Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 480. Wien, Samstag den 30. December 1865 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 480. Wien, Samstag den 30. December 1865 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 30.12.1865
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". alle daten, personen, werke (außer: Guten Abend), orte ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte. (Concordia-Akademie. Patti-Concerte. Viertes Philharmonisches Concert.)

Ed. H. Die so glänzend ausgefallene „Concordia-Aka demie“ bildete gewissermaßen einen letzten Abschluß der „Patti- Concerte“. Fräulein Carlotta Patti trat darin zum letzten male vor das Wiener Publicum, da ihre lobenswerthe Absicht, noch einmal für die Wohlthätigkeits-Anstalten zu singen, dem Vernehmen nach an den von der Hofopern-Administration erhobenen Schwierigkeiten scheitert. Herrn Ullmanʼs Con certe — vierzehn an der Zahl im Laufe von vier Wochen! — haben ihre Zugkraft bis zum letzten Augenblick bewährt und dürfen den Wiener Erfolg als eine unanfechtbare, glän zende Thatsache für sich geltend machen. Dem Kritiker und ernsten Musikfreund konnte man allerdings ebensowenig den Besuch sämmtlicher Patti-Concerte zumuthen, als man von einem Mann verlangen wird, er solle jeden Abend ein Pfund Zuckerwerk essen. Der ausschließliche Virtuositäts- und Un terhaltungs-Standpunkt solcher Concerte führt rasch zur Ueber sättigung. In dieser Richtung ist an den Programmen noch Vieles zu bessern, und namentlich den drei Instrumental- Virtuosen eine kleine Rüge nicht zu ersparen. Wenn Car lotta Patti durch die phänomenale Stimmhöhe, mit der sie beschenkt oder zu der sie verurtheilt ist, sich auf ein engeres Gebiet von Bravour-Arien beschränkt sieht, allezeit verpflichtet, dem Publicum ihre bewunderten „Specialitäten“ vorzuführen, so gilt doch diese Entschuldigung nicht auch für einen großen Pianisten, Violin- oder Cello-Spieler. Die HerrenJaell, Vieuxtemps und Piatti haben ein viel kleineres Reper toire ausgerollt, als Carlotta Patti, und mit denselben fünf bis sechs Stücklein sich durch alle vierzehn Concerte gefristet. Sehen wir ab von den paar classischen Trios oder Quar tetten, welche, die Stelle einer Ouverture vertretend, in dem großen Raum weder physisch noch geistig die nöthige Resonanz

fanden und demgemäß auch ziemlich glatt und gleichgiltig ab gethan wurden, so finden wir das Repertoire der drei Vir tuosen von einer erschreckenden Dürftigkeit in Qualität und Quantität. Vieuxtemps spielte ausschließlich eigene Com positionen, was wir ihm, dem weitaus bedeutendsten Compo sitions-Talent unter den Dreien, gern zugeständen, hätte er etwas Neues und nicht blos jene alten Stücke wieder gebracht, die seit zwanzig Jahren jeder Concertfreund aus wendig kennt. Ueberdies ward gerade an diesen seinen ehe maligen Paraderossen die abnehmende Kraft und Sicherheit des Reiters am auffallendsten wahrnehmbar. Herr Piatti speiste uns consequent mit selbstverfertigten Potpourris aus Lucia“, „Linda“, „Trovatore“ etc., deren Langweiligkeit beim ersten Hören, aber auch nur beim ersten, vor dem Glanz des Vor trags verschwand. Warum endlich Herr Jaell — um nur von Bravourstücken zu sprechen — nie etwas von Liszt, Thal berg, Henselt, Heller, Rubinstein spielte? Von seinen eigenen Sachen lassen wir uns das Trillerstückchen „Sweet homenoch am besten gefallen, Transscriptionen aber, wie seine Afrikanerin“ und sein „Tannhäuser-Chor“ (Pilger von heulen den Hunden gejagt), sind doch gar zu unbedeutend. Der wohl arrondirte Virtuose scheint wirklich die Banting-Cur probeweise erst an seinen Compositionen versucht zu haben. Daß Jaell trotzdem eine immer gern gesehene Erscheinung war, spricht laut genug für den ungewöhnlichen Reiz seines Spieles. Was endlich Carlotta Patti betrifft, so ist es gerade für sie ein werthvolles Zeugniß, daß ihr Gesang, der eigentliche Magnet der Concerte, an Anziehungskraft nicht verlor, sondern zunahm.

