Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1192. Wien, Dienstag den 24. December 1867 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
Georg-Coch-Platz 2 1010 Wien Österreich Wien
Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

Sie dürfen: Teilen — das Material in jedwedem Format oder Medium vervielfältigen und weiterverbreiten

Bearbeiten — das Material remixen, verändern und darauf aufbauen und zwar für beliebige Zwecke, sogar kommerziell.

Der Lizenzgeber kann diese Freiheiten nicht widerrufen solange Sie sich an die Lizenzbedingungen halten. Unter folgenden Bedingungen:

Namensnennung — Sie müssen angemessene Urheber- und Rechteangaben machen, einen Link zur Lizenz beifügen und angeben, ob Änderungen vorgenommen wurden. Diese Angaben dürfen in jeder angemessenen Art und Weise gemacht werden, allerdings nicht so, dass der Eindruck entsteht, der Lizenzgeber unterstütze gerade Sie oder Ihre Nutzung besonders.

Keine weiteren Einschränkungen — Sie dürfen keine zusätzlichen Klauseln oder technische Verfahren einsetzen, die anderen rechtlich irgendetwas untersagen, was die Lizenz erlaubt.

Hinweise:

Sie müssen sich nicht an diese Lizenz halten hinsichtlich solcher Teile des Materials, die gemeinfrei sind, oder soweit Ihre Nutzungshandlungen durch Ausnahmen und Schranken des Urheberrechts gedeckt sind.

Es werden keine Garantien gegeben und auch keine Gewähr geleistet. Die Lizenz verschafft Ihnen möglicherweise nicht alle Erlaubnisse, die Sie für die jeweilige Nutzung brauchen. Es können beispielsweise andere Rechte wie Persönlichkeits- undDatenschutzrechte zu beachten sein, die Ihre Nutzung des Materials entsprechend beschränken.

Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1192. Wien, Dienstag den 24. December 1867 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 24.12.1867
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Daten, Orte, Werke, Personen ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Musikalische Novitäten. (PohlʼsHaydn in London“; JahnʼsMozart“; NottebohmʼsBeethoven-Katalog“; Biographie und Neue Briefe Beethovenʼs“, von L. Nohl; „Geschichte der Musik“, von A. v. Dommer; Editionen von Bach, Mozart und Beethoven.)

Ed. H. Das musikalische Deutschland, derzeit spärlich be dacht mit productiven Componisten von Bedeutung, zeigt sich desto thätiger auf dem Gebiete musikalischer Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung. Namentlich im Fache der Biographie sind, angeregt durch Jahnʼs mustergiltigen „Mozart“, eine Reihe größerer und kleinerer Arbeiten erschienen, welche als wesentliche Bereicherungen der Musikgeschichte anzusehen sind. Dazu gehört die Monographie „Mozart und Haydn in London“, von C. F. Pohl, dem verdienstvollen Archivar un serer „Gesellschaft der Musikfreunde“. Was wir vor mehreren Monaten in diesem Blatte zum Lobe des ersten Theiles (Mozart in London) angeführt, gilt in noch höherem Maße von der eben erschienenen zweiten >Abtheilung, welche Haydnʼs zweimaligen Aufenthalt in der Weltstadt schildert. Die Auf gabe war hier viel lohnender. Im ersten Theile ist es weniger der Held, der uns geschildert wird, als der Boden, auf dem er sich bewegt. Mozart war nur kurze Zeit und im zartesten Alter in London; das siebenjährige Wunderkind trat zwar in höchst interessante Musikverhältnisse ein, konnte aber natürlich auf dieselben nicht selbst Einfluß nehmen, ja nicht einmal eine bleibende bedeutende Einwirkung davon erfahren. Haydn hingegen kam nach London als ein „gemachter Mann“, als gefeierter und erfahrener Meister; sein Aufenthalt betrug (beide Besuche zusammengerechnet) an vier Jahre. Die bio graphische Ausbeute mußte daher viel reichlicher als bei Mozart ausfallen. Zunächst kam dem Verfasser der von Karajan veröffentlichte BriefwechselHaydnʼs mit Frau v. Gentzinger in Wien sehr zu statten, außerdem aber noch Haydnʼs hand schriftliches Tagebuch aus dem ersten Londoner Aufenthalt. An der Hand des Verfassers begleiten wir nun den Wiener Meister Tag für Tag, Schritt für Schritt in den Straßen und den Umgebungen der Weltstadt. Wir gehen mit ihm zu Hofe und ins Concert, besuchen mit ihm die Notabilitäten der englischen

