Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 458. Wien, Mittwoch den 6. December 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 458. Wien, Mittwoch den 6. December 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 06.12.1865
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". komplette Kritik: Personen, Daten, Orte, Werke ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Es gibt interessante Concertprogramme, die sich auf dem Anschlagzettel ungleich effectvoller ausnehmen, als sie uns nach der Aufführung erscheinen. Dahin gehörte das zweite Gesellschaftsconcert“ mit seiner Cheru biniʼschen Symphonie und BeethovenʼsStephansmusik“. Wer wollte Herrn Hofcapellmeister Herbeck nicht Recht und Dank zollen, daß er zwei Werke großer Tonmeister zum erstenmal vollständig zur Aufführung brachte? Aber er selbst dürfte mit dem Publicum kaum ernstlich schmollen, weil es von der einen Composition gar nicht, von der andern nur eher mäßig entzückt nach Hause ging.

Eine große Symphonie italienischer Herkunft ist an sich schon etwas Seltenes, die Cherubiniʼsche war obendrein bis heute in ein fast undurchdringliches Incognito gehüllt. Die „Museums-Gesellschaft“ in Frankfurt hat das Manuscript von der Philharmonic Society in London erhalten und Herrn Herbeck zum Behuf der Aufführung mitgetheilt. Die authentische Geschichte jener philharmonischen Gesellschaft (von G. Hogarth) weiß gar nichts von einer Cherubinischen Symphonie, sondern nur von einigen Ouverturen und einer Cantate, welche Cherubini für die Gesellschaft compo nirt hat. Aus anderen zweifellosen Daten läßt sich übrigens fast mit Gewißheit folgern, daß die hier aufgeführte Sym phonie in D-dur, die einzige von Cherubini componirte, von ihm für die Philharmonic Society geschrieben und im Früh ling 1815 in London dirigirt worden sei. Gedruckt ist sie niemals worden, doch hat der Componist ihren wesentlichen Inhalt noch einmal — wir wissen nicht, ob früher oder später — in einem Streichquartett verwendet. Wer mit gro ßen Erwartungen an diese Symphonie ging, wird eine an sehnliche Enttäuschung erlebt haben. Es bedarf der ganzen

Pietät für den Namen des großen Opern-Componisten, um der Abwicklung dieses zopfigen Gebildes theilnahmsvoll bis zu Ende zu folgen. Kunstvoll geflochten, sorgfältig gebunden, vornehm getragen — aber doch ein Zopf. Hoffe Niemand der Ideenfülle und schwungvollen Energie aus Cherubiniʼs be sten Opern hier zu begegnen. Er findet eine Haydnʼsche Symphonie mit künstlich vergrößerten Gliedmaßen und ver trockneter Seele. Unser Haydn, den Cherubini selbst als seinen musikalischen Vater verehrte, hat auch zu dieser Sym phonie einen sehr bedeutenden Alimentations-Beitrag gezahlt. Aber so sehr der ganze Bau und unzählige melodische Wen dungen an Haydn erinnern, von seiner Frische und seinem schalkhaften Humor ist nichts geblieben. Der Ernst des allzeit pathetischen Florentiners wird hier, wo die Größe und Un gewohntheit der Aufgabe ihm einen gewissen Zwang anlegten, zur Trockenheit und künstelnden Pedanterie. Unverkennbar ist seine Anstrengung, sich aus dem wirklichen und dem Adop tiv-Vaterland seiner Muse, Italien und Frankreich, zu deut schem Styl herauszuarbeiten; die Spontaneität, die naive Ursprünglichkeit des Schaffens ging darüber verloren. Ein zelne interessante Stellen laben den Hörer von Zeit zu Zeit, am Schlusse hat er trotzdem das Gefühl, beinahe ver schmachtet zu sein. Welche Erfrischung breitete sich mit den ersten Tacten von WeberʼsConcertstück“ über den Saal! Herr Tausig spielte die reizvolle Composition, und zwar — wie nicht anders zu erwarten — mit vollendeter Virtuo sität. Er spielte mit den Schwierigkeiten, aber auch ein we nig mit der Sache selbst: der Vortrag, geistreich und eigen thümlich, hatte mitunter etwas Zerrissenes, überlegen Bla sirtes. Was das Schweighoferʼsche Instrument betrifft, so gewährte es ein schönes Piano, aber keine große Schallkraft; überdies ließ es, ohne Schuld des Spielers, durch ungenü gende Dämpfung die Töne nachhallen. Herr Tausig erntete stürmischen Beifall.

