Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1029. Wien, Sonntag den 14. Juli 1867 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1029. Wien, Sonntag den 14. Juli 1867 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.07.1867
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Musikalische Briefe aus Paris. (Concurs der Gesangvereine.) Paris, 10. Juli.

Ed. H. Die Palmen- und Orchideenhäuser im Jardin réservé des Ausstellungsparkes hatten in den letzten Tagen ein seltsames Aussehen und einen seltsamen Dienst. Sie wur den als musikalische Prüfungssäle benützt, in welchen die zahl reich herbeigeströmten Gesangvereine sich nacheinander produ cirten. Die zu diesem Zwecke sehr verstärkte Jury hatte sich in sechs Comités getheilt, deren jedes ein Glashaus in Be schlag nahm, sich unter Palmen an einem Tischchen niederließ und dort sein bestimmtes Pensum von 20 bis 25 Vereinen abhörte. Nur die Elite der französischen Gesangvereine („division d’excellence“) und die ausländischen Chorgesell schaften producirten sich vor der Jury und einem lebhaft theil nehmenden Publicum in dem „Théâtre International“ der Ausstellung — einer Schwindelbühne, welche, nach kurzem Scheinleben, ihre Vorstellungen gerade eingestellt hatte und anderweitiger Benützung offen stand. Zusammen, in Einen massenhaften Chor vereinigt, hatten wir diese 300 französischen

Vereine schon Tags zuvor gehört, allerdings unter entsetzlichen akustischen Verhältnissen. Das „Festival“ (ein aus dem Eng lischen ohne Noth und Geschmack entlehntes Wort für „Musik fest“) fand nämlich in dem immensen Industriepalaste der elysäischen Felder statt, welcher der stärksten Musikbesetzung Hohn spricht. Schon bei der Preisvertheilung am 1. Juli, wo doch gegen 20,000 Menschen den Saal füllten und dem großen Chor ein Riesen-Orchester zur Seite stand, verpuffte die Musik ohnmächtig wie ein Löffel voll Wasser auf einer glühen den Platte. Diesmal sah der Saal mit seinen 4000 bis 5000 Gästen geradezu leer aus und spottete der Anstrengung von 6000 Sängern. Doch war der Anblick der Letzteren interessant genug. Was dem Fremden zunächst auffällt, ist der durchaus demokratische Charakter dieses Monstre-Chors. Kein schwarzer Frack, keine weiße Halsbinde, wie bei unserem eleganten „Män nergesang-Verein“, das einfachste Handwerkergewand, Blousen, Mützen, ärmliche Sonntagsjacken; dazwischen einige Matrosen aus den Hafenstädten und einige hundert Soldaten. Da die Sänger nicht nach Vereinen, sondern nach den Stimmgattun gen gereiht waren (alle ersten Tenöre zusammen, alle ersten Bässe etc.), so schimmerten auch die rothen Hosen und Epau lettes allerwärts zwischen den Arbeiterblousen und Bratenröcken durch, und es war ein hübsches sociales Bild, wie Krieg und Frieden einträchtig, mitunter aus Einem Notenblatte, zusam men sangen. Vierzehn verschiedene Regiments-Gesangschulen wirk ten bei dem Musikfeste mit; die französische Armee zählt deren bereits 70, und die allgemeine Einführung des Chorgesanges bei der ganzen Armee steht bevor. Welch treffliches Resultat würden ähnliche Einrichtungen in der österreichischen Armee erzielen, die sich so unvergleichlich musikalischeren Ma terials rühmen darf!

