Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 223. Wien, Donnerstag den 13. April 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 223. Wien, Donnerstag den 13. April 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 13.04.1865
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Letzte Concerte.

Ed. H. Zweimal im Jahre verstummen in Wien die weltlichen Klänge, und die Musik zieht im ernsten Priester talar zum Concertsaal. Die geistliche Musik in ihrer perio dischen Wiederkehr bezeichnet bei uns zwei bedeutungsvolle Zeit wenden: sie begräbt das Jahr und hebt den Frühling aus der Taufe. Zu letzterer Feier erschien die Musica sacra heuer in dreifacher Vertretung: in den Concerten des „Haydn“, des „Singvereins“ und der „Sing-Akademie.“ Am stärksten mit dem Irdischen zusammenhängend, halb weltlich zum minde sten, gab sich der Pensionsverein „Haydn“, der anstatt des gewöhnlichen Oratoriums diesmal, wie schon wiederholt in neuester Zeit, ein zusammengesetztes Concert darbrachte. Durch diese „gemischten Akademien“ im Burgtheater schließt die Tonkünstler-Societät gleichsam einen Ring von ihrer jüngsten zu ihrer frühesten Periode. Im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts repräsentirte dieser Verein — unsere erste stabile Concertgesellschaft — so ziemlich das ganze öffentliche Concertwesen in Wien; er begriff demnach seine Stellung vollkommen, indem er neben den Oratorien „gemischte Aka demien“ in reicher Anzahl vorführte, und darin Symphonien und Ouverturen, ausgezeichnete Gesangskünstler und Virtuosen, die das bürgerliche Publicum sonst nicht hätte zu hören be kommen. Mit dem Erscheinen der beiden großen Cantaten von Haydn, an denen die Begeisterung der Hörer nicht er müdete, war das Programm der Burgtheater-Akademien auf Jahrzehnte bestimmt, als naturgemäßer Wechsel zwischen Schöpfung“ und „Jahreszeiten.“ Ueberdies hatte bald dar auf die Gründung eigener Concert-Institute („Gesellschaft der

Musikfreunde“, die „Concerts spirituels“) der Symphonie, der Kammermusik und dem edleren Virtuosenspiel sichere Pfleg stätten bereitet, mit welchen zu rivalisiren die „Tonkünstler- Societät“ sich weder verpflichtet noch verlockt fühlen konnte. Sie siedelte sich demnach förmlich im Oratorium fest. Nun geschah es wieder in neuester Zeit, daß das schmerzlich em pfundene Bedürfniß nach einem großen Chor-Institute durch die Gründung des „Singvereins“ und der „Sing-Akademie“ endlich volle Befriedigung fand. Das Vorrecht auf Oratorien- Musik ging dadurch der Tonkünstler-Societät verloren, welche neben diesen neuen Chorvereinen in dem wichtigsten Punkte in Schatten trat. Dieser Concurrenz war nicht obzusiegen, nur auszuweichen, und das konnte am passendsten durch eine aber malige Auffrischung des Repertoires im Sinne der früheren „gemischten Akademien“ geschehen. So scheint uns denn die neue Wendung der Tonkünstler-Concerte im Burgtheater keineswegs blos in Willkür oder Zufall begründet.

Das diesjährige Osterconcert des „Haydn“ enthielt MendelssohnʼsLobgesang“ und eine Reihe kleinerer Stücke. In ersterem waren die Frauenstimmen durch Frau Wilt und Fräulein Schmidtler (einer Enkelin Joseph Weigelʼs) vortheilhaft besetzt, während der Gesang unseres vielverdienten Tenorveterans Erl nur unter dem Schutz einer frommen Pietät unangefochten passirte. Es folgte Mozartʼs reizendes D-moll-Concert, dasselbe, welches gerade vor achtzig Jahren (1785) Mozart selbst an der nämlichen Stelle pro ducirt hatte. Diesmal spielte es Herr Dachs. Die beiden Virtuosen-Brüder Doppler glänzten mit einer „Phantasie über ungarische Volkslieder“. Das Stück, aus sehr originel len National-Melodien gefällig gewunden, wurde so bewunde rungswürdig ausgeführt, daß wir von der sprichwörtlichen Zwei-Flöten-Langweile nicht das Mindeste verspürten. Den

