Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 592. Wien, Dienstag den 24. April 1866 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 592. Wien, Dienstag den 24. April 1866 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24. April 1866
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Deutsche Oper.

Ed. H. Nichts Besseres vermöchten wir unseren deut schen Sängern für so manchen uns bereiteten Genuß zu wün schen, als daß keine der italienischen Vorstellungen an ihnen ungehört und ungenützt vorübergehen möge. Wer es bislang nicht gewußt oder nicht geglaubt, was den deutschen Sängern fehlt, dem wird es durch die sich ununterbrochen aufdrängende Vergleichung mit den Italienern jetzt zur Klarheit gediehen sein: die Herrschaft über die Gesangstechnik. Nicht an ein zelne Künstler des Hofoperntheaters denken wir dabei, ja nicht einmal an dieses, andere Bühnen noch weit überragende In stitut selbst, sondern an die deutschen Sänger überhaupt. Was für prachtvolle Stimmen finden wir bei ihnen, welche Schätze an musikalischen und dramatischen Anlagen — und dennoch, welch mangelhafte, dilettantische Ausbildung dieser Kunstmit tel. An allgemeiner wissenschaftlicher Bildung dürften unsere Landsleute den französischen und italienischen Sängern größten theils überlegen sein, in der für den Künstler unentbehrlichsten, der technischen, stehen sie weit hinter ihnen zurück. Die italieni schen Künstler treiben das Singen als eine Kunst, eine schwie rige, ernste Kunst, die sorgsam erlernt sein will; die deutschen begnügen sich meist mit der Stimme, dem Talent, der Rou tine und einer vornehmen Abneigung gegen Gesangsstudien. Die technische Ausbildung des Materials — nicht das Letzte, aber das Erste und Unentbehrlichste in aller Kunst — liegt in dem ernsten Willen eines Jeden; deßhalb soll die Kritik an einem so auffallenden Beispiel wie unsere italienische Oper nicht stillschweigend vorübergehen. Wir zum mindesten glau ben mit solchem Fingerzeig eine Pflicht zu erfüllen, wohl wis send, daß er uns keine Rosen tragen wird.

Das Lob der Gewissenhaftigkeit und ernsten Berufstreue,

das den Deutschen allgemein gespendet wird, erleidet in Be zug auf die deutschen Bühnenkünstler einige Einschränkung. „Ich kenne keine fremde Bühne, welche an sorgfältiger Vor bereitung des Kunstmaterials unsere deutsche Bühne nicht überträfe,“ sagt Laube in seinem trefflichen Essay über Anschütz. Der Ausspruch dieses erfahrenen Kenners (dessen dramaturgische Perlen leider nur dann auftauchen, wenn das Burgtheater einen großen Künstler verliert), ist durch seine Collegen Devrient, Gutzkow etc. an mehr als Einem Orte bekräftigt. Welcher deutsche Schauspieler erschrickt nicht, wenn er liest, daß von einem Conversationsstück, wie Mademoiselle de Belle-Isle“ im Théâtre Français seiner zeit 52 Proben gemacht wurden, und selbst die kleinen Vaudevilles auf den Boulevards nie unter sechzehn bis zwanzig Proben aufgeführt werden? Wie vielen deutschen Schauspie lern dürfte man zumuthen, zwanzig- und dreißigmal zu pro biren, wie man einen Brief zu erbrechen, sich aufs Sofa zu legen, grüßend in einen Salon zu treten hat? Und doch mußte, trotz der natürlichen Geschicklichkeit, welche hierin die Franzosen voraus haben, jeder ihrer bedeutenden Künstler an der Aneignung solcher Details, also am Handwerk, gewissen haft arbeiten. Ein weit größerer Abstand noch, als zwischen deutschen und französischen Schauspielern, besteht in diesem Punkte zwischen den Sängern der deutschen und der italienischen Bühne. Wir möchten hier lieber das Publicum zur eigenen Beobachtung einladen, als selbst sprechen. Man höre heute eine italienische Vorstellung und morgen eine deutsche am Hofoperntheater. Unsere italienischen Gäste glänzen durch voll endete Bildung des Materials bei keineswegs imposanten Stimmen; die deutschen durch Stimmen voll Kraft und Fülle, die jedoch ob ihrer mangelhaften Technik nicht die Hälfte der Wirkung erreichen, welche sie bei gleicher Pflege und Ausdauer erreichen könnten. Bei den Italienern größte Sicherheit und Gleichmäßigkeit die ganze Rolle hindurch, bei den Deutschen