Zwei Vocalchöre, ein nicht bedeutender, aber klangvoller

des verdienstvollen Münchener Archivars Julius Mayer und MendelssohnʼsPrimel“ (zur Wiederholung verlangt), wurden überaus schön gesungen. Der „Singverein“ prangt wirklich in vollster Blüthe und ist nach Seite der Execution die werthvollste Stütze der Gesellschafts-Concerte. Das Or chester stand am Sonntag weit dagegen zurück. Die Bläser stimmten nicht nur empfindlich unrein, sondern trugen auch die zahlreichen kleinen Soli in der Cherubiniʼschen Sympho nie und der Stephansmusik von Beethoven ohne alle Fein heit vor. Daran ist Herr Herbeck nicht schuld, der auch in diesem Concerte den von seiner Aufgabe ganz erfüllten und sie ganz erfüllenden energischen Dirigenten bewährte.

Von besonderem Interesse war die Schlußnummer: Beethovenʼs Musik zu dem Kotzebueʼschen Festspiel „nig Stephan“, oder wie der ursprüngliche Titel lautete: Ungarns erster Wohlthäter“. Wir verdanken, wie gesagt, Herrn Herbeck die erste vollständige Concertaufführung die ses Werkes, von dem bisher nur einzelne Bruchstücke aufge führt und nur zwei Nummern (Ouverture und Festmarsch) gedruckt waren. Erst in der neuen Gesammt-Ausgabe Beetho venʼs (von Breitkopf und Härtel) hat nun auch dies Festspiel seinen ihm gebührenden Platz gefunden. Die Veranlassung dazu war bekanntlich die Eröffnung des deutschen Theaters in Pest im Jahre 1812. Man hatte Kotzebue mit der Abfassung einer Trilogie aus der ungarischen Geschichte be auftragt, und Beethoven mit der Composition der Musikstücke im Vor- und Nachspiel. Das einactigeVorspiel mit Chören, das die Festvorstellung am 9. Februar 1812 eröffnete, war Ungarns erster Wohlthäter“ und stellte König Ste phan I. in den wichtigsten Momenten seiner Regierung dar. Das eigentliche Drama, welches Kotzebue unter dem Titel Belaʼs Flucht“ verfaßt hatte, konnte aus verschiedenen Rück sichten nicht gegeben werden; es wurde dafür „Die Erhe bung von Pest zur königlichen Freistadt“ (aus der Geschichte des Jahres 1244) substituirt. Hierauf folgte das

Nachspiel mit Gesängen und Chören, „Die Ruinen von Athen“. Die Musik zu letzterem, durch häufige Concertauf führungen bekannt, steht nicht nur an äußerem Umfange, sondern auch an musikalischem Werthe hoch über dem „König Stephan“. Stücke von der hinreißenden Wirkung des Der wisch-Chores oder des Türkenmarsches aus den „Ruinen von Athen“ wird man in „König Stephan“ vergeblich suchen. Beethoven hat das Vorspiel ungleich flüchtiger behandelt, die Musik mehr decorativ als selbstständig verwendend; seine volle Kraft sparte er für die lohnenderen Aufgaben des Nachspiels. Im „König Stephan“ sehen wir nur die Tatze des musikalischen Löwen, im Nachspiel diesen selbst. Um Beethovenʼs Musik zu König Stephan“ gerecht zu beurtheilen, darf man keinen Augen blick auf deren bestimmten theatralischen Zweck vergessen.

Die Musik mußte sich hier in kleinen und möglichst populären Formen bewegen und hatte mehr die Bestimmung, eine Reihe rasch aufeinanderfolgender tableauartiger Scenen zu illustriren, als eine eigentlich dramatische Entwicklung mit vol lem Lebenshauch zu erfüllen. Die abscheulichen Verse Kotze bueʼs konnten den Componisten unmöglich begeistern, und der Inhalt des „König Stephan“ war so ausschließlich ungarisch, daß Beethoven gar nicht hoffen durfte, es werde seine Arbeit über jenen Festabend hinaus und vor dem nicht-ungarischen Publicum Europas ihr Leben selbstständig fortsetzen. Wir müssen uns also bescheiden, eine rasch hingeworfene Gelegen heitsmusik Beethovenʼs zu hören, und das bleibt unter allen Umständen ein nicht zu verschmähender Schatz. Oben drein stammt diese Gelegenheitsmusik aus der frischesten, üppig reichsten Periode des Meisters (sechste und siebente Symphonie). In der Ouverture pulsirt ein rasches, kühnes Blut, die wun derlich zerhackte Form läßt aber keine einheitliche Wirkung aufkommen. Einfach, wol zu einfach, treten die beiden ersten Männerchöre auf, kleinste Abschnitzel von Beethovenʼs Purpur. Der Frauenchor hingegen mit seinen zierlichen Flöten-Guir landen ist von bezaubernder Lieblichkeit. Der Festmarsch im

