Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 397 Wien, Freitag den 6. October 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 397 Wien, Freitag den 6. October 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 06.10.1865
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Hofoperntheater. („Flick und Flock“, Ballet von P. Taglioni.)

Ed. H. Unter den Namen „Flick“ und „Flock“ haben gestern bei uns zwei muntere Abenteurer debutirt, welche sich seit mehreren Jahren der größten Ehrenbezeigungen von Seiten der Berliner Bevölkerung rühmen können. Ihre kurz angebundenen, mit flohartiger Elasticität aufschnellenden Namen bilden die Firma eines komischen Zauberballets, das — am 20. September 1858 zum erstenmal gegeben — in Berlin bereits über hundert Wiederholungen erlebt hat. Ballet-Novi täten von einigem Werth und Erfolg stehen an Seltenheit guten neuen Opern kaum mehr nach, was konnte man somit hier Besseres thun, als „Flick und Flock“ endlich nach Wien zu berufen und ihren würdigen Urheber, Herrn Taglioni, dazu? Paul Taglioni, jener illustren Familie angehörig, die ein förmliches Erblehen von Terpsichore selbst besitzt, ist übrigens für seine Person der angesehenste Balletmeister in Deutsch land und der Autor des reizendsten modernen Ballets: „Sa tanella“. Taglioniʼs Talent für choreographische Erfindung und Combination wird durch die Gewandtheit noch über troffen, mit welcher er diese Fußdichtungen praktisch in Scene setzt. Stramm und kaltblütig, die Hände in den Hosen taschen, stand er, ein alter Feldherr, einige Wochen lang in dem wirbelnden Gedränge der Balletproben, bis auf sein Commando die Lebensschicksale Flockʼs sowol, als Flickʼs auf unserer Bühne plastische Rundung angenommen hatten. Diese Schicksale selbst sind allerwunderbarster Natur. Wenn man aber die Eine Voraussetzung zugibt, nämlich die Aufhebung sämmtlicher Naturgesetze, so kann es wieder nichts Einfacheres und Pragmatischeres geben, als die Erlebnisse von Flick und Flock.

Mynheer van der Straaten, nicht der ästhetische Kauf- und Lebemann aus „Uriel Akosta“, sondern ein zau berkundiger Landsmann desselben, hinterläßt seiner Familie

Schulden und leere Wände. Was noch von den Möbeln an diesen Wänden lehnt, wird bereits in den ersten Scenen auf Geheiß eines bösgearteten Bürgermeisters von Gerichtsdienern gepfän det und fortgetragen. Eben will diese militia vagans der Gerechtigkeit auch an das Bildniß des verewigten Alchymisten Hand anlegen, als dieses herabstürzt und einen geheimniß vollen Gang in der Wand sichtbar werden läßt. Flick (der Enkel van der Straatenʼs) und sein Freund Flock kriechen in diesen Tunnel und gerathen forttastend endlich in eine unterirdische Gnomenhöhle.

Es ist eine prachtvolle Höhle! Von magischem Licht allmälig erhellt, glänzen die Wände (Herr Brioschi hat nichts gespart) von Gold, Krystall und Edelsteinen. In den Nischen der Hauptpfeiler sitzen Kobolde mit colossalen Charakterköpfen; ein Heer von winzigen Gnomen und Gnominnen in schwarz- roth-goldenen Röckchen und spitzen Hüten kommt hereinge hüpft, dazu liebliche Bergwerks-Nymphen, in silberschillernde Stoffe nicht allzu dicht gekleidet, schmucke Glockenspiel-Vir tuosen und schwarzbärtige, keulenschwingende Athleten — sie Alle vereinigen sich zu einem „Ballabile“, dessen kunstvolle Rhythmik und malerische Gruppirung zu dem Gefälligsten und Ueberraschendsten gehört, was wir in diesem Genre ken nen. In nicht ganz klarer Weise wendet sich nun plötzlich die Handlung zum Tragischen. Dem Textbuch zufolgte ist es Flockʼs Erklärung der Gefühle seines leicht entzündlichen Herzens“, was ihn und seinen Gefährten ins Unglück stürzt. Beide Fremdlinge sollen auf Befehl des Gnomenkönigs und Vaters der von ihnen bewunderten Tänzerin „Topaze“ sofort geköpft werden, welcher betrübende Zwischenfall nur durch den wunderbaren Orakelspruch der „Göttin der Wahrheitabgewendet wird: „Zu finden suche für den Heil des Talis mans anderen Theil.“ Wir bitten den geehrten Leser instän dig, uns durch Fragen über den Sinn dieses Orakels nicht allzusehr zu beschämen.