Jede neue Erscheinung von großem Ruf ist bei ihrem ersten Auftreten verurtheilt, ungemessenen und oft sehr unbe stimmten Erwartungen gegenüberzustehen. Vermißt der Hörer einige geträumte Vorzüge, so wird das Gefühl theilweiser Enttäuschung ihn auch die wirklich vorhandenen leicht unter schätzen lassen. Erst wenn der Eindruck des Neuen, Befrem denden überwunden und man über das ästhetische Soll und

Haben im Klaren ist, hört man unbefangener und urtheilt gerechter. Wir haben uns mit der Stimme Fräulein Pattiʼs viel mehr befreundet, sie in den späteren Concerten schöner und volltönender gefunden, als am ersten Abend. Hin und wieder, z. B. in GounodʼsAve Maria“, verrieth ein Ton von überraschender Kraft, daß diese silbertönige Stimme auch nach Seite des Volumens weniger stiefmütterlich bedacht sei, als sie in der Regel scheint. Diese und ähnliche Wahrneh mungen flößten uns Respect ein vor ihrem streng eingehalte nen Princip: Maß zu halten, die reine Schönheit des Tons niemals zu alteriren. Carlotta Patti vermeidet, auch nur der Grenze des Schreiens sich zu nähern, und wird, bei läufig gesagt, trotz ihrer angestrengten Thätigkeit ihre Stimme ohne Zweifel lange bewahren. Hierin erscheint sie als ein Zögling der besten italienischen Schule. Kein Zweifel, daß ihre leidenschaftslose Ruhe dieses Maßhalten sehr erleichtert, aber blos als „Kälte“ können wir nicht mehr betrachten, was sich uns als ein consequentes — sei es auch einseitig aus gebildetes — Schönheitsprincip erwiesen hat. Es ist dasselbe Princip des reinen Wohllauts, das die Linien einer italieni schen Melodie in schöner sanfter Rundung zieht. Ebensowenig als wir die Patti schreien oder meckern hörten, haben wir sie im Vortrag jemals übertrieben oder affectirt, in Haltung und Miene grimassirend gesehen. Bei Wagstücken wie das „Lach lied“ oder der „Carneval von Venedig“ will dies nicht wenig sagen. Der Virtuosität Carlotta Pattiʼs sind wir bereits in unserem ersten Aufsatz gerecht geworden, aber auch in ihrer Cantilene beobachteten wir im Laufe der verschiedenen Pro ductionen das Walten einer Technik, die hochzuschätzen nament lich wir Deutsche allen Grund haben. „Die Deutschen singen mit dem Kopf und mit dem Herzen, aber nicht mit dem Ohr,“ so sagte uns wörtlich vor einigen Jahren Jenny Lind. Dieser Ausspruch einer großen und durch ihre ger manische Abkunft wol unparteiischen Sängerin schien uns da mals zu hart — tausendmal ist er uns seither eingefallen. Dem Gesang der Carlotta Patti hat wol Jedermann einen

kräftigeren Herzschlag gewünscht, aber gewiß nicht ein feineres, Maß und Wohllaut schärfer überwachendes Gehör.

Carlotta Patti sang in der Concordia-Akademie das Duett aus RossiniʼsStabat mater“ mit einer unserer intelligentesten und stimmbegabtesten Sängerinnen, Fräulein Bettelheim. Während Erstere die Melodie sehr ruhig, gleichsam in Einem leichten, weiten Bogen aufbaute, versah Letztere fast jede Note mit einem gefühlvollen Accent, so daß derselbe Gesang hier gleichsam aus einer Anzahl kleiner Crescendos und Decrescendos sich zusammensetzte. Ein höheres Drittes geben wir zu, können aber nicht leugnen, daß die klare, monotone Himmelsbläue des italienischen Vortrags uns nicht blos musikalisch schöner, sondern immer noch seelenvoller däuchte, als jenes heftige Licht- und Schattenspiel.

Stimme und Gesangsmanier weisen C. Patti vorzugs weise an den Sologesang; in dem Spinnquartett aus Martha“ sang sie zu schwach, was allerdings nicht ganz entschuldigt, daß die anderen drei Stimmen zu stark beglei teten. Fräulein Patti die Wahnsinn-Arie aus „Lucia“ im Costüm vortragen zu sehen, wirkte ohne Zweifel als ein Lock- und Reizmittel auf die Besucher der Concordia-Akademie. Die Leistung war interessant genug, indem sie im Spiel der Künstlerin dasselbe Princip verrieth, mit wenigen, plastisch- schönen Bewegungen auszureichen. Der dramatische Ausdruck erhob sich nicht merklich über den Concertvortrag. Bedenkt man indeß, daß Carlotta Patti seit ihren ersten Anfängen, vor vier Jahren, die Bühne nicht betreten und in ihrem Gang ein physisches Hinderniß mühsam zu bekämpfen hat, so erscheint der Versuch immerhin respectabel. Da die Accente tiefer Leidenschaft ihrem Gesang versagt sind, glauben wir nicht, daß die tragische Bühne an C. Patti viel verloren habe. Hingegen scheint ein sehr artiges Talent für die ko mische Oper in ihr zu schlummern. Das fröhlich Schmet ternde, so gut wie das freundlich Behäbige ihres Gesangs müßte, vereint mit dem bezaubernden Lachen Carlottaʼs, in der Opera buffa trefflich wirken. Sie ist „die Lerche, nicht die Nachtigall“. Man sehe die dürren Noten des Auberʼschen

Lachliedes und urtheile selbst, ob hier der Vortrag der Patti nicht geradezu productiv sei. Nicht blos neue Noten hat sie hinzugefügt, sondern neue Effecte, die in Noten gar nicht zu fassen sind. Es ist und bleibt ihr Meisterstückchen.

