Hofoperntheater.
(„
Euryanthe“ von C. M. v.
Weber.)
Ed. H. Es geschieht nicht selten, daß Kunstwerke, die in
unserm Kopf und Herzen längst festgesiedelt und in der
Literaturgeschichte scheinbar endgiltig untergebracht sind, theils
durch spätere historische Enthüllungen, theils durch das charak
teristische Heranwachsen ihrer künstlerischen Descendenz eine
neue Beleuchtung erhalten. Dies scheint uns — und zwar
nach beiden Richtungen — mit Weberʼs „Euryanthe“
der Fall zu sein. Manche Eigenthümlichkeiten dieses Kunst
werks erscheinen uns von wichtigerer Bedeutung, seit des
Meisters ausführliche Lebensbeschreibung (von Max v. Weber)
ihr unmittelbares, R. Wagnerʼs Opern ihr reflectirtes
Licht darauf werfen. Bestimmter, als es vordem zulässig war,
läßt sich „Euryanthe“ als der Ausgangspunkt der Wagner’
schen Musik bezeichnen. An diese Oper hat Wagner factisch
angeknüpft, mit seinem dramatischen Princip sowol, als mit
tausend musikalischen Reminiscenzen; während von Gluck,
auf dessen Vorgang er sich vorzugsweise beruft, in Wagnerʼs
Opern thatsächlich kein Hauch zu verspüren ist. Die Verwandt
schaft zwischen „Lohengrin“ und „Euryanthe“ wird manchem
Hörer ohneweiters aufgefallen sein, wäre es auch nur durch
die frappante Aehnlichkeit Ortrudʼs und Telramundʼs
mit Eglantin und Lysiart. Man kann dieses Wag
nerʼsche Intriguantenpaar eine directe Nachbildung des We
berʼschen nennen; eine carrikirte, wenn man die Uebertreibung
aller Ausdrucksweise, eine schwächliche, wenn man den eigentlich
musikalischen Gehalt ins Auge faßt. Selbst der deutsche
Kaiser im „Lohengrin“ ähnelt seinem königlichen Bruder
von Frankreich auffallend. Allein noch tieferliegend und ent
scheidender ist die musikalische Verwandtschaft — man kann
sagen, die musikalische Herkunft — des Wagnerʼschen Opern
styls aus der „Euryanthe“. Das nachdrückliche und conse
quente Voranstellen des dramatischen Ausdrucks, ja der decla
matorischen Schärfe vor die rein musikalische Schönheit, das
fortwährend charakterisirende Farbenmischen im Orchester, das
Verflößen von Recitativ und Cantilene, die bishin ungewohn
ten Begleitungsmassen, welche den Gesang mitunter ver
schlingen, die bishin ebenso ungewohnte Ausdehnung der ein
zelnen Musikstücke — dies Alles sind Neuerungen, welche die
„Euryanthe“ von allen andern Opern, Weberʼs sowol, als
seiner Vorgänger und Zeitgenossen, unterschieden. An diese
Elemente einer consequenten Dramatisirung der Musik knüpfte
Wagner, der raffinirtere, aber ungleich dürftiger begabte Mu
siker, seine „Reformen“. Wer erkennt nicht in den Gesängen
Lysiartʼs und Eglantinens und manchen Scenen des dritten
Actes Wagnerʼs musikalische Muttersprache, die allerdings bei
ihm im Verlauf der Jahre leider bis zum kreischenden Jar
gon entartet ist?
Als der Akademische Musikverein zu Breslau die Euryanthe-
Musik im Concert aufzuführen wünschte, schrieb Weber:
„Euryanthe“ ist ein rein dramatischer Versuch, seine
Wirkung nur von dem vereinigten Zusammenwirken
aller Schwesterkünste hoffend, sicher wirkungslos, wenn
ihrer Hilfe beraubt.“ Der Componist besaß also das volle
Bewußtsein seines später von Wagner adoptirten Stylprin
cips; nur war er zu sehr echter Musiker, um jemals in das
formlose, musiktödtende Sprechpathos seines Nachfolgers ver
fallen zu können. Der feinsinnige, melodienreiche Weber hätte
ohne Zweifel höchlich dagegen protestirt, für den Großvater
„Lohengrinʼs“ zu gelten, geschweige denn „Tristanʼs“, mit dem
er wahrscheinlich nicht einmal naturgeschichtlich in Eine Classe
hätte gezählt sein wollen. Verantwortlich machen darf man
demnach Weber für die Zukunftsmusik ebensowenig, als Goethe
für allʼ die wunderlichen Nachbildner seines Götz und Wer
ther. Die Geschichte aber, die nun einmal keine voraus
setzungslose Erscheinung kennt, wird trotzdem die „Euryanthe“
als die ursprüngliche Heimat der Wagnerʼschen Musik bezeich
nen müssen, als die verlockende Halbinsel, auf deren Seeseite
Wagner, auf deren Landseite Meyerbeer sich ansiedelte.
