Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1104. Wien, Freitag den 27. September 1867 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1104. Wien, Freitag den 27. September 1867 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 27.09.1867
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Pariser Opern während der Weltausstellung. I. („Don Carlos“, von Verdi.)

Ed. H. „Chacun a deux patries, la sienne d’abord et puis la France!“ lautete der vielbesprochene Toast eines österreichischen Festgebers bei der Weltausstellung. In der berückenden Schmeichelei dieses feingeschliffenen Aperçus ruht ein Tropfen Wahrheit: ganz Europa war jetzt eine zeitlang in Paris zu Hause. Die europäische Journalistik durfte füglich den Satz adoptiren und behaupten, es habe jeder Feuilletonist in diesem Jahre zwei Stoffgebiete: sein heimisches zunächst, so dann Paris. Einem Leserkreis, dessen größere Hälfte vielleicht die Weltausstellung selbst besucht hat, Neues von dort zu er zählen, wäre allerdings ein eitles Vorhaben. Aber gerade die Vermuthung, bei unseren Lesern gemeinsame Erinnerungen und Erlebnisse vorzufinden, ermuthigt uns mehr, als sie uns ab schreckt. Was z. B. die Pariser Bühnen während des großen Völkercongresses brachten, ist dadurch beinahe zum Eigenthum der civilisirten Welt geworden, so daß gegenwärtig in Wien und Berlin über Verdi’sDon Carlos“, oder Gounod’s Romeo“ lebhafter debattirt werden mag, als über die No vität eines einheimischen Capellmeisters.

Zahlreich sind die Opern-Novitäten nicht, von welchen wir uns mit unseren Lesern unterhalten wollen. Es gab deren vier im Ganzen, welche die ganze Ausstellungszeit hindurch ge spielt wurden und noch heute fortgespielt werden: „Don Car los“ in der Großen Oper, „Mignon“ in der Komischen, Romeo und Julie“ im Théâtre Lyrique, endlich „Die Großherzogin von Gerolstein“ in den Variétés. Das letztere Stück ist bereits nach Deutschland gedrungen, „Mignonund „Romeo“ dürften bald nachfolgen und bei guter Darstel lung wahrscheinlich Glück machen. Vor Verdi’sDon Car los“ hingegen möchten wir unsere Theater-Directoren freund schaftlich warnen, denn mit Ausstattungsprunk allein fesselt man kein deutsches Opernpublicum. Von der Musik verspre

chen wir den Zuhörern nur Langeweile und Betäubung; selbst die Sänger dürften kaum für Rollen Partei nehmen, die auf reibend, aber nicht dankbar sind. Wir anerkennen Verdi’s eigenthümliches und bedeutendes Talent, das zwar mit rohen, unkünstlerischen Elementen arg vermischt und deßhalb für ein reines, ganzes Kunstwerk unzureichend ist, aber höchst wirksame Einzelheiten geschaffen hat. Wenn wir Verdi in der „Tra viata“, dem „Trovatore“, „Rigoletto“ und „Ballo in Mas chera“ so oft mit kräftigem Naturalismus instinctiv ins Schwarze treffen sehen, dann bestreiten wir ihm gewiß nicht länger Recht und Fähigkeit, auch im guten Sinn Er selbst zu sein. Im „Don Carlos“ aber bemüht er sich, Alles, nur nicht „er selbst“ zu sein. Er versucht eine complete Mas kerade. Nun denke man sich einen Verdi ohne seine natio nale Frische und unbefangene Sinnlichkeit, einen Verdi ohne Leichtsinn und ohne Melodie, und urtheile, was da noch Gu tes übrig bleibt. Im „Don Carlos“ verleugnet der Com ponist ängstlich seine musikalische Wiege, will halb Deutscher, halb Franzose scheinen, nicht melodiös, sondern tief und gelehrt schrei ben, und dort fortsetzen, wo Meyerbeer aufgehört. An der Partitur des „Carlos“ klebt mehr Schweiß, als an allen früheren Opern Verdi’s zusammengenommen. Dieser stets unentschiedene Kampf zwischen dem alten und dem neuen Verdi, diese krampfhafte Anstrengung, sich höher zu strecken, als er gewachsen ist, wirkt peinlich auf den Hörer. An seiner „Carlos“-Musik ist Alles gezwungen, schwerfällig, dunstig; die Melodien tragen wir we der im Ohre noch im Herzen heim, uns ist nur, als klebten sie uns an allen Fingern. „Das ist ja Zukunftsmusik!“ rief neben mir entrüstet ein Italiener. Ich tröstete ihn damit, daß einer solchen Musik am wenigsten in Italien eine Zukunft blühe, es hätte denn die italienische Musik überhaupt keine Zu kunft mehr. Aber ein richtiges Gefühl lag doch in jenem Aus rufe. Verdi und Wagner vollziehen Beide in ihren neueren Werken einen Bruch mit ihrer eigenen Vergangenheit und ver leugnen die reizvolleren, populäreren Elemente ihres Talents zu Gunsten einer ihnen vorschwebenden idealeren Dramatik. Don Carlos“ verhält sich zu „Ernani“ ungefähr wie „Tristan und Isolde“ zum „Tannhäuser“. Das tugendstolze Streben