Die Lucia-Scene bildete den Schluß der langwährenden Concordia-Akademie und hätte an anderer Stelle vielleicht mehr effectuirt. Man war zu ermüdet durch ein vorher gehendes Lustspiel, „Guten Abend“, das mit raffinirter Grau samkeit einen magern Witz und ein verehrungswürdiges Pu blicum an langsamem Feuer briet. Das jederzeit mißliche Herausreißen einzelner Scenen läßt man sich allerdings bei italienischen Opern noch am ehesten gefallen, sie können wie die Regenwürmer zerstückelt weiterleben. An Grillparzerʼs Sappho“ hingegen hätte man das Potpourri-Messer lieber nicht setzen sollen; wer kurz vorher die ergreifende Darstel lung der Sappho durch Fräulein Wolter auf dem Burg theater gesehen, dem mußte die Zerbröckelung dieses Meister werks und dieser Musterleistung wehthun. Großen Beifall erregten die Claviervorträge Fräulein A. Kolarʼs und das virtuose Geigenspiel des Herrn Lotto; wahrhaften Enthusias mus Rogerʼs Vortrag der Arie „Ah, quel plaisir dʼêtre soldat“ von Boyeldieu. Wir haben den wehmüthigen Eindruck nicht verhehlt, den Rogerʼs „Erlkönig“ und „Liebe Vögelein“, jüngst hervorgebracht; um so größer war unsere Freude, mit einer schöneren Erinnerung von dem verehrten Künstler scheiden zu können. Stimmen, die im Niedergang oder Untergang begriffen sind, haben bekanntlich von Zeit zu Zeit ihren „beau jour“ (man denke an Wild); ein solcher Glückstag war der 26. December für Roger. Er bot seine ganze Kraft und Energie auf, und da es einer Arie galt, in welcher er auch ohne Stimme kaum einen Rivalen hätte, so war der Eindruck ein ungewöhnlicher. In Frack und Glacéhand schuhen sang und spielteRoger die ganze reichbewegte Schil derung des Soldatenlebens. Die hinreißende Beredsamkeit des Ausdrucks und eine Fülle charakteristischer Züge ließen die Schäden der Stimme vollständig vergessen. Hier sah man, wie Geist und Temperament eines reproducirenden Künstlers

schöpferisch wirken können. Im Fach der eleganten komischen Oper stehen die französischen Sänger einzig da; Roger hat neben den besten Traditionen dieser Kunst eine geniale Per sönlichkeit, die jede Tradition überholt, und neben dem Geist der Schule noch seinen eigenen.

In dem vierten „Philharmonischen Concert“, das gleich zeitig mit der Concordia-Akademie stattfand, wurde eine Ouverture, „Sakuntala“, von Karl Goldmark zum ersten male aufgeführt und beifällig aufgenommen. Wir haben diese Composition in zwei Proben mit großem Interesse verfolgt und halten sie weitaus für das Beste, was der begabte und energisch vorwärtsstrebende Componist bisher geliefert hat. Frisch und charakteristisch in der Erfindung, von klarer An lage und feinem Detail, zeigt die Ouverture eine entschiedene Klärung des früher etwas wirren und wühlenden Talentes Goldmarkʼs. Nur wenige Stellen erinnern an seine ehema lige Dissonanzen-Liebe und pathetische Unklarheit. Die wirk same, charakteristische Instrumentation verdient umsomehr Anerkennung, als Herr Goldmark bisher wol kaum in der Lage war, seine Orchestersachen selbst zu hören. Was das Verhältniß der Composition zu dem berühmten indischen Drama „Sakuntala“ betrifft, so ist es kein abhängiges in dem mißverständlichen Sinne der descriptiven Musik. Als Musikstück an und für sich vollkommen verständlich und selbst ständig, nimmt sie von dem Gegenstand nur die poetische An regung, die allgemeine Stimmung und Localfarbe, allenfalls die einfachsten Grundzüge der dramatischen Peripetie. Die übrigen Nummern des Philharmonischen Concertes waren: BeethovenʼsEroica“, Gluckʼs Ouverture zu „Iphigenia in Aulis“ und die Arie des Pylades aus der taurischen „Iphi genia“, mit welcher Herr Walter großen Beifall erntete. Die Ausführung der Orchesternummern wird uns von allen Seiten als eine vorzügliche geschildert. Der makellose Vortrag der gefürchteten Hornstelle im Trio der „Eroica“ (durch Herrn Kleinecke) hat auch die freundliche Prophezeiung zu Schan den gemacht, die Philharmonischen Concerte würden an dem Austritte des Herrn Richard Lewy zu Grunde gehen.