Noch einen Zug von Verwandtschaft bemerken wir zwi
schen „Euryanthe“ und Wagnerʼs Opern, der weniger die
Grundsätze des Schaffens, als dieses selbst betrifft. Das ist
die eigenthümliche Anstrengung des Talentes, die bei
Wagner in jeder Oper vorhanden und von Werk zu Werk in
enormer Steigerung begriffen ist, bei Weber wenigstens in
der Einen „Euryanthe“ sich bemerkbar machte. Weberʼs musi
kalische Erfindung, die im „Freischütz“, „Oberon“, „Präciosa“
leicht und üppig dahinquillt wie ein voller Bach durch Blu
men- und Wiesengrund, arbeitet in der „Euryanthe“ mit
ungleich geringerer Ursprünglichkeit und nimmt mitunter zu
künstlichen Druck- und Pumpwerken ihre Zuflucht. Daß nicht
etwa ein beginnendes Versiegen des Talentes die Schuld trug,
sondern die durch ein bedenkliches Princip bedingte Bemü
hung, dies Talent über sein natürliches Maß hinaus gewalt
sam zu überhöhen, beweist der spätere „Oberon“, der, mehr
in die Formen des „Freischütz“ zurücklenkend, wieder den vol
len, natürlichen Schwung und Liebreiz der Weberʼschen Me
lodie athmet. Wir theilen die Meinung Max v. Weberʼs,
daß „Oberon“, sich zu der schönsten Oper des Meisters ent
faltet hätte, wäre es diesem vergönnt gewesen, die englische
Partitur seiner Intention gemäß für Deutschland umzuar
beiten. — „Freischütz“ und „Euryanthe“ verhalten sich
musikalisch ungefähr zu einander, wie „Tannhäuser“ zu
„Lohengrin“; was die spätere Oper an Größe und Con
sequenz gewonnen, hat sie mit der Frische und Natürlichkeit der
früheren erkauft. Hier aber hört jede Aehnlichkeit zwischen
beiden Tondichtern auf. Während Weber nach der
„Euryanthe“ zum kleineren Genre („Oberon“) zurückkehrte,
das dramatische Princip nicht noch straffer spannend, sondern
es vielmehr durch weichen Anhauch der Melodie mildernd,
fuhr Wagner von Werk zu Werk fort, seinen Opern immer
mehr Musik auszusaugen und declamatorisches Pathos einzu
blasen, bis endlich als letzte Consequenz seines „Tannhäuser“
und „Lohengrin“, die „Nibelungen“ und „Tristan“ als
riesige, blutlose Gespenster sich vor uns ausstrecken.
Die Entstehungsgeschichte der „Euryanthe“ liegt gegen
wärtig durch das Verdienst des trefflichen Max v. Weber
so plan vor uns ausgebreitet, daß kaum mehr eine von des
Meisters Absichten und Anschauungen bezüglich dieses Werkes
zweifelhaft ist. Weber stand eben inmitten der Triumphe
seines „Freischütz“. Nicht blos die höchsten Erwartungen
des Publicums, auch das Verhalten der Kritik rief ihn für
sein zweites Werk zu äußerster Anspannung auf. Ihn, der
auf sein musikalisches Können so großes Gewicht legte, mußte
der von manchen Kritikern geäußerte Zweifel verdrießen, ob
der Componist dieses genialen „Singspiels“ auch für die
Formen der großen, durchgesungenen Oper ausreichen werde.
Als Barbaja im Jahre 1821Weber eine neue Oper „im
Styl des Freischütz“ für Wien bestellte, war dieser sofort ent
schlossen, sich nur zu einer „großen heroischen Oper“ herbei
zulassen. Madame Helmine v. Chezy, der kleine, rasche
Schöngeist von Dresden, bot ihm eine ganze Musterkarte von
Stoffen an, und der Meister wählte daraus leider — die
„Euryanthe“. Die Plage, welche ihm dies Textbuch bereitet
hat, war grenzenlos. Neunmal mußte „das Chez“ (so nannte
Weber die Dichterin, die ihm als eine Art Neutrum, nicht
Mann, nicht Weib, erschien) die Fabel umarbeiten. So richtig
Weber zahlreiche Fehler des Textbuches erkannte und änderte,
so gründlich täuschte er sich über die Hauptsache: den unver
ständlichen, unmotivirten Kern des Ganzen. Der Angelpunkt
der Handlung ist über diese Welt hinausverlegt, in ein Ge
heimniß von „Udo und Emma“, eines längst verstorbenen
Pärchens, das Niemanden interessirt und dessen transmundane
Verhältnisse Niemand versteht. Dies alberne, außer der
Handlung liegende und diese doch bewegende Geheimniß bildet
den Rahmen um vier Hauptpersonen, deren keine uns einen
unbedingten, herzlichen Antheil einzuflößen vermag. Die ideale
Partei bilden der schwachköpfige Minnesänger Adolar, der
Morgens mit seinem felsenfesten Vertrauen prahlt und Abends
auf den oberflächlichsten Verdacht hin die Geliebte zum Tode
führt, Euryanthe, die ebenso schwachsinnige Dulderin,
welche sich gegen die furchtbarste Anklage weder vor dem Hofe
noch später auf der Tag- und Nachtreise mit Adolar mit einer
Sylbe rechtfertigt. Ihnen stehen Lysiart und Eglantine
gegenüber, ein Paar gebildete Satane, die gleichsam aus Einem
Stück die niedrigste Bosheit repräsentiren und stets zugleich
an der Deichsel dieser widerwärtigen Intrigue ziehen. Das
ganze Unheil, welche das tugendhafte Liebespaar mit Einem Worte
hätte abwenden können und sollen, behält für uns etwas so
Befremdendes, Aeußerliches, wie später der glückliche Ausgang,
welchen ebenso plötzlich ein einziges Wort herbeiführt. Der
freudige Schlußeindruck, die Liebenden nun doch endlich ver
einigt zu sehen, wird aber noch obendrein durch das Ulti
matum verkünstelt, daß nun die Erlösung von Emmaʼs
Geist gesichert und dies eigentlich von alledem die Haupt
sache sei.
