Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 452. Wien, Donnerstag den 30. November 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 452. Wien, Donnerstag den 30. November 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.11.1865
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Das erste „Patti-Concert“.

Ed. H. Indem wir in unserem letzten Feuilleton die neue Erscheinung der Ullman’schen Associations-Concerte ganz im Allgemeinen, als Form, betrachteten, wollten wir die Sache von den Personen trennen. Letztere haben wir erst in dem Patti-Concert von gestern Abends, also nach Abfassung jenes Artikels, kennen gelernt. Die Thatsache des ungemeinen Er folges ward von uns in einer kurzen Nachschrift gemeldet; über die Production selbst sind wir dem Leser noch genaueren Bericht schuldig.

Gleich beim Eintritt in den glänzend beleuchteten Saal war Jedermann von dem zweckmäßigen Arrangement ange nehm überrascht. Herr Ullman hat die zahlreichen Seiten öffnungen und Loggien zu beiden Seiten des Saales und der Galerie — dem Ballbesucher als Pforten zum Souper be kannt — durch Holzwände verschließen lassen, um eine günstigere Akustik zu erzielen. Die Eintheilung der Sitzreihen, sowie die Ordnung bei Anweisung der Plätze war musterhaft — möge sie auch thatsächlich ein Muster sein für unsere Redoutensaal- Concerte, in welchen selbst ergraute Stammgäste nur mit Mühe und Gefahr ihre Sitze auffinden. Dadurch, daß die Stühle mittelst Holzleisten befestigt waren, sah sich der dank bare Zuhörer von der üblichen Barbarei des Rutschens er löst. Rühmen wir noch, daß selbst die Zuhörer auf den nicht- nummerirten Plätzen des Parterres und der Galerie voll kommen bequem und ungedrängt waren, so wird man gerne dem Lob zustimmen, das einhellig über Herrn Ullman’s Ar rangirtalent laut wurde.

Was die gefeierte Carlotta Patti betrifft, so will sie mit einem eigenen Maßstab gemessen sein. Die abnorme Höhe ihrer Stimme und mehr noch die erstaunliche Leichtig keit und Sicherheit, mit der sie sich in dieser dreigestrichenen Schneeregion des Gesanges bewegt, in welcher selbst einer Malibran und Catalani jeder Athemzug vergangen wäre, stempeln Carlotta Patti zu einer bisher nicht vorgekommenen und vielleicht niemals wiederkehrenden Specialität, also schlecht hin zu einem Unicum in der Gesangswelt. Sie erreicht Töne, wie das dreigestrichene d, e, f, nicht etwa in gewagtem, blitz

artigem Sprung oder vorbereitendem Anlauf, sondern setzt sie nach einer Pause pianissimo oder mezza-voce frei, mit vollen deter Reinheit und Ruhe ein, schwellt sie bis zum fortissimo und läßt sie allmälig wieder zum Hauch verklingen. In der Linda-Arie hörten wir Triller auf dem hohen des und es, im Carneval von Venedig“ ein lang und kraftvoll ausgehaltenes e, in dem (nach Es-dur transponirten) „Schattenwalzer“ der Dinorah Echo-Effecte in den höchsten Lagen, einmal sogar in schönstem Klang das dreigestrichene ges!

Durch diese wahrhaft außerordentliche Kehle und durch die Virtuosität in Allem, was auf jenem ihr allein gehörigen Höhengebiete sich bewegt, ist Carlotta Patti unstreitig eine Erscheinung ohnegleichen.

Ihre Intonation ist stets haarscharf, ihre Virtuosität nach einigen Richtungen sehr ausgebildet, vor Allem im Stac cato, das man nicht glänzender hervorbringen kann, als sie es in den Sextensprüngen der Linda-Arie und am Schluß der Lachcouplets thut. Der Triller ist leicht und flüssig, aber nicht immer von tadelloser Gleichheit; am wenigsten befrie digte die Verbindung der Töne im Legato, namentlich bei herabsteigender Scala. Als vollendete Gesangskünstlerin erscheint uns demnach Carlotta Patti trotz all ihrer blenden den Kunststücke nicht, und wir können sie, auch vom blos technischen Standpunkt, unmöglich in Eine Reihe mit Ade lina Patti oder Désirée Artôt stellen. Der Klang die ser phänomenalen Stimme ist nicht ohne eigenthümlichen Reiz — die Höhe silberglöckchenartig — hat aber weder Größe noch Wärme. Sie ist von einem kalten gläsernen Glanz, der im Passagenwerk an Sterngeflimmer, in ruhiger Ausbreitung auf den höchsten Noten an das weiße Licht des Magnesiums erinnert. Eine gewisse Familienähnlichkeit herrscht zwischen den Stimmen Carlotta’s und ihrer jüngeren Schwester, un gefähr wie zwischen ihren Gesichtszügen, doch ist Adelina’s Organ voller, wärmer und vor Allem empfänglicher für alle Schattirungen des Ausdrucks. Die mittleren und tiefen Töne Carlotta’s haben wenig Körper und Rundung; wenn sie eine Cantilene in gewöhnlicher Gesangslage anhebt (wie gleich anfangs in der Linda-Arie), so glaubt man fast eine Kinder stimme zu vernehmen und lauscht ihr mehr befremdet als be friedigt. Wir mußten den Timbre dieser Stimme erst förm lich gewöhnen, er sagte uns in der dritten Nummer besser

zu, als in der zweiten und ersten, und am besten in der letzten.

