Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 445. Wien, Donnerstag den 23. November 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 445. Wien, Donnerstag den 23. November 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 23.11.1865
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Concerte.

Ed. H. Zu den genußreichsten Concerten, welche die rasch anschwellende Saison bereits gebracht, zählen wir das „zweite Philharmonische“. Fräulein Auguste Kolar — sie hat den Vortritt als Dame und Gast — spielte darin Men delssohn’s G-moll-Concert mit einem Erfolg, wie er so glän zend in den clavierfeindlichen Räumen des Hofoperntheaters nur selten vorgekommen ist. Ihr Vortrag war von makel loser Reinheit, Sicherheit und Glätte, ein leichter Glanz lag wie Goldstaub darüber. Fräulein Kolar gehört unter den Virtuosen nicht zu den imposanten oder blendenden, sondern zu jenen still erfreuenden, die mit leiser, aber sicherer Hand fesseln. Ihre feine und eigene Empfindung stellt sie keinen Augenblick durch Schminke oder Uebertreibung in Zweifel. Das Gefühl erscheint bei ihr stets unter dem Einfluß des musikalischen Verstandes, und verfällt niemals jener haltlosen, in lauter Rubatos und kleinen Accenten zerschmelzenden Weichlichkeit, welche leider die „Weiblichkeit“ am Clavier zu repräsentiren pflegt. Viele Bravourstellen des Mendelssohn- schen Concertes sind auf eine größere Kraft berechnet und klingen unter Männerhänden imposanter; trotzdem könnten wir nicht sagen, daß der Mangel an Schallkraft uns irgendwo gestört, aus der Stimmung gebracht hätte. Der Grund liegt in der feinen Ausgeglichenheit und inneren Harmonie der ganzen Leistung. Fräulein Kolar gab dem Tonwerk den wahren Ausdruck, der sich im Allegro weder zu einer Leiden schaft aufreizt, die Mendelssohn fremd ist, noch in dem ru higen Strom des Andante sich inhaltslos verliert. Mehr als einmal unterbrach ihr Spiel jenes zufriedene Gemurmel der Hörer, welches das schönste Accompagnement für den Spieler ist; zum Schluß wurde die junge Künstlerin, deren anmuth volle Bildung und Bewegung auch nicht gerade abschreckend wirken, drei- oder viermal stürmisch gerufen. Das Mendels

sohn’sche G-moll-Concert selbst haben wir diesmal, nach einer wohlthuenden Pause von mehreren Jahren, mit Vergnügen und Bewunderung wieder gehört. Vor einem Decennium noch erfüllte uns eine wahre Furcht davor, glaubte man doch be reits, die Claviere im Conservatorium spielten es von selbst. Nun haben wir die nöthige Empfänglichkeit für ein Werk wiedergewonnen, das unter Mendelssohn’s Clavier-Compositio nen ohne Frage obenan steht und als Concertstück wenige seinesgleichen hat.

Beethoven’sFest-Ouverture op. 124 („Weihe des Hauses“), eine der schwierigsten Orchester-Aufgaben und da durch zu des Meisters Lebzeiten eine seiner härtesten Prü fungen, wurde mit vollendeter Virtuosität ausgeführt. Die Pariser, welche mit so viel Stolz auf den „premier coup d’archet“ ihrer Conservatoires-Concerte lauschen, hätten vor diesen blitzartig einschlagenden Eröffnungs-Accorden gehörigen Respect bekommen. Was die Ouverture selbst betrifft, so konnte das Josephstädter Theater (zu dessen Eröffnung im Jahre 1822 sie bekanntlich geschrieben ist) in erlauchterer Weise gewiß nicht eingeweiht werden. Ihre Großartigkeit in Styl und Dimensionen läßt kaum vermuthen, daß es sich dabei um eine kleine Vorstadtbühne handelte, und das ko mische Mißverständniß Fétis, der „die Weihe des Hausesmit „dédicace du temple“ übersetzte, erscheint in dieser Hinsicht so ganz unvernünftig nicht. Bei all ihrer grandio sen Haltung hat übrigens die „Fest-Ouverture“ weitaus nicht die frei und üppig dahinströmende Ideenfülle der Ouverturen zu „Egmont“, „Coriolan“, „Fidelio“ und „Leonore“; viel mehr bestätigt sie sammt ihrer kleineren Vorläuferin („Na mensfeier“ op. 115), daß Beethoven in allen Gelegen heits-Compositionen einen gedrückteren, mühsameren Flug nimmt, als gewöhnlich. — Mit herzlichem Behagen ließen wir hierauf Schubert’s jugendlich-romantische „Ouverture zu Fierabras“ an uns vorüberziehen. Sie war es nicht, die ihn unsterblich gemacht, aber es ist doch ein Unsterblicher, der aus ihr spricht. Das Concert schloß mit Schumann’s