ein ungleicher Wechsel glänzender und mittelmäßiger Momente, Beides mit einem leichten Anflug von Zufälligkeit. Dort bejahrte Tenoristen, deren Stimme durch sorgsame Pflege den schönsten Wohllaut bewahrt hat, hier junge Sänger mit vorzeitig brüchigem, unsicheren Organ. Bei Franzosen und Italienern Alles gefeilt, in sich fertig und wirksam, bei den Deutschen das Meiste in kühnem Sichhineinstürzen bald er reicht, bald verfehlt. Mit diesen allgemeinen Bemerkungen wollen wir natürlich weder rühmliche Ausnahmen leug nen, noch den Sängern allein die Schuld an diesem weithin herrschenden Zustande aufbürden. Das deutsche Publicum macht leider an die Gesangskunst seiner Opern sänger, auch der kostspieligsten, geringe Ansprüche und erläßt diesen die jahrelangen mühevollen Studien, die es von jedem erträglichen Instrumental-Virtuosen fordert. So haben wir einerseits das Publicum als Mitschuldigen. Andererseits ist die Vernachlässigung technischer Meisterschaft ein Charakter zug, der sich analog auch in anderen Gebieten deutscher Kunst äußert, und manchmal unsere genialsten Erfinder und Denker weit hinter dem Einflusse zurückbleiben läßt, welcher ihren Ideen gebührt, und den ihre französischen, italienischen englischen Collegen gerade durch technische Meisterschaft so oft erringen. Unter den gefeierten deutschen Malern soll es welche geben, die nicht eine Hand correct zeichnen können. „Es gibt Maler und Malenkönner,“ erwiderte einmal gereizt einer der geistreichsten von ihnen, „ich bin Maler.“ Wir glauben, man solle Beides sein. In der Oper gibt es Sänger und Singenkönner, — Letztere sind selten Deutsche.

Verlassen wir für heute dies Thema, um dem erfolgrei chen Gastspiele Fräulein Stehleʼs einige Worte zu widmen. Was wir im verflossenen Jahre an dieser hochbegabten Sän gerin Vorzügliches kennen gelernt und gerühmt haben, er freute uns auch diesmal wieder: ein jugendfrisches, kräftiges Organ, deutlichste Aussprache, Sinnigkeit und Leidenschaft,

endlich ein intensives dramatisches Talent. Gewiß eine Ver einigung von Gaben, die für sich schon äußerst werthvoll und an einer ganz neu auftauchenden Erscheinung von bei nahe blendender Wirkung ist. Dieser Anerkennung mußten wir leider im vorigen Jahre jedesmal einiges Bedauern über die lückenhafte, naturalistische Gesangsbildung Fräulein Stehleʼs beimischen. Wir konnten nach ihren effectvollsten Rollen nicht ver schweigen, daß hier die Gesangskunst nicht auf der Höhe des Talentes stehe. Die schwere, dumpfe Tonbildung, der Mangel an Klangschattirungen, die Ungelenkheit der Coloratur, das Hinüberziehen der Intervalle mittelst falscher Vorschläge, die Gewaltsamkeit der hohen Töne — alles das haben wir in Fräulein Stehleʼs Gesang nach Jahr und Tag unverändert wiedergefunden. Die Hoffnung, die wir am Schluß ihres letzten Gastspieles aussprachen: es möge uns die reichbegabte Künstlerin bald als Meisterin im Gesang wiederkehren, hat sich bis jetzt nicht erfüllt. Ja, ihre Senta (eine neue Partie) stand als Gesangsleistung sogar entschieden unter je der ihrer vorjährigen Rollen. Hier wurde das seufzende Hinüberschleifen der Töne, verbunden mit jenen nachdrückli chen Accenten, welche Fräulein Stehle in gefühlvollen Stel len liebt, manchmal zur förmlichen Wehklage. In der Bal lade vom „fliegenden Holländer“ (Fräulein Stehle sang sie, um für das G bequem Athem zu schöpfen, thatsächlich im Sieben- statt im Sechsachteltact) mißlang die einfache Verbindung der drei Noten F, G, F im Refrain jedesmal, in dem großen Duett mißlang das hohe H jedesmal. Die Es-dur-Romanze des Pagen in „Figaroʼs Hochzeit“ zeigte denselben Mangel an ruhiger, correcter Tonverbindung wie im vorigen Jahre. Wir sprechen hier absichtlich gar nicht vom eigentlichen Coloratur- und Bravourgesang, weit enfernt, von einer deutschen „dramatischen Sängerin“ italienische Vir tuosität zu erwarten. Warum jedoch eine Sängerin von Stimme, Gehör und musikalischer Bildung nicht sollte eine

