Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 415. Wien, Dienstag den 24. October 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 415. Wien, Dienstag den 24. October 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.10.1865
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Hofoperntheater. („Euryanthe“ von C. M. v. Weber.)

Ed. H. Es geschieht nicht selten, daß Kunstwerke, die in unserm Kopf und Herzen längst festgesiedelt und in der Literaturgeschichte scheinbar endgiltig untergebracht sind, theils durch spätere historische Enthüllungen, theils durch das charak teristische Heranwachsen ihrer künstlerischen Descendenz eine neue Beleuchtung erhalten. Dies scheint uns — und zwar nach beiden Richtungen — mit WeberʼsEuryantheder Fall zu sein. Manche Eigenthümlichkeiten dieses Kunst werks erscheinen uns von wichtigerer Bedeutung, seit des Meisters ausführliche Lebensbeschreibung (von Max v. Weber) ihr unmittelbares, R. Wagnerʼs Opern ihr reflectirtes Licht darauf werfen. Bestimmter, als es vordem zulässig war, läßt sich „Euryanthe“ als der Ausgangspunkt der Wagnerschen Musik bezeichnen. An diese Oper hat Wagner factisch angeknüpft, mit seinem dramatischen Princip sowol, als mit tausend musikalischen Reminiscenzen; während von Gluck, auf dessen Vorgang er sich vorzugsweise beruft, in Wagnerʼs Opern thatsächlich kein Hauch zu verspüren ist. Die Verwandt schaft zwischen „Lohengrin“ und „Euryanthe“ wird manchem Hörer ohneweiters aufgefallen sein, wäre es auch nur durch die frappante Aehnlichkeit Ortrudʼs und Telramundʼs mit Eglantin und Lysiart. Man kann dieses Wag nerʼsche Intriguantenpaar eine directe Nachbildung des We berʼschen nennen; eine carrikirte, wenn man die Uebertreibung aller Ausdrucksweise, eine schwächliche, wenn man den eigentlich musikalischen Gehalt ins Auge faßt. Selbst der deutsche Kaiser im „Lohengrin“ ähnelt seinem königlichen Bruder von Frankreich auffallend. Allein noch tieferliegend und ent scheidender ist die musikalische Verwandtschaft — man kann sagen, die musikalische Herkunft — des Wagnerʼschen Opern styls aus der „Euryanthe“. Das nachdrückliche und conse quente Voranstellen des dramatischen Ausdrucks, ja der decla

matorischen Schärfe vor die rein musikalische Schönheit, das fortwährend charakterisirende Farbenmischen im Orchester, das Verflößen von Recitativ und Cantilene, die bishin ungewohn ten Begleitungsmassen, welche den Gesang mitunter ver schlingen, die bishin ebenso ungewohnte Ausdehnung der ein zelnen Musikstücke — dies Alles sind Neuerungen, welche die Euryanthe“ von allen andern Opern, Weberʼs sowol, als seiner Vorgänger und Zeitgenossen, unterschieden. An diese Elemente einer consequenten Dramatisirung der Musik knüpfte Wagner, der raffinirtere, aber ungleich dürftiger begabte Mu siker, seine „Reformen“. Wer erkennt nicht in den Gesängen Lysiartʼs und Eglantinens und manchen Scenen des dritten Actes Wagnerʼs musikalische Muttersprache, die allerdings bei ihm im Verlauf der Jahre leider bis zum kreischenden Jar gon entartet ist?

Als der Akademische Musikverein zu Breslau die Euryanthe- Musik im Concert aufzuführen wünschte, schrieb Weber: Euryanthe“ ist ein rein dramatischer Versuch, seine Wirkung nur von dem vereinigten Zusammenwirken aller Schwesterkünste hoffend, sicher wirkungslos, wenn ihrer Hilfe beraubt.“ Der Componist besaß also das volle Bewußtsein seines später von Wagner adoptirten Stylprin cips; nur war er zu sehr echter Musiker, um jemals in das formlose, musiktödtende Sprechpathos seines Nachfolgers ver fallen zu können. Der feinsinnige, melodienreiche Weber hätte ohne Zweifel höchlich dagegen protestirt, für den Großvater Lohengrinʼs“ zu gelten, geschweige denn „Tristanʼs“, mit dem er wahrscheinlich nicht einmal naturgeschichtlich in Eine Classe hätte gezählt sein wollen. Verantwortlich machen darf man demnach Weber für die Zukunftsmusik ebensowenig, als Goethe für allʼ die wunderlichen Nachbildner seines Götz und Wer ther. Die Geschichte aber, die nun einmal keine voraus setzungslose Erscheinung kennt, wird trotzdem die „Euryantheals die ursprüngliche Heimat der Wagnerʼschen Musik bezeich nen müssen, als die verlockende Halbinsel, auf deren Seeseite Wagner, auf deren Landseite Meyerbeer sich ansiedelte.

