Concerte.
Ed. H. Die „Philharmoniker“, sowie die „Gesellschaft
der Musikfreunde“ haben den Winter-Cyklus ihrer Productio
nen eröffnet. Mit feinem Sinn war das Programm des er
sten Gesellschafts-Concertes aus Compositionen von Beethoven,
Schubert, Weber, Spohr und Mendelssohn zusammengestellt
— durchwegs moderne Tondichter, die ein verwandter Zug
der Romantik miteinander verbindet. Wie wir vernehmen
(denn leider hörten wir das Concert nicht selbst), wurde das
Eröffnungsstück, Spohr’s Ouvertüre zum „Berggeist“, sehr
kühl aufgenommen. Eine große künstlerische Bedeutung des
Werkes können wir allerdings nicht dieser Aufnahme ankla
gend entgegenhalten, doch hat es stets anziehend und harmo
nisch auf uns gewirkt. Gewiß wäre das gänzliche Verschwin
den Spohr’scher Musik aus den Concerten als ein Verlust
und ein Unrecht zu beklagen. Für unser Theil wenigstens
bekennen wir, daß wir gerade seit dem Seltenwerden
Spohr’scher Musik uns jedesmal angenehm berührt fühlen,
wenn diese Entfremdung von Zeit zu Zeit durch eine Com
position seiner besseren Periode (vor 1846) unterbrochen wird.
Spohr ist nicht nur ein tüchtiger Meister, sondern eine
wahrhaft liebenswürdige und eigenthümliche Individualität,
freilich auch eine einseitige, sich gern wiederholende, weßhalb
denn auch am besten genießt, wer sie mäßig genießt. Kaum
zwei Decennien ist’s her, daß man vor einem allzu eifrigen
Spohr-Cultus noch warnen mußte, und jetzt bedarf es schon
einiger Anstrengung, um die Werke des Meisters vor dem
Schicksale gänzlichen Verschallens zu retten! — Frau Marie
Wilt sang mit entschiedenem Erfolg die große Arie der Reiza
aus Weber’s „Oberon“ und die Arie mit Chor aus Men
delssohn’s unvollendeter Oper „Loreley“. Letzteres Stück,
zuletzt im Jahre 1855 von Fräulein Tietjens hier gesun
gen, erschien einem großen Theil des Publicums als Novität.
Bei aller Bewunderung technischer Vorzüge konnten wir uns
doch für diese „Loreley“ niemals erwärmen. Das Stück ist glän
zend im Sinne des Bestechenden, denn seinem unleugbaren
äußeren Effect liegt kein entsprechender substanzieller Gehalt
zu Grunde. Speciell vom musikalischen Standpunkt erscheint
die technische Meisterschaft in der übersichtlichen Anordnung
des Ganzen, wie in der glänzenden Darstellung alles Einzel
nen bewundernswerth, während die eigentliche musikalische Kern
gestalt, die melodische Erfindung, von geringer Bedeutung ist. Dra
matisch angesehen, dünkt uns das Phantastische allzusehr den Aus
druck des Gefühls zu überragen, die Leidenschaft mehr angeflogen,
als aus der Tiefe hervorbrechend. Das märchenhafte Element
steht hier gegen das menschliche im entschiedensten Vortheil;
neben den kühlen, aber blendenden Nixen-Chören tönt die
Klage des Mädchens nicht warm und tief genug. Man ver
gesse nicht, daß dieser Aufruf der Wassergeister den Höhen
punkt in Leonorens Herzens-Tragödie bildet; das Aeußerste ist an
ihr gefrevelt worden, „der Menschheit ganzer Jammer faßt
sie an“. Dafür fehlen der Mendelssohn’schen Composition
die entsprechenden Töne. Die beiden wichtigsten und für den
Componisten verpflichtendsten Stellen in Leonorens Klage
waren vielleicht die Verse: „Für meine Liebe hat er mich zer
treten; weil ich ihm Alles gab, däucht’ ich ihm nichts“ —
dann der Ausruf: „Nimm hin zum Pfande, nimm hin den
Brautring!“ In Mendelssohn’s Composition klingen sie
conventionell und gemacht; Worte wie diese mußten wie heiße
Thränen in die kühle Fluth fallen. Auch die beiden größeren
Gesangssätze Leonorens, das Andante in Fis-moll und das
Schluß-Allegro in E-dur: „Es sei!“ athmen mehr rhetori
sches Pathos als wahre Leidenschaft. Das Beste bleibt jeden
falls der einleitende Chor der Wassergeister, von anmuthigem
Schaukeln fortschreitend bis zu wogendem Gebrause, das
ganze Bild übergossen mit den effectvollsten Farben der
Orchestrirung.
