Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 714. Wien, Samstag den 25. August 1866 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 714. Wien, Samstag den 25. August 1866 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 25. August 1866
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung; alle Orte, Personen, Werke, Daten ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Waffenruhe am Clavier.

Ed. H. Wir hatten den Feldzug redlich mitgemacht. Nicht durchgekämpft, aber durchgelitten. Es gibt Mißgeschicke, die tiefer treffen als eine Gewehrkugel, und Wunden, welche nicht schmerzloser sind, weil sie nach Innen bluten. Auch das Herz hat seine Blessirten. Vielleicht war ihre Zahl größer unter uns friedlichen Männern, als in den Feldlazarethen der Armee.

Seit den ersten Atemzügen des Krieges hatte keiner von den Freunden an Musik gedacht, die theure, mitunter einzige Gefährtin unserer Tage. „Rast dieses Volk, daß es dem Mord Musik macht?“ riefen wir unwillkürlich mit Rudolph v. Harras, wenn irgendwo eine Polka oder Opern-Arie aus offenem Fenster lärmte. Die Ruhe des Waffenstillstandes, das Trostgefühl des immer näheren, immer gewisseren Friedens legte sich allmälig wie eine linde Hand besänftigend auf den brennenden Kopf, das tobende Herz. Nicht die stille Belage rung der Sorge, aber das Kreuzfeuer der Telegramme und Gerüchte hat endlich ausgelobt, und es bringt jeder Morgen wenigstens nicht ein neues Unheil. Eine gewisse müde und doch wohlthuende Abspannung bemächtigt sich der Geister. Das ist der Moment, wo das aufathmende Gemüth sich wie der nach der Kunst zu sehnen beginnt, wie der gerettete Kranke nach dem Sonnenlicht.

Wir Freunde hatten den ganzen Spaziergang hindurch Politik getrieben, Vergangenes und Künftiges erwägend, er duldend. An der Hausthür angelangt, war es uns, als könn ten wir nicht so scheiden. Fast schüchtern regte sich die Frage, ob wir nicht ein wenig Musik machen sollten? Es lag ein Paket Novitäten auf meinem Clavier, uneröffnet, wie seit geraumer Zeit dieses selbst. Nicht ohne freudige Bewegung gingen wir an die kleinen Vorbereitungen; der Eine öffnete das Paket, der Andere das Piano. Es verstand sich von selbst, daß mit vierhändigem Spiel der An fang gemacht werde. Ist es doch die intimste, die bequemste und in ihrer Begrenzung vollständigste Form häuslichen Mu sicirens. Sie ist jünger, als unsere Generation wähnt, und

verdankt der rapiden Verbreitung des Clavierspiels, der Er weiterung und Vervollkommnung der Pianofortes ihren Auf schwung. Das Streichquartett, Trio oder Quintett, das sonst in keinem gut musikalischen Haus fehlte, ist dadurch verdrängt; ein Verlust ohne Zweifel, doch kein Nachtheil für die best mögliche Kenntniß der Orchester-Literatur auf der eigenen Stube. Wenn man die Musikalien-Kataloge aus Haydnʼs und Mozartʼs Zeit bis über die Mitte von Beethovenʼs Wirk samkeit durchblättert, so begegnet man kaum Einem vierhän digen Arrangement auf Dutzende von Bearbeitungen für drei, vier und fünf verschiedene Instrumente. Auch Beethovenʼs erste Symphonien waren längst für Streichquartett arrangirt, ehe man sie vierhändig zu setzen begann. Heutzutage bringen unsere Concerte keine Ouvertüre, keine Symphonie, die man nicht sofort im vierhändigen Arrangement vorkosten oder nach genießen kann. Eine Quelle von Vergnügen und Belehrung fließt den Musikfreunden aus diesem bescheidenen Gebiete zu. — „Wer ist Ihr Vierhändiger?“ fragte mich einst ein pas sionirter Dilettant. Seine kühne Wortbildung, so ganz die Persönlichkeit negirend und blos die musikalische Nützlichkeit betonend, schien mir so übel nicht. Ein rechter „Vierhändiger“ ist ein Inbegriff von soliden Eigenschaften, er steigt im Werthe, je weniger er zweihändige Prätensionen macht. Nicht Jedermann kann eine Frau, eine Geliebte, einen Herzens- und Geistesfreund sein nennen, aber „einen Vierhändigen“ sollte jeder Sterbliche besitzen, gleichsam als engagirten Tänzer für die musikalische Lebenszeit.

