Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 776. Wien, Samstag den 27. October 1866 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 776. Wien, Samstag den 27. October 1866 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 27. October 1866
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Das Sängerfest in der Winter-Reitschule Wien, 26. October.

Ed. H. Der ungemeine Erfolg, mit welchem das von Herbeck geleitete patriotische Monstre-Concert gestern vor sich ging, ist unseren Lesern bereits gemeldet. In der That ist eine imposantere Chorproduction niemals in Wien gehört, ja man darf beifügen, nie gesehen worden. Denn lange noch bevor der erste Accord erbrauste, fand das Auge die lohnendste Beschäftigung im Anblick des großartigen, in glänzendster Be leuchtung schimmernden Saales und der bewegten Zuschauer menge, die sich zwischen dessen weitentlegenen Endpunkten, der stattlichen Kaiserloge und der Tribüne der Musiker ergoß. Zwölfhundert Sänger standen in Reih und Glied auf diesem Podium, eine singende Brigade, mit zwei Regimentsbanden in der Mitte, deren Ophikleiden, Schwanenhörner, Helikons u. s. w. ihre seltsamen Riesenleiber in die Lüfte streckten. Später, nach dem Eindruck der ersten Ueberraschung, überließ man sich wol einige Momente den bedeutsamen Erinnerungen, welche die Geschichte an die hohen weißen Wände der Win ter-Reitschule unsichtbar und unvertilgbar befestigt hat. Diese Wände, diese Säulen sind uns ja gute alte Bekannte, die wir nun lange nicht wiedergesehen. Wir schweigen über die zuerst und zu tiefst einstürmenden Bilder aus dem ersten öster reichischen Parlament, das 1848 in der Winter-Reitschule tagte — Erinnerungen, denen jüngst an dieser Stelle Fried rich Uhl beredte Worte geliehen.

Wem die Musik eine theure Lebensgefährtin, der wird ohne Zweifel auch jenes festlich trauervollen 14. November 1847 gedacht haben, wo in der Winter-Reitschule zum letz tenmale Musik erklang. Man beging an diesem Tage die erste Aufführung von Mendelssohnʼs „Elias“ und damit zugleich die Todtenfeier des Meisters. Mendelssohn hatte zugesagt das Oratorium selbst zu dirigiren, und ganz Wien sah seinem Erscheinen mit freudiger Aufregung entgegen; statt des allver ehrten Meisters kam die Nachricht von seinem plötzlichen Tode. Das Dirigentenpult, welches die Sänger vorgestern in der

Generalprobe mit grünem Lorbeer geschmückt, stand an jenem 14. November verwaist und schwarz umfort. Dahinter an einem kleineren Pulte dirigirte J. B. Schmiedl den Elias“; Musiker, Sänger und Sängerinnen, tausend an der Zahl, umstanden ihn in Trauergewändern. Diese Mendels sohn-Feier war das letzte von einer Reihe Musikfesten, welche die Gesellschaft der Musikfreunde im Laufe von 35 Jahren in der Winter-Reitschule abgehalten. Dieser grandiose, musi kalischen Wirkungen überaus günstige Saal ist auch ganz eigent lich die Wiege der Gesellschaft der Musikfreunde, unseres ersten großen Concert-Instituts.

Auch damals war es ein von schwerem Kriegsunglücke angeregter patriotisch-wohlthätiger Zweck, der über 700 Mu siker aus allen Ständen am 29. November 1812 zu einer Aufführung des Händelʼschen Oratoriums „Timotheusvereinigte, und zwar eben in der zum erstenmale für Con certzwecke eingeräumten und hergerichteten kaiserlichen Winter- Reitschule. Es ist bekannt, wie in Folge dieser epochemachen den Production sich unmittelbar die „Gesellschaft der österrei chischen Musikfreunde“ bildete und statutenmäßig nebst den eigentlichen „Gesellschafts-Concerten“ im großen Redouten saale alljährlich die Aufführung eines großen Oratoriums in der Winter-Reitschule festsetzte. Diese „Musikfeste“ (so nannte man alle Concerte in der Winter-Reitschule der star ken Besetzung halber) fanden in den ersten fünf Jahren wirk lich regelmäßig statt, verstummten hierauf durch volle achtzehn Jahre, um 1834 wieder aufgenommen und bis zu jener Trauerfeier im Jahre 1847 mit geringen Unterbre chungen fortgesetzt zu werden. Das vollständige Verzeichniß sämmtlicher in der kaiserlichen Winter-Reitschule gegebenen Musikfeste ist folgendes: 1812 und 1813 Timotheus“ von Händel; 1814Samson“ von Händel; 1815Der Messias“ von Händel; 1816Die Befreiung Jerusalems“ von Abbé Stadler; 1834Belsazar“ von Händel; 1837Die Schöpfung“ von Haydn; 1838Die Jahreszeiten“ von Haydn; 1839Paulus“ von Mendelssohn (erste Aufführung); 1840Timotheus“ von Händel; 1841 zwei Concerts spirituels; 1842Judas Maccabäus“ von Hän del; 1844Die Jahreszeiten“ von Haydn; 1845Christus am Oelbergvon Beethoven; 1846Paulus“ von Mendelssohn; 1847Elias“ von Mendelssohn (erste Aufführung); 1866Herbeckʼs Sängerfest.

