Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 296. Wien, Dienstag den 27. Juni 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 296. Wien, Dienstag den 27. Juni 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 27.06.1865
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Musikalische Plauderei.

Ed. H. Wir hätten keine Musik im Sommer? Welche Täuschung. Allerdings keine Musik, über die man schrei ben muß, keine „Afrikanerin“ oder „Isolde“, aber Musik, die man hören muß, mag man wollen oder nicht. Sie wu chert im Sommer wie ein giftiges Unkraut in Südamerika. O Leierkasten! Ihr privilegirten Peiniger des menschlichen Gehörs, ihr gesetzlich befugten Quäler aller Ruhebedürftigen und Kranken, Aller, die da studiren und geistig arbeiten — wie lange noch werdet ihr uns vom Morgen bis zur Nacht mißhandeln dürfen? Zehn Jahre sind es, seit wir, und An dere vor uns, das letztemal mit Spott und bitterem Ernst gegen diese einer Residenzstadt so unwürdige Stadtplage loszogen. Wir thaten es ziemlich hoffnungslos, denn, wie vorherzusehen, wehrten sich die Ritter jedes durch Alter „ehr würdig“ gewordenen Scandals für ihre lieben Drehorgeln, und ereiferten sich unsere Humanitätsbolde gegen die Abstel lung einer Ohrenqual, welche wenigstens 10 bis 12 Fami lien zugleich peinigt, aber 4 bis 5 Köchinnen amüsirt. Daß unsere lange zurückgedrängten Seufzer jetzt wieder Luft be kommen, daran ist niemand Anderer Schuld als der Statt halter von Böhmen. Dieser einsichtsvolle Menschenfreund („ein zweiter Daniel!“) soll nämlich beschlossen haben, die Zahl der orgelnden Gehörsmörder in Prag zu vermindern und mit Schonung der bestehenden „Rechte“ keine weiteren zu ertheilen. So soll dieses mittelalterliche Institut allmälig einfrieren. Böhmen, du Conservatorium von Europa, möge dein Beispiel fruchtbar sein! Das Land, welches unsere Musik und unsere Musikantenschaar seit jeher so reichlich ver mehrte, würde sich um uns kaum weniger verdient machen, gäbe es diesmal das Signal zur Verminderung unserer musikalischen Zwangsgenüsse.

Ich weiß nicht, ob die Quantität unserer Wiener Dreh orgeln sich von Jahr zu Jahr vermehrt, ihre Qualität aber wird immer gefährlicher. Was waren jene ehemaligen klei nen Flötenwerke, jene tragbaren Vorrathskäschen alter Lan

nerʼscher Walzer gegen die jetzigen mauererschütternden Dreh kolosse, die auf vier Rädern in Begleitung eines Directors und mehrerer Regisseure ihren musikalischen Großhandel trei ben! Die vormärzlichen Leierkästen verhielten sich zu den „vervollkommten“ von heute, wie Stubenfliegen zu giftigen Scorpionen. Ein erschütterndes Klaggeschrei dringt plötzlich wie ein Schwert in mein Ohr. Es ist der Sturm aus der Wilhelm-Tell-Ouverture, den ein sehr „vervollkommter“ Leierkasten mit riesigem „vollem Werk“ und sechs Trompe ten im Leib vor meinem Fenster andreht. Ich eile, das Fenster zu schließen — zweimal täglich erscheint diese musi kalische Guillotine mit ihrem Tell-Sturm, ihrer Don-Juan- Ouverture, ihrem Tannhäuser-Marsch! Ich kenne das wüste, alte Weib, das mit gleichgiltiger Bulldoggmiene fort orgelt, während der „Director“, rechts und links die Kappe ziehend, nach allen Fenstern hinauf begehrende Bücklinge schneidet! Wenn, wie zu erwarten steht, die Vervollkomm nung dieser Torturwerkzeuge so weit gediehen sein wird, daß sie uns das Mozartʼsche Requiem und Beethovenʼs C-moll- Symphonie ins Haus bringen, dann wird jeder Mensch von einigem Gehör und Ehrgefühl auswandern müssen.