Mein Vierhändiger also ergreift das Notenpaket, hebt ab wie im Kartenspiel und liest überrascht auf einem Hefte die Aufschrift: „Walzer zu vier Händen von Johan nes Brahms“. Brahms und Walzer; die beiden Worte sehen einander auf dem zierlichen Titelblatte förmlich erstaunt an. Der ernste, schweigsame Brahms, der echte Jünger Schumannʼs, norddeutsch, protestantisch und unwelt lich wie dieser, schreibt Walzer? Ein Wort löst uns das Räthsel, es heißt: Wien. Die Kaiserstadt hat Beethoven zwar nicht zum Tanzen, aber zum Tänzeschreiben gebracht, Schumann zu einem „Faschingschwank“ verleitet, sie hätte vielleicht Bach selber in eine ländlerische Todsünde verstrickt. Auch die Walzer von Brahms sind eine Frucht seines Wie

ner Aufenthaltes, und wahrlich von süßester Art. Nicht um sonst hat dieser feine Organismus sich Jahr und Tag der leichten, wohligen Luft Oesterreichs ausgesetzt — seine Walzer“ wissen nachträglich davon zu erzählen. Fern von Wien müssen ihm doch die Straußʼschen Walzer und Schu bertʼs Ländler, unsere Gstanzel und Jodler, selbst Farkasʼ Zigeunermusik nachgeklungen haben, dazu die hübschen Mäd chen, der feurige Wein, die waldgrünen Höhen und was sonst noch. Wer Antheil nimmt an der Entwicklung dieses echten und tiefen, bisher vielleicht einseitigen Talentes, der wird die „Walzer“ als glückliches Zeichen einer verjüngten und er frischten Empfänglichkeit begrüßen, als eine Art Bekehrung zu dem poetischen Hafisglauben Haydnʼs, Mozartʼs und Schubertʼs. Welch reizende, liebenswürdige Klänge! Wirkliche Tanzmusik wird natürlich Niemand erwarten: Walzer-Melodie und -Rhythmus sind in künstlerisch freier Form behandelt und durch vornehmen Ausdruck gleichsam nobilisirt. Trotzdem stört darin keinerlei künstelnde Affectation, kein raffinirtes, den Total-Eindruck überqualmendes Detail — überall herrscht eine schlichte Unbefangenheit, wie wir sie in diesem Grade kaum selbst erwartet hätten. Die Walzer, sechzehn an der Zahl, wollen in keiner Weise großthun, sie sind durchwegs kurz und haben weder Einleitung noch Finale. Der Cha rakter der einzelnen Tänze nähert sich bald dem schwunghaf ten Wiener Walzer, häufiger dem behäbig wiegenden Ländler, mitunter tönt wie aus der Ferne ein Anklang an Schubert oder Schumann. Gegen Ende des Heftes klingt es wie Spo rengeklirr, erst leise und wie probirend, dann immer entschie dener und feuriger — wir sind, ohne Frage, auf ungari schem Boden. Im vorletzten Walzer tritt dies magyarische Temperament mit brausender Energie auf; der Dreiviertel- Tact erscheint fast als eine Skurzze des raschen Allabreve schrittes im Csardas, als Begleitung erdröhnt nicht der ruhig stolze Grundbaß des Straußʼschen Orchesters, sondern das leidenschaftliche Geflatter des Cymbals. Ohne Zweifel hätte dies Stück den effectvollsten Abschluß gebildet, allein es liegt ganz in dem Wesen Brahms’, den feineren und tieferen Ein druck dem rauschenden vorzuziehen. Er schließt, zum österrei chischen Ländlertone zurückkehrend, mit einem kurzen Stücke von bezauberndem Liebreiz: ein anmuthig wiegender Gesang

