Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 429. Wien, Dienstag den 7. November 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 429. Wien, Dienstag den 7. November 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 07.11.1865
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Musik. (Philharmonisches Concert. Männergesang-Verein.)

Ed. H. Die musikalische Saison ist soeben mit Gesang und Spiel durch den Männergesang-Verein und die Phil harmoniker förmlich eröffnet worden. Letztere introducirten ihr erstes Concert mit Mendelssohn’sOuverture zu „Ruy Blas“. Ein Eröffnungsstück par excellence. Als musikalisches Kunstwerk keine der „Concert-Ouverturen“ Mendelssohn’s erreichend, hat „Ruy Blas“ in seinem jugendlichen Fortstür men, seiner glänzenden Ritterlichkeit doch einen Zug für sich, welchen weder der märchenhaft vergeistigte und vergeisterte Sommernachtstraum“, noch die mondscheingebadete „Me lusina“, noch endlich die düstere Landschaft der „Hebridenaufweist. Daß die Ruy-Blas-Ouverture äußerlicher, daß sie im eminenten Sinn theatralisch ist, nimmt ihr die Ebenbür tigkeit mit diesen Concert-Ouverturen, wahrt ihr aber eine gewisse realistische Selbstständigkeit neben diesen. Wir beken nen uns zu einer kleinen Schwäche für die jugendliche cheva lereske Energie im „Ruy Blas“ gegenüber der allzu weichen Sentimentalität mancher späteren, viel kunstvolleren Com position Mendelssohn’s; von „Jugendwerken“ im gewöhnlichen Sinn ist ohnehin kaum die Rede bei einem Tondichter, der mit zwanzig Jahren den „Sommernachtstraum“ und die Walpurgisnacht“ geschrieben. So glänzend ausgeführt wie am Sonntag von den „Philharmonikern“ kann die Ouver ture eine lebhaft anregende Wirkung nicht verfehlen.

Etwas abgeblaßt nahm sich daneben Cherubini’s Lodoiska“-Ouverture aus, die wir trotz ihres großen drama tischen Ernstes und des überaus feinen zweiten Themas den besten Ouverturen des Meisters („Faniska“ namentlich) nicht gleichstellen können. Ueber die Mitte ihrer Entwicklung, an dem Punkte angelangt, wo man eine energische Steigerung und Erhebung erwartet, nickt die Ouverture geradezu ein und schläft einen längeren, pastoralen Schlummer, aus dem sie endlich, wie von derber Hand gerüttelt, auffährt und in zwei Sprüngen zur Thür hinaus ist.

Eine sehr anziehende Novität war Julius Grimm’s viersätzige „Suite in Canonform“ für Streichinstrumente. Indem diese Composition (die wol richtiger mit „Symphonie“ bezeichnet wäre) sich durchaus den Zwang der canonischen Schreibart auflegt und überdies auf jede Mitwirkung von Blasinstrumenten verzichtet, schafft sie sich positive und ne gative Schwierigkeiten, die zu bewältigen nur ein entschie denes Talent und große Gewandtheit vermag. Beide Vorzüge muß man dem Componisten ohneweiters zugestehen. Seit lan ger Zeit hat uns kein Erstlingswerk so viel Achtung und An theil abgezwungen. Die canonische Imitation ist durch alle vier Sätze und ununterbrochen durchgeführt (meist tactweise), aber mit so viel Geschick und Grazie, daß der Hörer davon nur den Reiz dieser tönenden jeux d’esprit empfängt, das behagliche Vergnügen musikalischen Vor- und Nachdenkens, ohne von der Schwere und Starrheit der Regel irgendwie belästigt zu werden. Grimm trägt seine canonischen Bande mit ungewöhnlicher Freiheit und Eleganz. Er verwendet aller dings nur den Canon in der Octave, innerhalb dieser Form bietet er aber so viel Abwechslung als möglich. So führen im ersten Satz, einem in energischer Triolenbewegung aufstür menden Allegro, anfangs die Violinen den Canon mit den Bässen; schon in dem gesangvollen zweiten Thema ist er aber zwischen die erste Violine und das Cello verlegt, und zwar mit syncopirten Accenten, die an den pikanten Reiz eines leichten Hinkens erinnern. Der zweite Satz, ein reizendes Andante, ist für Soloquartett geschrieben. Den Ge sang der Violine (von Hellmesberger meisterhaft vorge tragen) verfolgt canonisch die Viola, beide getragen von Ar peggien des Violoncells und den einfachen Grundtönen des Contrabasses. Das Andante erinnert an die köstlichen „Ca nons für den Pedalflügel“ von R. Schumann; ihm ge bührt eigentlich das Verdienst dieser ganz modernen Neuge staltung alten Materials, welche man kurz den gesang vollen Canon nennen könnte und deren schönste Kunst es ist, die Kunst zu verbergen. Der dritte Satz der Grimm’schen Suite (ein Menuett), in welchem die erste Violine mit der zweiten den Canon führt, bewegt sich sehr gefällig, insbeson dere hebt sich das Trio in E-dur in schöner Klangwirkung hervor. Stünde der vierte Satz auf der Höhe der früheren, die er von rechtswegen sogar zu überflügeln hätte, so ließe die Totalwirkung nichts zu wünschen übrig. Leider ermattet die Erfindungskraft des Componisten gerade hier, wo der schon etwas angestrengte Hörer einen tüchtigen Schwung nach oben brauchte. Das Publicum, dessen Stimmung während des Finalsatzes etwas erkaltete, blieb trotzdem dem ganzen Werk günstig gestimmt. Ein doppelt ehrenvoller Erfolg für eine Composition, die durch ihre freiwillig angelegte musikalische Rüstung sich förmlich gegen jeden populären Erfolg verschanzt. Die mit musterhafter Glätte und Präcision ausgeführte B-dur-Symphonie von Beethoven beschloß das vom Ca pellmeister Dessoff trefflich dirigirte Concert, welches vor überfülltem Hause und unter anhaltenden, lebhaften Beifalls zeichen vor sich ging.