Musikwelt und deutsche Freunde wie Gryowetz und Pleyel. Ueberall sehen wir Haydn durch seine liebenswürdige Be scheidenheit und Einfachheit alle Gemüther gewinnen, die In triguen der Gegner entwaffnen, ja sogar das Herz einer be jahrten Witwe, Mrs. Schröter, zu schüchterner Liebe für den sechzigjährigen Mann entflammen. Er hatte seine Anbeter unter dem höchsten Adel wie unter den Gewerbsleuten. Ist es nicht von rührender Gemüthlichkeit, wenn der reiche Strumpf wirker GardinerHaydn, neun Jahre nach dessen Auf enthalt in England, ein Dankschreiben sammt einem Geschenk von sechs Paar wollenen Strümpfen sendet, in welche sechs Themas aus Haydnʼschen Compositionen ein gewirkt sind, darunter das Volkslied „Gott erhalte etc.“? Haydn hat auf das Musikleben in England einen bleibenden Einfluß geübt. Umgekehrt hat aber auch er von den großartigen Verhältnissen Londons, von der Hochfluth des englischen Lebens und Verkehrs einen merkwürdigen, folgenreichen Eindruck empfangen. Haydn stand zwar schon vor seiner englischen Reise hoch in der allgemeinen Anerkennung, aber die politischen und geselligen Verhältnisse, in denen der fürstlich Eszterhazyʼsche Capellmeister sich bisher bewegt hatte, waren eng und unfrei. London hob seine Kraft, sein Selbstbewußtsein; er erklomm jetzt erst den höchsten Gipfel seiner Leistungsfähigkeit, schrieb seine glänzendsten Symphonien und seine beiden Meisterwerke Schöpfung“ und „Jahreszeiten“. Bei der epochemachenden Wichtigkeit dieses Londoner Aufenthaltes für Haydnʼs Leben erscheint die Ausführlichkeit und Genauigkeit der Pohlʼschen Mittheilungen sehr dankenswerth. Mit unermüdlichem Fleiß hat Pohl in London alle Geschichtsbücher, Memoiren, Zeitun gen und Programme durchforscht, welche irgend einen Aufschluß bieten konnten. Allerdings hat es dem Verfasser unverkennbare Mühe gekostet, dies massenhafte Material, diese Fülle von Thatsachen und Berichtigungen übersichtlich zu gruppiren. Es war ihm auch gar nicht darum zu thun, ein Unter haltungsbuch zu schreiben, sondern den objectiven Thatbestand in einer gewissen Periode durch quellenmäßige Forschung fest zustellen. Dies ist so vollständig gelungen, daß sämmtliche musikalische Fachblätter in dem Lobe des Pohlʼschen Werkes geradezu einhellig sind. Pohlʼs Forschungen haben hie und da