über einer ausdrucksvollen Mittelstimme, welche im zweiten Theile unverändert als Oberstimme erscheint, während dazu die frühere Hauptmelodie nun die Mittelstimme bildet. Das Ganze in seiner durchsichtigen Klarheit zählt zu jenen echten Kunststücken, die Keinem auffallen und Jedermann entzücken. Das Brahmsʼsche Heft erläßt dem Spieler jedwede Bravour der Anstrengung, appellirt aber an ein feines musikalisches Ge fühl. Die einzelnen Walzer sind sehr verschiedenen Tempera ments, der Spieler erräth dasselbe mehr aus ihrem musika lischen Inhalte, als aus den sparsamen Tempo und Vor tragsbezeichnungen.

Wir trugen eine neue Schicht von unserem Novitäten berge ab und stießen auf J. O. GrimmʼsSuite in cano nischer Form“, in Partitur und vierhändigem Arrangement publicirt von Rieter-Biedermann in Winterthur, dem hochverdienten kunstsinnigen Verleger des Schumannʼschen Nachlasses, sowie der meisten Compositionen von Brahms, Theodor Kirchner, Hiller und Anderen. Die Grimmsche Suite war uns von den Philharmonischen Concerten her in gutem Andenken, gern sahen wir das feine, geistreiche Ge flecht sich vor unseren Sinnen wieder knüpfen und lösen. Einen noch köstlicheren Genuß aus den vorjährigen Philhar monie-Concerten rief uns Schubertʼs Zwischenakt-Musik zu „Rosamunde“ zurück. Herr Spina, dessen rühmlicher Schubert-Eifer jetzt nachzuholen strebt, was seine Vorfahren auf dem Diabelliʼschen Thron versäumten, hat die beiden Entreactes aus „Rosamunde“ in Partitur, dann in zwei- und vierhändiger Bearbeitung veröffentlicht. Schubertʼs Orchesterstücke gehören nicht zu jenen, die durch Stimmen fülle, Contrapunktik oder Passagenwerk dem Clavier-Uebersetzer Schwierigkeiten bereiten, aber das bezaubernde Colorit der Schubertʼschen Instrumentirung vermißt man aufs schmerz lichste. Karl Reineckeʼs bewährte Hand hat indessen auch in diesen Clavier-Arrangements das Erreichbare geleistet, und wer das Original lebhaft im Gedächtniß trägt, der wird, wie im Leben so auch in der Kunst, selbst das farbenlose Porträt mit Dankbarkeit betrachten.

Auch SchubertʼsOuvertüre im italienischen Stylein C-dur (Partitur und vierhändiges Arrangement bei Spina) spielten wir zum erstenmale. Sie war nebst einer

gleichbetitelten zweiten (in D-dur) noch zu Lebzeiten des Com ponisten ein beliebtes Concertstück in Wien, was bekanntlich wenig Schubertʼsche Compositionen von sich rühmen konnten. Während wir jetzt die früher verkannten oder ganz unge kannten Werke Schubertʼs hervorsuchen und hochschätzen, sind seine „Italienischen Ouvertüren“ fast spurlos verschollen. Schubert schrieb sie zur Zeit des epidemischen Rossini- Fiebers in Wien, theils mit ironischer Absicht, theils wirklich getroffen von der glänzenden Neuheit dieser Erscheinung. Der Rossiniʼsche Einfluss wirkte zu Anfang der Zwanziger Jahre mit der Unwiderstehlichkeit einer Naturgewalt. Vielleicht der merk würdigste Beleg dafür ist, daß in den Werken Spohrʼs, Weberʼs und Schubertʼs, dieser drei leidenschaftlichen Ros sini-Gegner, sich deutliche Spuren dieses Einflusses erkennen, durch eigene Aussprüche dieser Meister biographisch constati ren lassen. Die „Italienische Ouvertüre in C“, gefällig er funden und effectvoll instrumentirt, gibt freilich weder den echten Schubert noch den echten Rossini. Schubert mußte seine beste Eigenthümlichkeit verleugnen, um jene Ros siniʼs — doch nicht zu erreichen. Hierauf fielen uns Notte bohmʼs vierhändige „Variationen über eine Sarabande von Sebastian Bach“ in die Hände. Mit Freuden machten wir uns abermals an diese uns bereits bekannt gewordene Com position, welche durch genauere und genaueste Bekanntschaft immer noch gewinnt.

