Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1171. Wien, Dienstag den 3. December 1867 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1171. Wien, Dienstag den 3. December 1867 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 03.12.1867
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Orte, Personen, Werke, Daten ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Oper und Concert. (Gastspiel der Frau v. Voggenhuber. — Quartett-Production von Joachim. — Zweites Gesellschafts-Concert.)

Ed. H. Die Sängerin v. Voggenhuber aus Bremen beschloß ihr kurzes, aber sehr günstig aufgenommenes Gastspiel als Selica in der „Afrikanerin“. Sie hat in dieser Rolle, wie in den zwei früheren (Fidelio und Margarethe), das Publicum und die Kritik durch so werthvolle künstlerische Eigenschaften befriedigt, daß sie trotz ihrer freundlichen Er scheinung beinahe hier engagirt worden wäre. Daß in dieser Frau ein echtes, nicht gewöhnliches Talent stecke, ließ sich trotz ihrer Befangenheit sofort erkennen. Ihre Be gabung ist um so höher anzuschlagen, als Frau v. Vog genhuber so gut wie Alles aus sich selbst schöpfen mußte, keine bedeutenden Vorbilder vor Augen hatte und bisher nur auf kleinere Bühnen angewiesen war. Eine noch weitere Vervoll kommnung dieser Sängerin unter einer tüchtigen Direction und in einem großen künstlerischen Ensemble scheint kaum zu bezweifeln. Die Stimme der jungen Dame ist ein Sopran von weichem, sympathischem Klang und mäßiger Kraft; der Umfang derselben bewältigt abnorme Partien wie Fides und Selica ohne jede Punctirung. Sie intonirt rein, faßt die Töne sicher und spricht deutlich aus. Was zunächst für die Leistun gen der Frau v. Voggenhuber einnahm, ist die warme, echte Empfindung, die aus dem Herzen quillt, ohne unnatürliche Effecte zu suchen oder sich gefallsüchtig vorzudrängen. Ein tiefer Ernst der Auffassung geht damit Hand in Hand; die Sän gerin geht in dem darzustellenden Charakter vollständig auf und ist singend wie im stummen Spiel immer ganz bei der Sache. Die eigentliche Gesangskunst (in der Regel die schwache Seite der „dramatischen“ Sängerinnen in Deutschland) ist auch bei Frau v. Voggenhuber nicht hoch ausgebildet. Ihrer Coloratur fehlt die Gleichheit und Leichtigkeit, geschweige denn der Glanz. Stücke, wie das Schlummerlied der Selica und die Schmuck-

ArieGretchenʼs blieben deßhalb unter der gewohnten Wirkung. Auch andere nicht colorirte, aber musikalisch bedeutungsvolle Stellen ermangelten der vollkommenen Technik, des letzten Schliffes der Phrasirung. Als Fidelio arbeitete sich Frau v. Voggenhuber aus großer Befangenheit zu einem siegreichen Aufschwung in der Kerkerscene empor; die Scenen der Selica im vierten Act sang sie mit wohlthuender Wärme und spielte den fünften Act geradezu meisterhaft. Als Gretchen (in Gou nodʼsFaust“) erreichte sie zwar weder die glühende Leiden schaftlichkeit der Frau Dustmann, noch weniger die voll endete Kunst und Zierlichkeit der Artôt, aber es war ein echtes und rechtes „Gretchen“, eine Leistung aus Einem Guß, Gesang und Darstellung Aeußerungen eines Wesens. Und das ist die große Uebermacht des geistigen Theiles in aller Kunst, daß er über technische Anstöße hinwegzuheben vermag.

Im „Faust“ sang Herr Rokitansky zum erstenmale den Mephisto, ohne die Leistungen seiner Vorgänger Schmid und Mayerhofer zu erreichen. Dr. Schmid steht durch die Pracht seiner nicht blos starken, sondern metallreichen Stimme im Vortheile gegen die beiden anderen Bassisten; er singt die zwei Lieder Mephistoʼs sehr wirksam und verdient nur den Vorwurf, den Humor der Gartenscene durch un articulirte Nestroy-Laute und Gesten ins Triviale herabzuziehen. Herr Mayerhofer, an Stimme und Statur von seinen beiden Collegen um Kopfeshöhe überragt, ist ihnen als Schau spieler weit überlegen. In der Declamation, Mimik und Kunst der Maske übertrifft er fast alle Mitglieder des Operntheaters. Er fand für die Partie des Mephisto einige neue glückliche Motive (z. B. das Spiel mit der Börse während des ersten Liedes), schadet aber der Leistung durch übermäßiges Detail, wie in der unseligen Flucht vor den Schwertgriffen der frommen Stammgäste. Die Scene, schwer und unangenehm zu spielen, ist eine von keinem Darsteller gutzumachende Albernheit der Textdichter. In GoetheʼsFaust“ scheuen die bösen Geister das Kirchliche nicht; ein böser Feind flüstert im Dome Gretchen ins Ohr, und Mephisto selbst betrachtete sie im Beichtstuhl.