schon Früchte getragen. „Wir sind über den Aufenthalt Mo zartʼs in London nicht genauer unterrichtet,“ hieß es in der ersten Auflage von JahnʼsMozart“; die zweite Auflage be nützt bereits Pohlʼs Erzählung. Auf diese „zweite, durch aus umgearbeitete Auflage“ des Jahnʼschen Buches — sie erschien soeben bei Breitkopf und Härtel in Leipzigmöchten wir unsere Leser recht dringend aufmerksam machen. Ueber die Vortrefflichkeit der Jahnʼschen Mozart-Biographie brauchen wir kein Wort mehr zu verlieren, Jedermann kennt ihren Werth wie ihren tiefgreifenden Erfolg. Aber welche Ar beit der Verfasser daran gesetzt hat und mit welch glücklichem Gelingen, sein Werk noch vollkommener und nützlicher zu ma chen, das muß hervorgehoben werden. Zuerst war es der große Umfang dieser vier Bände starken Biographie, welche nach träglich des Verfassers Bedenken erregte, sodann die Masse des in den Anmerkungen vorgeführten gelehrten Materials. Jahn entschloß sich zu der für einen Autor gewiß heroischen That, das Buch in der zweiten Auflage auf zwei Bände zu redu ciren. Er nahm Kürzungen vor, wo es nur möglich war (insbesondere in der Analyse der Jugendwerke Mozartʼs), und warf den größten Theil der gelehrten Anmerkungen über Bord. Während in der ersten Auflage thatsächlich der Text auf den Noten schwamm, findet der Leser gegenwärtig unter einem gleichartig fortlaufenden Texte nur kurze literarische Nachwei sungen für den, der controliren oder weiter forschen will. Der Musikhistoriker erblickte allerdings in jenen Anmerkungen einen wahren Schatz, und wir bekennen, daß die erste Auf lage ihren alten hohen Werth für uns behält. Die alte Auf lage ist nicht überflüssig, aber die neue ist unentbehrlich ge worden. Wie sehr hat Jahn sein Material bereichert, seine Studien vertieft! Die gesammte Correspondenz zwischen Mo zart und seinem Vater lag diesmal vor, sämmtliche Compo sitionen Mozartʼs standen zum erstenmale vollständig zu Ge bote. Das inzwischen von Köchel herausgegebene „Thematische Verzeichniß“ leistete wesentliche Dienste und erlaubte das Weg lassen vieler jetzt unnöthig gewordenen Aufzählungen und Unter suchungen. Auch über Mozartʼs persönliche Verhältnisse erfah ren wir manches Neue, z. B. über seine Beziehungen zu Sa lieri, zu Hummel etc. So hat denn Jahn zugleich den

Stoff seines Buches bereichert und die Darstellung gekürzt; eine Operation, die schwieriger ist, als die Mehrzahl der Leser ahnen dürfte. Wie viel leichter und angenehmer sich jedoch die zweite Auflage des „Mozart“ liest, darüber wird das ganze Publicum einig sein, und so hat denn diese Neugestalt des trefflichen Werkes eine noch größere Verbreitung und Einwirkung zu erwarten als bisher.

Neben Haydn und Mozart ist in diesem Jahre auch Beethoven nicht leer ausgegangen. Dr. L. Nohl hat den zweiten Band der „Biographie“ und eine neue Sammlung von Briefen Beethovenʼs herausgegeben. Ferdinand Hiller In seiner höchst anziehenden Sammlung von Aufsätzen „Aus dem Tonleben unserer Zeit“, auf die wir ein andermal zurückkommen. nennt die erste, vor zwei Jahren erschienene Briefsammlung Beethovenʼs mit Recht „eine wahre Blumenlese von Misèren, welche man mit einem moralischen Katzenjammer aus der Hand legen müßte, wenn Einem beim Lesen nicht die unsterblichen Symphonien und Sonaten des Meisters durch den Kopf zö gen“. Was würde er erst von den bei Cotta erschienenen Neuen Briefen Beethovenʼs“ sagen? Der günstige Erfolg jener ersten Sammlung, die neben Unbedeutendem jedenfalls auch Erhebliches und Interessantes brachte, hat Herrn Nohl angespornt, das abgemähte Feld rasch noch einmal abzugehen und „zwischen den Garben“ zu suchen. Er suchte und fand in der That — eine Masse Spreu und Unkraut. Nehmen wir die (ursprünglich von Köchel publicirten, jetzt von Nohl ein verleibten) Briefe an den Erzherzog Rudolph aus, und etwa ein Halbdutzend anderer interessanterer Schreiben, so empfan gen wir in diesen „322 Neuen Briefen“ nur Eindrücke des Un bedeutenden, wo nicht Abstoßenden. Was sollen uns all die klei nen Zettel von zwei bis drei Zeilen, welche nichts enthalten als: „Kommen Sie morgen Nachmittags zu mir“, oder: „Schicken Sie mir die Quartette zurück“, oder: „Ich bin un päßlich und kann nicht kommen“? Was sollen uns ferner die zahllosen Hauswirthschaftsbriefe (sie bilden den größten Theil der Sammlung), welche von nichts Anderem handeln, als von Dienstbotenwechsel, Wohnungs-Calami