Genug, daß die beiden Freunde pardonnirt und an die Oberfläche der Erde zurückgebracht werden. Sie sollen aber

bald nur desto tiefer sinken. In einem Seesturm zerschellt nämlich ihr Kahn, sie setzen sich rittlings auf das unterseeische Telegraphen-Kabel, aus dem aber einige durchreisende Depe schen Funken sprühen, und erreichen so den Meeresgrund. Die „Bewohner des Meeres“ beeilen sich, unsere Kabelreiter zu bewirthen und mit Tänzen zu unterhalten. Allein selbst hier in demokratischester Meerestiefe soll es nicht ohne bureaukratische Vexation ablaufen. Ein See-Polizei-Commissär erscheint in Gestalt eines riesigen gesottenen Krebses und chicanirt die Reisenden auf das empfindlichste ob ihrer Passe, wobei ihm seine beiden Zwickscheren die ersprießlichsten Dienste leisten. Die Scene ist überaus drollig und wird noch durch den lebhaften Antheil hinzutretender Häringe, Frösche und anderer Meerbummler effectvoll gesteigert. Nach solchem Realis mus kommt natürlich die Reihe wieder an das Ideale, das — mit gewohnter Eleganz von Frau Telle repräsentirt — als „Meerkönigin Amphytrite“ in die Handlung eintritt. Um Flock zu zeigen, wo er den „Gegenstand seines Suchens“ finden könne (wir Andern wissen nicht einmal, was er sucht), führt ihm Amphytrite fünf Städtebilder vor: Berlin, Lon don, Paris, Petersburg und Wien. Das allmälige Auftau chen dieser von Brioschi reizend gemalten Beduten ist von blendender Wirkung. Der Charakter dieser Städte soll uns aber nicht blos malerisch, sondern zugleich musikalisch und choreographisch versinnlicht werden; National-Melodien und Nationaltänze umrahmen zierend und erläuternd das Land schaftsbild. Die Idee ist recht glücklich, in einigen Theilen hätte sie allerdings noch treffender ausgeführt werden können. Das ästhetisch dürftige England wird schicklich durch „Rule Britannia“ angekündigt und durch einen Matrosentanz illu strirt. Zu letzterem liefert das Boxen einige glückliche Motive, hingegen scheint uns das weiße Pierrot-Costüm der Matrosen ein Mißgriff.

Zu dem russischen Bild muß Polen den Tanz vor strecken — immerhin, die Mazurka bleibt einer der köstlichsten Tänze und wird von Frln. Couqui allerliebst ausgeführt.

Für Paris hätte die Marseillaise oder Parisienne das populärste musikalische Citat abgegeben; es scheint, daß man politische Anspielungen scheute. Der Cancan als ge tanzte Charakteristik der französischen Nation ist nicht un passend, wol aber ist das Marketenderinnen-Costüm unpassend für diesen Tanz und unkleidsam obendrein.

Das Berliner Bild hätte bei uns einem ästhetisch ergiebigeren Platz (Neapel, Rom, Madrid) weichen sollen. Wie spärlich verfügt Preußen über ästhetische Lebensformen von charakteristischer oder rein sinnlicher Schönheit! Welche Musik, welche Tracht, welchen Tanz sollen wir als specifisch preußisch oder gar berlinerisch erkennen? Der Tanz, den man die Preußen ausführen ließ, war — spaßhaft genug — eine Polka Française! Wien taucht unter den süßlich faden Klängen des Klesheimʼschen „Mailüfterls“ aus den Wellen. Zu unserem modernen Wien, dessen neue Phy siognomie in Brioschiʼs Bild mit dem vollen Zauber der Gegenwart hervortritt, paßt jener sentimentale Bänkelsang wahrhaftig nicht. Aus der Zahl der wahrhaft gemüthvollen und wahrhaft nationalen Melodien Oesterreichs, selbst aus den „fidelen“ specifisch wienerischen Volksliedern wäre eine bessere Wahl leicht und lohnend gewesen. Zum Glück nimmt bei der Aufführung selbst das blendende Zusammen wirken des Bildes und des trefflich arrangirten, lebensvollen Jägertanzes den Zuseher völlig gefangen. Das Publicum brach hier in so anhaltenden Jubel aus, daß der Erfolg die ses „Wiener Tableaus“, allein schon die Zukunft des ganzen Ballets garantiren dürfte.

Der dritte Act — er fällt leider gegen die früheren merklich ab — führt uns wieder in die vom Anfang her wohlbekannte Stube der Straatens.