Noch einen Zug von Verwandtschaft bemerken wir zwi

schen „Euryanthe“ und Wagnerʼs Opern, der weniger die Grundsätze des Schaffens, als dieses selbst betrifft. Das ist die eigenthümliche Anstrengung des Talentes, die bei Wagner in jeder Oper vorhanden und von Werk zu Werk in enormer Steigerung begriffen ist, bei Weber wenigstens in der Einen „Euryanthe“ sich bemerkbar machte. Weberʼs musi kalische Erfindung, die im „Freischütz“, „Oberon“, „Präciosaleicht und üppig dahinquillt wie ein voller Bach durch Blu men- und Wiesengrund, arbeitet in der „Euryanthe“ mit ungleich geringerer Ursprünglichkeit und nimmt mitunter zu künstlichen Druck- und Pumpwerken ihre Zuflucht. Daß nicht etwa ein beginnendes Versiegen des Talentes die Schuld trug, sondern die durch ein bedenkliches Princip bedingte Bemü hung, dies Talent über sein natürliches Maß hinaus gewalt sam zu überhöhen, beweist der spätere „Oberon“, der, mehr in die Formen des „Freischütz“ zurücklenkend, wieder den vol len, natürlichen Schwung und Liebreiz der Weberʼschen Me lodie athmet. Wir theilen die Meinung Max v. Weberʼs, daß „Oberon“, sich zu der schönsten Oper des Meisters ent faltet hätte, wäre es diesem vergönnt gewesen, die englische Partitur seiner Intention gemäß für Deutschland umzuar beiten. — „Freischütz“ und „Euryanthe“ verhalten sich musikalisch ungefähr zu einander, wie „Tannhäuser“ zu Lohengrin“; was die spätere Oper an Größe und Con sequenz gewonnen, hat sie mit der Frische und Natürlichkeit der früheren erkauft. Hier aber hört jede Aehnlichkeit zwischen beiden Tondichtern auf. Während Weber nach der Euryanthe“ zum kleineren Genre („Oberon“) zurückkehrte, das dramatische Princip nicht noch straffer spannend, sondern es vielmehr durch weichen Anhauch der Melodie mildernd, fuhr Wagner von Werk zu Werk fort, seinen Opern immer mehr Musik auszusaugen und declamatorisches Pathos einzu blasen, bis endlich als letzte Consequenz seines „Tannhäuserund „Lohengrin“, die „Nibelungen“ und „Tristan“ als riesige, blutlose Gespenster sich vor uns ausstrecken.

Die Entstehungsgeschichte der „Euryanthe“ liegt gegen wärtig durch das Verdienst des trefflichen Max v. Weber

so plan vor uns ausgebreitet, daß kaum mehr eine von des Meisters Absichten und Anschauungen bezüglich dieses Werkes zweifelhaft ist. Weber stand eben inmitten der Triumphe seines „Freischütz“. Nicht blos die höchsten Erwartungen des Publicums, auch das Verhalten der Kritik rief ihn für sein zweites Werk zu äußerster Anspannung auf. Ihn, der auf sein musikalisches Können so großes Gewicht legte, mußte der von manchen Kritikern geäußerte Zweifel verdrießen, ob der Componist dieses genialen „Singspiels“ auch für die Formen der großen, durchgesungenen Oper ausreichen werde. Als Barbaja im Jahre 1821Weber eine neue Oper „im Styl des Freischütz“ für Wien bestellte, war dieser sofort ent schlossen, sich nur zu einer „großen heroischen Oper“ herbei zulassen. Madame Helmine v. Chezy, der kleine, rasche Schöngeist von Dresden, bot ihm eine ganze Musterkarte von Stoffen an, und der Meister wählte daraus leider — die Euryanthe“. Die Plage, welche ihm dies Textbuch bereitet hat, war grenzenlos. Neunmal mußte „das Chez“ (so nannte Weber die Dichterin, die ihm als eine Art Neutrum, nicht Mann, nicht Weib, erschien) die Fabel umarbeiten. So richtig Weber zahlreiche Fehler des Textbuches erkannte und änderte, so gründlich täuschte er sich über die Hauptsache: den unver ständlichen, unmotivirten Kern des Ganzen. Der Angelpunkt der Handlung ist über diese Welt hinausverlegt, in ein Ge heimniß von „Udo und Emma“, eines längst verstorbenen Pärchens, das Niemanden interessirt und dessen transmundane Verhältnisse Niemand versteht. Dies alberne, außer der Handlung liegende und diese doch bewegende Geheimniß bildet den Rahmen um vier Hauptpersonen, deren keine uns einen unbedingten, herzlichen Antheil einzuflößen vermag. Die ideale Partei bilden der schwachköpfige Minnesänger Adolar, der Morgens mit seinem felsenfesten Vertrauen prahlt und Abends auf den oberflächlichsten Verdacht hin die Geliebte zum Tode führt, Euryanthe, die ebenso schwachsinnige Dulderin, welche sich gegen die furchtbarste Anklage weder vor dem Hofe noch später auf der Tag- und Nachtreise mit Adolar mit einer

