Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 539. Wien, Donnerstag den 1. März 1866 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 539. Wien, Donnerstag den 1. März 1866 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 01.03.1866
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Meyerbeer’s „Afrikanerin“. I.

Ed. H. Henri Murger, der humoristische Poet des „Kunst-Zigeunerthums“ in Paris, führt uns in einem seiner Gedichte an das Bett eines genußmüden Roué, der sein Te stament machen will. Es liege ihm nichts am Leben, versi chert er dictirend seinem Notar, nur Eines beklage er: „Je suis de ceux, qui ne verront plus l’Africaine!“ Wir freuen uns, daß endlich der 27. Februar 1866 ähnliche betrübende Scenen in Wien unmöglich gemacht hat. Die Afrikanerin“ ist leibhaftig sammt Linienschiff, Giftbaum und allem übrigen Zubehör im Hofoperntheater erschienen und hat, wie vorauszusetzen, entschieden durchgeschlagen. Es war ein colossaler Genuß, den wir an diesem Abend überstanden haben, so colossal, daß wir ihn in gleicher Ausdehnung uns kein zweitesmal verlangen. Oder ist es eine Kleinigkeit, von halb sieben Uhr bis ein Viertel vor Elf in der drücken den Hitze eines vollgepfropften Theaters ununterbrochen der rauschendsten Musik, den bewegtesten Scenen, dem blendendsten Wechsel neuer Decorationen, Costüme und Aufzüge ungebeugt Stand zu halten?

Von einem ästhetischen Aufnehmen und Genießen kann man kaum mehr sprechen, wo es sich in erster Linie um die Frage des „Aushaltens“ handelt, und deßhalb beeilen wir uns, um eine ausgiebige Kürzung der „Afrikanerin“ dringend zu bitten. Die Componisten der großen fünfactigen Opern wüthen gegen ihr eigens Fleisch; trotz aller nachträglichen Reductionen bewirken sie doch nur, daß das Publicum ent weder erst zum zweiten Act erscheint, wie in Paris, oder vor dem fünften fortgeht, wie in Wien. Mitunter werden sogar beide Mittel combinirt. Nun ist aber ein vorzeitiges Ermü den und Abstumpfen der Zuhörer in der „Afrikanerin“ von ganz besonderem Nachtheil, weil gerade die beiden letzten Acte dieser Oper die weitaus besten sind. Man wird sich zu einer recht heroischen Operation der drei ersten Acte entschließen müssen, wenn man den Eindruck der beiden letzten retten will, und deßhalb entschließe man sich lieber rasch. Im ersten

Act sind zahlreiche kleinere Striche möglich, im zweiten wür den wir ohneweiters das „Schlummerlied“ opfern, als einen der schwächsten Momente der Partitur, sowie unserer sonst so verdienstvollen „Selica“. Auch das darauffolgende See- und Landkarten-Duett vertrüge ein verkleinertes Format. Der dritte Act könnte mit dem Gebet „O grand saint Domini que“ beginnen, gleich zur Ballade Nelusco’s übergehen und von dem Duett zwischen Vasco und Diego blos den Einlei tungs- und den Schlußsatz bringen. Im vierten Acte kann kaum etwas wegbleiben, wol aber im fünften der sehr ge quälte Cis-moll-Satz des Frauen-Duetts. Durch diese Am putationen wäre die „Afrikanerin“ etwa um eine Stunde ge kürzt und ihre Lebenskraft um Jahre verlängert.