beider Tondichter, in ihren alten Tagen sich der sündhaften Melodie zu enthalten, scheint übrigens hier wie dort von der Natur mächtig unterstützt; die Melodie verläßt man niemals, sie verläßt uns. Ich kann nach dem „Carlos“ kaum mehr zweifeln, daß Verdi — fertig ist. Dafür hat er das für einen Italiener bewundernswerthe Geschick sich angeeignet, die Archi tektonik der musikalischen Formen zu zerbröckeln, als Amphibium lange Zeit zwischen Cantilene und Recitativ zu athmen, vor Allem aber eine „unendliche Melodie“ zu spinnen, wenn ihm keine end liche einfällt. Mit großer Mühe hat er scheußliche Accordfolgen und stolpernde Rhythmen erdacht und die Partien der Sänger so eingerichtet, daß sie sich fast nur in den äußersten Grenzen ihrer natürlichen Scala bewegen. Und vollends die Instru mentirung! Wie licht sah es sonst zwischen den Tactstrichen einer Verdi’schen Partitur aus, wie schnurgerade und wohnlich! Schlagen wir aber die ungeheuren Bände des „Don Carlosauf, so kriecht uns ein schwarzes, ameisenartiges Gewimmel von Noten entgegen, alle Instrumente arbeiten zugleich, über, unter, neben einander, jeder Moment bringt eine andere Figu ration, eine verschiedene Klangfarbe, ein neues Solo-Instru ment, und dazwischen jenes nervenschneidende Tremoliren der getheilten Violinen, das seit dem „Tannhäuser“ zum gemeinen dramatischen Hausmittel geworden ist. Trotz alledem kann man kaum von Einer Stelle im „Don Carlos“ rühmen, daß sie orchestermäßig gut klingt, wie z. B. das Allergewöhnlichste bei Mozart oder Rossini. Vorbereitet finden wir die neue Styl wendung Verdi’s schon in dem schwerfälligen vierten Act des „Mas kenballs“, vollkommen ausgeprägt in jener musikalischen Samm lung von Unglücksfällen, welche uns in Wien unter dem Titel La forza del destino“ credenzt wurde. Immerhin lächelten aus dem steinigen Geröll dieser Schicksalsmusik noch einzelne Melodien wie frische Steinnelken hervor — für „Don Carloswürde sich das nicht schicken. Das Textbuch der neuen Oper ist bei handgreiflichen Mängeln doch bedeutend besser, als „La forza del destino“. Daß Verdi, dessen Musik bereits Schil ler’s „Räuber“, „Kabale und Liebe“ und „Jungfrau von Orleansüberfallen hat, jetzt blos aus Zufall oder Caprice den „Don Carlos“ erwählte, können wir nicht recht glauben; ohne Zwei

fel fühlt sich der allezeit pathetische Verdi von Schiller’s edlem Pathos angesprochen und gehoben. „Don Carlos“ ist übrigens kein günstiger Opernstoff: Elisabeth, Eboli und Carlos, schon bei Schiller in ziemlich allgemeiner Färbung verschwimmend, werden in der Oper zu matten, physiognomielosen Schablonen; die beiden eigenthümlichsten Gestalten, König Philipp und Marquis Posa, sind für musikalische Behandlung zu reflectirt und rhetorisch, die absolutistische Staatsraison wie die Schwärmerei für Gedankenfreiheit streifen gesungen leicht an die Carricatur.

