Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 472. Wien, Mittwoch den 20. December 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 472. Wien, Mittwoch den 20. December 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 20.12.1865
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". alle orte, daten, personen und werke (außer zwei Lieder) ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Unter den sogenannten „Schubertfreunden“ par excellence stechen zwei charakteristische Gruppen hervor: die Sorglosen und die Hartnäckigen, oder auch, physikalisch gesprochen, die Centrifugalen und die Centripetalen. Die Er steren lassen ruhig Schubertʼs Manuscripte nach allen Welt gegenden zerflattern; sie wissen oder wußten genau von ir gend einer noch vorhandenen Oper oder Symphonie (sie haben sie ja entstehen sehen!), aber es stört ihre Seelenruhe nicht im mindesten, wenn diese Schätze um ein paar Gulden einem amerikanischen Sammler, oder noch billiger einem Käse händler zufallen. Die Hartnäckigen hingegen oder Centripe talen haben zwei oder drei Perlen aus Schubertʼs Nachlaß ins Trockene gebracht, halten sie aber vor lauter Freundschaft für den Verewigten und lauter Verachtung der Lebenden in irgend einem Koffer verschlossen, mit dessen Schlüssel sie sich zu Bett legen. Wir wollen Herrn Anselm Hüttenbren ner, den Freund Schubertʼs, seit gestern nicht mehr zu der zweiten Classe zählen, da er ja schließlich der Pelhamʼschen Beredsamkeit und Artigkeit des Hofcapellmeisters Herbeck nicht widerstand, der eigens nach Graz gereist war, um eine Hüttenbrennerʼsche Partitur für die Gesellschafts-Concerte zu acquiriren, und bei dieser Gelegenheit — wie seltsam! — auch ein lang gesuchtes Schubertʼsches Manuscript mit brachte. Wir können nicht entscheiden, welche von den beiden Compositionen die Angel und welche der Fisch war, genug, daß Schubert und Hüttenbrenner wie im Leben so auf dem Programm des letzten „Gesellschafts-Concertes“ ein trächtig neben einander hergingen. Hüttenbrenner, der bekanntlich zur Berühmtheit des Schubertʼschen Erlkönigs viel beigetragen hat, nämlich eine Partie „Erlkönig-Walzer“, eröff nete das Concert mit einer Ouverture in C-moll, welcher man Abrundung und eine gewisse Tüchtigkeit der Arbeit nicht

absprechen kann. Der melodische Inhalt schien uns theilweise aus den Zwischenactmusiken des Burgtheaters bekannt. Nun folgte die Schubertʼsche Novität, die einen wahrhaft außer ordentlichen Enthusiasmus erregte. Es sind die beiden ersten Sätze (Allegro moderato, H-moll und Andante, E-dur) einer Symphonie, welche, seit vierzig Jahren in Herrn Hüttenbren nerʼs Besitz, für gänzlich verschollen galt. Die uns vorlie gende Original-Partitur, ganz von Schubertʼs Hand, trägt die Jahreszahl 1822 und enthält nebst den zwei ersten Sätzen noch den Anfang (neun Tacte) des dritten, eines Scherzo in H-moll. Ob Schubert überhaupt nicht weiter daran gearbeitet, ist nicht zu eruiren. Möglich, daß irgend Einer der „Sorglosen“ den Schlüssel zu diesem Räthsel kennt, oder ein „Hartnäckiger“ ihn gar unter dem Kopfkissen hat. Wir müssen uns mit den zwei Sätzen zufriedengeben, die, von Herbeck zu neuem Leben erweckt, auch neues Leben in unsere Concertsäle brachten. Wenn nach den paar einleitenden Tacten Clarinette und Oboe einstim mig ihren süßen Gesang über dem ruhigen Gemurmel der Geigen anstimmen, da kennt auch jedes Kind den Componi sten, und der halbunterdrückte Ausruf „Schubert!“ summt flüsternd durch den Saal. Er ist noch kaum eingetreten, aber es ist, als kennte man ihn am Tritt, an seiner Art, die Thürklinke zu öffnen. Erklingt nun gar auf jenen sehnsüch tigen Mollgesang das contrastirende G-dur-Thema der Vio loncelle, ein reizender Liedsatz von fast ländlerartiger Behag lichkeit, da jauchzt jede Brust, als stände Er nach langer Entfernung leibhaftig mitten unter uns. Dieser ganze Satz ist Ein süßer Melodienstrom, bei aller Kraft und Genialität so krystallhell, daß man jedes Steinchen auf dem Boden sehen kann. Und überall dieselbe Wärme, derselbe goldene, blättertreibende Sonnenschein! Breiter und größer entfaltet sich das Andante — Töne der Klage oder des Zornes fallen nur vereinzelt in diesen Gesang voll Innigkeit und ruhigen Glückes, mehr effectvolle musikalische Gewitterwolken, als ge fährliche der Leidenschaft. Als könnte er sich nicht trennen

von dem eigenen süßen Gesang, schiebt der Componist den Abschluß des Adagios weit, ja allzuweit hinaus. Man kennt diese Eigenthümlichkeit Schubertʼs, die den Total-Eindruck mancher seiner Tondichtungen abschwächt. Auch am Schluß dieses Andantes scheint sein Flug sich ins Unabsehbare zu verlieren, aber man hört doch noch immer das Rauschen sei ner Flügel.

