Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 551. Wien, Dienstag den 13. März 1866 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Stoxreiter, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 551. Wien, Dienstag den 13. März 1866 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 13.03.1866
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Salomon Sulzer.

Ed. H. Während bereits der letzte Schnee des Concert winters vor den Strahlen der Ostersonne schmilzt, geht durch die musikalischen Kreise Wiens noch eine fröhliche Geschäftig keit und Bewegung ganz eigener Art. Sie gilt dem in wenig Tagen stattfindenden 50jährigen Jubiläum des Ober-Cantors am israelitischen Bethause, Salomon Sulzer. Die Kunst des Jubilars wirkt, abseits von weltlichen Erfolgen, nur für den speciellen Zweck des Gottesdienstes — einer Minoritäts- Religion obendrein — und dennoch darf man behaupten, daß ganz Wien sich in dem Augenblick für den Ehrentag des „alten Sulzer“ interessire. So hört man ihn am liebsten und häufigsten nennen, denn „der alte Sulzer“ ist eine der popu lärsten Persönlichkeiten von Wien. Wer kennt ihn nicht, den merkwürdigen Charakterkopf mit dem graugelockten Haar, den runden, feurigen Augen und dem energischen breiten Mund, über welchem die haftig gekrümmte Nase das Inventar der orientalischen Physiognomik vollendet und hier zu sprechend stem Ausdruck zusammenfaßt? Der Mann, welcher vor einem halben Jahrhundert, kaum siebzehnjährig, die Gemeinde seiner Vaterstadt (Hohenems in Vorarlberg) als Cantor zum Gebet geführt, hierauf an 40 Jahre lang das musikalische Wien durch die Pracht seiner Stimme und die Gluth seines Vor trages entzückt hat, er wirkt noch in ungebrochener Rüstig keit, weder seiner Stimme noch seines Jugendfeuers verlustig. Noch heute wie vor 30 und 40 Jahren scheidet kaum ein fremder Tonkünstler von Wien, ohne dem berühmten Cantor einmal gelauscht zu haben.

Ich selbst habe Sulzer nicht mehr in der Blüthenzeit seiner Stimme und überhaupt nur zweimal gehört: bei der Einweihung des neuen Tempels in der Leopoldstadt und bei der Hochzeit der schönen Fanny Todesco. Beidemale machte mir sein noch immer klangreicher Bariton und seine schwung

volle Vortragsweise einen tiefen Eindruck. Dieser Vortrag, in welchem vom leisesten Atemzug bis zum mächtigsten Ton sturm jede Note — jede Pause möchte man fast sagen — tief aus dem Innersten kam, den Reiz des Fremdartigen mit der Ueberzeugungskraft wahrer, glühender Andacht verbindend, er mußte Jedermann, weß Glaubens und Vaterlandes immer, unwiderstehlich fesseln und erregen. Das war tönendes Feuer, etwas überlodernd und qualmend vielleicht — jedenfalls der lebendigste Gegensatz zu jenem mechanisch gleichmäßigen Ab singen ritueller Formeln, das in anderen Culten Styl und Vorschrift geworden. Ein zerknirschtes Aufseufzen, ein begei stertes Emporjubeln zu Gott, stets mit dem vollen Aufgebot, der Empfindung und gleichsam gespornt durch den Gedanken, mit der Wahrheit jedes einzelnen Tones für die ganze Ge meinde, ja für ganz Israel einzustehen. Sulzer hatte damals ein wunderbar ergänzendes und erläuterndes Seitenstück an dem seither verstorbenen Prediger Mannheimer. Der alte Mannheimer — noch sehe ich seinen hageren, geistvollen Kopf mit den flatternden Haaren — predigte, wie Sulzer sang. Dieselbe Gewalt über das Material, dieselbe fremdartige und doch Alles fortreißende Leidenschaftlichkeit, dasselbe begei sterte Aufleuchten des Auges und der Stimme. Es war die glühendste Kanzelberedtsamkeit, die ich erlebt, hier in Worten, dort in Tönen.

Liszt erzählt in seinem Buche „Des Bohémiens et de leur musique“, er habe bei Sulzer’s Tempelgesang zum ersten- und einzigenmal den Eindruck von einer wirklich na tional-jüdischen Kunst empfangen, während alle anderen, selbst trefflichsten Leistungen jüdischer Tondichter, Poeten und Maler doch nur ein Nachbilden und Wiederholen christlich-abendlän discher Kunst seien. Ich habe den treffenden Ausspruch Liszt’s in seiner vollen Wahrheit empfunden, als ich Sulzer zum erstenmal hörte.

