual-Concerte“. Was Lachner seither in München für die Pflege classischer Musik gewirkt hat, durch seine eminente Dirigenten-Thätigkeit wie durch das Ansehen seines Namens, ist bekannt. Seine eigene Schöpferkraft jedoch schien versiegt, wenigstens lag sie in jahrelangem festen Schlummer. Da sehen wir sie plötzlich in neuer, ungeahnter Frische sich erheben und die Welt mit einer Nachblüthe überraschen, welche die Ernte seiner jüngeren Jahre in Schatten stellt. Diese Nachblüthe sind Lachner’s zwei Orchester-Suiten , die ganz Deutschland mit aufrichtiger Freude begrüßt hat. Wenn man erwägt, wie viel schwieriger, begehrlicher und verwöhnter das musikalische Publicum seit 30 Jahren geworden ist, so darf man die Aufnahme der zwei Lachner’schen Suiten wol als den bedeutendsten Erfolg bezeichnen, welchen der Componist über haupt errungen.

Die neue „Suite“ in E-moll ist der ersten in D-moll (die im vorigen Jahre Dessoff zur Aufführung brachte) sehr nahe verwandt. An Kraft und Originalität der Erfindung, an Schwung der Durchführung erreicht sie, unseres Erachtens, ihre Vorgängerin nicht, an Wohlgestalt der Form und glän zender Technik ist sie ihr ebenbürtig. Der erste von den fünf Sätzen bringt nach einer bedeutsam vorbereitenden, langsamen „Introduction“ eine Fuge, und zwar eine Doppelfuge, deren erstes Thema erst für sich durchgeführt wird, worauf das zweite Thema auftritt und das erste als Gegenthema mit durchführt. Der wuchtige Charakter der Themen und die con sequente contrapunktische Ausführung des ganzen Satzes erin

nert (abgesehen von der modernen Verwendung der Chroma tik) an die typischen Vorbilder aus älterer Zeit. Diesem ersten Satz, der uns der werthvollste von allen dünkt, folgt als zweiter ein romanzenartiges Andante in E-dur, edel und ge sangvoll, wenn auch nicht gerade bedeutend. „Menuet“ lautet die nicht ganz zutreffende Ueberschrift des dritten Satzes in H-moll, dessen Rhythmus und Tempo ihn eigentlich unserer „Polka-Mazur“ vindiciren. Wenn der Componist sich des Namens schämte, der Sache hat er sich nicht zu schämen. Die Erfüllung der alten Suitenform mit modernem Inhalt ist ja das entscheidende Verdienst der beiden Lachner’schen Orchester stücke. Wenn Bach’s und Händel’s Suiten die Tanzformen ihrer Zeit (Allemande, Sarabande, Gavotte ec.) in reineren, idealisirten Linien vorführten, warum soll ein Componist von heute nicht das Gleiche thun, wenn er es eben mit feinem Schönheitssinn vermag? Schon Beethoven konnte die alte Menuetform, wie sie Haydn benützte, nicht mehr brauchen; Lachner geht in der Modernisirung derselben noch einen starken Schritt weiter. Der Satz ist schlank gebaut, von anmuthiger, etwas tändelnder Melodie. Das „Intermezzo“ ist ein Alla Marcia mit gefälligem, interessant harmonisirtem Hauptmotiv und einem Trio in C-dur, dessen theatralisches Marschthema unter den fortlaufenden Trillerketten der Geigen von unfehl barem, aber etwas allzu populärem Effect ist. Der letzte Satz lenkte wieder in strengere Bahnen ein; an den gedrungenen polyphonen Styl des ersten Satzes anknüpfend, wirkt er sehr günstig durch seine contrapunktische Lebendigkeit. Das ganze Werk offenbart, zumal in der contrapunktlichen Arbeit, die feste und leichte Hand des Meisters; die Instrumentirung glänzt durch Wohlklang, Schattirung und unübertreffliche Durchsichtigkeit: man hört jedes Instrument heraus. So

empfangen wir in Lachner’s Suite einen anmuthigen Inhalt in meisterhaft gefügter Form und geziert mit allen Reizen moderner und doch solider Orchestertechnik. Das Werk rührt nicht an die tiefsten Tiefen der Musik, nicht an ihre letzten dämonischen Kräfte, es entzündet weder unsere Leidenschaften, noch verklärt und sänftigt es deren heißglimmende Asche. Was Lachner’s Suiten uns bieten, ist ein freundliches, wechselvolles Bild reiner Musik, einer Musik, die, gegen jede poetische und philosophische „Bedeutung“ protestirend, in anspruchslosem Be hagen sich selbst zuzuhören scheint.