Bezaubernd ist die Klangschönheit der beiden Sätze. Mit einigen Horngängen, hie und da einem kurzen Clarinett- oder Oboesolo auf der einfachsten, natürlichsten Orchester-Grund lage gewinnt Schubert Klangwirkungen, die kein Raffinement der Wagnerʼschen Instrumentirung erreicht. Wir zählen das neu aufgefundene Symphonie-Fragment von Schubert zu sei nen schönsten, reifsten Instrumentalwerken und sprechen dies hier um so freudiger aus, als wir gegen eine übereifrige Schubert-Pietät und Reliquien-Verehrung mehr als einmal uns ein warnendes Wort erlaubt haben. Die beiden Stücke werden eine Zier aller Concert-Programme, denn wir zwei feln nicht, daß Herr Hüttenbrenner die Herausgabe derselben mit gleicher Bereitwilligkeit gestatten wird, wie die Auffüh rung derselben. Man muß mit Freuden bekennen, daß jetzt gerade von Wien aus alles Erdenkliche geschieht, um die frü heren Versündigungen an Schubert nach Möglichkeit gutzu machen. Jene Unterlassungssünden treffen allerdings Wien zunächst, aber nicht ausschließlich.

Die Berliner Musikzeitung von Marx (18241830), welche, eine Art Vorläuferin der Schumannʼschen Zeitschrift, muthig für das Recht des Modernen gegen die Oligarchie der Classiker und vollends der Pedanten auftrat, zu Beethovenʼs Lebzeiten seine angefochtensten Werke vergötterte und dem jun gen Balladen-Componisten Karl Löwe in preisenden Artikeln den Weg ebnete — sie hat in ihren sieben Jahrgängen Schu bertʼs Namen nur zwei- bis dreimal in flüchtigen Notizen genannt. Die neue Epoche der Würdigung Schubertʼs herbei geführt zu haben, ist Schumannʼs Verdienst, der in seiner Neuen Zeitschrift“ (18341844) Schubertʼs Compositionen

mit Begeisterung, ja mit einer gewissen Vor- und Ueberliebe feierte. Auf Schumann folgen in dieser Thätigkeit Joseph Hellmesberger und Herbeck. Insbesondere zeigt Letzterer sich unermüdlich thätig, Schubertʼsche Manuscripte aufzu suchen, zu ergänzen und aufzuführen. Er hat neuerdings durch die erste Aufführung des „Morgengesangs“ (aus dem „Graf v. Gleichen“) und der beiden Symphoniesätze dem Andenken Schubertʼs und unserem Musikleben einen Dienst erwiesen, den die Kritik ebenso rühmend hervorheben muß, als ihn das Publicum in den letzten Concerten laut anerkannt hat.

Eine andere höchst ansprechende Gabe des dritten Ge sellschafts-Concerts waren zwei alte deutsche Lieder für ge mischten Chor, „Liebesklage“ und „Jägerglück“. Die beiden Chöre, ausgezeichnet durch volksthümlich naive Innigkeit und entzückenden Klang, hat Herbeck mit glücklicher Wahl einem alten Liederbuch vom Jahre 1618 entnommen und mit ge treuer Bewahrung der ursprünglichen Harmonie (sie erin nert in ihren fremdartig reizenden Accordfolgen an Orlando Lasso und Heinrich Schütz) für den „Singverein“ re digirt. Sie wurden überaus schön vorgetragen und mit stür mischem Beifall aufgenommen.

Fast schien es, als habe die musikalische Empfänglichkeit und Beifallslust unseres Concertpublicums sich in diesem Mittagsconcert so voll ausgegeben, daß wenige Stunden spä ter für eine interessante Novität in Hellmesbergerʼs Quartett-Productionen nicht genug übrig war. Es ist diese, schon aus rein physiologischen Gründen erklärbare Rückwir kung mehr als einmal beobachtet worden.