Die Wirkungen des Sängers, wie alle höchstpersönlichen, erlöschen mit dem Individuum; nur in der Erinnerung der Zeitgenossen und den Bestrebungen der Schüler schlummern

sie wie unter einem Schleier fort. Sulzer hat dafür gesorgt, daß sein Name nicht zugleich mit seiner Stimme verklingen wird. Als Schöpfer und Verbreiter eines geregelten Synago gen-Gesangs hat er sich ein bleibendes Verdienst geschaffen, des sen sichtbares Document, der „Schir-Zion“, vor mir aufge schlagen liegt. Ueber den früheren jüdischen Synagogal-Gesang und die einschlägigen Reformen Sulzer’s zu urtheilen, fehlt mir die innere wie die äußere Berechtigung. Die literarische Belehrung über den ersteren ist mehr als dürftig; das Ge wicht der letzteren muß ich auf Treu’ und Glauben annehmen. Anerkannt fand ich Sulzer’s Verdienst von Freund und Feind. Sachkundige bezeugen, daß Sulzer der musikalischen Liturgie der Juden Ordnung, Würde und ästhetische Form gegeben, daß er sie aus einem wüsten Zustande der Willkür und Verwahrlosung gerissen. Es sei Sulzer’s Einfluß, wenn Gemeinden, in welchen man ehemals Psalmen auf profane Opern- und Liedermelodien vortragen und den Cantor das häßlichste Schnörkelwerk improvisiren hörte, sich gegenwärtig in musikalisch würdigen, wohlgeregelten Formen bewegen. Für die rein musikalische Seite dieser Reform haben wir einen entscheidenden Anhaltspunkt an dem „Schir-Zion“, der von Sulzer herausgegebenen großen Sammlung von Gesängen für den gesammten jüdischen Cultus. Von diesem Werke ist vor Kurzem der zweite Theil erschienen, welcher wol den er sten nicht so sehr zu ergänzen als zu ersetzen beabsichtigt. Er ist dem „ersten Theil“, welcher sich sehr überwiegend in deut schem Musikstyl, theils Haydn-Mozartisch, theils noch viel moderner bewegt, unvergleichlich überlegen. (Der erste Theil enthielt unter Anderm viele Compositionen von Seyfried, Schubert, Fischhof, Würfel, Drexler und Volkert.) Die Gesänge der neuen Sammlung klingen nicht nur kräfti ger, origineller und kirchlicher, sie tragen auch — worauf ein großes Gewicht zu legen — ungleich mehr das Gepräge jü disch-orientalischer Musik. „Schir-Zion“ ist nicht etwa eine Compilation oder Bearbeitung älterer Gesänge, sondern durch aus eigene, freie Composition Sulzer’s. Nur in einigen we

nigen Chören, sowie in vielen der recitativartigen Einzelge sänge des Cantors hat der Componist ältere, im jüdischen Gottesdienst zu besonderer Bedeutung gelangte Melodien zu Grunde gelegt. Bei einem der ältesten Themen gibt uns Sulzer eine An schauung der altjüdischen Notirungsweise („Neginah“), die, in Form von kleinen Häkchen, Punkten und Strichen über den Wörtern an gebracht, die größte Verwandtschaft mit den altchristlichen Neumen hat. Indem das Hebräische zeilenweise von rechts nach links gelesen wird, so ist es einer Notirung nach unserem Musiksystem eigentlich unzugänglich. Im „Schir-Zion“ sind deßhalb nur die Ueberschriften in hebräischen, der ganze gesungene Text hingegen in lateinischen Buch staben ausgesetzt.

Ein hohes Alter nehmen übrigens selbst diese Reliquien nicht in Anspruch; die ältesten jüdischen Melodien reichen nicht über 400 Jahre. Bei dem hohen Alter und der stren gen Zucht der jüdischen Traditionen, zumal im Gottesdienste, wäre es gerade kein Wunder, wollten die Juden ihre älte sten Melodien bis zu David, dem Gründer der hebräischen Tempelmusik, zurückgeführt wissen. Um so rühmlicher und redlicher handelt Sulzer, indem er jede derartige Träu merei oder Fiction verschmäht, sogar gegen einige Gesang weisen ausdrücklich polemisirend, „welche in ganz unberechtig ter Weise den Schutz des Alterthums für sich in Anspruch nehmen“.

Eine ins Einzelne gehende Würdigung des Sulzer’schen Werkes müssen wir uns an dieser Stelle versagen, wäre sie doch ohne Notenbeispiele auch kaum von Nutzen. Nur einige allgemeinere Bemerkungen seien hier noch gestattet. Der zweite Theil des Sulzer’schen „Schir-Zion“, obwol natürlich dem modernen Ton- und Modulations-System angehörig, läßt ein eigenthümliches orientalisch-jüdisches Gepräge nirgends vermissen. Mit voller Anschaulichkeit tritt dasselbe allerdings erst heraus, wenn die Note durch den charakteristischen na tionalen Vortrag belebt und individualisirt wird. Aber auch die Note an sich trägt diesen Typus: wir finden ihn in dem Vorwiegen des Recitativischen, das im Munde eines Cantors, wie Sulzer, den Charakter begeisterten Improvisirens an

