Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 814. Wien, Dienstag den 4. December 1866 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2023

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 814. Wien, Dienstag den 4. December 1866 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 04. December 1866
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Daten, Werke, Personen, Orte ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. Als wir kürzlich in den Blättern die Notiz lasen, es werde eine vollständige theatralische Aufführung der Antigone“ von Sophokles mit Mendelssohnʼs Musik vor bereitet, da sagten wir von ganzem Herzen: Amen. Denn leider hat Wien noch niemals Gelegenheit gehabt, den leben digen dramatischen Eindruck der griechischen Tragödie an sich zu erfahren, während das Publicum in Berlin, München und Dresden die Aufführungen der „Antigone“ zu den erhe bendsten Kunstgenüssen zählt. Ein einzigesmal machte das Theater an der Wien, vor etwa 18 Jahren, einen Versuch: er ward nur halb gewagt und ist ganz mißlungen. Diese verschämte „Antigone“-Aufführung war nämlich nichts weiter als eine Lectüre mit vertheilten Rollen; die Schauspieler saßen in Frack und Glacéhandschuhen vor den Fußlampen und lasen ihren Part aus dem Buche, die Sänger hinter ihnen aus den Noten. Das Publicum schien gleich nach den ersten Scenen in der besten Stimmung, sich das Eintritts geld an der Kasse zurückgeben zu lassen. Es hätte sich seither längst verlohnt, die scenische Aufführung der „Antigone“ ins Werk zu setzen, da gerade Wien über theatralische und musi kalische Kräfte verfügt, wie keine zweite Stadt in Deutsch land. Sei es nun, daß der Plan einer vollständigen Dar stellung auch diesmal nicht ernstlich gefaßt oder daß er von Hindernissen überwältigt wurde — die „Antigone“, welche uns vorgestern im großen Redoutensaal erschien, war eben nur der oftgehörte Musik-Extract mit „verbindender Decla mation“. Der Wiener Männergesang-Verein gab die Akademie, in welcher der neue, von der Universität her vor theilhaft bekannte Chormeister Herr Weinwurm zum ersten mal in seiner gegenwärtigen Stellung öffentlich fungirte.

Das Abtrennen, Abzapfen einer zu einem dramatischen

Ganzen gehörigen Musik bleibt an sich stets ein ästhetischer Nothbehelf, mit dem wir je nach dem Charakter der Musik uns schwerer oder leichter abfinden. Die Männergesang-Ver eine handeln in vollem Recht, wenn sie ihr an größeren ern sten Compositionen armes Repertoire durch die Mendelssohnschen Chöre zu „Oedipus“ und „Antigone“ bereichern und dieselben, unbekümmert um deren theatralische Bestimmung, als Concertmusik festhalten. Durch ihren absoluten Musikgehalt wie durch ihre relativ größere Unabhängigkeit von der Scene sind diese Chöre mehr als andere geeignet, ein selbstständiges Concertleben zu führen; ungleich mehr z. B. als die Meyer beerʼsche „Struensee“-Musik, welche kurz vorher in einer Wohlthätigkeits-Akademie mit sehr zweifelhaftem Erfolg vor geführt wurde. Wir hatten in Wien Gelegenheit, die Meyer beerʼsche Musik mit dem Drama „Struensee“ und ohne dasselbe zu hören, im Theater und im Concertsaal. Für eine begleitende Schauspielmusik gibt sie viel zu viel, ihr meldo dramatischer Epheu kriecht in alle Ritzen des Gedichtes und verwischt die unentbehrlichen Grenzlinien zwischen Drama und Oper. Als selbstständige Concertmusik hingegen gibt sie zu wenig und das Wenige zu formlos und unruhig. Uebrigens dürfte noch eher Mendelssohn künftige Concert-Aufführungen der „Antigone“ vorbedacht haben, als Meyerbeer die Isoli rung seiner „Struensee“-Musik. Letztere sollte ja nur das Drama des geliebten Bruders Michel Beer auf den Bühnen flott machen und erhalten; der stärkere Bruder wollte mit dieser Partitur den schwächeren in die Unsterblichkeit einkaufen. Meyerbeer hat es damit nicht leicht genommen; wir zählen seine „Struensee“-Musik zu den größten Anstrengungen, die er gemacht hat. Mitunter glaubt man förmlich den Schweiß die ses künstlerischen Ringens zu sehen, und fürwahr, viel un williger würde man sich davon abwenden, sprache nicht jeder Tropfen: Ich bin der Hüter meines Bruders.