Die Aufführung der neuen Suite erreichte zwar nicht die Feinheit und Egalität, mit der die „Philharmoniker“ uns deren ältere Schwester vorgeführt, doch ward die schwierige Aufgabe mit ungemeinem Eifer angefaßt und anständig gelöst. Das Intermezzo mußte wiederholt werden. Von Instrumental werken hörten wir in demselben Concert noch Franz Schu bert’s Clavierphantasie in C (op. 15) in der reizenden Or chester-Bearbeitung von Liszt und eine Liszt ’sche „Phantasie über ungarische National-Melodien“. An pikanten Einfällen und blendender Klangfarbe fehlt es dieser Composition nicht; allein die unverhüllte Barbarei, die in den Themen, und die Frivolität, die in der ganzen Behandlung steckt, lassen eine wahrhafte Be friedigung nicht aufkommen. Vielleicht waren wir doppelt empfindlich dadurch, daß die schmutzige Romantik dieses Zigeuner bivonacs unmittelbar auf zwei alte Chorlieder folgte, die mit ihrer himmlischen Reinheit und Einfachheit alle Herzen ergriffen hatten. Wir meinen Haßler’sLied vom Rosengarten" (1596) und das von Herbeck trefflich harmonisirte alte „Jägerlied“. Ne ben diesen Gesängen wußte sich Herbeck’sWeihnachtslied“, ein sechsstimmiger Chor von würdigem Ausdruck und schöner Klangwirkung, ehrenvoll zu behaupten. Die drei Chöre wurden

von Herbeck’s „Singverein“ mit einer Vollendung vorge tragen, für welche kein Lob zu groß ist. Solche Weichheit und Fülle des Klangs, solch’ zartes Anschwellen und Absterben, so musterhafte Behandlung des Wortes ist uns kaum bei irgend welcher Chorproduction je vorgekommen. Das Publicum schien förmlich zu schwelgen. Die beiden Clavierstücke spielte Herr Tausig mit jener blendenden Virtuosität, die alle seine Vor träge zunächst kennzeichnet. Gegen unsre Gewohnheit wollen wir bei diesem Anlaß des trefflichen Instruments erwähnen, dessen sich Tausig bediente; ist es doch erfreulich, wenn ein so her vorragender Meister der Clavier-Fabrication wie Ehrbar end lich auch in den monopolverschanzten Concertsälen seiner Hei mat zu den gebührenden Ehren gelangt.

In Hellmesberger’s zweiter Quartett-Soirée debütirte eine fremde Pianistin, Fräulein Louise Hauffe aus Leipzig, mit äußerst günstigem Erfolg. Sie spielte Schubert’s Es- dur-Trio mit so viel Kraft und Zartheit, so correct zugleich und belebt, daß sie das Publicum rasch und entschieden für sich gewann. Das „Frauenzimmerliche" ist in ihrem Spiel auf ein Minimum beschränkt und äußert sich mehr in äußer licher Unruhe als in inneren musikalischen Mängeln.

Das dritte „Philharmonische Concert“ verschaffte uns die Bekanntschaft von Bargiel’sOuverture zu einem Trauer spiel.“ Der Componist, ein geistiger Stiefbruder Robert Schumann’s und ein leiblicher Clara’s, verleugnet sein Vorbild in keinem Tacte. Die „Ouverture“ ist von würdigem Ausdruck und einheitlicher Haltung, formell unanfechtbar (bis auf den unnöthig angehängten lang hinsiechenden Schluß), im Detail fein und anziehend, verletzend nirgends, wenn man allenfalls von den unmotivirten Wolfsschluchtsharmonien im Durchführungssatz absieht. Im Ganzen ein sehr achtbares