Will und kann man die Leierkästen nicht geradezu auf heben, so möge man sie wenigstens in der inneren Stadt verbieten oder außerordentlich beschränken. Hier bringt es die Enge der Straßen mit sich, daß man immer mehrere Drehorgeln, ein halb Dutzend Claviere und verschiedene Ge sangsübungen zugleich hört. Es ist thatsächlich so weit ge kommen, daß man in der innern Stadt den Frühling und Sommer bei festverschlossenen Fenstern zubringen muß. Leier kästen sollten im engeren Sinn des Wortes eine Landplage sein. Wie auf flachem Lande das Hausiren überhaupt einen Sinn hat, so auch das Hausiren mit Musik. Dorfbewohnern, die nur des Sonntags Musik hören, mag es willkommen sein, wenn eine verstimmte Pfeifenlade ihnen den seltenen Genuß einiger Opern- oder Walzermelodien ins Haus bringt. Da jubeln die Kinder, da tanzen die Mägde und ich weiß nichts Wichtiges, was dadurch gestört würde. Anders im Innern einer Residenzstadt. Hier quillt ohnehin von Früh bis in die späte Nacht Musik aus allen Thüren, allen Fen

stern. Aus jeder Kneipe, jedem öffentlichen Garten ertönt Abends Gesang und Musik, treffliche Militärbanden durch ziehen die Stadt, die häusliche Musik-Consumtion ist ins Ungeheuerliche angewachsen. Und nun privilegiert man noch eine Unzahl ohrenmörderischer Drehorgeln, die nach Belieben zu zweien und dreien sich in einer engen Straße aufpflanzen und Hunderte von ruhig arbeitenden Menschenkindern peinigen dürfen! Das Einzige, was gegen den allgemeinen Wunsch nach Abstellung dieser Calamität immer wieder eingewendet wird, ist: daß diese Musikhausirer ja Erwerbsteuer zahlen. Desto schlimmer. Bettler fertigt man mit einem Almosen ab, oder nimmt keine Notiz von ihnen, falls man nicht will. Wer kann aber von dem aufdringlichen Geheul der „vervoll kommten“ Leiermänner keine Notiz nehmen? Das sind be waffnete Bettler. Würde man Leute gegen Erlag einer Erwerbsteuer etwa berechtigen, Jeden, der ihnen begegnet, zu kitzeln oder zu zwicken? Ich finde keinen erheblichen Unter schied zwischen diesem und dem wirklichen Privilegium der Leierzunft, einer ganzen Residenzbevölkerung das (ohnehin so lärmgequälte) Gehör vollends zermatern zu dürfen.

Schreiber dieser Zeilen wohnt in einer Straße der in neren Stadt, welche als eine „ruhige und angenehme“ ge rühmt wird. Wol wäre sie ruhig und angenehm, hätte nicht der Musikdämon sie zu einem seiner beliebtesten Stations plätze erkoren. Von den Leierkästen will ich nicht mehr reden, die sich hier regelmäßig ablösen, oder auch gleichzeitig auf geringe Distanz „werkeln“, der eine die Wilhelm-Tell-Ouver ture mit Trompeten-Register, der andere den „Trovatoremit fortwährendem „Tremolo“ auch einer neuen sauberen „Vervollkommnung“. Vor ihnen ist keine Rettung, sie haben kein Gefühl.

Aber mit den nicht steuerpflichtigen, vornehmeren Wer kelmännern im ersten und zweiten Stock meiner unglücklichen Gasse möchte ich noch ein bescheidenes freundnachbarliches Wort sprechen. Eigentlich sind es Werkefräulein, musika lische Satanellas, ohne Zweifel jung und hübsch, überaus ge bildet, aber von sehr weitem musikalischen Gewissen, liberal stem Gehör und stets verstimmtem Clavier. Während die Fräulein mir gegenüber den ganzen lieben Tag alle Offen