ponirt nicht durch Neuheit der Motive, aber durch eine gewisse großartige Popularität, wie sie neben Beethoven kein Zweiter in seiner Gewalt hatte. Der sehr kurze „religiöse Marsch“ fällt daneben beträchtlich ab. Was in der Concert aufführung am unwirksamsten bleibt, sind die rein melodramati schen Partien; an Ort und Stelle muß die musikalische Be gleitung der „Vision Stephanʼs“ sehr bedeutend wirken. Der in charakteristischen Csardas-Rhythmen aufjubelnde, beinahe ungarisch-deutsch declamirende Schlußchor mit seinen gellend hohen Soprantönen und rauschendem Orchester schlägt tüchtig ein; wir können uns den Enthusiasmus des magyarischen Publicums von 1812 lebhaft vorstellen.

Bei aller bewundernden Anerkennung der theatrali schen Zweckmäßigkeit dieser Festmusik wird man doch nicht leugnen können, daß sie im Concertsaal nur geringen Ein druck macht. Bei ihrer jüngsten Aufführung in Köln (unter F. Hiller) ging sie fast spurlos vorüber; hier in Wien ver mochten wenigstens Einzelheiten das Publicum zu erwärmen. Den Damen vom Singverein votiren wir für ihre heroische Ausdauer im Schlußchor einen speciellen Dank.

Hellmesbergerʼs dritte Quartett-Soirée war die hundertfünfzigste seit der Gründung dieses schönen, für das Musikleben Wiens so hochverdienten Unternehmens. Das Publicum bewies Herrn Hellmesberger durch einen unge wöhnlich langen und lebhaften Empfang, daß es von dieser Thatsache Kenntniß nehme und sich freue, seine Verdienste von ganzem Herzen laut anzuerkennen. Wir hörten an die sem Abend Mendelssohnʼs E-moll-Concert, bekanntlich eines der zierlichsten Cabinetsstücke Hellmesbergerʼs und seiner Ge nossen, BeethovenʼsEs-dur-Quartett, op. 127, und unter Mitwirkung des Herrn Dachs ein neues Clavier-Quartett von Rubinstein (C-dur, op. 66). Das Thema des ersten Satzes ist von hinreißender Schönheit. Von allen lebenden Componisten wüßten wir keinen, dem noch so etwas einfällt. In der Ausführung macht der Componist beiweitem nicht

daraus, was man erwarten durfte, trotzdem bleibt der Total- Eindruck des Satzes, der nach mancherlei Stockungen und unbedeutenden Phrasen sich zum Schluß wieder aufzuschwin gen weiß, ein günstiger.

Minder bedeutend, doch von raschem Zug und prickeln dem Esprit ist das Scherzo. Von da geht es, wie gewöhnlich bei Rubinstein, stufen- und terrassenweise abwärts. Das Auditorium, das die beiden ersten Sätze lebhaft beklatschte, nahm die beiden letzten mit eisiger Kälte auf. Hätte Herr Hellmesberger dieselben nicht tüchtig abgekürzt, so würde die Mißstimmung ohne Zweifel noch viel größer geworden sein. Das langgestreckte Adagio gleicht einer Wüste, in wel cher uns nur selten und von fern der warme Ton einer menschlichen Stimme grüßt. Doch ist es immerhin noch von einer gewissen düster-melancholischen Stimmung angehaucht. In dem Finale aber finden wir gar nichts mehr, an das wir uns klammern könnten, weder musikalische Erfindung, noch poetische Stimmung, weder glückliche melodische Einfälle, noch kunstvolle Arbeit. Das Ganze ist roh und reizlos, wie in verdrießlicher Eile hingeworfen, damit doch das Quartett in Gottes Namen einen Schluß habe. Mit diesem kurzen Be richt über Rubinsteinʼs neuestes Werk haben wir leider die Biographie fast aller seiner mehrsätzigen Compositionen ge schrieben. Wir kennen keine einzige daraus, die, durchaus auf gleicher Höhe schwebend, als Ganzes schön und bedeutend heißen dürfte. Rubinsteinʼs Erfindung gleicht einem rasch und glänzend auflodernden Feuer, das schnell erlischt. Seine Kunst und Ausdauer reichen niemals aus, dies Erlöschen zu hindern, und seine Selbstkritik sagt ihm niemals, daß es längst nur glimmendes Gebälk oder todte Asche ist, was er, unbekümmert fortschreibend, dem anfangs entzückten Hörer bietet. Wie schade, daß Rubinstein Alles immer nur dem „Genie“ anheimstellt, das er wild und willkürlich umher jagen läßt. Das Genie muß das Kunstwerk beginnen, aber nur die Arbeit vollendet es.