Werk, aber mit größeren Intentionen angelegt, als der Com ponist zu verwirklichen vermochte. Bargiel hat seither zwei neue Ouverturen geschrieben, die bedeutender sein sollen; sein echtes und redlich strebendes Talent verdient, in seiner Weiter entwicklung nicht ignorirt zu werden. — Haydn’s B-dur- Symphonie mit ihrer liebenswürdigen Frische und Anmuth machte uns das aufrichtigste Vergnügen; sie erscheint im ersten Satz und Andante ohne Zopf und Puder, mit Rosen in dem wallend blonden Haar. Die philharmonische Hörerschaft wurde trotzdem erst warm — und das bis zum Enthusiasmus — bei Mendelssohn’s A-moll-Symphonie. Dessoff und sein Orchester feierten hier einen Triumph, den wir durch die be scheidene Bemerkung keineswegs stören wollen, daß künftig die unmittelbare Aufeinanderfolge von zwei Symphonien besser unterbleiben würde.

An Virtuosen war in letzter Woche keine Noth, eher an Abnehmern ihrer Concertbillets. Fräulein Pauline Ficht ner , eine junge, zarte Pianistin aus Pirkhert’s Schule, fand so freundlich aufmunternden Beifall, daß sie sich zu einem zweiten Concert veranlaßt sieht. Herr Joseph Derffel hat sich durch ein exquisites Programm und seinen stets anregen den Vortrag sehr in den Sympathien unseres Publicums be festigt. Ganz besonders erwärmte er die Zuhörer mit Schu bert’s herrlicher A-moll-Sonate. Herrn Hölzl’s Akademie mußten wir dem gleichzeitigen Gesellschafts-Concert opfern; zahlreicher Besuch und lebhafter Applaus sollen dem Concert geber bewiesen haben, daß der lustige „Bruder Tuck“ keines wegs vergessen sei.

Nun schließlich ein kleiner Abstecher aus dem Musikverein in den Sophienbad-Saal! Ein zahlreicheres und dankbareres Publicum, animirtere Sänger und Spieler kann man nirgends

finden, als bei einer „Festliedertafel." Diesmal war der Akademische Gesangverein“ an der Reihe, dessen tüch tiger und beliebter Chormeister Herr Weinwurm das Pro gramm sehr anziehend zusammengestellt hatte. Chöre von Abt , Rietz , Herbeck , Engelsberg und Lachner folgten einan der. Lachner war anwesend und äußerst befriedigt. Das eigentliche Tafelstück, nach welchem dem ganzen Publicum der Mund wässerte, war ein „Musikalisches Lustspiel in drei Sce nen" von Engelsberg , betitelt „Doctor Heine oder Ein Rigorosum im Sommer.“ Die echt komische Idee, welche die sem Scherz zu Grunde liegt, ist mit glücklichster Laune und äußerst geschickter Hand durchgeführt. Namentlich die erste Scene — in welcher Herr Schultner als Candidat und Herr Edlbacher als Pedell sich auszeichneten — ist von unwider stehlicher Wirkung. Trotz der vorgerückten Stunde mußte das ganze „Lustspiel“ wiederholt werden. Man rief stürmisch nach dem Componisten, der jedoch aus dem Schatten eines großen Bierglases und seines Incognitos nicht herauszulocken war. Ein Comité-Mitglied dankte für den anwesenden Autor.

Fräulein Artôt , die seit der ersten Vorstellung des schwarzen Domino“ als „Angela“ immer glänzendere Er folge aneinandergereiht, trat gestern zum erstenmal als Mar garethe in Gounod’sFaust“ auf. Das Wiener Publicum welches einerseits für Fräulein Artôt schwärmt, anderseits aber das „Gretchen“ als eine der besten Leistungen unserer Dustmann liebgewonnen hat, sah dem Abend mit neugierig ster Spannung entgegen. Der thatsächliche Erfolg Fräulein Artôt’s konnte kaum glänzender sein, es gab Applaus und Hervorruf in Fülle. Die Leistung unseres gefeierten Gastes war auch nach allen Seiten von größter technischer Vollen dung, fein, maßvoll und abgeschliffen; in der ganzen Anlage

