Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 760. Wien, Donnerstag den 11. October 1866 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 760. Wien, Donnerstag den 11. October 1866 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 11. October 1866
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung, alle Daten, Personen, Werke, Orte ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater.

Ed. H. Während wir so Tag für Tag auf das zweite Auftreten Fräulein Orgeniʼs harren, dieser einzigen Ab wechslung in dem schläfrigen Einerlei des Hofoperntheaters, haben wir wenigstens Muße genug, über die theatralische Ernte der letzten drei Monate nachzudenken. Der Rückblick auf die „Sommerfrische“ im Comödiengäßchen wird mit jedem Jahre melancholischer, und die Oper im Juli charakteri siren wir am kürzesten durch die abermals wiederholte Bitte, sie erst im August zu eröffnen. Nicht mit frischen Kräften sondern in träger Ermattung und Zerfahrenheit nimmt nach dem Ferienmonat Juni die Oper ihre Arbeit wieder auf. Die ersten Kräfte schwärmen mit oder ohne Bewilligung noch auf Gastrollen umher, Novitäten sind und werden keine vor bereitet, so spielt man denn vor leerem Hause alte Opern in schäbigster Surrogat-Besetzung ab. Wir erinnern an die denk würdigen Besetzungen des „Nachtlager“ und des „Freischütz“, an die Mordversuche gegen die Person „Don Juanʼs“ und Fra Diavoloʼs“ und Aehnliches. Wozu derlei überflüssige Vorstellungen, welche der Kasse nicht einmal die Tageskosten, wol aber dem Institut übelste Nachrede eintragen? Um denn scheinbar doch etwas zu thun, greift man zu Gastspielen. Gäste sind von Jupiter selbst geschickt, lehrt Homer, ein mit unsern Opernzuständen wenig vertrauter Autor. Hat man uns etwa Niemann vorgeführt, den berühmtesten deutschen Tenor, der, überall, nur in Wien noch nicht bekannt, sich der Direction selbst angeboten haben soll? Oder haben wir auch nur Frau Wilt gehört, unsere in London so gefeierte Landsmännin, deren Auftreten hier das lebhafteste Interesse erregt und dem In stitut vielleicht eine erwünschte Kraft bleibend zugeführt hätte? Nichts von allem. Es gastirten drei bislang unbekannte Tenoristen, Nachbaur, Prott und Zottmayr, die zwar wenig Glück beim Publicum, desto mehr aber bei der Direction machten, denn sie wurden sämmtlich hier engagirt. Herr Nachbaur (der zu Ostern definitiv eintritt) entspricht gegenwärtig keinesweges den Anforderungen, die das Publicum des Hofoperntheaters an einen ersten Tenor stellen muß; allein

Jugend, Talent und Stimme bilden ein Prisma, durch das man wenigstens seine Zukunft in den schönsten Farben sehen kann. Er wird sich hier wol schnell vervollkommnen und dann natürlich — seiner Wege gehen. Herr Prott erwies sich in großen Partien (Gennaro, Manrico) ungenügend, dürfte aber für kleinere Aufgaben mit Vortheil verwendet werden. Seine Stimme entbehrt der Fülle und Kraft, aber nicht eines ge wissen jugendlichen Schmelzes; sein Eifer nimmt günstig für ihn ein. Hoffentlich übernimmt er zunächst das Repertoire des Herrn Kreutzer, den man wol etwas vorschnell von der Chorleitung zum Sologesang zurückgerufen hat. Ist Herr Kreutzerʼs Stimme wirklich kräftiger geworden, und daran zweifeln wir gar nicht, um so besser für den Chor, der doch nicht die Aufgabe hat, stimmlos zu sein. „Thränen,“ heißt es in den Müllerliedern, „machen todte Liebe nicht wieder blühen,“ und Alaun-Inhalationen machen eine alte Tenor stimme nicht wieder jung. Es genügt nicht, daß Jemand ein hohes H und C herausbringe, sie müssen auch gut klingen, und selbst wenn sie klingen, so fragen wir noch weiter, ob sich unter diesem blendenden Dachgesims auch wirklich ein an ständiger zweiter und erster Stock sammt Mezzanin be finde? Wir kommen zu Herrn Zottmayr, dem ältesten und erfahrensten, aber uninteressantesten der drei Gäste. Sein Gastspiel fand den geringsten Beifall; dennoch ist er für erste Partien engagirt worden und nunmehr unumschränkter Herr des „Tannhäuser“, „Prophet“, „Robert“ und anderer hochgelegener Herren. Wohin ist es mit uns gekommen? seufzen die Stammgäste des Kärntnerthor-Theaters. Nachdem wir — Dank dem System der wohlfeilen Engagements — stufenweise von der Csillag auf die Destinn und von dieser auf Fräulein Benza herabgelangt, ma chen wir dieselbe Carrière von Ander und Wach tel auf Ferenczy und von Ferenczy auf Zott mayr! Letzterer hat eine Tenorstimme, die — nein er hat keine Tenorstimme, ganz und gar keine Tenorstimme, sondern einen unverholenen Bariton, der, wennʼs noththut, das hohe A und B requirirt. Nach dem Klang der Stimme wird Niemand in Herrn Zottmayr einen Tenor vermu then, und der Klang entscheidet, nicht der künstlich erzwun gene Umfang. Pischek schlug das hohe A mit Kraft an,