überaus reizender D-moll-Symphonie. Noch immer verfallen hin und wieder Kritiker (auch Wiener) in den unbegreiflichen Irrthum, diese Symphonie für eine der letzten Compositio nen Schumann’s, ja sogar als einen Vorboten seiner verhäng nißvollen geistigen Verdüsterung anzusehen. Wer zu hören versteht, muß doch sofort innewerden, daß zu der bezaubern den Klarheit und Heiterkeit dieser Musik die Opuszahl 120 und die Symphonien-Nummer 4 nicht stimmt. In der That ist die D-moll-Symphonie nur in Folge späterer (hauptsäch lich die Instrumentirung treffender) Umarbeitung (1851) in dieser Reihung herausgegeben worden; componirt ist sie be reits im Jahre 1841, unmittelbar nach ihrem frühlingsdufti gen Seitenstück, der B-dur-Symphonie.

Das Werk stammt demnach aus der glücklichsten Epoche von Schumann’s Leben und Schaffen und spiegelt diesen Blumenflor der Jugend wie in einem hellen, glitzernden Wasserspiegel. Was den Total-Eindruck der Symphonie etwas beeinträchtigt, ist die mitunter undurchsichtige und im Ver hältniß zu den Motiven schwerfällig drückende Instrumenti rung des letzten Satzes. Liest man denselben in der Parti tur, oder spielt ihn vollends auf dem Clavier, so denkt man sich ihn rascher, feiner und flüchtiger, als er im Orchester klingt und selbst bei der allerbesten Aufführung herauskom men kann. In der Romanze trat Herrn Hellmesberger’s Geige gar reizend hervor. Wie weiß dieser Künstler jedes Solo, auch das kleinste, so graziös an die Oberfläche zu brin gen und dem Hörer eingänglich zu machen! Wer wollte mit ihm rechten, wenn es manchmal den Anschein gewinnt, als hörte man zuerst Hellmesberger und dann den Componisten? So war denn der Eindruck des ganzen „Philharmonischen Concertes“ der allerbefriedigendste und der einstimmige Bei fall, mit welchem das Publicum auch diesmal wieder den ver dienstvollen Capellmeister Dessoff nach jeder Nummer aus zeichnete, ebenso lebhaft als begründet.

In der Concert-Chronik der verflossenen Woche wäre noch Herrn Laub’s zweite Quartett-Soirée zu verzeichnen, in

welcher Fräulein Marie Geisler das Mendelssohn’sche D-moll-Trio mit großem Beifall vortrug. Sodann die all jährliche St. Leopolds-Akademie (15. November) im Hofopern theater, welche diesmal vor einem schwach besetzten und etwas übellaunigen Hause stattfand. Weder Esser’s interessante und gediegene Orchestersuite (sie hat ein Schwesterlein be kommen, auf dessen Bekanntschaft wir uns herzlich freuen), noch Mendelssohn’sLobgesang“ mit Frau Dustmann und Herrn Walter in den Solopartien, weder Herr Laub noch Frau Gabillon vermochten jene „angenehme Tem peratur“ der Zustimmung zu erzeugen, welche der preußische Kriegsminister im Herrenhause so erquickend fand. Der Wohl thätigkeitssinn der Wiener hat sich gewiß nicht überlebt, aber von den Wohlthätigkeits-Akademien glauben wir es.

Die „Stiftungs-Liedertafel“ des Akademischen Ge sangvereins war glücklicher, sie versammelte ein großes Publi cum und amusirte es aufs beste. Zwar hatte das Pro gramm an seiner wichtigsten Stelle ein polizeiliches Leck be kommen, durch das Verbot von Engelsberg’s witziger und melodienreicher Humoreske: „Der Landtag“. Trotzdem hieß das Publicum den dafür substituirten „Doctor Heine“ von Engelsberg als einen stets gerngesehenen Freund will kommen. Herr Chormeister Weinwurm leitete die Pro duction mit Eifer und Gewandtheit. Seiner Thätigkeit ist es vorzüglich zu danken, wenn der Akademische Gesang verein, von all seinen zahlreichen Collegen der einzige, neben dem „Wiener Männergesang-Verein“ eine gewisse respectable Stellung einnimmt. Dies Resultat wiegt doppelt schwer, wenn man die eigenthümlichen Hindernisse erwägt, gegen welche Herr Weinwurm zu kämpfen hat. Sein Sänger personal ist kein stabiles, es wechselt in fortwährender Er neuerung. Kaum haben die jungen Sänger die erwünschte Schulung und Sicherheit erlangt, so schlägt die Abschieds stunde ihrer Universitätszeit, und sie ziehen als Aerzte, Advo caten, Beamte davon, um neuen, erst zu drillenden „Füchsen“ den Platz zu räumen. Wie wir auf unsern Kirchenchören die Sängerknaben und diese ihre Sopran- und Altstimmen