Bekanntlich hat Mendelssohn von dem ganzen Gei
bel’schen Libretto „Loreley“ nur diese Eine Scene voll
endet. Es macht einen tragischen Eindruck, den Tondichter
sein ganzes ruhmvolles Leben hindurch rastlos und fruchtlos
nach einer Oper ringen zu sehen. Von seinen dramatischen
Jugendarbeiten: „Cammacho“ und „Heimkehr aus der
Fremde“ hat die erstere im Theater gar kein Asyl, die letztere
nur ein sehr flüchtiges gefunden. Seitdem hatte Mendelssohn
nie aufgehört, nach einem würdigen Operngedicht zu streben
und darüber mit Poeten wie Immermann, E. Devrient,
Geibel u. A. aufs eifrigste zu unterhandeln. Durch Zufall
stießen wir kürzlich auf einen neuen, noch nicht bekannt ge
wordenen Beitrag zu diesem Tantalus-Capitel in Mendels
sohn’s Leben. Es ist ein eigenhändiger Brief Mendels
sohn’s an den Dichter Bauernfeld, den er gleichfalls
um einen Operntext angegangen hatte. Das Schreiben (datirt
Berlin, am 10. Juli 1838) bezieht sich auf ein nicht näher
bezeichnetes Libretto, das ihm Bauernfeld zugeschickt, ohne
den Componisten damit befriedigen zu können.
„Ich wünschte mir,“ schreibt Mendelssohn, „zum Anfang
keine Zauber-Oper, oder vielmehr, ich traue mir in diesem
Fache nicht genug Talent zu, während ich im rein ernsten oder
rein heiteren Styl mit mehr Zuversicht arbeiten würde. Schwebt
Ihnen nun ein ernster, historischer oder ein intriguanter oder
ganz heiterer menschlicher Stoff vor, so bitte ich, theilen Sie ihn mir
mit.“ Das Bauernfeld’sche Libretto hieß, wie uns der Dich
ter freundlichst mittheilt: „Der Geist der Liebe“, und war eine
richtige Zauber-Oper in phantastisch-orientalischem Costüme,
mit Nixen, Feen und Dämonen. Es ist bemerkenswerth, daß
Mendelssohn in seinem Briefe an Bauernfeld (sowie ein
mal später gegen Otto Prechtler) gerade die phantastisch-
märchenhaften Stoffe ablehnt, für welche ihn die allgemeine
Stimme auf Grund seines herrlichen „Sommernachtstraum“
vorzüglich befähigt und eingenommen glaubte. Im Grunde
mag ihn weniger ein Mißtrauen in sein Talent, als die rich
tige Ueberzeugung geleitet haben, daß die Zeit der Nixen- und
Elfendramen vorüber sei. War doch eben unter Anderm der
früher erwähnte Spohr’sche „Berggeist“ mit seinen großen
musikalischen Schönheiten an einem kindischen Geistertext ge
scheitert.
Spohr’s „Berggeist“ ist eine Art verdoppelter „Hanns Hei
ling“, indem nicht blos der regierende Berggeist, sondern zugleich auch
sein Kammerdiener „Droll“ sich nach irdischer Liebe sehnt. Wir sehen
sie selbander zur Erde aufsteigen, daselbst schreckliches Unheil anrichten
und schließlich, mit irdischen Körben beglückt, sich wieder in ihre geo
logische Reichsanstalt zurückziehen.
Und siehe da, am Ende spielt die seltsame Ironie
des Schicksals Mendelssohn doch wieder eine Nixen-Oper, die
„Loreley“, in die Hände. Müde des Suchens und Harrens,
versöhnt er sich damit, entschließt sich zur Composition, beginnt
diese gerade bei der Nixenscene und stirbt darüber.