Gegen Meyerbeerʼs „Struensee“-Composition, welche mit dem Drama stirbt und ohne das Drama nicht leben

kann, steht Mendelssohnʼs, „Antigone“-Musik ungleich günstiger. Sie verhält sich zur Tragödie des Sophokles ungefähr wie der antike Chor zu dem dramatischen Ganzen überhaupt; eine Art Staat im Staate, nicht mithandelnd, sondern die Hand lung nur mitdenkend und mitfühlend. Was hier zu näherem Verständniß noch wünschenswerth bleibt, kann durch ein soge nanntes „verbindendes Gedicht“ leicht beschafft werden. Wir gestehen unsere lebhafte Abneigung gegen diese Art poetischer Fremdenführer, die uns aus der idealen Region der Musik alle fünf Minuten wieder auf die platte Erde herabziehen. Was wir lebendig vor uns sehen sollen, davon wird uns in säuberlichen Versen erzählt, daß es eben geschehen sei oder so fort geschehen werde. Wir würden, wo es nur halbwegs mög lich, alle verbindenden Declamationen entfernen und durch Ueberschriften und kurze Bemerkungen im Programm ersetzen. Ueberdies sind die meisten dieser erklärenden Gedichte durch ihre Breite und Redseligkeit weit mehr geeignet, die Zuhörer zu zerstreuen und zu langweilen, als sie zu fesseln.

Mit Ausnahme des immer zündenden Bacchus-Chors schien Antigone“ die Zuhörer wenig zu erwärmen. An der Aus führung lag es wol nicht, denn die Chöre gingen sehr präcis, und das Gedicht fand in Herrn Lewinsky, Fräulein Bog nàr und Fräulein Schweigert vortreffliche Sprecher.

Wenige Tage bevor Herr Weinwurm sich als Her beckʼs Nachfolger im Männergesang-Vereine dem Publicum vorstellte, debutirte Weinwurmʼs Nachfolger, Herr Dr. Eyrich, zum erstenmal als Chormeister des „Akademischen Gesang vereines“. Obwol einem andern Beruf als dem musikalischen angehörend, ist Herr Eyrich als eines der ältesten und ver dienstvollsten Mitglieder des Akademischen Gesangvereines so sehr eingelebt in dessen Productionen, daß er die Leitung des selben mit Beruhigung antreten konnte. Die von ihm diri girte „Liedertafel“ fand allgemeine Anerkennung. Das Haupt gericht auf dieser Tafel war ein neues Singspiel von Engels berg, „Der Rath von Wolkenkukuksheim“, dessen glänzenden

Erfolg ein anderer Referent bereits gemeldet hat. Zu der Beliebtheit des Componisten gesellte sich diesmal noch das stadtbekannte Censur-Martyrium seines Werkes, um diesem eine besondere Aufmerksamkeit zu sichern. In der That hat Engelsbergʼs komisches Singspiel den dreifachen Wahl-In stanzenzug unserer Volksvertretung, die sich aus der Gemeinde zum Landtag und von da zum Reichsrath entpuppt, vollstän dig nach rückwärts durchgemacht. Ursprünglich war das Stück eine allerliebste Reichsrathssitzung, aus dieser wurde ein vorsichtigerer Landtag, endlich aus diesem ein noch ungefähr licherer, zahmer Gemeinderath, und zwar in Wolkenkukuks heim. Was die Vorsicht hoher Behörden an diesem von der harm losesten Heiterkeit eingegebenen Scherz bedenklich fand, können wir nicht ergründen; so viel aber steht außer Zweifel, daß die Verwandlung der „Minister“ in „Magister“ sammt zahlreichen ähnlichen Entstellungen den ganzen Boden dieses Scherzes verrückt und mitunter die besten Einfälle in Unsinn verkehrt hat. Melodien sind glücklicherweise zollfrei, und so ist wenigstens der frischen und herzlichen Musik Engelsbergʼs kein Leid geschehen. Der Componist ist eine zu feinfühlende Natur, um nicht zu wissen, wie ermüdend und reizlos ein zu lang an haltender Spaß wird. Er hat darum in diesem wie in ähn lichen früheren Stücken einen sehr glücklichen Wechsel zwischen scherzhaften komischen Scenen und ernsteren lyrischen Inter mezzos eintreten lassen. Erstere sind ebenso weit vom derb Possenhaften entfernt, als diese von leidenschaftlichem Pathos; so heben sich denn diese contrastirenden Bilder gegenseitig, ohne einander Lügen zu strafen. Hört man z. B. im „Land tag“ nach der hochkomischen Finanzdebatte das zarte, von leich ter Wehmuth angehauchte Lied „von bessʼrer Zeit“ und am Schluß des lustigen Banketts den aus übervollem Herzen her vorbrechenden Ruf der Vaterlandsliebe, so hat man in Wahr heit kein willkürliches Stückwerk, sondern ein kräftiges, klares Gemüth vor sich, das mit der gesundesten komischen Kraft die zarteste Empfindung des Herzens vereinigt.