Die Fest-Liedertafel des Wiener Männergesang- Vereins lieferte einen neuen Beweis für die ungemeine Beliebtheit dieses Instituts. Der große Sophiensaal war über füllt, die Hitze erdrückend, das angeborne Menschenrecht, zu sitzen, zu essen und zu trinken — „sistirt“. Trotzdem lausch ten Hunderte von Menschen, die rechtzeitig (d. h. um zwei Stunden zu spät) am Platze waren, stehend, eingeengt und vergnügt den Vorträgen unserer trefflich geschulten Sänger. Von Novitäten hörten wir einen Chor von Herbeck: „Der Verliebte“, in volksthümlicher Weise à la Aennchen von Tharau gemüthlich componirt und auf Verlangen wieder holt. Hierauf eine größere Composition von Engelsberg: Poeten auf der Alm“. Wir sehen uns inmitten einer Ge sellschaft junger Freunde, die auf einer Alpenpartie ihrer poetischen Begeisterung, je nach Scene und Stimmung ver schieden gefärbt, in Citaten deutscher Lieblingsdichter Luft machen. Einleitung und Schluß zu diesem kleinen Cyklus von Chören hat die ebenso versgewandte als notenkundige Hand Engelsberg’s abrundend hinzugefügt. Die Composition ist die hübscheste uns bekannte Anwendung der Ländlerform auf Chorgesang; hier zu tieferer Empfindung sich sammelnd, dort in heiterer Lebenslust aufschäumend, klingt sie überall frisch, gemüthvoll und wahr, nirgends in die Extreme des Gesuchten oder des Trivialen verfallend.

Engelsberg, der seinen ersten raschen Erfolg auf dem Gebiet des musikalischen Scherzes errungen, hat seither durch mehrere ernste Chöre, insbesondere den jüngst erschienenen Heini von Reyer“ bewiesen, daß das Gebiet seines Talents viel weiter ausgesteckt sei. Die beneidenswerthe melodiöse Ader, die Engelsberg’s humoristischen Chören so schnelle Be liebtheit verschaffte, strömt auch in seinen sentimentalen und zärtlichen Melodien. Die wanderfrohe, studentisch glückliche Stimmung in den „Poeten auf der Alm“ erinnerte uns un willkürlich an Eichendorff’s Jugendnovelle „Dichter und ihre Gesellen“. In jedem dieser anspruchslosen Chöre steckt ein Stück Jugend. Wenn etwas den Eindruck der Novität beeinträchtigte, so war es der Umstand, daß der Componist die (mitunter sehr wesentliche) Begleitung nur für Clavier und nicht für ein kleines Orchester gesetzt hat. In den wei ten Räumen des Sophiensaales und unter der Wucht so vieler Stimmen verlor sich das Clavier bis zur Unhörbarkeit. En gelsberg’sPoeten“ wurden nach jedem Abschnitte lebhaft be klatscht und zur Wiederholung verlangt. Ein komisches Potpourri von H. Schläger (in Salzburg), „Die Landpartie“, erregte viel Heiterkeit. Sämmtliche Chöre dirigirte mit gewohnter Auszeichnung Herr Hof-Capellmeister Herbeck; als Vorstand des Vereins fungirte zum erstenmale Herr Nikolas Dumba. Die neue Stellung dieses Herrn ist für beide Theile ehren voll. Muß es Herrn Dumba freuen, daß eine Gesellschaft von so ausgezeichneter und begründeter Reputation sich mit Einstimmigkeit seiner Leitung anvertraut, so können wir ande rerseits dem Männergesang-Verein zu dieser Wahl nur gra tuliren. Herr Dumba ist als feingebildeter, liebenswürdiger, nach jeder Richtung hin unabhängiger Mann bekannt und in allen Kreisen der Residenz geschätzt. Er ist Dilettant im besten Sinn — indem er besser singt und mehr Musik ver steht, als mancher Sänger von Fach — und Mäcen im besten Sinn, indem er seit Jahren Kunst und Künstler ohne jeg liche Ostentation unterstützt. Die Freunde des unvergeßlichen Ander wissen mehr davon, in ihrem Herzen hat sich Dumba ein Denkmal gesetzt, noch ehe er das für Ander auf dem St. Marxer Friedhof errichten wollte.