Wenn uns, was leicht möglich ist, Stimme und Aus druck Carlotta’s in gleicher Progression von Concert zu Con cert, wie gestern von Nummer zu Nummer, schöner vorkom men sollte, werden wir nicht zögern, es mit Freuden zu gestehen. Und ihr Vortrag? Er gleicht frappant der Stimme. Strahlend, elegant, sogar graziös, läßt der Gesang Carlotta’s die weite, reiche Welt des Gedankens und der Empfindung völlig abseits; das ewige Meer der Leidenschaft kräuselt er nicht mit Einer Welle. Er blendet den Sinn, entzückt ihn vielleicht, aber zum Herzen findet er keinen Weg. Aus diesen Tönen dringt nicht Blumenduft noch Frühlingswärme zu uns; kein Druck einer geliebten Hand, kein Blick eines seelenvollen Auges — wir sind allein unter geschliffenen Kry stallen und hellpolirtem Marmor. Der Hörer kommt aus dem Bewundern nicht heraus, der Kritiker nicht über die Bewun derung. Carlotta Patti ist eine eminente Merkwürdigkeit, man muß sie gehört haben. Wie mächtig man sich hierauf gedrängt fühle, sie oft und wieder zu hören, das mag die Empfindung jedes Einzelnen entscheiden. Am meisten erstaunt hat uns unter Carlotta’s Vorträgen der „Carneval von Venedig“, am aufrichtigsten erfreuten die Couplets (l’éclat de rire) von Auber. Dieser anspruchslose Scherz schien uns, so wie er äußerlich die schönen, statuarischen Züge der Sängerin plötzlich belebte, auch ihrem Gesang ein eigen thümliches Leben einzuhauchen. Dieses Lied singt Carlotta Patti nicht blos mit Bravour, sondern in der That mit Esprit und liebenswürdigem Humor. Das Publicum schien derselben Ansicht, es steigerte den Beifall, den es der Künst lerin nach jeder Nummer so reichlich gespendet, nach den Lach Couplets zum vollständigen Sturm. Ueberdies wirkt das gesungene Lachen ansteckend; es war zu ergötzlich, nichts als lächelnde und lachende Gesichter im ganzen Saale zu sehen.

Die Clavierbegleitung aller Solostücke wurde von Herrn Ed. Franck in jener vorlauten und schleuderischen Weise abgehämmert, welche unsern Walzerspielern auf Hausbällen eigen ist.

Die berühmten drei Instrumental-Virtuosen, welche an dem Abend auftraten (Jaell, Vieuxtemps und Piatti),

sind unserem Publicum aus früheren Zeiten bekannt und lieb; wir können uns daher über sie kürzer fassen. Die Er öffnungsnummer spielten sie zusammen: Mendelssohn’s C-moll-Trio, welches uns bereits stark frostig und formell klingt. Die Ausführung war virtuos, in jedem Sinn, also nicht blos im lobenden; sie kam uns gar zu glatt im Aus druck, gar zu rapid im Zeitmaß vor. Es wäre kein Wunder, wenn die Herren nicht in bester Stimmung waren, drückte sie doch die doppelte Wahrnehmung, in einem für Kammer musik viel zu großen Raum und vor einem aus lauter Patti- Neugierde zerstreuten Publicum zu spielen. Sobald letztere befriedigt war und die drei Künstler sich einzeln producirten, war ihr Erfolg auch der allergünstigste. Herr Jaell ist als der vollendete Salonspieler zurückgekehrt, der uns vor zwei Jahren verlassen, ja wir möchten behaupten, er habe sein „Home, sweet home“ diesmal noch eleganter und perlender vorgetragen als je, wenn wir selbst das für möglich hielten. Herr Alfred Piatti gilt unbestritten für den ersten lebenden Violoncell-Virtuosen. Sein Ton ist von entzückender Fülle und Reinheit, sein Vortrag vornehm und gesangvoll, die linke Hand thut Wunder an Behendigkeit, während die rechte den Bogen bald leicht wie auf einer Violine, bald wuchtig wie auf dem Contrabaß führt. Blos das Eine war zu bedauern, daß Herr Piatti seiner Kunst keine besseren Objecte ge wählt hatte, als die beiden veralteten Solostücke von Mo lique und Kummer.

Ueber Herrn Vieuxtemps kommt uns das Urtheil etwas schwerer an, denn fast erkannten wir in ihm den herr lichen Meister vom Jahre 1852 nicht wieder, für den kaum ein Kritiker mehr geschwärmt hat, als Schreiber dieser Zei len. Der Vieuxtemps vom gestrigen Patti-Concert glänzt noch immer als ein Virtuose voll Bravour und prickelnder Effecte, aber es ist nicht mehr jener große, edle Geiger, der die blühenden Töne mit der Wurzel herauszog, und dessen gewaltiger Sang jedes Herz bewegte. Eine gewisse Flachheit und leere Leichtigkeit, ein bequemes Prunken mit kleinlichen Flageolett-Effecten und Aehnlichem hat sein ehemals impo santes Spiel verwinzigt. Möglich, daß besondere, ungünstige Einflüsse gerade an dem Abend ihn gehemmt oder uns ge täuscht haben — nichts könnte uns lebhafter freuen, als wenn Vieuxtemps selbst unsere Meinung demnächst widerlegen und unbarmherzig niedergeigen würde. Eine alte Liebe wäre uns zurückgegeben.