Die französischen Gesangvereine recrutiren sich (in Paris fast ausschließlich, in der Provinz größtentheils) aus den ar beitenden Classen; bei uns bestehen sie überwiegend aus musi kalisch geschulten Dilettanten des gebildeten Mittelstandes. Dar aus erklärt sich der ungleich höhere künstlerische Werth der deutschen Gesangvereine, sowie die weit größere sociale Wich tigkeit der französischen. Diese Pariser Arbeiter singen oft herzlich schlecht, aber die regelmäßige Uebung des Gesanges, die liebevolle Beschäftigung mit der Musik haucht unfehlbar ein Element der Veredlung und Verfeinerung in ihr Leben und vermittelt ihnen zugleich ein wohlthuendes Bewußtsein des Zusammengehörens und Wechselseitigkeit. Denn die Mit

glieder eines Sängerbundes betrachten einander als Brüder, und der letzte dieser Vereine will seine Fahne respectirt wissen. Die Regierung hat an der Gründung dieser Gesangvereine und Gesangschulen (Orphéons) ein außerordentliches Verdienst. Wir können ganz absehen von der politischen Klugheit, die hier mitspielt: ist es doch immer besser, eine Regierung patronisirt die Gesangvereine, als sie verdächtigt oder verbietet dieselben, wie wir dies bei uns erlebt. Demokratisch in ihrer Zusammen setzung, sind die französischen Orphéons doch streng bureaukra tisch in ihrer Verfassung und Verwaltung. Die meisten davon sind geradezu eine Schöpfung des Gouvernements. Es liegen mir hierüber charakteristische amtliche Documente vor. Z. B. ein Erlaß des Departements-Präfecten N. an die Unterprä fecten und Maires seines Departements, welche aufgefordert werden, zu erheben, ob in den einzelnen Ortschaften Elemente zur Bildung von Orphéons vorhanden seien; wie in diesem Fall der Gesangsunterricht einzuleiten, vorzunehmen und von einer Commission zu überwachen sei etc. Alle drei Monate ha ben die Maires über die Fortschritte der Orphéons in ihrem Arrondissement an den Präfecten zu berichten, zweimal jähr lich Prüfungen vorzunehmen, Medaillen oder Aufmunterun gen zu spenden. Später, wenn die Anzahl dieser kleinen Ge sangvereine es gestattet, sind Concurse (Preissingen) in jedem Arrondissement zu veranstalten. Nur jene Vereine, die in dem Concurs ihres Arrondissements eine Medaille errungen haben, dürfen sich an den Gesangsconcursen des De partements betheiligen. Nach der Zahl der erhaltenen Me daillen wird jeder Gesangverein in die erste, zweite, dritte Di vision oder endlich in die „Division d’excellence“ gereiht, eine Art singende Nobelgarde von Frankreich. Der Präfect oder Maire ist von rechtswegen Vorstand des Gesangvereins; dafür trägt auch die Regierung die Kosten der Einrichtung und der zahlreich gespendeten Preismedaillen. Baron Hauß mann, auf dessen Wink fortwährend neue Straßen und Bou levards entstehen, ist Vorstand des „Orphéon de Paris“, der Titel eines Amphion unter den Bürgermeistern kann ihm nicht länger entgehen. Jeder Gesangverein hat ein schönes Banner (in dieser Passion stehen uns die Franzosen nicht nach), und an dies Banner werden alle errungenen Medaillen gehängt. An den Medaillen hängt wiederum das Herz aller Vereine; durfte doch das Hauptorgan der französischen Gesangvereine, L’Echo des Orphéons, in seinem Festartikel die seltsame Ueber zeugung aussprechen, die Einstellung der jährlichen Preiscon