Unsere vier Fäuste hatten die besten Stollen des Noten gebirges allmälig ausgeschürft, nur ein unheimlich glimmern des Gestein lag noch unberührt: Richard Wagner. Mit etwas ängstlicher Neugierde schlugen wir den neuen „Huldi gungsmarsch“ auf, den Richard Wagner dem jungen nige von Baiern widmete. Der Marsch beginnt mit einer sentimental-pathetischen Einleitung, in welcher das unvermeid liche chromatische Gewinsel wenigstens auf langsame Noten vertheilt ist. Ein Trompetenstoß unterbricht diese Meditatio nen, und die Huldigung marschirt nun etwas strafferen Schrittes, aber mit äußerst alltäglichen Ideen weiter. Wir zweifeln keinen Augenblick, daß Wagner, als er sich behufs dieser Inspiration „das Verzeichniß seiner Schlafröcke“ reichen ließ, den rothsammtenen mit Goldquasten und Türkisenbesatz gewählt habe. Aber leider kommt dieser Farben- und Juwelen

glanz selbst in dem begeistertsten Clavier-Auszug nicht zu Tage und bleibt nur der einfache musikalische Schnitt. Wir können nicht dafür, daß dieser Schnitt uns überaus gewöhnlich und bürgerlich vorkommt. Der „Huldigungsmarsch“ erinnert in vielen Wendungen an die Festzüge im „Tannhäuser“ und „Lohen grin“, ohne diese auch nur entfernt zu erreichen. Wir wissen nicht, was Alles die Eingeweihten in diese Musik etwa hin eingeheimnissen, bezweifeln aber, daß sie jemand Anderem als dem damit begrüßten freigebigen Souverän besonders theuer sein werden.

Ist das Arrangement des „Huldigungsmarsches“ eine neue Probe von Bülowʼs Gewandtheit, so grenzt das Un ternehmen seines Freundes Tausig, die Ouvertüre zu den Meistersingern von Nürnberg“ für vier Hände zu setzen, hart ans Unmögliche. Der Huldigungsmarsch ist doch noch jeden falls königlich baierische Musik, aber in dem Spectakel der Nürnberger“ Wolfsschlucht hört jeder Gedanke an Musik auf. Das Wiener Publicum hat dies blutrünstige Vorspiel zu einer „komischen Oper“ vor zwei Jahren im Original genossen und erinnert sich, was es damals hörend erlebte. Was aber vollends Menschenhände spielend dabei erdulden, weiß nur, wer es selbst versucht. Uns war zu Muthe, als bahnten wir uns mit bloßen Armen einen endlosen Weg durch Nesselgebüsch und Dornenhecken, um zu einem Ziele zu gelangen, das fast noch schlimmer als der Weg dahin. Zu erschöpft waren wir von dem mörderischen Handgemenge, um weiterzuspielen, zu ärgerlich aufgeregt, um so den Abend zu beschließen, den wir dem Frieden und der Har monie zugedacht. „Diese Musik ist ja ärger als Krieg und Politik!“ rief entrüstet mein mir an die linke Hand getrauter Kamerad. Was nun anfangen? Wie eine Leuchtkugel stieg uns der Gedanke auf, daß heute Strauß im Volksgarten spiele, und spornstreichs eilten wir hin, als folgte uns die Zunft der Meistersinger auf den Fersen. Im Volksgarten schimmerte es fröhlich von Lichtern und Klängen, Strauß be gann eben mit schwungvollem Geigenstrich seine Walzer: Auf den Bergen“. Die Opfer des Nürnberger Meister gesangs aber sanken aufathmend auf eine Gartenbank und waren glückselig wie — auf den Bergen.