Von Schubert brachte das Gesellschafts-Concert jenes
bezaubernde Symphonie-Fragment (H-moll), das im vorigen
Jahre zur ersten Aufführung gelangt war und dessen Ent
deckung wir Herrn Herbeck verdanken. Damals stand es
noch sehr in Frage, ob die im Privatbesitz befindliche Partitur
der Musikwelt je zugänglich sein werde; heute können wir
mit Vergnügen melden, daß Herr Spina die beiden Schu
bert’schen Symphoniesätze für seinen Verlag erworben hat und
sie demnächst in Partitur und Clavier-Auszug (von C.
Reinecke) veröffentlicht. Ueberhaupt zeigt jetzt Spina’s
Verlag eine rühmenswerthe Thätigkeit für Schubert; im Laufe
der letzten Monate erschienen die Ouvertüren zu „Fierabras“,
„Alphons und Estrella“, „Rosamunde“ (nebst zwei Entre
actes) und die „Italienische“ in C in Partitur und Clavier-
Arrangements, ferner die Cantate „Lazarus“ in sehr sorgfäl
tigem Clavier-Auszug von Herbeck, endlich die erste voll
ständige, kritisch redigirte Sammlung von Schubert’s Män
nerchören. Hofcapellmeister Herbeck hat die Redaction dieser
neuen Ausgabe übernommen und derselben auch ein langes
„Vorwort“ vorgedruckt, das sich über seine kritische Methode
und das vorgefundene musikalische Material kurz faßt,
um sich dann desto fesselloser in fast hymnenartigem
Preise Schubert’s zu ergehen. Durch die Wohlfeilheit
dieser Sammlung ist Schubert’s Chormusik selbst den kleine
ren Vereinen zugänglich gemacht und durch die von Herbeck
beigefügten Vortragszeichen Studium und Ausführung wesent
lich erleichtert. Die Menge dieser nuancirenden Vortragszeichen
ist uns etwas groß vorgekommen; liegt doch für den Musiker
die Besorgniß vor einer allzu detaillirten, koketten Vortrags
weise sehr nahe. Indessen bescheiden wir uns gerne vor der
praktischen Erfahrung, welche Herbeck wahrscheinlich zu der
Ueberzeugung geführt hat, daß kleine, minder geschulte Vereine
reichlicher Vortragszeichen bedürfen, um einen Schubert’schen
Chor nicht allzu monoton herabzusingen.
Von einigen dieser Winke darf man sich heilsame Wirkung
versprechen, so wird z. B. die Bezeichnng: „Allegretto assai tenuto“
mit dem Beisatz: „Nicht abgehackt, sondern immer gebunden zu sin
gen“, den zweiten Theil der „Nachtigall“ nach Möglichkeit vor dem
allzu derben Hervorheben der Trivialität retten, welche dem Stücke un
leugbar anhaftet. Ebenso dürften die Vereinfachungen, welche Herbeck
dem Tenorpart im „Dörfchen“ vorgesetzt hat, auch minder geübten
Sängern die Composition mundgerecht machen, ja sie scheinen uns
selbst, abgesehen von dieser Rücksicht, den unpassenden und altmodi
schen Opernrouladen des Originals vorzuschieben.
So führt denn
Herbeck seine verdienstvolle Thätigkeit für Schubert unermüd
lich fort, und wie oft schon wir ihm dafür gedankt, wir werden
kaum so bald zu danken aufhören können.
Das erste der vom Hofopern-Capellmeister Dessoff ge
leiteten „Philharmonischen Concerte“ ging am 11. d.
unter dem gleichen Andrange von Hörern vor sich, welcher
seit mehreren Jahren diese Productionen auszeichnet. That
sache ist es, und eine unleugbar erfreuliche, daß die Philhar
monischen Concerte seit sechs Jahren, also seit dem Eintritt
Herrn Dessoff’s, einen anständigen Reinertrag abwerfen,
was unter dessen Vorgängern nicht der Fall war. Unter Ni
colai’s Nachfolgern, Reuling und Proch, fanden die Phil
harmonischen Concerte äußerst geringen Anklang; unter
Eckert errangen sie zwar lebhafte künstlerische Anerkennung,
nicht aber eine hinreichende Betheiligung des Publicums.