Was für ein armer Teufel, der sich vor der Kreuzform eines Schwertgriffes ohnmächtig windet! Der Schauspieler thut hier je weniger desto besser. Herr Rokitansky faßt die Scene sehr gut; er stemmt sich anfangs in trotziger Haltung gegen seine Bedränger und wendet sich erst allmälig ab, die Kreuze nicht ansehend, aber von ihnen auch keineswegs erschüttert. Ueberhaupt war Herr Rokitansky in den zwei ersten Acten charakteristisch in Spiel und Gesang; es freute uns, endlich etwas mehr Wärme und Eifer an ihm wahrzunehmen und ihn wieder einmal loben zu können. Dieser Sänger ist uns eine räthselhafte Erscheinung. Die Natur ist nicht karg an ihm vorübergegangen, sein Kehlkopf ist nach der competenten Ver sicherung Dr. Störkʼs ein Wunder an Größe. Rokitansky besitzt außerdem tüchtige Gesangsstudien und große musikalische Sicherheit. Seine allgemeine wissenschaftliche Bildung steht hoch über dem gewöhnlichen Theaterniveau. Und dennoch mit all diesen Vorzügen auf der Bühne so wenig anzufangen, — wie fängt man das an? Es fehlt eben die rechte Be geisterung für den Beruf, die Lust und Liebe zur Sache. Herr Rokitansky vernachlässigt sich, seine Stimme wie seine Kunst sind seit dem ersten Gastspiele ohne Frage zu rückgegangen. Wir sehen ihn alle Rollen mit derselben ver drießlich schwerfälligen Gleichgiltigkeit singen und spielen. Das tonlose Fallenlassen der Periodenschlüsse ist ihm fast zur stehenden Gewohnheit geworden, und wird dann zur Abwechslung Einzelnes recht derb losgelegt, so wirken diese unvermittelten Extreme noch naturalistischer. Wenn Herr Rokitansky sprich wörtlich dankbare Rollen wie den „Bertram“ mit einer Flauheit ausführt, daß keine Hand sich rührt (weder an Herrn Roki tansky noch im Parterre), so kann man sich denken, wie we nig Interesse kleinere Partien ihm einflößen. Nach solchen Erfahrungen sahen wir ihn mit wahrem Vergnügen den Me phisto charakteristischer und lebhafter anfassen. Leider währte die Freude nicht lange, schon in der Gartenscene ward Me phisto matt und humorlos, um schließlich im vierten und fünften Acte in vollständiger Passivität zu verlöschen. Es

sind keine schmeichelhaften Wahrheiten, die wir Herrn Roki tansky heute sagen, aber er ist der Mann dazu, wenn er will, sie durch künstlerische Gegenbeweise zu widerlegen. Wäre Herr Rokitansky nicht ein so reich ausgestatteter und intelligenter Künstler, an welchen sich große Erwartungen knüpften, wir hätten sanfter von ihm gesprochen und weniger.

Herr Adams, unser bildhübscher neuer Tenor, ist im Gegensatze zu Rokitansky voll Eifer und Beweglichkeit, aber sein Kehlkopf ist desto kleiner. Man müßte ein Sänger von glänzendem Geiste und genialem Herzen sein, um mit dieser kleinen, einfärbigen Stimme ein Publicum zu entzünden und mit sich fortzureißen. Herr Adams erscheint aber blos nett, anständig und gewissenhaft. Sein Gesang ist recht gut ge schult, sein Spiel sehr gewandt, nicht sowol individualisirend, als allgemeine Formen gefällig ausfüllend. Zarte lyrische Mo mente gelingen ihm am besten, und Partien wie Edgardo oder Elvino gehen nicht ohne Applaus für ihn vorüber. — Im Faust“ ist nunmehr Frau Marthe Schwertlein aus den Händen einer ganz unzureichenden Darstellerin an Fräulein Gindele übergegangen, welche diese kleine, aber für das Ge lingen des dritten Actes wichtige Partie mit dem rühmlichsten Eifer und Geschick ausführt.

Im Hofoperntheater ist der vortreffliche Bassist Herr Schmid nach langem Krankenlager wieder in Nicolaiʼs Lustigen Weibern von Windsor“ aufgetreten. Nicht nur von den Opernbesuchern war die Thätigkeit Schmidʼs schmerzlich vermißt worden, die Theilnahme an dem Los des schwerge prüften, als Künstler wie als Mensch hochgeachteten Mannes war eine ganz allgemeine. Kein Wunder, daß man den Wie dergenesenen mit Jubel empfing, sich der unversehrten Kraft und Fülle seiner Stimme freute und ihm schließlich eine An zahl von Kränzen warf, die vom Boden aufzulesen dem colos salen „Falstaff“ schwer genug fallen mochte.