Vergegenwärtigen wir uns die Handlung der Oper in ihren wesentlichsten Umrissen. Der Dichter (Scribe) knüpft sie an die welthistorischen Entdeckungsfahrten der Portugiesen längs der Küste von Afrika, welche, bereits im Anfang des 15. Jahrhunderts begonnen, durch Bartolomeo Diaz und Vasco de Gama ihren höchsten Glanz erreichten. 1486 kam Diaz an das südliche Vorgebirge von Afrika, das er von seinen gefährlichen Stürmen das „stürmische Vorge birge“ nannte. 1495 rüstete König Emanuel der Große ein neues Geschwader aus. Am 7. Juli 1497 fuhr Vasco de Gama mit drei kleinen Schiffen aus dem Hafen von Lissa bon; im November kam er um das stürmische Cap, dem er im Vorgefühl der nahen Entdeckung Indiens den Namen der „guten Hoffnung“ gab. Er segelte die Ostküste Afrikas entlang, kam nach Melinda, wo er europäische Cultur, einen asiatischen Menschenschlag und indische Schiffe fand. Von hier führte ihn ein mohammedanischer Pilot über den indischen Ocean nach Calecut auf der Küste von Malabar (Vorder indien), wo er im Mai 1498 seine Anker warf. Die Hand lung der Scribe’schen „Afrikanerin“ lehnt sich an diese Vor gänge und fällt in die Jahre 1497 und 1498. Bartolomeo Diaz ist gescheitert, Vasco de Gama kehrt allein von der Fahrt zurück und verlangt neue Unterstützung. Der königliche Rath in Lissabon verhandelt über dieses Begehren; der erste Act führt uns mitten in die feierliche Berathung. Vasco (Herr Walter) erzählt seine Erlebnisse und führt als le bendige Beweise zwei Sklaven, Selica (Fräulein Bettel

heim) und Nelusco (Herr Beck), aus jenen unbekannten Ländern vor. Durch die Intrigue seiner mächtigen Gegner, des Senats-Präsidenten Don Pedro (Herr Hrabanek) und des Admirals Diego (Herr Rokitansky), wird Vasco mit seinen Plänen vom königlichen Rath zurückgewie sen. Don Diego haßt in ihm den bevorzugten Liebling von Pedro’s schöner Tochter Ines (Fräulein Murska), um deren Hand er selbst sich bewirbt. Der Groß-Inquisitor (Herr Draxler) und die hohe Geistlichkeit schlagen sich aus or thodoxen Gründen mit Fanatismus auf Seite dieser Gegner: weil Vasco behauptet, es gebe auch jenseits von Afrika Län der und Menschen, wird er von der Inquisition mit dem Banne belegt und ins Gefängniß geworfen.

Der zweite Act spielt im Kerker. Vasco schlummert; Selica, die ihn leidenschaftlich liebt, wacht bei ihm und ver hindert den Meuchelmord, den der wilde Nelusco an seinem weißen Nebenbuhler begehen will. Da tritt Ines ein, von Diego begleitet, und überbringt Vasco’s Begnadigung; sie hat die Freiheit des Geliebten mit dem schwersten Opfer er kauft, durch ihre Vermälung mit Diego. Dieser hat sich der Pläne Vasco’s bemächtigt und verkündigt triumphirend, daß der Königihm drei Schiffe zu der Entdeckungsreise bewil ligt habe. Vasco bleibt verzweifelnd und allein zurück, nach dem er in voreiliger Großmuth Selica und Nelusco als Sklaven an Ines verschenkt hat.

Der dritte Act spielt auf hoher See, in den Cajüten und auf dem Verdeck von Diego’s Schiff. Es ist das letzte von den drei Fahrzeugen, das ihm geblieben ist; der treulose Nelusco, dessen Führerschaft Diego sich anvertraut hat, lenkt es den Klippen der ihm bekannten Insel (Madagascar?) ent gegen. Vasco hat inzwischen ein Schiff auf eigene Hand ausgerüstet und dem Admiral einen Vorsprung abgewonnen; er eilt zu Diego, ihn vor dem unvermeidlichen Schiffbruch zu warnen. Eben will Diego seinen großmüthigen Neben buhler zum Dank für dessen Warnung erschießen lassen, als das Schiff krachend auf eine Klippe auffährt und zahllose Indianer mit wildem Kriegsgeschrei den Bord erklimmen, die ganze Besatzung theils niedermetzelnd, theils gefangen nehmend. In Selica erkennen sie ihre Königin und tragen sie triumphi rend ans Land.