Eckert brachte in der Saison 1854—1855 nur zwei Phil
harmonische Concerte zu Stande, in der Saison 1856—1857
drei, im Winter 1855—1856 nur Eines. Hierauf wurde das
Unternehmen, hauptsächlich aus pecuniären Rücksichten, durch
zwei volle Jahre sistirt, um noch einmal im Januar
1860 von Eckert im Hofoperntheater aufge
nommen zu werden, aber leider mit abermals un
günstigem Kasse-Erfolg. Das Programm vom 11. d. brachte eine
neue Orchester-Suite von Raff und an bekannten Composi
tionen Beethoven’s achte Symphonie, Weber’s „Oberon“-Ouver
türe und Berlioz’ „Römischen Carneval“. Die Aufführung
war durchaus fein und exact; das Allegretto der Beethoven’
schen Symphonie mußte wiederholt werden. Die Ouvertüre
zum „Römischen Carneval“, überwiegend auf grandiosen
Schall-Effect berechnet, litt unter der Ungunst des Locals,
das kein eigentliches Fortissimo aufkommen läßt. Man konnte
dies recht deutlich an dem bekannten Schlag vor dem Allegro
der „Oberon“-Ouvertüre wahrnehmen, der im Redoutensaal wie
ein Donnerkeil ins Publicum fährt, während er im Kärntner
thor-Theater bei gleichem Kraftaufwand etwa die Hälfte die
ser Wirkung erzielt. Raff’sC-dur-Suite, op. 102, besteht
aus fünf Sätzen. Der erste bringt eine breite, pompöse „In
troduction“ und darauf eine sehr trockene Fuge mit äußerst
physiognomielosem Thema und unruhiger Durchführung. Es
folgt ein „Menuett“, unbedeutend in den Themen, aber von
graziöser Haltung und sehr pikanten Details. Aehnliches läßt
sich von den beiden folgenden Sätzen, den besten der
Suite, sagen, einem gesangvollen „Adagietto“ und
einem recht niedlichen, elfenartig plaudernden „Scherzo“.
Der gegen das frühere wieder abfallende Schlußsatz ist ein
„Marsch“, von nicht origineller Erfindung, aber sehr effect
voller Mache. Unter den Orchesterwerken der neudeutschen
Schule und unter den Raff’schen speciell nimmt die Suite
eine beachtenswerthe Stelle ein. Gegen die „Preis-Symphonie“
desselben Componisten gehalten, erscheint uns die „Suite“
als erfreulicher Fortschritt, sie verzichtet auf die ermüdende
Länge und Ueberfüllung, wie auf allzu starke harmonische und
rhythmische Torturen. Raff hat in dieser Suite sich größerer
Klarheit und Einfachheit beflissen, also einen Weg eingeschla
gen, zu welchem wir dem begabten Componisten nur gratu
liren können. Das Werk hat uns auf das anregendste be
schäftigt, durch viele schöne Einzelheiten erfreut und über
rascht; einen bestimmten, starken und nachhaltigen Eindruck
haben wir aber nicht mit fortgenommen. Es ist dies
ein Charakterzug dieser ganzen modernen Schule, deren Prin
cip wir „Emancipation des Details“ nennen möchten. Sie
bringt es über die geistige Anregung und das momentane
Gefallen nicht hinaus bis zur vollen, nachhaltigen Befriedi
gung. Es fehlt ihrer Musik bei allem Glanz und Esprit
an jener inneren Nothwendigkeit und überzeugenden logischen
Gewalt, welche die Tondichtungen der Classiker, besonders
Beethoven’s, auszeichnet. Wir haben nicht ein natürliches
Werden und Wachsen der Ideen vor uns, sondern ein musi
kalisches Machen. Immerhin haben wir, wie gesagt, an
Raff’s „Suite“ eine anziehende neue Bekanntschaft gemacht,
für welche wir den „Philharmonikern“ zu Dank verpflich
tet sind.
Schließlich erwähnen wir noch der Festliedertafel
des „Wiener Männergesang-Vereins“, welche Samstag im
Sophienbad-Saale zu lebhafter Befriedigung des zahlreichen
Publicums stattfand. Von den Chören, die sämmtlich unter
Leitung des neuen Chormeisters Herrn Weinwurm sehr
präcis zusammengingen, trug ein reizender kleiner Chor von
Engelsberg: „Die Liebe als Nachtigall“, den Preis davon.