Die GroßmutterFlockʼs und deren Pathenkind, die hübsche Nella, trauern eben um die todt geglaubten Reisenden, als diese mit freudigem Ungestüm wohlbehalten hereinstürzen. Daß Nella für Flick aufbewahrt sei, unterlag keinem Zweifel. Was istʼs aber mit Flock? Dieser, offenbar schwärmerischer

angelegt als sein Freund, hat sich — in das Porträt der Großmutter vergafft. Um die runzlige Dame wieder so jung zu machen, wie sie auf dem alten Bildniß aussieht, hatte Flock der himmlischen Gesellschaft im zweiten Act eine Bou teille Verjüngungsbier entwendet. Großmütterchen trinkt und entpuppt sich wirklich zu einem schönen, jungen Mädchen. Lei der erlaubt sie sich auch in diesem Stadium noch einen kräf tigen Zug aus der Zauberflasche, trinkt sich damit 12 bis 15 Jahre vom Leibe und bleibt als kleines Kind, mit Händchen und Füßchen strampfend, auf dem Fußboden liegen.

Nun wäre wieder Alles verloren, wenn nicht der groß müthige Herr Taglioni abermals ein Einsehen hätte und schnell einen „Abgesandten des Glücks“ auf die Scene schickte, welcher dann die beiden Liebespaare im „Tempel der Fortunaohne weitere Ceremonien frischweg copulirt.

Ein Ballet wie „Flick und Flock“, das, dramatisch voll kommen anspruchslos, uns in lieblicher Zauberwelt von einem Wunder zum andern schaukelt, hat selbst einige Aehnlichkeit mit jenem unbändigen Verjüngungsgebräu: es macht uns stellenweise zu kleinen Kindern und behandelt uns demgemäß. Man kann sich das gelegentlich gern gefallen lassen, wir zum mindesten befinden uns noch immer besser dabei, als in so vielen ernsthaften Balleten, welche mit der Prätension, zu erwach senen Leuten zu sprechen, diesen unablässig den langweiligsten Widersinn zumuthen.

Den äußerst günstigen, für Herrn Taglioni sehr ehren vollen Erfolg der Novität haben wir bereits gemeldet. Ohne Zweifel wäre dieser Succeß einige Jahre früher noch glän zender ausgefallen als jetzt, wo das Publicum von Feerien und Ausstattungs-Spectakelstücken ein wenig übersättigt ist. Die Aufführung und Ausstattung des neuen Ballets gehören zu den gelungensten des Hofoperntheaters. Durch die be schränkten Räume unserer Bühne sehr im Nachtheil gegen die Berliner Aufführung, haben trotzdem Balletmeister, Maschinist und Decorations-Maler diese Ungunst mit glänzendem Erfolg besiegt; sie haben Erstaunliches geleistet, und, was wir noch

lieber betonen, meistens auch Sinnreiches und Geschmackvolles. Hertelʼs Musik, von schwacher Originalität und nicht frei von Reminiscenzen, gehört trotzdem zu den anständigsten Lei stungen in diesem Fach. Sie wird nirgends roh in der Erfin dung oder Instrumentirung und schmiegt sich mit lobens werther Sorgfalt dem Tanz wie der Scene an. Die Einlage aus OffenbachʼsSchöner Helena“, hätten wir an dieser Stelle gern vermißt, sie stimmt weder zum Charakter des Ganzen, noch zu richtigen Begriffen vom künstlerischen Eigen thumsrecht. Die beiden Titelhelden finden in den Herren Frappart und Price ein Paar prächtiger Darsteller. Der feineren Laune und vornehmeren Haltung Frappartʼs kommt die groteske Komik von Price hebend und ergänzend zu statten, dabei ist das Zusammenspiel Beider wie aus Einem Guß. Frln. Couqui entfaltete diesmal in dreifacher Rolle ihre oft gerühmte Grazie und mühelose Virtuosität; das Publicum zeichnete sie mit Vorliebe aus. Von den jüngeren Tänzerinnen, die neben Frln. Couqui genannt zu werden verdienen, hatte nur Frln. Stadelmayer Gelegenheit, sich in einem Pas de deux rühmlich hervorzuthun. Die Tän zerinnen Nini und Rotter, neuere Acquisitionen, welche rasch in der Gunst des Publicums steigen, sind in dem neuen Ballet sehr wenig beschäftigt. Wahrhaftes Furore erregte eine winzige Tänzerin, die kleine Hedwig Schräger, die ein Pas de deux mit Frappart erstaunlich sicher und gewandt tanzte. Mit der Bewunderung, die uns die Bravour der Kleinen ablockte, verband sich noch das Ergötzen an dem un leugbar travestirenden Charakter, den ihr Tanz ganz von selbst annahm, indem er in komischer Verkleinerung fast alle Pas und Gesten unserer ersten Ballerina treulich photo graphirte.

Fanny Elsler soll sich für das Zustandekommen dieses jugendlichen Debuts thätig interessirt haben. Möge ihr Name, wie er dem Anfang jetzt schützend zur Seite stand, auch der Zukunft des Kindes vorbedeutend werden.