curse würde sofort das Aufhören aller Gesangvereine zur Folge haben. Hier wie überall in Frankreich üben Ehrgeiz und Eitel keit einen großen Einfluß. Man wird sie nachsichtiger beur theilen, wenn man bedenkt, daß die größte Mehrzahl der fran zösischen Orphéons bei aller Anstrengung es nie zu echt künst lerischer Genugthuung bringen kann. Tausende von diesen sin genden Handwerkern kennen nicht Eine Note; sie werden nach der Methode v. Wilhem oder v. Chevé unterrichtet, welche die Noten durch Zahlen oder Figuren ersetzt. Ja, es gibt ein zelne Vereine, in welchen die Sänger nur nach dem Klange einer Violine ihren Part lernen und sich einprägen. Solche Genossenschaften muß man eben nicht auf ihre künstlerischen, sondern auf ihre socialen Früchte ansehen. Nach längerem Zeit verlauf (die Instutition der Orphéons ist so jung, daß an dem ersten allgemeinen Concurs, 1851 in Troyes, nur neun Ver eine theilnahmen) dürfte wol auch der musikalische Fortschritt im ganzen Lande mehr hervortreten. Und dafür wird den Or phéons aufrichtig zu danken sein, indem sie ihre bescheidene musikalische Cultur wenigstens in die tiefsten und entferntesten Schichten leiten. Das französische Volk besitzt von Haus aus wenig musikalische Anlage, es hat ein schlechtes Gehör und wenig Empfänglichkeit für die sinnliche Schönheit des Tones. Als Sänger leistet der Franzose nur dann Bedeutendes, wenn das dramatische Element hinzutritt — auf der Bühne. Der Chorgesang scheint die unbestrittene Domäne germanischer Nationen zu sein. Leider hatte sich kein einziger deutscher Ge sangverein zu dem Pariser Concurs eingefunden. Daß der Wiener Männergesang-Verein nicht erschien, be dauern wir auf das lebhafteste. Er war einer der wenigen, dem die französische Commission eine specielle Einladung ge sendet hatte und dessen Auftreten man mit Spannung ent gegensah. Daß er den ersten Preis erhalten hätte (5000 Francs und einen goldenen Kranz) steht außer Zweifel; mehr als Ein Belgier und Franzose gestand dies offenherzig. Ange nommen selbst, der Wiener Männergesang-Verein stände an virtuoser Ausführung nicht über, sondern nur neben den preis gekrönten Gesellschaften von Lille und Liège, er hätte durch die Frische und Klangschönheit seiner Stimmen den ent scheidendsten Vortheil über jene gehabt. Diese Gottesgabe ist sehr spärlich über Frankreich ausgegossen. Unter den zahlrei chen französischen Vereinen, welche ich bei dieser Jury zu hören bekam, habe ich nicht Eine schöne, echte Tenorstimme wahrge nommen und nur wenige Bässe von bedeutender Kraft und

Tiefe. Aus dem Süden Frankreichs kommen die besseren Stimmen, aber die rohesten und ungeschultesten Sänger; die nördlichen Provinzen senden musikalischere Sänger, aber mit telmäßige Stimmen. Namentlich die Tenorstimmen sind schwach, näselnd oder gepreßt, bei stärkerer Kraftentfaltung unange nehm; eine nicht gewöhnliche Leichtigkeit des Falsets ist mehr ein Surrogat als ein Ersatz dafür. Das Ausland war bei dem internationalen Gesangsconcurs nur durch einen englischen und zwei belgische Vereine — also sehr spärlich — vertreten. Der Chorgesang in Belgien steht auf einer viel höheren Stufe als in Frankreich, und die belgischen Gesangvereine sind wahrhaft respec table Erscheinungen. Zwei der bedeutendsten (Gent und Brüssel) waren leider nicht erschienen; um so größer war der Erfolg des Vereines „Ligia“ aus Lüttich. Nur einer von allen französischen Vereinen, die „Société impériale de Lille“, kam ihm an Reinheit der Intonation, Correctheit in den schwierigsten Passagen und feiner Schattirung gleich. Es ist charakteristisch, daß dieser beste französische Chorverein aus dem alten Flan dern stammt. Lille und Liège hielten sich die Wage; es kann nicht ungerecht heißen, daß die Jury Lille den ersten, Liège den zweiten Preis zuerkannte. Beide Gesellschaften sind eigentliche „Sociétés artistiques“, aus gebildeten Dilettanten bestehend, im Gegensatze zu den belgischen „Sociétés chorales ouvrières“ oder den aus Gesangschulen hervorgehenden „Or phéons“ der Franzosen. Sie und noch andere Concurrenten um den internationalen Preis hatten äußerst schwierige, um fangreiche Chöre zum Vortrage gewählt; „Abendhymne“ und Morgenhymne“, von dem Brüsseler Componisten Hanssens, lange pathetische Chöre, welche die Stimmen rein instrumental behandeln und mißhandeln, waren die Lieblingsstücke der Bel gier. Die Franzosen sangen mit Vorliebe „Tirol“ von Am broise Thomas, eine cantatenartige Naturschilderung, in wel cher Sturmgeheul, Lawinen, Glockengeläute und Jodler zu einem echt französischen unerquicklichen Effectstück verbunden sind. Freundlicher und sangbarer ist der gleichfalls oft wieder holte Zigeunerchor („Les Enfants d’Egypte“) von Laurent de Rillé, dem unermüdlichen Special-Schriftsteller und Leib componisten der französischen Gesangvereine. Das Repertoire des französischen Männergesanges ist arm und unbedeutend. Aus der älteren Literatur, welche den vierstimmigen Männerchor bekannt lich noch nicht pflegte, haben sie einige Arrangements und singen z. B. „Die Nacht“ von Rameau mit Brummstimmen! Die französischen Componisten fühlen sich im Männerchor offenbar