Sylbe rechtfertigt. Ihnen stehen Lysiart und Eglantine gegenüber, ein Paar gebildete Satane, die gleichsam aus Einem Stück die niedrigste Bosheit repräsentiren und stets zugleich an der Deichsel dieser widerwärtigen Intrigue ziehen. Das ganze Unheil, welche das tugendhafte Liebespaar mit Einem Worte hätte abwenden können und sollen, behält für uns etwas so Befremdendes, Aeußerliches, wie später der glückliche Ausgang, welchen ebenso plötzlich ein einziges Wort herbeiführt. Der freudige Schlußeindruck, die Liebenden nun doch endlich ver einigt zu sehen, wird aber noch obendrein durch das Ulti matum verkünstelt, daß nun die Erlösung von Emmaʼs Geist gesichert und dies eigentlich von alledem die Haupt sache sei.

Weber ließ sich durch den Reichthum an musikalischen Momenten, durch den Glanz der Scene und den ritterlichen Ton des Ganzen über die trostlos verfehlte Grundlage der Handlung täuschen. Trotzdem konnte diese Dichtung den Componisten nimmermehr mit jener Begeisterung und Liebe erfüllen, wie kurz zuvor der „Freischütz“. Diesen Mangel an naiver Freude, an unmittelbar hervorquellender Herzlich keit trachtete Weber durch das Aufgebot seiner ganzen Kunst zu verdecken, und durch imposante Häufung von Ausdrucks mitteln die handelnden Personen über ihre wahre Bedeutung, sowie sein Talent über das Gebiet hinauszuheben, in welchem er souverän herrschte. Die schönsten Nummern der Oper sind gerade die in kleineren Formen sich bewegenden, welche Liebe, Freude, hoffnungsvolle Sehnsucht athmen. In den großen, leidenschaftlichen Nummern, den Gesängen Lysiartʼs und Eglantinens, dem zweiten Finale u. s. w., auf welche der Componist die größte Kunst und Anstrengung verwendet hat, ist das Forcirte, Unfreie und Gedrückte mehr oder minder überall fühlbar. Weberʼs Musik erscheint uns in diesen Scenen höchster Leidenschaft und Größe wie in einem zu weiten Mantel. Der Musiker bemerkt auch leicht die Stellen (zier liche Zwischenspiele und Gesangscadenzen), welche aus dem pathetischen Styl fallen und das wohlbekannte freundliche

Lächeln des Freischütz-Componisten zeigen. Weber vermochte große Musikstücke nicht aus dem Felsen zu hauen, wie Beet hoven, er setzte sie aus Blumen und Blüthen zusammen. Man pflegt häufig die „schönen Einzelheiten“ des „Frei schütz“ zu loben und ihm die „Euryanthe“ als ein „schönes Ganze“ bevorzugend entgegenzustellen. Wir sind der ent gegengesetzten Ansicht, indem wir den prachtvollen Einzelheiten der „Euryanthe“ gegenüber den „Freischütz“ für das einheit lichere, harmonischere Werk halten.

Euryanthe“ erfuhr bei ihrem ersten Zug über die deutschen Bühnen in den allerbesten Fällen einen Succès dʼestime. Am günstigsten war es ihr noch in Wien ge gangen, wo das Publicum, zumeist aus persönlicher Verehrung für Weber, die ersten Vorstellungen auszeichnete, jedoch mit dem Moment erkaltete, als Weber abgereist war. Die Kritik in ganz Deutschland behandelte das Werk sehr kühl, ja un gerecht, die Mängel grell hervorhebend, die Vorzüge übersehened oder unterschätzend. Als man nach Jahren die „Euryanthewieder hervorzog, trat eine berechtigte Reaktion gegen jene ältere Anschauung ein: man erblickte darin nur Vorzüge und keinerlei Mängel, und war insonderheit bemüht, den naiveren und populären „Freischütz“ gegen die vornehmere „Euryantheherabzusetzen. Das ist im Großen und Ganzen noch der Standpunkt der heutigen Kritik. Unseres Erachtens hat ein dritter Standpunkt mehr Berechtigung, welcher, vom Ueber maß dieser Bewunderung zurückkommend, die glänzenden Vorzüge der „Euryanthe“ und namentlich ihre große kunst historische Bedeutung anerkennt, den „Freischütz“ jedoch als die echtere, natürlichere Blüthe von Weberʼs Talent in sein ursprüngliches Recht wieder einsetzt. Der kleinere, naturge mäße Kreis, welchen ein Talent vollkommen auszufüllen, ja mit dem Schein, ihn noch weit zu überfluthen, auszufüllen ver steht, muß uns ästhetisch immer noch höher gelten, als die größere, fremdartige und mit angestrengtester Kraft doch nur nahezu gelöste Aufgabe.