viertactige einfache Melodie ebenso correct vortragen können, wie unsere Italiener, ist nicht einzusehen. Wie auffallend stachen in dem kleinen Quintett aus „Così fan tutte“ (im Mozart-Concert) die wenigen Noten Calzolariʼs und Everar diʼs von der Primstimme Fräulein Stehleʼs ab! Diese Sänger und „Singenkönner“ sind eben nicht verloren, so bald man ihnen Spiel, Costüm und leidenschaftliche Effecte nimmt. In Fräulein Stehleʼs Leistungen hingegen muß oft die Leidenschaftlichkeit des Vortrags, die materielle Schönheit der Stimme, das geistreiche Spiel über die Mängel des Ge sanges täuschen; daß diese Kräfte in Rollen wie Selica, Margarethe, Senta, mitunter schon zu großen Wirkungen hinreichen können, räumen wir ebenso gerne ein, als daß Fräulein Stehle diese Wirkungen jedesmal in durchschlagen der Weise wirklich erzielt hat.

Das glänzende Darstellungstalent der Künstlerin haben wir im vorigen Jahre rühmend hervorgehoben, doch nicht ohne die freundschaftliche Warnung, Fräulein Stehle möge sich vor der Häufung und Ausklügelung mimischer „Intentionen“ und vor dem Fehler des Zuvielspielens hüten. Daß diese Besorg niß nicht ganz ungegründet war, zeigten diesmal Gretchenʼs Schluchzen in der Domscene, die lange, stumme Bravour mimik vor dem Eintritt des Holländers, die realistischen Uebertreibungen des Pagen Cherubim und ähnliche geistreiche, aber übertriebene Effecte, die wir Dawisonerien nennen möch ten. Es gehört unstreitig viel Talent dazu, um derlei machen zu können, aber auch schon ein bedenklich künstelndes Talent, um sie wirklich zu machen. Daß solche Details zum großen Theil auf dem Wege der Reflexion nachträglich hineingezeich net sind, glauben wir unter Anderm aus der „Afrikanerinzu entnehmen, welche Fräulein Stehle erst ein einzigesmal (in Mannheim) gespielt hat und von allen ihren Rollen am ein fachsten und natürlichsten darstellt. Die Selica, dem Stimm umfang Fräulein Stehleʼs wohl anpassend, ist eine sehr verdienst

liche Leistung voll schöner Effecte und ihr Erfolg um so gewichti ger, als jede Nachfolgerin der Bettelheim hier einen schwe ren Stand findet. Die Rolle sagt der natürlichen Stimmlage Fräulein Bettelheimʼs durchaus nicht zu, findet aber in der wun derbar charakteristischen Persönlichkeit dieser Sängerin eine unschätzbare Kraft, während man nur schwer an die afrika nische Herkunft Fräulein Stehleʼs glauben kann. Was ihrer Selica noch fehlt, ist die fremdartig-dämonische Färbung; das gefühlvolle deutsche „Gretchen“ blickte durch das (über dies allzu lichte) Braun der Schminke deutlich hervor. Bedeu tender und effectvoller war die Leistung jedenfalls, als die kurz vorhergegangene der Frau Kainz-Prause, deren be neidenswerth schöne Stimme den erkältenden Eindruck eines alltäglichen Spieles und eines phlegmatischen, in fortwähren den Ritardandos ausruhenden Vortrages nicht beseitigen konnte. In der gegenwärtigen Besetzung der „Afrikanerin“ ist die Leistung Fräulein Rabatinskyʼs (Ines) mit aufmunterndstem Lobe zu erwähnen.

Wir hoffen, Fräulein Stehle und ihre einsichtsvollen Freunde werden unsere Bemerkungen nicht übelnehmen. Zu innig sind wir von ihrem großen Talent und künstlerischen Ernst überzeugt, um nicht zu glauben, daß Fräulein Stehle noch weiteren Fortschreitens fähig sei und dasselbe redlich be absichtige. Gratuliren wir der jungen Sängerin, daß sie noch kein fait accompli ist! Vollständigkeitshalber sei zum Schluß noch constatirt, daß Fräulein Stehle in jeder ihrer Rollen enthusiastischen Beifall erntete und sehr oft gerufen wurde. Ja, es fanden sich meistens sogar einige ästhetische Barbaren, welche ihr mitten in einer ergreifenden Scene ein Ungeheuer von Kranz oder Blumenstrauß auf die Bühne schleuderten. Derlei blühende Halbmenschen würden wir ohne Gnade aufs Theater führen lassen und im Zwischenacte dem versammel ten Publicum zeigen.