Mit Ausnahme des ersten Actes, welcher den Infanten mit der noch unvermälten Elisabeth in Fontainebleau zusammen führt, somit das übliche große Liebesduett schon als Exposition bringt, folgt das Libretto ziemlich treu der Schiller’schen Handlung. Im zweiten Acte sehen wir Carlos und Posa im Kloster St. Just ihren Freundschaftsbund erneuern, Posa sich der nigin und ihrem Hofstaat vorstellen; es folgt die Zusammen kunft Elisabeth’s mit Carlos, die Verbannung der Hofdame und eine politische Vorlesung, welche Posa seinem königlichen Gönner Philipp hält. Der dritte Act bringt ein Maskenfest in den Gärten der Königin und das unvermeidliche Ballet, eine mythologische Allegorie auf die Königin von unabsehbarer Länge und der langweiligsten Balletmusik, die je geschrieben wurde. Carlos, der in der Dunkelheit die Eboli für Elisabeth hält, compromittirt sich mit einer Liebeserklärung, Posa tritt hinzu und ergänzt das Verzweiflungs- und Rache-Terzett. Die Scene verwandelt sich hierauf in einen großen Marktplatz vor der Kathedrale; hier wickelt sich das Finale ab, das, mit grobem Pinsel, aber effectvollen Farben gemalt, den Höhepunkt der Oper bildet. Was ist nicht Alles hier aufgeboten! Großer Krönungszug des Königs mit Regimentsmusik auf der Bühne, festlicher Jubelchor des Volkes, Trauerchor der Mönche und der zum Scheiterhaufen geführten Ketzer, Bittgesang der flandrischen Deputirten (sentimentales Unisono von zwölf Bassisten, Copie des bischöflichen Geschreies im ersten Acte der „Afrikanerin“); Carlos vertheidigt sie, zieht den Degen gegen Philipp, dieser wüthet, die Damen jammern, Posa arretirt den Infanten; es brennen die Schei terhaufen, es läuten die Glocken, dazu Festmarsch, Jubelchor und Mönchsgebet, Alles zugleich, und aus den Wolken herab

ein Engelchor, welcher die verbrannten Ketzer als Märtyrer begrüßt. Kein Zweifel, Verdi müßte denjenigen fordern, der mehr forderte. Nach diesem dritten Acte fühlt sich jeder normal organisirte Mensch halbtodt, hat aber noch zwei Acte vor sich, die alles Frühere zu überbieten sich anstrengen. Der vierte Act beginnt mit dem Monolog des Königs und seinem Gespräch mit dem Groß-Inquisitor, eine großentheils wörtlich aus Schiller genommene Scene, für welche Verdi eine charakteri stische Färbung zu finden und festzuhalten verstand. Es folgt der heftige Auftritt zwischen dem König und der Königin wegen der entwendeten Cassette, die Selbstanklage der Eboli, Carlos im Gefängnisse und Posa’s Tod an seiner Seite. Mit Hilfe des Groß-Inquisitors bezwingt der König die zu Gunsten Car los entfesselte Rebellion. Eine Scene statt eines ganzen fünf ten Actes würde hier zum Abschlusse der Handlung genügen. Aber wir müssen im letzten Acte noch eine Arie der Königin im Kloster St. Just, ein langes Abschiedsduett zwischen ihr und Carlos, endlich das Finale hören, in welchem der König, von Mönchen begleitet, seinen Sohn der Inquisition auslie fert. Mit dem schaurig-lakonischen: „Cardinal, thun Sie das Ihre!“ fällt bei Schiller der Vorhang, den die Geschichte noch immer nicht ganz zu lüften vermochte. Bei Verdi muß aber nach diesem Ausrufe des Königs noch der Geist Karl’s V. er scheinen, der mit seinem Mantel den Infanten einhüllt und mit ihm verschwindet. Die über fünf Stunden währende und alle Sinne hinrichtende Oper mußte sich in Paris nach den ersten Vorstellungen mehrere Kürzungen gefallen lassen. Die Londoner Direction („wie sie kurz angebunden war!“) strich sogar den ganzen ersten Act und läßt die Oper ohne Um stände mit dem zweiten beginnen. Es geht auch so ganz gut.