Wild sang Barton-Partien wie „Don Juan“ und „Zampa“; darum blieb Ersterer doch immer ein Bariton, Letzterer ein Tenor. Bariton und Baß sind in der Klangfarbe nicht so scharf geschieden, sie bilden zusammen gleichsam Eine Gat tung im Gegensatz zu dem fundamental verschiedenen Klang charakter der echten Tenorstimme. Bei dem Männer-Septett im ersten Finale des „Tannhäuser“ ist es am auffallendsten, wie Zottmayrʼs Stimme, trotz der hohen Lage der Par tie, mit jener der vier Bassisten im Timbre zusammenschmilzt, während sie mit den beiden Tenorstimmen einen Klanggegen satz gegen jene vier bilden sollte. Man vergleiche in demsel ben Septett Zottmayr mit Erl; des Letzteren Stimme ist jetzt nur ein Schatten, aber immer noch der Schatten einer wirklichen Tenorstimme. Wie wir hören, war Herr Zottmayr wirklich früher an anderen Bühnen als Bariton engagirt. Möge man nun Herrn Zottmayrʼs Stimme wohin immer classificiren, man wird sie ausgiebig zwar, aber ent schieden trocken, unpoetisch und reizlos nennen müssen. Die Intonation ist in der Regel rein, mitunter etwas zu tief, der Vortrag sicher und verständig, jedoch ohne jegliche Fein heit und geistige Beseelung. Der freie, declamatorische Vor trag scheint Herrn Zottmayr gänzlich fremd, er singt fast alle Recitative mit voller Stimme und schleppenden Ritar dandos, dazu kommt eine dunkle, zerflossene Aussprache der Vocale. Seine Gesangstechnik reicht nicht hin, kleine, scalen artige Gänge von fünf bis sechs Noten (z. B. im Venuslied) schön gebunden vorzubringen. Herr Zottmayr singt und spielt den „Tannhäuser“ wie den „Robert“ und diesen wie den Propheten“, ja beinahe eine Nummer wie die andere, mit einer gewissen schulmeisterlichen Verständigkeit und Sicherheit, die wir keineswegs unterschätzen, die uns aber weder die mangelnde Schönheit des Organs, noch weniger die Wärme und Beseelung des Gesangs einen Augenblick zu ersetzen ver mag. Wir haben im „Tannhäuser“ und „Prophet“ stimm bankerotte Tenoristen gehört, die gleichwol durch Geist und Empfindung fesselten; andere wieder, die, roh im Vortrag und hölzern im Spiel, mit dem Glanz ihrer Stimme be strickten — Herr Zottmayr ist unseres Wissens der erste Heldentenor im Hofoperntheater, der weder das Eine noch das Andere zu bieten hat. Kommt nun hinzu, daß auch das