Joseph Joachim gab am Donnerstag — unterstützt von

den Herren Käßmayer, Hilbert und Röver — die erste seiner drei Quartett-Productionen. Der musikalische Stoff stürmt diesmal so lawinenartig auf uns ein, daß wir uns auf wenige Worte beschränken müssen. Am kürzesten machen wir es wol: daß wir Quartett-Musik niemals so vollendet schön vortragen hörten. Man macht sich schwer eine Vorstellung von dem ruhigen Pathos und der zusammengehaltenen Kraft, mit welcher JoachimBeethovenʼsF-dur-Quartett (Rasu mowsky) anstimmte, um es später zur ergreifendsten Klage zu vertiefen und schließlich zur höchsten Energie zu entfesseln. Man macht sich noch schwerer eine Vorstellung von dem Zau ber, welchen ein Haydnʼsches Quartett unter Joachimʼs Bogen gewinnt. Es ist als wenn ein wohlbekanntes Bildchen nach allen Dimensionen größer, in allen Farben frischer und sprechender würde. Zwischen den beiden Quartetten spielte Joachim mit Brahms eine Sebastian Bachʼsche Sonate in E-dur, deren reicher, breit ausströmender erster Satz das etwas krause Formelwesen der folgenden bedeutend überstrahlt. Natürlich, daß der Musikvereinssaal voll Zuhörer und diese voller Freude waren.

Das zweite Gesellschafts-Concert bestand aus zwei musikalischen Cyklen sehr verschiedenen Charakters: dem Deutschen Requiem“ von Johannes Brahms und der voll ständigen „Rosamunde“-Musik von Schubert. „Rosamundewar bekanntlich ein im Theater an der Wien durchgefallenes Ritterstück von Frau Helmine v. Chezy, demselben rastlosen Blaustrumpf, der auch die „Euryanthe“ verfertigte, und so auf Flügeln des Gesanges von Schubert und C. M. We ber als Ueberfracht in die Unsterblichkeit spedirt wurde. Schu bert hatte das Stück verschwenderisch mit einer Musik ge schmückt, welche jetzt zum erstenmale vollständig aufgeführt zu haben ein neues, schönes Verdienst des Hofcapellmeisters Her beck ist. Mehrere Nummern, die größeren und selbstständi geren, waren bereits aus früheren Gesellschafts-Concerten be

kannt. Von den neuen gefiel am meisten eine marschartige Balletmusik in G-dur, die man zu den liebenswürdigsten Genrebildern Schubertʼs zählen darf. Das glitzert und duf tet wie ein glücklicher Frühlingsmorgen. Auffallend genug erin nert das wuchtig aufstampfende G-moll-Unisono der Contrabässe an den Zigeunertanz in den „Hugenotten“. Das ungemein graziös gespielte Stück mußte wiederholt werden — wol das erste und einzige Beispiel einer Balletmusik, welche ohne Mit wirkung der Scene und des Tanzes im Concertsaal sol chen Erfolg errung! Auch die übrigen Nummern athmen in jedem Tacte die Schubert eigenthümliche anmuthige Romantik, doch bedürfen sie zu ihrer vollen Wirkung mehr oder minder des Theaters. Das Publicum dankte Herrn Herbeck für die neue Schubertgabe und deren treffliche Vorführung durch wie derholten Hervorruf; desgleichen dem Fräulein Magnus für ihren warmen und fein nuancirten Vortrag der „Romanze“. Wir können bei diesem Anlasse nicht umhin, die jüngst von Herrn Speidel ausgegangene Anregung einer Gesammt ausgabe von Schubertʼs Werken hier aufzunehmen und auf das wärmste zu unterstützen. Möge Herr Spina, dessen Verlag eine so rühmliche Thätigkeit auch für Schubert zu entfalten begann, den letzten entscheidenden Entschluß fassen und Oesterreich die Beschämung ersparen, daß es seinen Schubert im Auslande herausgegeben sehe.

Das Gesellschafts-Concert brachte ferner (gleichfalls unter Herbeckʼs Direction) ein noch ungedrucktes „Deutsches Re quiem“, von Joh. Brahms für Chor und Orchester. Es war nicht die ganze, aus sechs Sätzen bestehende Composition, sondern nur deren erste Hälfte, die aufgeführt wurde. Den Text bilden Bibelstellen, welche die Vergänglichkeit des Irdi schen und die Hoffnung auf ein Jenseits aussprechen; die Com position ist als eine großartige musikalische Todtenfeier mehr noch für die Kirche als den Concertsaal gedacht. Das „Deutsche Requiem“ ist ein Werk von ungewöhnlicher Bedeutung und