dann verlieren, wann beide am tüchtigsten geworden, so raubt alljährlich eine Art sociale Mutation dem Akademischen Ge sangverein seine besten Tenore und Bassisten. Außerdem gibt jedem Sängerbund die steigende Concurrenz immer mehr zu schaffen. Als in Oesterreich die verspätete und verbotene Frucht der Gesangvereine gereift war, wurde sie mit Jubel begrüßt und vermehrte sich bald auf das erstaunlichste. Diese Beliebtheit erzeugte eine Menge Liedertafeln; jetzt beginnt die Menge der Liedertafeln deren Beliebtheit zu untergraben. Der Männergesang wurde zur wuchernden Schlingpflanze; je mehr Flächenraum sie in Besitz nahm, desto augenfälliger ward dies Mißverhältniß zu ihrem von Natur und Kunst so engbegrenzten musikalischen Gebiet. Wien hat eine ganze Musterkarte von Sängerbünden und Liedertafeln, und manche bescheidene Provinzstadt zählt deren zwei bis drei. Es ist kein Wunder, wenn manche Ausartungen dieses Männer- gesangfiebers nachgerade die Satyre herausfordern. Capell meister Kunz in München, selbst Chordirector und Lieblings componist mehrerer Liedertafeln, hat kürzlich unter dem Titel: Die Stiftung der Moosgau-Sänger-Genossen schaft Moosgrillia“ eine Festschrift voll des ergötzlichsten Humors geschrieben.

Vier kleine Orte aus dem „Dauchauer Moos“: Lud wigsfeld, Karlsfeld, Moosach und Feldmoching tagen mit Ernst und Gründlichkeit über die Errichtung einer Sänger genossenschaft, welche Moosgrillia heißen soll. Zuvörderst pflegt man eine kurze Erhebung über Sängerzahl und etwa schon eingeübte Gesänge. Das Resultat fällt über Erwarten günstig aus. Moosach stellt einen Secund-Tenor, desgleichen Karlsfeld; Ludwigsfeld zwei Primbässe; Feldmoching nur passive Mitglieder, keine Stimmen. Die Anfänge des Reper toires erweisen sich als bedeutsam und zeitgemäß. Das „Schuh drücken“ kennen sie Alle; der Secund-Tenor von Karlsfeld hat großen Respect vor den „schönsten Augen“, die ihn zu Grunde gerichtet, und der von Moosach, wenn er heiser ist, weiß im Falsett ausdrucksvoll die Melodie wiederzugeben: „Ich möchte sie wol küssen“. Nun wird sofort zur Wahl

eines Vororts geschritten, und da jeder der vier Orte dies Ehre aus den gewichtigsten Gründen für sich anspricht, droht die junge Verbrüderung beinahe zu scheitern. Eine lange, be herzte Rede des Doctors aus Feldmoching erringt die erstrebte Oberherrschaft diesem Orte, der zwar gar keinen Sänger stellen kann, dafür aber ungleich Bedeutenderes: Intelli genz und Repräsentation! Um doch eine kleine Ran cüne an dem glücklichen Concurrenten zu üben, richtet Moosach sofort an Feldmoching die Interpellation: was denn im Männergesangthum die Hauptsache sei? Die Antwort, welche der „Moosgrillia“ eine glänzende Zukunft schuf, erfolgt ohne Zögern: „Wenn ein neuer Gesangverein sich bildet, so ist die Hauptsache: die Anschaffung einer Sängerfahne; sodann Feste, Feste — deren unendlich lange Reihe am natürlichsten mit dem Fest der Fahnenweihe beginnt. Vor Allem also: eine Fahne her! Im Besitz einer Fahne hat der Verein überhaupt etwas zum Hochhalten; im Besitz einer Fahne darf er an jedem deutschen Sängerfest theilnehmen, die deutsche Bruderhand drücken und drücken lassen, den deutschen Bru derkuß tauschen vom Belt bis zur Adria, von der Memel bis zum Rhein, kurz von allen erdenklichen geographischen Linien, die sich nur kreuz und quer über Deutschland ziehen lassen, soweit die deutsche Zunge reicht!“ Nun schreitet die neue Sängergenossenschaft, welche vorderhand nur vier Stück Mit telstimmen und weder ersten Tenor noch zweiten Baß besitzt, mit Feuereifer an die Debatte über Farbe, Größe, Form und Zeichnung der Fahne, über Sängerzeichen, Symbol, Wahlspruch, Genossenschaftssiegel, Tragband und Fahnenträ ger. Wir können diese classische Verhandlung, die sich jedes mal neu belebt, wenn ein frisches Faß Bier herangerollt kommt, hier leider nicht weiter verfolgen. Der witzige Autor hat wirklich nichts vergessen, was nur möglicherweise bei einer solchen Fahnendebatte ausgeheckt werden kann. Eines aus genommen: den Antrag, daß das Banner auch als Bahr tuch verwendbar sein müsse. Dieser höchste Gipfel von Ver einspoesie ist erst in der allerjüngsten Zeit erreicht worden, und zwar — nicht in Feldmoching.