Gerne riefen wir uns gestern diese rühmliche musikalische Vergangenheit der Winter-Reitschule zurück, nicht blos in historischem Interesse, sondern in dankbarem Genuß der Ge genwart und hoffnungsvollem Anknüpfen derselben an die Zukunft. Wer diesen Tonsturm durch den Saal brausen hörte, diese von Herbeck unvergleichlich beherrschten impo santen Massen betrachtete, der mußte sich unwillkürlich die noch größere und reinere Wirkung ausmalen, welche hier ein großes Orchester mit ganzem Chor im Dienste classischer Musik erreichen würde. Wie müßte Händelʼs „Allelujah“, wie Beethovenʼs D-Messe hier klingen! So hoffen wir denn, daß Herbeck, der den verloren geglaubten Schlüssel zur Winter-Reitschule zu finden verstand, ihn nicht für immer wieder aus der Hand geben, sondern damit der Wiener Mu sikwelt eine neue Quelle großartiger Eindrücke erschlie ßen werde.

Das Programm des gestrigen Sängerfestes bestand durch wegs aus bekannten Chören, es beschränkt somit unseren Be richt lediglich auf die Ausführung. Es wird kaum geleugnet werden, daß das Aufthürmen des Quantitativen, blos Mas senhaften einer Besetzung nur sehr geringen künstlerischen Werth hat. Der Musiker wird einen nicht allzu großen Raum, einen nicht allzu starken, dafür aber beseelteren, beweglicheren Chor stets vorziehen. Obendrein hat die Steigerung der Ton stärke ihre akustische und ästhetische Grenze, d. h. die Wir kung wächst mit der Quantität der ausführenden Kräfte nur bis zu einem gewissen Punkt, der ungefähr dem chemischen Begriff der „Sättigung“ entspricht: über diesen hinaus bleibt die akustische Wirkung stehen und geht die ästhetische sogar zurück. Grillparzerʼs Wort: „Was ungeheuer, ist darum nicht groß“, findet auf musikalische Monstre-Productionen, wie sie zumeist in England beliebt sind, nur zu häufige Anwen dung. Trotzdem wäre es pedantisch, wollte man selbst ausnahms weise, bei seltenen und außerordentlichen Anlässen, dem mate riellen Reiz der Schallkraft alles Recht bestreiten; ganz abge sehen von der Wirkung auf das große Publicum, wird dabei ein eigenthümliches Interesse auch den Musiker eine zeitlang fesseln können. Er wird die Aufgabe des Dirigenten eines solchen Massenchors darin finden, alle Seiten, alle Klang