Hellmesbergerʼs zweite Quartett Soirée begann mit

SchubertʼsG-dur-Quartett, einem Werke, das (nur stel lenweise Schubert’s ganzen Reichthum verrathend) die directe Nachahmung Beethoven’scher Eigenthümlichkeiten an seiner eigenen Kraft und Frische büßt. Hierauf spielte Fräulein Auguste Kolár das Bachʼsche D-moll-Concert in vortreff licher Weise und unter stürmischem Beifall. Seltsamerweise als „neu“ bezeichnet und wirklich in Wien noch nicht ge hört, war ein „Divertimento“ von Mozart für Streich quartett und zwei Waldhörner in B-dur. Aus der großen Zahl Mozartʼscher Divertimentos, Serenaden, Cassationen und dergleichen, welche, flüchtig und meist auf Bestellung ge arbeitet, den Stempel von Gesellschaftsmusik an der Stirn tragen, heben sich zwei als wahre Meisterwerke heraus: das eben genannte Divertimento in B (Nr. 287 bei Köchel) und ein zweites in D-dur (Nr. 334 bei Köchel), welches bereits von Hellmesberger gespielt wurde und dessen „An dante mit Variationen“ wir auch im letzten Philharmonischen Concert hörten. Das neue „Divertimento“ hat uns von An fang bis zu Ende die größte Freude bereitet. Daß man die Mozartʼschen Cardinaltugenden: Klarheit, Wohllaut und Form schönheit, auch hier nicht vermißt, ist selbstverständlich. Allein es gibt unter den Jugend- und Gelegenheits-Compositionen Mozartʼs gar manche, die trotz jener nirgends fehlen den Vorzüge doch zu wenig Ideengehalt und Begeisterung verrathen, um uns heute noch entzücken zu können — genau so wie es unter Haydnʼs Werken recht viele gibt, die man unbedeutend, langweilig und veraltet nennen sollte, während man hergebrachterweise lieber von „unverwelklicher Jugend“ und dergleichen spricht. Mit solchem, auf die bloße Firma hin gleichmäßig ertheiltem Lob schadet man leider jenen Werken der Meister, welche wirklich aus einem Beet geringer oder halbwelker Blümchen frisch und reizend hervorragen. Dazu gehört das Mozartʼsche Sextett in B-dur. Man hört, der Meister hat es mit Lust und Freude geschrieben, und diese Lust und Freude überströmt auch in die Herzen der mühelos lauschenden Hörer. Großartiges Pathos, Leidenschaft und dra

matische Blitze möge freilich Niemand erwarten, das Diverti mento verleugnet nirgends seinen Charakter als Gesellschafts musik, als musikalische „Unterhaltung“. Das concertante Her vortreten der ersten Violine, welche nicht ohne Koketterie die pikanteste Conversation führt, der knappe Zuschnitt der sechs Sätze, endlich der gefällige Aufputz des — ganz quartettmäßig gesetzten — Stückes durch zwei tiefe Waldhörner halten jene Physiognomie unverkennbar fest. Die beiden tiefen B-Hörner, auf die Naturtöne beschränkt, greifen in das Getriebe des musikalischen Gedankens nicht selbst ein, aber sie verleihen dem Ganzen eine reizende Tonfülle und Färbung. Dieser frische, gesättigte Klang der in den einfachsten Gän gen sich so friedlich bewegenden Waldhörner gibt dem Bilde etwas eigenthümlich Idyllisches, Serenadenartiges. Wir denken unwillkürlich an Gartenmusik und schmucke Rococco- Pavillons mit erleuchteten Fenstern, unten im Park schöne, seidenrauschende Damen mit gepudertem Haar, und Herren mit feinen Gesichtern und bunter Tracht. Dies Alles in dem idealisirenden Reiz einer fremdartigen und doch uns nahen Vergangenheit, ohne den Beischmack von Lächerlichkeit, den jetzt jene Lebensformen für uns so leicht annehmen. Auch auf jene bemalten Fächer und Spitzenmanschetten sind Thränen der Freude und des Kummers gefallen, wie heute, und unter den hohen, goldgestickten Schnürleibchen des vorigen Jahrhun derts pochten die Herzen in Haß und Liebe, wie heute. Mozartʼs „Divertimento“ zauberte ein Stück vergangenes Leben vor uns hin. Das Stück wurde auch gar zu schön gespielt. Hellmesberger fand seit lange keine so dankbare Stätte für die anmuthige Eleganz seines Bogens, und seine Partner (verstärkt durch die bewährten Hornisten Kleinecke und Pichler, dann Herrn Wrany, dieses Muster eines discre ten Contrabassisten) unterstützten ihn mit einer Feinheit, welche den Verehrern des köstlichen Mozartʼschen Vermächt nisses in guter Erinnerung bleiben wird.