täten, von kleinen Geld- und Geschäftsaufträgen, von Hem den, Speisen und Arzneien? Wird uns Beethoven als Künstler größer, als Mensch liebenswerther erscheinen, wenn wir all die zornigen Schimpfwörter über seine Schwägerin, seinen Bruder, seine Dienstboten und über einzelne ihm näherstehende Bekannte lesen, deren Diensteifer er doch fortwährend in An spruch nimmt? Müssen wir es wörtlich durchmachen, das Verhandeln mit der Köchin, das Mäkeln mit den Verlegern, das Andediciren großer Herren? Auch der Respect vor Beet hovenʼs demokratischem Stolz wird durch diese neue Brief sammlung ebensowenig erhöht, wie durch die erste, welche, nach F. Hillerʼs Bemerkung, vollauf beweist, „daß Beethoven sich den Großen der Erde gegenüber ebenso benahm, wie andere Erdenkinder, die etwas von ihnen wollen“. Briefe, die an und für sich nicht den geringsten substantiellen Gehalt haben, soll man doch wol nur veröffentlichen, wenn das Bild des Schreibenden uns dadurch klarer, bedeutender, schöner wird. Ist es Pietät oder deren Gegentheil, wenn man Genies wie Beethoven, zum Dank für all das Große, was sie uns gespendet, in ihren kleinlichsten Bedrängnissen und Bekennt nissen für die Nachwelt bloßlegt? Die Verwerthung jedes Papier schnitzels verzeihen wir dem Autographensammler, nicht dem Schriftsteller. Das ist die pure Industrie im Gewand der Pietät, die uns obendrein weißmachen will, daß solche kopf- und herzlose Publicationen nothwendig seien, „um die wahre Idealität, die wahre sittliche Größe“ des Helden zu verstehen.

Ganz anderen Geist athmet eine neue Beethoven-Publi cation, die wir unserem bewährten Geschichtsforscher G. Notte bohm verdanken: die zweite Ausgabe des „Thematischen Katalogs“ von Beethovenʼs Compositionen. Sie unterscheidet sich von dem im Jahre 1851 (gleichfalls bei Breitkopf und Härtel) erschienenen Verzeichnisse hauptsächlich durch die beige fügten Anmerkungen, welche in gedrängtester Kürze die Zeit der Composition, der Veröffentlichung und ersten Aufführung der Werke angeben und die vorhandenen Manuscripte, Original- Ausgaben und Bearbeitungen namhaft machen. Ein chrono logisches Register und ein Verzeichniß aller Dedicationen Beethovenʼscher Werke ist beigefügt. In diesen Anmerkungen

steckt ein Maß von Mühe und Studium, von dem der Laie sich kaum eine Vorstellung macht. Die Persönlichkeit des Ar beiters bleibt natürlich hinter der Arbeit selbst gänzlich ver steckt; wer aber letztere auf ihre Vollständigkeit und Gewissen haftigkeit prüft, der erkennt unschwer die ganze Tüchtigkeit der ersteren.