Glanzpunkt des Concertes bildete Fräulein Artôt, welche in rühmenswerther Collegialität einen Beitrag von nicht we niger als drei Gesangsvorträgen spendete. Es waren die bei den Chopinʼschen Mazurkas und die F-dur-Arie der Su sanna aus „Figaroʼs Hochzeit“ — bekannte Leistungen der großen Künstlerin, welche auch diesmal nicht hinter sich selbst zurückblieb, ebensowenig als das Publicum im Ausdrucke sei ner enthusiastischen Zustimmung. Den Beschluß machte Schu bertʼsH-moll-Marsch in Lisztʼs Arrangement. Wir hätten es kaum geglaubt, daß die Farbenpracht selbst dieser In strumentirung jemals so verblichen und schäbig aussehen könnte, als es hier in Folge der unacustischen Localität der Fall war. Gegen diesen schadenfrohen genius loci des Burg theaters, der sich in Gestalt eines dämpfenden Federbetts auf die Klangmassen legt, vermag ein Vorgeiger wie Hellmes berger und ein Dirigent wie Esser nichts auszurichten. Wir haben wiederholt den großen Fortschritt gerühmt, den die Tonkünstler-Societät seit ihrer Reorganisation als „Haydn“ (1862) gegen die früheren Aßmayer- und Randhartin ger-Productionen gemacht hat. Aber die wichtigste Reform ist seit diesen drei Jahren noch immer nicht in Angriff ge nommen: die Uebertragung der Concerte ins Hofoperntheater. Die Vorstände des „Haydn“ fühlen die Dringlichkeit dieser Maßregel gewiß so gut und besser als wir — warum ge schieht also noch immer kein entscheidender Schritt für eine Reform, welcher die Liberalität des Allerhöchsten Hofes gewiß keine Schwierigkeiten entgegenstellen wird? Die bloße histo rische Pietät fürʼs Burgtheater als Urstätte der „Tonkünstler- Societät“ dünkt uns mit so schwerer musikalischer Beschädi gung doch zu theuer erkauft.

Palmsonntag um die Mittagsstunde gab die „Sing- Akademie“ unter Direction des Herrn Weinwurm ein

Concert im Musikvereinssaal. So wäre denn dies einst viel verheißende Institut per tot discrimina rerum wieder zu einem Dirigenten und einer stattlichen Mitgliederzahl gelangt. Wir freuen uns dieser Auferstehung, welche mit der Zeit hoffentlich die jetzt noch sehr merklichen Spuren längeren Todtliegens abstreifen wird. Einige Vorträge, wie die in teressanten zwei Madrigale von John Dowland, gelangen ganz befriedigend, Anderes, wie der Ostergesang von Leis ring und das Magnificat von Durante, haben wir besser gehört. Unser Interesse concentrirte sich hauptsächlich auf SchumannʼsRequiem“. Das Requiem ist als op. 148 unter Schumannʼs nachge lassenen Werken erschienen, und zwar bei Rieter-Biedermann in Winterthur, einer Firma, die um den Nachlaß Schumannʼs und um gute Musik überhaupt sich große Verdienste gesammelt hat. Es ist in Textauffassung, Styl und technischer Behandlung ein ergänzendes Seitenstück zu der „Messe“ dieses Tondichters, nur, wie uns bedünkt, in günstigerer Stunde geschaffen. Schumannʼs Muse hatte zu jener traurigen Zeit, da sie selbst der „ewigen Ruhʼ“ be reits entgegenwallte, der glücklichen Schöpferstunden nur wenige. Die geniale Ursprünglichkeit, die gleichmäßige Lebenskraft, die seine früheren Tondichtungen durchdringt, muß man in Schumannʼs Requiem nicht erwarten. Dennoch scheint es uns ein sehr merkwürdiges Werk und mehr als dies, ein tiefempfundenes, edles und eigenthümliches. Die muthige, dabei von eitler Originalitätssucht unberührte Ueberzeugungs treue, mit welcher Schumann auch in der Kirchenmusik seinen eigenen Weg beibehält, sein eigenes Fühlen und Den ken ausspricht, unbekümmert um traditionelle Normen und Vorbilder, erfüllt uns mit Verehrung und Freude. Mag man auch Vieles in dem Requiemmodern nennen, wir

haben nichts Unwürdiges, nichts Unwahres darin vernommen; Schumann zeigt, daß auch ein „moderner Mensch“ würdevoll und herzlich mit seinem Gott sprechen kann. Man ver gleiche ihn nicht mit Bach und Beethoven in ihren Kirchen- Compositionen, Schumann strebt diese schwindelnde Höhe nicht entfernt an, und eben weil er sich für die Kirche nicht größer streckt, als er gewachsen ist, weil er auch im Gebete kein Anderer als Er selbst zu sein sich anstrengt, spricht sein Requiem“ uns so innig, überzeugend und menschlich-schön zu Gemüth. Schumann sucht die Wirkung seiner Kirchen musik weder in erstaunlichem polyphonen Aufbau, noch in dramatischer Malerei und neuen Klangeffecten. Der Gesang, dem das Orchester sich durchwegs bescheiden unterordnet, fließt einfach und sinnig dahin, mitunter freilich auch stockend oder spärlich, dafür in andern Momenten zu voller, eigenthüm licher Schönheit sich aufschwingend. Der Ausdruck des Gan zen reizt mehr zu elegischer Einkehr, zu sanfter Wehmuth, als zur Strenge und Erhabenheit. Schumannʼs Requiem ist kein musikalisches Mausoleum, dessen steinerne Züge uns die furchtbare Majestät des Todes vor Augen stellen, es ist ein Rosmarinstengel, aus dessen Duft Grabgedanken mit der geheimnißvollen Macht schmerzlicher Erinnerung zu uns auf teigen, vielleicht Niemanden an den kalten Triumph der Unsterblichkeit erinnernd, aber Jeden an das, was er selbst verlor.