charaktere des akustischen Reizes zu charakteristischer Gel tung zu bringen. Hofcapellmeister Herbeck hat dies Problem mit sicherem Blick erfaßt und trefflich gelöst. In „Kriegers Gebet“ im „Pilgerchor“, empfanden wir die überwältigende Wirkung des entfesselten breitesten Tonstroms, die imposante Kraft als solche; in KreutzerʼsCapelle“ und AbtʼsVinetadagegen ein piano und pianissimo von unbeschreiblich weicher Fülle und Zartheit. Die Verwandtschaft mit Orgelklängen war mitunter auffallend. Wähnte man in den zwei erstge nannten Chören eine Orgel mit vollem Werk daherbrausen zu hören, so glich das leise und doch so volle, weiche Aus klingen der beiden andern Chöre einer schönen Mischung sanf ter Orgelregister. Zwei Volkslieder, deren schlichte Gemüth lichkeit durch die starke Besetzung Manchem vielleicht gefährdet erschien, gelangen in der Ausführung überaus schön: das schwäbische Tanzlied“ entbehrte nicht der Grazie und Leichtigkeit, das kärntnerische Lied nicht der ihm eigenen nachdenklichen Innig keit. Aus diesem köstlichen Lied: „O Dirndel, tief drunten im Thal“ strömte eine solche Fülle reinen Wohlklangs, daß wir ihm den Preis unter allen Vorträgen zuerkennen möchten. Der Effect allmäligen, stetigen Anschwellens und Abnehmens der Tonstärke ein ganzes Musikstück hindurch, wurde in GrétryʼsChor der Schaarwache“ trefflich durchgeführt. Der Chor mußte wiederholt werden, desgleichen die „Capelle“ und das „Tanzlied“. Auch das kärntnerische Volkslied wünschte man allgemein ein zweitesmal zu hören; wir begreifen jedoch, daß der Dirigent gerade mit diesem bei aller Sanftheit sehr an strengenden Chor zurückhalten mußte. Die Vocalchöre machten durchwegs eine schönere, reinere Wirkung als die begleiteten. Das Accompagnement ward mit Ausschluß aller Streich instrumente von den Capellen zweier Infanterie-Regimenter besorgt, welche an dem Ruhm österreichischer Militärmusik nicht unverdient theilnehmen. Die tiefen Blechinstrumente klangen majestätisch und verschmolzen gut mit den Stimmen, während die Clarinetten und Oboen etwas Schreiendes, scharf Näselndes hatten, das namentlich in dem Oedipus-Chor und den mittleren Strophen von Schubertʼs „Widerspruch“ un

günstig hervorstach. Von imposanter Wirkung war die Mili tär-Capelle in „Kriegers Gebet“, wo sie hinpaßt, und in dem Chor der Schaarwache“, welcher durch die Janitscharenmusik einen von Grétry kaum geahnten Glanz erhielt. Mit dem tactweisen Dreinschlagen der großen Trommel und der Becken in dem Wagnerʼschen Pilgerchor können wir uns nicht ein verstehen: der sehr vermehrte Jubel, den das also vermartia lisirte Pilgergebet hervorrief, wirft übrigens ein seltsames Streiflicht auf den Charakter der Composition selbst. Von Seite ihres Inhaltes betrachtet, wirkten in der gestri gen Massenbesetzung jene Compositionen am glücklichsten, welche ein starkes, einfaches Gefühl ungebrochen zum Ausdruck bringen und dadurch eine gesammelte Klangwirkung und leichte Verständlichkeit ermöglichen: „Die Capelle“, „Vineta“, Kriegers Gebet“, „Pilgerchor“, die Volkslieder. Die Stücke hingegen, welche einen geistig bewegteren, gedankenreicheren In halt in mehr dialektischer Weise entwickeln, größere Deutlich keit des Wortes und feinere Nuancirung erheischen, befriedigten weniger. MendelssohnʼsOedipus-Chor“ und „Liebe und Wein“ haben durch die Massenbesetzung nicht nur nicht ge wonnen, sondern verloren; dasselbe sagten wir ohneweiters von Schubertʼs „Widerspruch“, hätte nicht der Eine pracht volle Moment, das lange, kraftvolle Aushalten auf „Unend lichkeit!“ uns bestochen.

Wer eine Ahnung von den Schwierigkeiten und den auf reibenden Mühen eines solchen Concertes hat, wird die außer ordentliche Leistung des Hofcapellmeisters Herbeck zu wür digen wissen. Wir wissen nicht, ob wir seine aufopfernde Hingebung bei den Proben höher stellen sollen, oder die heroische Mischung von Ruhe und Energie, mit der er die Aufführung selbst leitete. Herbeck hat geistig bedeutendere Probleme gelöst, höhere Kunstziele erreicht, aber mit so enor men Heeresmassen auf so weitem Schlachtfeld haben wir ihn bisher noch nicht operiren gesehen. Er hat dieses neue Probe stück mit einer Meisterschaft ausgeführt, für welche selbst die grämlichste Kritik nur Worte der Bewunderung haben dürfte.