Das neue Streichquintett von Johannes Hager wurde zwar nach jedem Satz applaudirt, erzielte aber einen durch schlagenden Erfolg nur mit dem Scherzo. Dieser Satz, perlen sprühend wie moussirender Champagner, ist der lebensvollste, wirksamste Theil des Ganzen. Ihm zunächst möchten wir das Adagio stellen, das durch breiten, edlen Gesang und interes sante Combinationen fesselt und höchstens eine kürzere Fas sung und etwas sparsamere Verwendung der Pizzicato-Effecte wünschen ließe. Die beiden äußeren Sätze gleichen feinen Blei

stiftzeichnungen, die bei näherer Betrachtung viel Anziehendes bieten, aber ihrer kleinen Striche und matten Färbung wegen eine packende Wirkung nicht üben können. Wäre Hager so originell und energisch im Ganzen, als er geistreich im Detail ist, seine Erfolge würden vollständig sein. Wir kennen sein echtes und feines, wenn auch nicht üppiges und populäres Talent aus einer ansehnlichen Reihe größerer und kleinerer Compositionen, und haben uns gefreut, den Componisten nach längerer Zurückgezogenheit wieder hervortreten zu sehen. Das Quintett ist kein vereinzeltes Symptom von Hagerʼs Wie derauferstehung, es sind gleichzeitig drei Balladen von ihm (bei Spina) erschienen, die wir gebildeten Sängern angelegent lich empfehlen; ferner ein neues Clavier-Trio (op. 20), dessen Vorzüge uns sehr beachtenswerth erscheinen und von S. Bagge (in der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung) die eingehendste rühmlichste Würdigung erfahren haben. — Auf die Hagerʼsche Novität folgte Schumannʼs köstliches Es-dur-Quartett. Herr A. Jaell spielte den Clavierpart mit schönstem Ton und perlender Geläufigkeit. Nur einige kokette Salon-Ritardandos im ersten Satz hätten wir hinweggewünscht, um die so schön ausgemeißelte und geglättete Leistung vollkommen rein zu genießen.

Erwähnen wir noch einer Festliedertafel des „Schubert bundes“ der Engelsbergʼs neuen, vortrefflichen Chor Heini von Steier“, mit glänzendem Erfolg zur Aufführung brachte, so sind wir in der musikalischen Chronik der Woche bei der ständigen Rubrik der „Patti-Concerte“ angelangt. Wir stehen bereits vor Nr. 13 dieser Concerte, welche, immer gleich stark besucht, die Thatsache eines für unsere Zeit ge radezu unerhörten Erfolges für sich haben. Die Uebersiedlung dieser Concerte vom Dianasaal ins Theater an der Wien hat ihnen einen neuen Anstrich von Abwechslung und eine günsti gere Akustik verschafft. Hingegen erwies sich der Gewinn einer Orchester-Begleitung bald als illusorisch, indem letztere so mit telmäßig war, daß man lieber Herrn Frank wieder ans Clavier postirt hat. Auch machte der Dianasaal einen elegan teren, salonmäßigeren Eindruck; das auf der Bühne des Wie

dener Theaters auf weiß angestrichenen Gartenstühlen herum sitzende Publicum erinnerte uns an gewisse Scenen in Nestroyschen Possen, wo das „Paradiesgartel“ oder Aehnliches vor gestellt wird. In dem gestrigen Concert spielte Herr Ullman einen neuen Trumpf aus: er hatte Roger eigens aus Paris kommen lassen. Der berühmte Tenorist, einst die Zierde der Opéra Comique und später der Großen Oper in Paris, sang SchubertʼsErlkönig und die bekannten „Vögeleinvon Gumbert. Eine wunderliche Wahl, wenn sie auch viel leicht ein „Compliment an die deutsche Nation“ vorstellen sollte. RogerʼsErlkönig“ ist die consequenteste dramatische Ausführung und Zuspitzung der an sich schon bedenklichen Intentionen Schubertʼs. Sie streift an geistreiche Carricatur und hat nur einen kleinen Schritt zu dem vollständigen Ex periment, den „Erlkönig“ von drei verschiedenen Personen singen zu lassen. Rogerʼs Vortrag accentuirt mehr die Schat tenseiten als die Vorzüge der Composition, und producirt mehr den Schauspieler als den Sänger. Der Letztere trat in dem Gumbertʼschen Bänkelsang etwas deutlicher hervor, wir er kannten wieder, wie durch einen Schleier, Rogerʼs ehemals wundervolles Portamento — aber was wurde getragen? Ein trostloses Lied und eine trostlose Stimme. Es schmerzt uns, über das gegenwärtige Singen des großen Künstlers sprechen zu müssen, der uns einst mehr als irgend ein An derer das Ideal eines dramatischen Sängers ahnen und mit unter auch vollkommen schauen ließ. Rogerʼs Erscheinung hat sich merkwürdig unverändert erhalten, dieselbe edle glatte Stirne, der jugendliche Mund, der ernste Blick voll Geist und Güte. Aber von der Stimme wollen wir schweigen, und von dem Kampf des Sängers mit diesem zertrümmerten In strument. Roger macht allerdings auch jetzt noch einen weit edleren Eindruck, als sein zum Possenreißer herabgekommener berühmter College Ronconi. Beide Künstler erfüllen aber hier dieselbe wehmüthige Mission: ihren eigenen Nekrolog zu singen.