großer Meisterschaft. Es dünkt uns eine der reifsten Früchte, welche aus dem Styl der letzten Beethovenʼschen Werke auf dem Felde geistlicher Musik hervorgewachsen. Seit den Todten messen und Trauercantaten unserer Classiker hat kaum eine Musik die Schauer des Todes, den Ernst der Vergänglich keit mit solcher Gewalt dargestellt. Die harmonische und con trapunktische Kunst, die Brahms in der Schule Sebastian Bachʼs erwarb und mit dem lebendigen Athem unserer Zeit durchhaucht, tritt für den Hörer ganz zurück hinter dem von rührender Klage bis zum vernichtenden Todesgrauen sich stei gernden Ausdruck. Wie ergreifend erhebt sich der erste Satz („Selig, die da Leid tragen“) auf seinen ruhigen und doch so überraschenden Harmonien, bald getra gen von tiefem Violoncell- und Posaunenklang, bald von leisen Harfentönen wie von Geister-Erscheinungen durchweht. Und doch ist dies nur ein Vorspiel zu der gewaltigen Tragö die des zweiten Satzes in B-moll („denn alles Fleisch ist wie Gras“), in welchem das Grauen der Verwesung nur von dem verklärten Lächeln eines brechenden Auges erhellt wird. Es ist der bedeutendste von den drei Sätzen und würde uns noch größer dünken, wenn er mit der letzten dröhnenden Wieder holung des Hauptthemas in B-moll schlösse; das angefügte B-dur Allegro: „Die Erlösten des Herrn“ erscheint mehr wie ein äußerlicher Anhang, als wie ein organischer Abschluß. An Größe der Conception steht der dritte Satz den beiden ersten nicht nach, an contrapunktischer Kunst übertrifft er sie. Den noch wirkt er nicht so klar und harmonisch wie jene, er be stürmt den Hörer mit Eindrücken von mitunter sehr gewalt samer Art, denen nach der vorhergegangenen Aufregung und Anspannung schwer Stand zu halten ist. Der Satz hebt mit einem Bariton-Solo an („Herr, lehre mich doch, daß es ein Ende mit mir haben muß“), welches vom Chore bald beant wortet, bald unterstützt wird; Alles im Tone tiefster Trauer. Das D-moll-Andante geht schließlich in die Dur-Tonart über und bringt über dem Orgelpunkt der Tonica einen vierstimmigen fugirten Satz: „Der Gerechten Seelen sind in

Gottes Hand“. Dieser Orgelpunkt hat die unbarmherzige Länge von 72 Vierviertel-Tacten (tempo moderato) und wird von den (nach D herabstimmenden) Contrabässen, Hörnern, Posaunen und einer ununterbrochen in Sextolen schlagenden (nicht wirbelnden) Pauke ausgehalten. Der Componist hat diese in der Partitur imponirende Stelle in ihrer äußeren Wirkung nicht richtig berechnet. Einmal verschlingt der dröh nende Orgelpunkt das Geflechte der Singstimmen, das man nicht mehr zu erkennen vermag, sodann versetzt das unaufhör liche Paukengehämmer auf Einem Ton den Zuhörer in eine nervöse Aufregung, die jede ästhetische Aufnahme vereitelt. Je mand verglich die Wirkung dieses Orgelpunktes mit der beän stigenden Empfindung, die man beim Fahren durch einen sehr langen Tunnel hat. Vom Orgelpedal gehalten, würde die Stelle wahrscheinlich diese allarmirende Wirkung verlieren, welche hier dem Erfolg des dritten Satzes so sehr schadete. Während die beiden ersten Sätze des „Requiem“ trotz ihres düsteren Ernstes mit einhelligem Beifall aufgenommen wurden, war das Schicksal des dritten Satzes ein sehr zweifelhaftes. Daß eine so schwerfaßliche, nur in Todesgedanken webende Composition keinen populären Er folg erwartet und viele Elemente eines großen Publicums un befriedigt lassen wird, ist begreiflich. Aber selbst dem Wider streben, so glaubten wir, müßte sich eine Ahnung von der Größe und dem Ernste des Werkes beimischen und Respect auferlegen. Dies schien nicht der Fall bei einem Halbdutzend grauer Fanatiker alter Schule, welche die Unart begingen, die applaudirende Majorität und den vortretenden Componisten mit anhaltendem Zischen zu begrüßen. Daß ein solches „Re quiem“ auf den Anstand und die gute Sitte in einem Wiener Concertsaale ertönen könne, hat uns auf das bedauer lichste überrascht. Brahms selbst braucht sich darob nicht zu grämen. In wenigen Jahren wird das Publicum ge wiß sein „Requiem“ mit ungetheilter Würdigung aufnehmen und werden selbst die Concertdiener vom Hörensagen hinläng lichen Respect dafür haben, um etwa aufzischende musikalische Vipern vor die Thür zu setzen.