Was das Publicum zu Verdi’s „Don Carlos“ lockt, ist nicht die Musik, sondern die Pracht der gesammten Ausstat tung und die hohe Beliebtheit der Darsteller. Als wahrhaft künstlerische Leistung steht der König Philipp des Bassisten Obin in erster Linie. Schon seine charakteristische Maske und Haltung frappirt wie ein aus dem Rahmen tretendes Bildniß von Velasquez; sein Spiel erscheint in Scenen wie jene mit dem Groß-Inquisitor des bedeutendsten Schauspielers würdig. Obin ist eines der

älteren Mitglieder der Großen Oper; die Blüthe seiner Stimme beginnt etwas zu welken, aber seine Kunst des Vortrages und des Spieles läßt im Hören diese Wahrnehmung kaum auf kommen. Ganz vorzüglich ist auch Faure als Marquis Posa. Die schlanke Gestalt, das feine, etwas lange Gesicht, das sanfte blaue Auge des berühmten Baritonisten stimmen ebenso treff lich zu dem Charakter des schwärmerischen Posa, als sein Ge sangsvortrag zu den gefühlvollen Cantilenen der Rolle. Stets liebenswürdig und von edler Mäßigung, erinnert Faure als künstlerische Individualität an den unvergeßlichen Ander; das Wilde und Dämonische, wie den entfesselten Sturm der Leidenschaft vermag er nur anzudeuten; er ist am schwächsten dort, wo unser Beck seine größte Macht entfaltet: im zweiten Finale des „Don Juan“, im dritten und vierten Acte der Afrikanerin“ u. dgl. Während Faure’s Gesang alle Vor züge italienischer Schulung verräth, sind die Tenoristen der Großen Oper im schlimmen Sinne specifische Franzo sen. Morère, der jetzt meistens den Don Carlos singt, ist ein schreiender, tremolirender Comödiant, dem manches dramatische Schlaglicht gelingt, aber nirgends ein nachhaltig künstlerischer Eindruck. Villaret, der ursprüngliche Darsteller der Rolle, singt um einige Grade bes ser und ruhiger, gehört aber derselben manierirten Schule an. Die Große Oper besitzt thatsächlich keinen Tenoristen ersten Ranges; der ganze Postzug: Villaret, Morère, Warot und Gueymard, erreicht zusammen keinen Roger oder Du prez. Madame Marie Sasse bringt für die Rolle der Eli sabeth wie für jede andere den Talisman einer prachtvollen Sopranstimme mit; wie Orgelklang strömen ihre machtigen Silbertöne durch den Saal. Leider dringt kein Strahl von Poesie oder dramatischem Geist in diesen tönenden Fleischcoloß. Hört man sie ihr Duett mit der gleich robusten und ausdrucks losen Eboli (Madame Gueymard) singen und sieht die vier colossalsten nackten Arme von Paris durch die Luft sägen, so fühlt man sich den Markthallen beinahe näher, als dem spa nischen Hofe Philipp’s II. Vorzüglich ist, wie gesagt, alles Scenische im „Don Carlos“, glänzend nicht blos im Sinne stupid-luxuriöser Ausstattung, sondern durch wahrhaft maleri schen Reiz und historisch treue Charakteristik. Die Fremden,

also die gegenwärtigen Herren von Paris, finden im „Don Carlos“ das Glänzendste vereinigt, was die Große Oper an singenden und tanzenden Kräften, an Costümen und Decoratio nen besitzt. Dies ist der Schlüssel zu dem musikalisch unerklär lichen Geheimniß der Anziehungskraft von Verdi’s neuester Oper.