harmonisch und reich ausgestattet mit anmuthigem Detail. Das Verdienst Fräulein Artôt’s wächst noch, wenn man erwägt, wie schwer eine Französin in diesen so ganz deutschen Charak ter sich einzuleben vermag, und nun vollends eine französische Sängerin, welche ihre größten Triumphe in dem heitern, gra ziösen Genre des musikalischen Lustspiels feiert. Auf diesem Felde hat uns Fräulein Artôt so sehr verwöhnt, daß wir ihr Gretchen“ nicht in demselben Maß vortrefflich und eigen thümlich finden können, wie ihre „Rosina" oder „Angela“. Eine Meisterin des Gesanges wird sich allerdings in jeder Rolle als solche bewähren, und in Fräulein Artôt’s Gret chen war, wie gesagt, jede einzelne Nummer, jeder einzelne Tact aufs schönste geformt und ausgeführt. Auch als Schau spielerin ist Fräulein Artôt zu gewandt und gebildet, um nicht selbst die verschiedensten Charaktere in richtigen, sicheren und geistreichen Contouren zu zeichnen, wie es ihre Darstellung des „Gretchen“ gleichfalls vollauf bewies. Allein jeder Künst ler wird einen bestimmten Darstellungskreis haben, in dem seine ganze Individualität mit der dramatischen Aufgabe voll und spontan zusammentrifft, wo wir nicht blos bewundern was er kann, sondern leibhaftig zu sehen glauben, was er ist. Diesen Eindruck vollkommener Befriedigung empfangen wir von der Artôt überall, wo ein leichter, anmuthiger Stoff sich mit reich gestickter, gefällig funkelnder Musik verbindet. Da glänzt sie als unübertreffliche Specialität. In Gounod’s Faust“ bleibt Fräulein Artôt die meisterhaft geschulte Sän gerin, die feingebildete Darstellerin; allein sie ist dies nicht mehr auf ihrem eigensten Gebiet, nicht mehr in jenem musi kalischen und dramatischen Ideenkreis, mit welchem ihre ganze Persönlichkeit uns verwachsen dünkt. Mit Einem Wort, sie kann als „Gretchen“ große Vorzüge, aber nicht jene Eigen

schaften bethätigen, die wir gerade für ihre glänzendsten und eigenthümlichsten halten. Nur Eine Nummer Gretchens ge hört vollständig dieser Sphäre an: die Bravour-Arie vor dem Schmuckkästchen.

Der meisterhafte Vortrag dieser Arie — wie die Dia manten selbst funkelnd und glitzernd — war unseres Erach tens, auch der Glanzpunkt der ganzen Leistung. Was uns an dem Totaleindruck abging, werden vielleicht nur deutsche Zuschauer vermissen: die hinreißende, lebendige Realität der Goethe ’schen Gestalt. Frl. Artôt erinnerte mitunter in ihrem durchaus edlen, aber schüchtern maßvollen, gleichsam an sich haltenden Ausdruck mehr an Goethe’s „Marie Beaumar chais“, als an das naive, stark und lebensvoll empfindende Gretchen. In den Liebesscenen, die ein volles Ausströmen, selbst Ueberströmen des Gefühls verlangen (das hier aller dings wieder mit seiner physischen Grundlage, der Kraft des Organs, zusammenhängt), schlägt Frau Dustmann ohne Frage tiefere und ergreifendere Accente an; ihr „Gretchen“ hat bei geringerem technischen Schliff mehr warme, überzeugende Beredtsamkeit. Immerhin behält die Leistung Frl. Artôt’s so viel des künstlerisch Schönen und Vortrefflichen, daß Nie mand ohne bewunderndes Interesse ihr folgen wird. Das Wort behandelte Frl. Artôt mit musterhafter Reinheit und Deutlichkeit; es wäre zu wünschen, die deutschen Sänger ver wendeten auf ihre eigene Sprache so viel Fleiß und Aufmerk samkeit, wie Frl. Artôt auf die fremde. Da Frl. Artôt das „Gretchenzum erstenmal in deutscher Sprache sang, wird sie in den nächsten Vorstellungen gewiß noch mehr Freiheit und Unbefangenheit gewinnen. Ist ja selbst ihr schwarzer Domino“ von einem Abend zum andern immer le bendiger und wirksamer geworden.