übrige Ensemble solch abgespielter, nur durch sorgsamte Be setzung noch zugkräftiger Opern ein so unglückliches ist, wie wir es wiederholt erlebten, so wundere sich noch Jemand über die leeren Häuser! Gibt es z. B. etwas Kläglicheres als die gegenwärtige Darstellung des Sängerkampfes im Tannhäuser“? Dazu die müden, distonirenden Chöre und die mit traditionellen Handwerksgriffen sich begnügende Regie! Nur Ein oder zwei Sänger und das treffliche Orchester ent schädigen den Hörer an solch unglücklichen Abenden, wie sie jetzt die Regel bilden. In „Robert der Teufel“ freute uns das Wiederauftreten des trefflichen Bassisten Schmid, im Propheten“ labte man sich an Fräulein Bettelheimʼs prachtvoller Stimme, im „Tannhäuser“ an Frau Dust mannʼs edler und ergreifender Darstellung der Elisabeth. Dinorah“ hat glücklicherweise nur drei hervortretende Rollen, von denen zwei durch Fräulein Murska und Herrn Beck vorzüglich vertreten sind, während die dritte an der ganz un genügenden Leistung des Herrn Erl verloren geht. Nicht Herr Erl, dessen musterhafter Bereitwilligkeit man die Ret tung aus zahllosen Theaternöthen verdankt, verdient eine Rüge, wol aber die Direction, welche nicht daran denkt, die sem hochverdienten, nunmehr stimmlosen Veteran endlich einen ehrenvollen Ruhestand zu bereiten. Es ist wahr, daß Erl sich meistens noch „anständig“ durchhilft, aber das Publicum geht, wie wir glauben, in die Oper, um von guten Stimmen gut singen zu hören. Betreffend die Neubesetzung verschiede ner kleinerer Rollen sei diesmal blos bemerkt, daß Herr Neumann für tiefe Baßpartien (Fernando im „Trouba dour“, Bassi in „Stradella“) und Fräulein Siegstädt für Partien überhaupt kaum geeignet sind. Letztere, eine fleißige und bescheidene Sängerin mit scharfem, gern forcirtem So pran, würde vielleicht eine gute Chorführerin abgeben; selbst für die kleinsten selbstständigen Rollen fehlt es ihr aber an Haltung und Temperament, um von „dramatischem Talent“ gar nicht zu sprechen. Als Lisa in der „Nachtwandleringlich sie mehr einem trauernden Cherub aus der altdeutschen Schule, als einer koketten Wirthin; ihr Spiel und Aussehen rückte die Scene mit dem Grafen völlig in den Bereich des Unwahrscheinlichen. Hingegen machte eine neue kleine Er scheinung, Fräulein Pauli, sich als Hirtenknabe in der

Dinorah“ durch ein frisches Stimmchen und sichere Intona tion bemerkbar.