Im vierten Acte sehen wir die Eingeborenen der räthsel haften Insel ihrer jungen Königin huldigen. Vasco, der einzige von den noch übriggebliebenen portugiesischen Män nern, soll geopfert werden; Selica rettet ihn vor dem bar barischen Fremdengesetz, indem sie sich als seine Gattin erklärt und Nelusco zur Beschwörung dieser Angabe zwingt. Die Königin will hierauf Vasco frei von dannen ziehen lassen, er aber schwört ihr ewige Liebe und Treue und führt sie, von Priestern und Bajadèren geleitet, zur Hochzeitsfeier, während aus der Ferne die Stimme Ines’ und der portu giesischen Frauen ertönt, welche zum Opfertod geführt werden.

Im Anfang des fünften Actes stehen sich die beiden Neben buhlerinnen, Ines und Selica, gegenüber, in großmüthiger Resignation wetteifernd. Ines, die im Garten eine heimliche Zusammenkunft mit Vasco gehabt, kann es Selica nicht ver hehlen, daß dieser nur durch Pflicht und Dankbarkeit sich an die Königin gefesselt fühle. Selica gibt großmüthig Ines und Vasco frei und läßt sie durch Nelusco nach dem portu giesischen Schiffe geleiten, das noch vor Anker liegt. Sie selbst beschließt zu sterben, und begibt sich auf das Vorgebirge, wo der Blüthenduft des Manzenillobaumes sein tödtliches Gift aushaucht. Während am Horizont die Flagge von Vasco’s absegelndem Schiff auftaucht, kehrt Nelusco zu Selica zurück, zu spät, um sie zu retten. Er gibt sich den Tod zu ihren Füßen.

Wer von dem Textbuch einer großen Oper Höheres ver langt, als die Geschicklichkeit musikalischer und decorativer Gelegenheitsmacherei, der muß Scribe’s „Afrikanerin“ entschie den für ein mittelmäßiges Werk erklären. Gegenüber den hand greiflichen Mängeln und Schwächen dieses Librettos kommt die Kritik höchstens in die Verlegenheit, wo anzufangen. Die früheren Textbücher Meyerbeer’s trugen allerdings auch schwer unter der Last unmotivirter äußerlicher Effecte und innerer Widersprüche, aber es lag ihnen doch eine bestimmte leitende Idee zu Grunde, sie arbeiteten, gleichviel mit welchen Mit teln, von einem Centrum zur Peripherie hin. In der „Afri kanerin“ wird augenscheinlich von einer bunten Peripherie aus — der Schilderung exotischer Länder und Menschen — das Centrum gesucht. Die Handlung hat keine zusammenhaltende ideelle Einheit. Die Oper exponirt sich in großen historischen