bachʼschen Operetten, Beethovenʼs „Sonate pathètique“, Straußʼsche Walzer, den Bacio und die Zampa-Ouverture nacheinander abthun, blutet über ihnen ein junges Opfer musikalischer Dressur unter langsamen Tonleitern und Uebun gen. Rechts von mir begrüßt ein Fräulein mit (leider aus giebiger) Sopranstimme den anbrechenden Morgen mit italie nischen Arien aus „Lucia“ und „Lucrezia". Es scheint ihr Appetit zum Frühstück zu machen, und Donizetti ist ja ohnedies schon todt. Einige Häuser weiter wird das Familiensouper regel mäßig durch vierhändiges Abschlachten von Ouverturen ein geleitet. Ist gerade Mondschein, so stöhnt auch eine Phys harmonika ihren Weltschmerz in dies liebliche Ensemble. Das wäre nun Alles recht und gut — bei geschlossenen Fenstern. Aber warum kommt solchen gebildeten und kunstsinnigen Ge müthern niemals, gar niemals der Gedanke, es könnten diese außerordentlichen Musikproductionen andern Leuten in der Straße doch vielleicht nicht immer erwünscht sein? Liegt nicht in diesem unaufhörlichen Musiciren bei offenen Fenstern auch eine Art Barbarei, ähnlich jener der Drehorgelmänner? Musikalisches Faustrecht — im ersten Stock oder vor dem Hausthor. Ist die Nächstenliebe nicht stark genug, die Fenster zu schließen, so sollte es doch die Eitelkeit sein. Denn was soll man von der musikalischen Empfindung und Bildung eines Pianisten halten, der bei offenem Fenster im ersten Stock ein Adagio in C-moll spielt, während unten eine Drehorgel von 20 Pferdekraft ihn mit einem H-moll-Csardas übertönt und vis-à-vis aus gleichfalls weitgeöffnetem Fenster eine kräftige Sängerin ihr Verlangen nach einem „Bacioin Des-dur proclamirt? Meine werthen Fräulein, bedenken Sie doch!

Am verflossenen Samstag Abend — es war obendrein ein prachtvoller, warmer Abend — hörte ich ausnahmsweise keinen Ton in meiner Gasse. Das kam daher, weil ich mich zu Hietzing in der „Neuen Welt“ befand. Die Sommer- Liedertafel, welche der Akademische Gesangverein alljähr lich in dem schönen Garten der „Neuen Welt“ abhält, hat sich bereits guten Ruf gemacht und übt eine bedeutende An ziehungskraft auf das musikalische Wien. Es geht da immer hübsch und lustig zu, die jungen, frischen Stimmen jubeln noch einmal so fröhlich durch die würzige Abendluft, und sind sie ermüdet, so ergreift Fahrbachʼs Militär-Capelle, in ihrer Weise nicht minder beredt, das Wort. Die Production von Samstag Abend, welche mehrere Novitäten, einige tiefgemüth

liche kärntische Volkslieder, endlich Herrn Weinwurmʼs preisgekrönten Chor „Germania“ brachte, bewies neuerdings, daß der Akademische Gesangverein unter seinen zahlreichen Wiener Rivalen sich die erste Stelle nach dem Männergesang- Verein errungen hat.

Unter den Novitäten waren zwei Compositionen von E. S. Engelsberg die hervorragendsten. Das „Ständ chen“, ein kurzes achtzeiliges Gedicht von Julius Mosen , ist vom Componisten äußerst stimmungsvoll wiedergegeben: ein Tenorsolo (von Herrn Schultner zart vorgetragen) bewegt sich in schöner, warm empfundener Melodie über leisen, breit gezogenen Accorden des Männerchors. Dadurch ist mit Ver meidung der abgenützten „Brummstimmen“ ein ähnlicher Effect in edlerer Weise erzielt. Das „Ständchen“ gefiel sehr, obwol es für den Vortrag im Freien viel zu zart ist; wir hoffen es im nächsten Winter im Concertsaal zu hören. Viel um fangreicher und buntfärbiger war der zweite von Engels berg gedichtete und componirte Chor „ Roman-Capitel mit unpassenden Mottos “, eine Art gesungener Qua drille in sechs Sätzen. Die Antithesen der ironischen „Mot tos“, die im Zusammenhang mit den „Roman-Capiteln“ selbst gesungen werden, sind witzig, allerdings auch etwas ge wagt und ohne gedrucktes Programm kaum verständlich. So setzt Engelsberg vor ein zärtliches Liebeslied das Motto: (frei nach Darvin): „Diese Gans ist meine Schwester, Dieses Schaf ein Vetter dein, Und mit jenem Hirsch, mein Bester, Dürftest du verschwägert sein.“ Um so erfreulicher war der glänzende Erfolg der ebenso frisch er fundenen als effectvoll gearbeiteten Composition.

Das Publicum, das keinen der guten Witze und keine der allerliebsten Melodien sich entgehen ließ, verlangte die Wiederholung der „Roman-Capitel“, welche wie ihre Vorgän ger, die „Ballscenen“, „Narren-Quadrille“ und „Doctor Heine“, bei den deutschen Gesangvereinen bald heimisch wer den dürften.

Das „Jagdlied“ trägt folgendes Motto: „Nichts Schönʼres an sonnigen Tagen, Als muthig den Adler zu jagen! Mein letzter, ich glaubʼ, War mit Eichenlaub Ein rother der vierzehnten Classe.“