Von allen Vorstellungen des Hofoperntheaters ist die Afrikanerin“ die einzige, die noch ein zahlreiches Publicum versammelt, weil sie noch im Nachglanz der Neuheit schim mert, gut besetzt und schön scenirt ist. BeckʼsNelusco ist eine der gewaltigsten, lebensvollsten Leistungen dieses Künst lers; Fräulein v. Murska verleiht durch die Schönheit ihrer hohen Töne der Ines einen besonderen musikalischen Reiz; Herrn SchmidʼsOberpriester könnte der Brahma-Religion durch seinen Gesang Proselyten verschaffen; Herr Walter endlich, im Allgemeinen für heroische Charaktere weniger ge eignet, bleibt immerhin auch als Vasco unser erster, ja ein ziger Tenor. Als Selica erzielt Fräulein Bettelheim stets den glänzendsten Erfolg. Daß die Rolle trotzdem als Ganzes nicht für ihre Stimme paßt, gilt uns nach diesem Erfolg noch immer so ausgemacht, als es uns vor demselben schien. Selica ist eine jener Rollen, die nach der Höhe wie nach der Tiefe ihres musikalischen Umfangs ungewöhnliche Anforderungen stellen und demnach eine zuverlässige Classi fication nicht leicht machen. Thatsache ist, daß Sängerinnen mit hohen und mit tiefen Stimmen sich gleichmäßig darum strit ten; jene deuteten auf Scenen, die nur von einem entschiedenen Sopran, diese auf Stellen, welche blos von einem Alt oder tiefen Mezzosopran zur vollen Wirkung gebracht werden können. Es kommt darauf an, ob man das Eine oder das Andere für wichtiger, für entscheidend hält, oder vielmehr es würde auf einen solchen Meinungsstreit ankommen, hätte nicht Meyer beer selbst, der allezeit vorsichtige, seiner Partitur die aus drückliche Bemerkung beigedruckt: Selica ist überall der Dar stellerin der Valentine (in den „Hugenotten“) zuzutheilen. Durch diese authentische Entscheidung ist vollkommen sicher gestellt, daß der Componist auf die hohe Lage der Partie ein größeres Gewicht als auf die tiefe legte; daß er für Se lica einen Sopran mit hinreichend distincter Tiefe und nicht einen Alt mit aufgeschraubter Höhe verlange, mit Einem Wort, daß die Selica in der Klangfarbe des Soprans ge dacht sei. Fräulein Bettelheim ist durch den bedeutenden Um fang ihrer Stimme befähigt, die Partie ohne Abänderungen zu singen — eine Thatsache von großem praktischen Werth,

aber nicht von theoretischer Beweiskraft. Es gibt Violin- Compositionen, die man auch auf der Bratsche, Viola-Stücke, die man auf dem Cello, ja mitunter à la Bottesini auf dem Contrabaß herausbringen kann; dennoch sind sie für eine andere Klangfarbe gedacht. Analoges bieten manche Tenor- und Bariton-Partien. Das Entscheidende ist nicht, ob ein Sänger oder Spieler gewisse äußerste Grenzen nach Oben und Unten mit einiger Anstrengung erreichen kann, sondern in welcher Lage er sich ohne Anstrengung bewegt, also welche ihm die natürliche und bequeme ist. Melodien, welche im Sopran zierlich und spielend klingen (Schlummerlied), oder triumphirend, freiheitsselig (Liebesduett im vierten Act), wer den, vom Alt gesungen, einen Charakter von Anspannung und Gewaltsamkeit annehmen, den der Componist nicht beab sichtigte.

Alles wohl erwogen, was bei dieser Rolle ins Gewicht fällt, ist Fräulein Bettelheim die beste Repräsentantin der Selica, die man in Wien wählen konnte; allein sie ist, rein musikalisch gehört, nicht die Selica, die Meyerbeer beabsichtigt und in Berlin Fräulein Lucca zugedacht hat. Fräulein Bet telheimʼs üppige, kraftvolle Stimme, ihr durchdachtes Spiel, ihr wirksamer, stets intelligenter, wenn auch nicht immer über zeugender und rührender Vortrag, endlich ihre poetische Er scheinung als Selica sichern dieser Leistung überall den ent schiedensten Erfolg. In wenigen Rollen ist die Persönlichkeit der Darstellerin so wichtig, wie gerade in dieser. Die schlanke, jugendliche Gestalt der Bettelheim, ihre raschen, kurzen Be wegungen, ihr blitzendes Auge, der feine, scharfe Schnitt des Gesichtes — dies Alles interpretirt nicht blos, es idealistirt den Charakter der Selica in so typischer Weise, daß das Bild in jedem Zuschauer haften bleibt, maßgebend und verderblich fast für alle Nachfolgerinnen. Fräulein Bettelheimʼs Sieg über die Selica der Kainz und der Stehle war zur Hälfte entschieden, als diese beiden Sängerinnen, noch ohne ein Wort zu sprechen, die Scene betreten hatten. Die andere Hälfte des Sieges verdankte Fräulein Bettelheim nicht etwa der specifi schen Eignung ihrer Stimme für diese Partie, sondern gegen diesen Vortheil ihrer Rivalinnen einer Geschicklichkeit und einem Kunstverstand, die ihr noch manch ähnlichen Erfolg sichern.