Verhältnissen; die Interessen des Staates, der Wissenschaft, der Weltcultur stehen allein im Vordergrund und machen sich gegen den Fanatismus der Unwissenheit und Ortho doxie geltend. Noch im zweiten und dritten Acte ist Vasco der kühne Seefahrer, wenngleich sein Heldenthum durch jämmerliche Nebenumstände schon einen gemischten Eindruck macht. Zwischen den drei ersten und den beiden letzten Acten klafft aber in der dramatischen Entwicklung ein förmlicher Riß. Die weltgeschichtlichen und nationalen Interessen sind abgethan, wie die Portugiesen in Diego’s Schiff, und die Handlung verschrumpft zu einer rein individuellen Liebes- und Großmuthsgeschichte. Den Charakteren fehlt Energie, logische und sittliche Wahrheit. Der historische Vasco de Gama ist zum gewöhnlichen Opernhelden zugerichtet und benimmt sich selbst als solcher ungewöhnlich gewöhnlich. Er wird weniger zwischen zwei Welttheilen als zwischen zwei Frauen hin- und hergeworfen, von denen er stets diejenige liebt, mit welcher er sich gerade allein befindet. Schon im Kerker behandelt er Selica mit einer leidenschaftlich erhitzten Dankbarkeit — „Du bleibst bei mir in Leid und Freud’, bald wird uns lachen die glücklichste Zeit,“ ruft er aus, Selica ans Herz drückend. Zwei Minuten später verschenkt der Edle seine Selica ohneweiters und unaufgefordert als Sklavin an Ines. Im dritten Acte betritt er tollkühn das Schiff seines Feindes, nur um die blauäugige Ines zu retten. Der vierte gehört wieder den schwarzen Augen. Da taumelt Vasco förmlich in Liebesgluth für Selica. „Nur mein! Ewiglich! Vor meinem Gott, vor deinem Gott!“ und was der schönen Dinge mehr sind. Am selben Tage fährt er sans adieux mit Ines ab und überläßt Selica ihrem Schick sal. Edler und verständiger ist jedenfalls die zweite Haupt person, Selica, die aber erst am Schluß handelnd eingreift, eine thränenreiche Personification passiver Liebe und Groß muth. Dieser Charakter stürzte den Dichter und noch mehr den Componisten in einen andern ungelösten Widerspruch. Die „Afrikanerin“ soll in ihrem ganzen Wesen als Gegensatz zu den Europäern erscheinen, ein ungebändigtes Naturkind, naiv, großherzig, exotisch. In der Ausführung reducirt sich diese Charakteristik beinahe auf die braune Schminke Selica’s und den wallenden Federschmuck; was sie thut, spricht und singt,

ist im Grunde so europäisch als möglich, so sentimental und modern wie Fides, Bertha, Valentine und ihre andern Schwestern aus der Rue Lepelletier. Schärfer individualisirt ist von allen Personen nur Nelusco, treu und zartfühlend gegen seine Herrin, tückisch und grausam gegen alle Uebrigen, eine Art tätowirter Marcell. An die Charakteristik des alten Huge notten reicht aber Nelusco nicht entfernt hinan, er bleibt vielmehr bei allem Ansatz zur Originalität ein Zwitter, in welchem die Elemente afrikanischer Bestialität und modern hinschmelzender Empfindsamkeit unvermittelt neben einander liegen und wie zwei verschiedene Instrumente von demselben Spieler willkürlich gewechselt werden. Ines ist ein ganz all gemein gehaltener, passiver Charakter rein musikalischer Natur. Was die Uebrigen betrifft, so sind sie an ihren rechten Platz gestellt, aber mehr ausfüllende als selbstständige Figuren, die im Verlauf der ersten drei Acte sämmtlich aus dem Stück verschwinden.

Allen Charakteren, wie der ganzen Handlung sieht man auf den ersten Blick an, wie der Dichter sie keineswegs aus einem lebendigen Keime wahr und einfach entwickeln wollte, sondern nur darauf bedacht war, möglichst viele contrastirende Situationen, aufregende Momente und spannende, raffinirte Details aneinanderzureihen. Was bleibt also an der gan zen dramatischen Dichtung? Eine Anzahl effectvoller, bunt wechselnder Scenen, geschickt verbunden und hübsch versifi cirt Manche Stellen des Originals haben mehr Wärme und Wohlklang, als man gewöhnlich in Operntexten antrifft. Dies gilt namentlich von Selica’s letzter Scene, der wir folgende Verse ent nehmen: „O temple magnifique, o dôme du feuillage, Qui balancez au loin vos funèbres rameaux, Je viens chez vous, je viens cherche l’orage Le calme, le sommeil et l’oubli de mes maux, — Car votre ombre éternelle est l’ombre des tombeaux. La haine m’ abandonne; mon coeur est désarmé. Adieu, je te pardonne! Adieu, mon bien-aimé!“ Schade, daß die Schlußworte des unsichtbaren Chors in der deutschen Uebersetzung gar so zauberflötend davon abstechen: „In der Liebe ew’gem Reich Sind sich Alle, Alle gleich!“ — — also das geringste Maß dessen, was wir überhaupt von erprobten Bühnentalenten fordern können und müssen.