Eine eingehende Schilderung dieses Werkes müssen wir, stofflich bedrängt, wie wir sind, uns für ein andermal ver sparen. Wir möchten sie überdies lieber an eine Aufführung knüpfen, die dem Hörer ein ganz vollkommenes Bild der Composition entgegenbringt. Herr Chormeister Weinwurm hat das Requiem zwar mit unverkennbarer Sorgfalt ein

studirt, allein die kurze Zeit, die darauf verwendet werden konnte, die spärliche Besetzung der Streichinstrumente, der für große Klangmassen unzureichende Raum des Musikvereins, endlich die (mit Ausnahme Herrn Panzerʼs) mangelhafte Ausführung der Solopartien bildeten eine Summe von Hemmnissen, unter welchen der Totaleindruck des Ganzen unmöglich ganz rein bleiben konnte.

Der Männergesang-Verein hatte mit seinem letz ten Concert nicht den gewohnten glänzenden Erfolg. Zwar ließ der Vortrag der Chöre nichts von jener Präcision und Tonfülle vermissen, durch welche der von Herbeck so erfolg reich geleitete Verein mit Recht berühmt ist. Aber von den vorgetragenen Compositionen erhoben sich nur wenige über das Niveau geschickter Routine, brachten es nur wenige zu einer herzhaften Wirkung. Selbst distinguirte Componisten sagten uns an diesem Tage nur mit gewählten Worten, daß sie uns eigentlich nichts zu sagen hätten. Den meisten Bei fall fand Engelsbergʼs frischer, poetisch angehauchter Chor: Der wandernde Dichter“, der wiederholt werden mußte. Außerdem wurden die letzten Strophen eines „kärntnerischen Volksliedes“ und der „Waldandacht“ von Abt wiederholt. Der letztgenannte süße Brei verdankte diesen Erfolg zumeist Herrn Przihodaʼs zartem Vortrag des Tenorsolos. Zwei von Herrn Panzer schön vorgetragene Gesangstücke („Abschied“, von Karl Löwe, und „die Uhr“, von Hoven), dann ein Violinsolo Herrn Hellmesbergerʼs waren dankenswerthe Ausfüllnummern.

Lange hat uns kein Concert so gemüthlich angesprochen, wie die Production der Zöglinge des Conservatoriums. Schon die äußere Physiognomie dieses Concerts hatte etwas familienhaft Anmuthendes. Die Stunde war 4 Uhr, der

Saal vollgepropft, die Zuhörer von freudiger Theilnahme und zum größten Theil auch von persönlichem Interesse an diesem oder jenem Zögling bewegt. Dazu der ungewohnte, frühlingsheitere Anblick eines aus lauter jungen Leuten be stehenden Orchesters, zwei hübsche Mädchen vorn bei der ersten Violine, mehrere Soldaten im weißen Waffenrock an den nächsten Pulten und an der Spitze der zweiten Violinen ein allerliebster schwarzäugiger Geiger in Taschenformat, der neunjährige SohnHellmesbergerʼs der unter väterlicher Direction sein erstes Orchesterdebut machte. War das eine Wonne, mit der die jugendliche Schaar anʼs Musiciren ging! Wie sicher und lebendig ging Alles von statten! Nach den ersten acht Allegrotacten der „Oberon“-Ouverture legte Hell mesberger den Taktstock nieder, und das ganze Tonstück flog ohne Schwankung stürmisch zum Schlusse. Die von zwölf Zöglingen unison vorgetragene Violinsonate von Seb. Bach war eine achtunggebietende Leistung, desgleichen die Durchführung von R. VolkmannʼsD-moll-Symphonie, einer interessanten, charaktervollen Composition, welche eingehender zu würdigen uns die nächste Saison Gelegenheit bieten wird. Kurz, diese anspruchslose Zöglingsproduction hat uns mit den besten Hoffnungen für den musikalischen Nachwuchs erfüllt, zu gleich mit der höchsten Achtung vor der Conservatoriums-Leitung J. Hellmesbergerʼs, dem hierin die Direction der „Gesellschaft der Musikfreunde“ mit angelegentlicher Bereitwilligkeit an die Hand geht. — Die Gesangschule des Conservatoriums steht bekanntlich nicht auf gleicher Höhe mit dem Instrumentale. Die Classe der Frau Palffy-Cornet, deren vielversprechende Schülerin Frl. Waldmann unleugbare Fortschritte zeigte, leistet Besseres als jene der Frau Marschner.