Weber ließ sich durch den Reichthum an musikalischen
Momenten, durch den Glanz der Scene und den ritterlichen
Ton des Ganzen über die trostlos verfehlte Grundlage der
Handlung täuschen. Trotzdem konnte diese Dichtung den
Componisten nimmermehr mit jener Begeisterung und Liebe
erfüllen, wie kurz zuvor der „Freischütz“. Diesen Mangel
an naiver Freude, an unmittelbar hervorquellender Herzlich
keit trachtete Weber durch das Aufgebot seiner ganzen Kunst
zu verdecken, und durch imposante Häufung von Ausdrucks
mitteln die handelnden Personen über ihre wahre Bedeutung,
sowie sein Talent über das Gebiet hinauszuheben, in welchem
er souverän herrschte. Die schönsten Nummern der Oper
sind gerade die in kleineren Formen sich bewegenden, welche
Liebe, Freude, hoffnungsvolle Sehnsucht athmen. In den
großen, leidenschaftlichen Nummern, den Gesängen Lysiartʼs
und Eglantinens, dem zweiten Finale u. s. w., auf welche
der Componist die größte Kunst und Anstrengung verwendet
hat, ist das Forcirte, Unfreie und Gedrückte mehr oder minder
überall fühlbar. Weberʼs Musik erscheint uns in diesen Scenen
höchster Leidenschaft und Größe wie in einem zu weiten
Mantel. Der Musiker bemerkt auch leicht die Stellen (zier
liche Zwischenspiele und Gesangscadenzen), welche aus dem
pathetischen Styl fallen und das wohlbekannte freundliche
Lächeln des Freischütz-Componisten zeigen. Weber vermochte
große Musikstücke nicht aus dem Felsen zu hauen, wie Beet
hoven, er setzte sie aus Blumen und Blüthen zusammen.
Man pflegt häufig die „schönen Einzelheiten“ des „Frei
schütz“ zu loben und ihm die „Euryanthe“ als ein „schönes
Ganze“ bevorzugend entgegenzustellen. Wir sind der ent
gegengesetzten Ansicht, indem wir den prachtvollen Einzelheiten
der „Euryanthe“ gegenüber den „Freischütz“ für das einheit
lichere, harmonischere Werk halten.
„Euryanthe“ erfuhr bei ihrem ersten Zug über die
deutschen Bühnen in den allerbesten Fällen einen Succès
dʼestime. Am günstigsten war es ihr noch in Wien ge
gangen, wo das Publicum, zumeist aus persönlicher Verehrung
für Weber, die ersten Vorstellungen auszeichnete, jedoch mit
dem Moment erkaltete, als Weber abgereist war. Die Kritik
in ganz Deutschland behandelte das Werk sehr kühl, ja un
gerecht, die Mängel grell hervorhebend, die Vorzüge übersehened
oder unterschätzend. Als man nach Jahren die „Euryanthe“
wieder hervorzog, trat eine berechtigte Reaktion gegen jene
ältere Anschauung ein: man erblickte darin nur Vorzüge und
keinerlei Mängel, und war insonderheit bemüht, den naiveren
und populären „Freischütz“ gegen die vornehmere „Euryanthe“
herabzusetzen. Das ist im Großen und Ganzen noch der
Standpunkt der heutigen Kritik. Unseres Erachtens hat ein
dritter Standpunkt mehr Berechtigung, welcher, vom Ueber
maß dieser Bewunderung zurückkommend, die glänzenden
Vorzüge der „Euryanthe“ und namentlich ihre große kunst
historische Bedeutung anerkennt, den „Freischütz“ jedoch als
die echtere, natürlichere Blüthe von Weberʼs Talent in sein
ursprüngliches Recht wieder einsetzt. Der kleinere, naturge
mäße Kreis, welchen ein Talent vollkommen auszufüllen, ja
mit dem Schein, ihn noch weit zu überfluthen, auszufüllen ver
steht, muß uns ästhetisch immer noch höher gelten, als die
größere, fremdartige und mit angestrengtester Kraft doch nur
nahezu gelöste Aufgabe.