nimmt; in gewissen rhythmischen, harmonischen, vorzüglich aber melodischen Grundzügen, wiederkehrenden Cadenzen und Schlußformeln. Ein namhafter neuerer Musik-Historiker geht offenbar zu weit, wenn er dem jüdischen Synagogal-Gesang einen original-jüdischen Charakter aus dem Grunde abspricht, weil die Juden seit ihrer Zerstreuung über den Occident überall dem modernen Adoptivlande sich assimiliren, so daß die Musik der spanischen Juden spanisch, der deutschen deutsch, der polnischen polnisch sei. Man braucht aber nur einmal dem Gottesdienste der deutschen, portugiesischen und polnischen Juden beizuwohnen (in Wien hat man das Alles ganz nahe), um durch alle Verschiedenheiten hindurch das überwiegend Ge meinsame in ihrem Gesange wahrzunehmen. Und dies Ge meinsame ist eben der specifisch orientalische Typus, der weit mehr an arabische, türkische, persische Weisen erinnert, als an die Nationalmusik der Deutschen, Portugiesen und Polen. Wie sehr erinnert z. B. das Klagelied Nr. 345 und Aehn liches bei Sulzer an den Ruf des Muezzim bei den Türken! Die nahe Verwandtschaft der jüdischen mit der arabischen Gesangweise bestätigt uns (von älteren Sammlungen abgesehen) ganz neuerdings das Werk von Alexandre Christianowitsch, „Esquisse historique de la Musique Arabe“ (1863).

Lebt doch im jüdischen Volke neben dem Charakterzug der Assimilirung der noch stärkere eines zähen Festhaltens an den nationalen Sitten und Traditionen. Am stärksten wirkte er in den unteren Volksclassen, und diese sind überall die treue, alte Garde der Religiosität. So dürfen wir denn auch im Schir-Zion“, dem Repräsentanten des modernen Synagogal- Gesangs, einen nationalen Grundton anerkennen. Die Ge sänge sind durchaus vocal, ohne Instrumental-Begleitung, und werden vom Cantor theils allein, theils gemeinsam mit dem Chor vorgetragen. Letzterer ist ein geschulter Sängerchor von Männern und Knaben; die Nichtbetheiligung der Ge meinde, sowie die Ausschließung der Frauen vom Tempelge sang steht in strenger Uebereinstimmung mit dem alten salo monischen Gottesdienst zu Jerusalem. Von schöner, ergrei fender Wirkung sind die (an unsere katholischen Responsorien

mahnenden) Wechselgesänge zwischen dem Cantor und dem Chor; jener beginnt allein mit einem kräftigen Motiv — die häufigen Intonationen vom Grundton in die Quinte ge ben ihm den Charakter des Rufenden, Emporschwingenden — der Chor erwidert in kürzeren oder längeren vierstimmigen Sätzen. Einige Chöre hat Sulzer mit Orgelbegleitung versehen und damit thatsächlich gegen allzu orthodoxe Stimmen für das Recht der Orgel in der Synagoge plaidirt. In großen Räu men ist dies Instrument zur Unterstützung und Ausfüllung reiner Vocalmusik nahezu unentbehrlich; sein universal reli giöser Charakter eignet es für jeden monotheistischen Cultus. Historisch dürfen die Juden überdies auf ihre „Magrepha“ und „Maschrokita“ pochen, die, primitiv und bald überwunden, doch immerhin Orgeln waren. Dem christlichen Abendlande verdankt die Orgel ihre Ausbildung, aber nicht ihre Herkunft. Das musikalische Verdienst Sulzer’s erscheint in den Augen des Kenners gesteigert durch viele eigenthümliche, in der Sprache wie im Ritus begründete Schwierigkeiten. Die Me lodie muß allezeit dominiren, die Stimme des Cantors dem Chor stets voraus und überlegen sein, kein Wort darf wieder holt werden. Die Texte entbehren jeglicher Strophen-Architek tonik und fügen sich schwer dem musikalischen Tact und Periodenbau; dazu treten die strengsten Ansprüche auf die Beachtung der überaus schwierigen Prosodie des Hebräischen.

Wir glauben, daß kein Musiker den neuen Band des Sulzer’schen „Schir-Zion“ ohne lebhaftes Interesse durch gehen wird. Der sich immer weiter ausbreitende reformirende Einfluß dieses Werkes (man benützt es bereits in amerikani schen Synagogen) verleiht ihm überdies eine culturhistorische Bedeutung. Kein Wunder, wenn selbst aus fernen Ländern, wo man nie den Eindruck von Sulzer’s Stimme erlebte, Huldigungen und Ehrengeschenke an den Jubilar in Menge hier eintreffen. Wien aber, die Stätte seines langen, rühm lichen Wirkens, besitzt das erste Anrecht, den greisen Cantor zu feiern, der als Künstler weit über den Tempeldienst hin ausgereicht und als Priester durch die Läuterung seines Gottesdienstes für die Idee einer weihevollen und menschlich schönen Andacht überhaupt gewirkt hat.