Wir können uns dem Urtheil mehrerer competenter Kri

tiker nur anschließen, welche bereits ihr Bedauern über die Verbildung einer so schönen Stimme wie die Frl. Seeho ferʼs ausdrückten. Ein so werthvolles Material, getragen von zweifellosem Talent, müßte unter guter Leitung bereits die größten Fortschritte aufweisen, anstatt das Gegentheil. Dies Bedenken darf jetzt um so freimüthiger ausgesprochen werden, als auch zahlreiche andere Schülerinnen der Frau Marschner im Lauf der letzten Jahre zu dem gleichen ungünstigen Rück schluß auf die Methode dieser Lehrerin nöthigten.

Noch ein bescheidenes Blümchen aus dem Beet der „letz ten Concerte“ verdient Erwähnung: die Abendunterhaltung, welche Fräulein Hermine Stadler (unter beifälliger Mit wirkung der Herren Hrabanek und Kremser) im Ehr barʼschen Claviersalon gab. Die junge Pianistin hat einen elastischen Anschlag, bedeutende Geläufigkeit und einen lebhaf ten, unaffectirten, nur hin und wieder etwas überstürzenden Vortrag. Sie kann eine der besten Clavierspielerinnen wer den — eine der hübschesten ist sie bereits.

Zu den bedeutendsten Ereignissen der Saison gehörte die letzte Aufführung von Seb. BachʼsMatthäus-Pas sion“ durch die „Gesellschaft der Musikfreunde“ und deren Singverein“. So wohlverdient das Lob war, das seiner zeit die „Sing-Akademie“ für die gleiche Production erntete, es erscheint nur als ein relatives neben der meisterhaften Aufführung, die wir Herrn Hofcapellmeister Herbeck ver danken. Die Chöre — sie gehören zu den schwierigsten Auf gaben in der gesammten Vocalmusik — wurden mit unüber trefflicher Genauigkeit, Zartheit und Kraft vorgetragen. Kaum wissen wir, ob wir den schwierigen, reichsfigurirten Chören und Doppelchören, oder dem zarten, einfach innigen Vortrag der Chorale den Vorzug geben sollen. Vortrefflich war auch

die Raschheit, mit welcher alle Theile — Recitative, Chöre, die sogenannten „turbae“ etc. — Schlag auf Schlag einan der folgten, ein präcises Ineinandergreifen des complicirten Räderwerks, worin Herr Herbeck durch Herrn Nottebohmʼs verständnißvolle Clavierbegleitung tüchtig unterstützt wurde. Von den Solisten erregte das lebhafteste Interesse der als Gast mitwirkende königlich hannoveranische Hofopernsänger Herr Gunz, früher Mitglied des Kärntnerthor-Theaters. Dieser in Deutschland jetzt überaus beliebte Sänger hat die ganze Frische, den jugendlichen Schmelz seiner angenehmen Tenorstimme sich vollständig erhalten und dabei in der Ge sangskunst die überraschendsten Fortschritte gemacht. Er sang den schwierigen, in unnatürlich hoher Lage sich gesangwidrig be wegenden „Evangelisten“ (den wenige Tenoristen ohne Abän derungen bewältigen) buchstäblich getreu, mit deutlichster Aus sprache, reiner Intonation und würdigem, mitunter sehr empfindungsvollem Ausdruck. Daß er die Recitative rascher und fließender sang, als es in der gewöhnlichen schleppenden Praxis geschieht, verdient ein besonderes Lob. Frau Wilt, die Herren Panzer und Förchtgott standen Herrn Gunz mit ihren trefflichen Leistungen würdig zur Seite. Wären die beiden jungen Altistinnen, deren ursprünglich schöne Mittel durch schlechte Tonbildung entstellt und durch geistige Besee lung nicht gehoben sind, auf gleicher Höhe gestanden, so hätte die (äußerst zahlreiche und aufmerksame) Hörerschaft sich eines völlig ungetrübten gleichmäßigen Genusses erfreut. Dem ungeachtet wird Jedermann sich dieser großartigen Aufführung dankbar und befriedigt erinnern, die im Wesentlichen das Rühmlichste geleistet und das musikalische Jahr in großem Styl abgeschlossen hat.