nicht heimisch; selbst die beliebtesten Chöre von Ambroise Tho mas, Gounod, David etc. sind gekünstelt, unerquicklich und me lodielos. Von deutschen Chören haben nur einige wenige sich eingebürgert: Becker’sMarsch“, Kücken’s Im Walde“, Mendelssohn’sAbschied“. Alle möglichen deutschen Lieder tafelspässe hingegen: Brummstimmen, Rataplan, Glockengeläute u. dgl., sind von Franzosen nachgeahmt, und zwar mit wenig Geschmack. Wer es unternähme, eine Auswahl der besten deutschen Männerchöre in gutesFranzösisch zu übertragen, könnte viel Ehre und Gewinn daraus ziehen. Zuletzt und eigentlich nur aus Courtoisie ließ man den englischen Verein Tonic Fa-Sol-Association“ singen; als gemischter Chor (von Männern und Frauen) war er von der Concur renz ausgeschlossen. Die Jury horchte mit Interesse, das Publi cum mit Begeisterung. Man war der schwierigen, gekünstelten und überlangen Preischöre so müde, daß die zwei einfachen, sich dem Volkstone nähernden Chöre, trotz des widerstrebenden englischen Textes, wahrhaft erfrischend wirkten. Die Stimmen waren sehr unbedeutend, aber die Chöre gut studirt und mit Liebe gesungen. Die Jury hatte sich bereits ins Foyer zur Abstimmung zurückgezogen, als der Beifall des Publicums noch forttobte und die englische Gesellschaft schließlich das „God save the Queen“ sang. Den französischen Componisten und Dirigenten hätte da vielleicht ein Licht aufgehen können. Was im deutschen und englischen Chorgesange die schönsten Blüthen treibt, ist der frische, lebenswarme Hauch des Volksliedes; was dem französischen Männergesange so empfindlich ab geht und noththut, ist eben das Element des Volksliedes.

Die französische Artigkeit gegen fremde Gäste verleugnete sich auch diesmal nicht; der englischen Gesellschaft mit dem wunderlichen Namen wurde zwar kein „Preis“, aber als Zei chen freundlicher Anerkennung ein goldener Lorbeerkranz vo tirt. Bei der feierlichen Preisvertheilung im Industriepalaste ergoß sich auf den vordersten Sängerplätzen die Schaar der englischen Damen — mehr würdevoll als schön. Ganz gegen englisch Recht und Sitte war unter diesen 20 bis 30 Loreleys nur Eine schöne. Sie war demnach bald herausgefunden und als Repräsentantin des Vereines an die Stufen des Thrones gesendet. Der Kaiser überreichte ihr den goldenen Kranz, und zwar nicht sitzend, wie den Uebrigen, sondern sich mit liebenswürdigem Lächeln vom Throne erhebend. In dem Wett kampfe von 300 Männergesang-Vereinen errang somit die höchste Auszeichnung — ein blondes Mädchen.