Der rechte Mann, eine Beethoven-Biographie zu schrei ben, ein Seitenstück zu JahnʼsMozart“, ist ohne Zweifel kein Anderer, als wieder Jahn. Seit Jahren arbeitet er wirklich an dieser Aufgabe, und die musikalische Welt sieht der hoffentlich bald gereiften Frucht mit Begierde entgegen. Dr. Nohl ist zwar Jahnʼs „Beethoven“ zuvorgekommen, aber er scheint diesen nicht nur nicht überflüssig, sondern erst recht nothwendig zu machen. Die ersten Schriften, mit denen Nohl in die Musik-Literatur eintrat, zeigten gerade hinrei chendes Talent und Streben, hatten gerade genug von des Ver fassers persönlicher Liebenswürdigkeit an sich, um ein nachsich tig aufmunterndes Verhalten der Kritik zu rechtfertigen. Seit einiger Zeit hat aber Nohlʼs athemlose Schreiberei Dimen sionen und Tendenzen angenommen, die selbst einer milden Kritik die Pflicht ausdrücklichen Protestirens auflegen. Wie schon in seinem „Skizzenbuch“, so scheint Nohl auch in seinem Beethoven“ den großen Meister hauptsächlich zur verschämten (oder auch unverschämten) Glorification Richard Wagnerʼs zu benützen. In dem kürzlich erschienenen zweiten Bande der Beethoven-Biographie weist Nohl dem „Fidelio“ („der nur an einzelnen hervorragenden, besonders drastischen Stellen über Cherubini und dessen Nachfolger weit hinauskam“) einen sehr bescheidenen Platz an, rühmt ihm aber das Verdienst einer Anregung nach, „welche erst heute in Richard Wagnerʼs Schöpfungen, zumal in „Tristan und Isolde“, eine Vollen dung fand, von welcher sich weder Cherubini noch selbst Beethoven in ihren dramatischen Werken etwas träumen ließen, sondern gegen die sich Beide nur wie allerdings mächtige Pro pheten des alten Bundes verhalten“. Dies zur Charakteristik von Nohlʼs ästhetischem Urtheil. Von seinem Beruf zum Hi storiker geben wir statt jedes eigenen Urtheils nur ein kleines allerliebstes Factum. In seinem erstenBande fand Nohl „mit

Bestimmtheit anzunehmen“, daß der 22jährige Beethoven auf seiner Reise nach Wien (1792) in Mainz abstieg und ver weilte. War Beethoven damals in Mainz, folgert Nohl wei ter, so hat er ohne Zweifel von den französischen Soldaten daselbst die Marseillaise singen hören. Und nun wird mit lyrischem Schwung ausgemalt, welchen übermächtigen, bleiben den Eindruck dieser Gesang auf den jungen Beethoven gemacht habe. Man müsse, phantasirt Nohl weiter, aus der „Eroicaund anderen Werken des Meisters die Einwirkung dieses Päans der Revolution“ heraushören, den zu vernehmen er später nie wieder Gelegenheit bekam. Nun finden wir in Nohlʼs zweitemBand, auf Seite 458, schüchtern unter den Anmerkungen versteckt die Mittheilung, daß Beethoven damals eine ganz andere Reiseroute nach Wien genommen und Mainz gar nicht gesehen habe! Also keine singenden Franzosen, keine Marseillaise, kein tiefer Eindruck, keine „Eroica“ — das ganze kindisch aufgethürmte Kartenhaus fällt über den Haufen.

Ein tüchtiges Handbuch der Musikgeschichte gehört unstrei tig zu den Bedürfnissen des musikliebenden Publicums, das sich entweder mit schwerverständlichen gelehrten Werken plagen oder mit oberflächlichen, phrasenreichen Surrogaten behelfen muss. Mitunter wäre eine verläßliche Musikgeschichte auch manchen Schriftstellern nützlich, deren Leichtfertigkeit gerade bei musikalischen Themen am stärksten explodiert. So fiel uns jüngst eine Nummer der beliebten „Gartenlaube“ in die Hand, worin (Seite 776) eine längere biographische Skizze Wenzel Müllerʼs in novellistsichem Gewande unter dem Titel „Das Donauweibchen in Prag“ erscheint. Wenzel Müller, die Sängerin Grünbaum, C. M. Weber, kurz alle Musik-Notabilitäten des damaligen Prag sind die handelnden Perso nen. Die ganze Erzählung gruppirt sich darum, dass W. Müller „sein“ Donauweibchen in Prag aufführen sieht, von diesem „seinen“ Lieb lings-Melodien sehr gerührt wird (es werden eine Menge Stellen dar aus citirt) u.s.w. Alles Mögliche weiß der Verfasser der Skizze, mit Ausnahme der einen Kleinigkeit, dass das berühmte „Donauweibchengar nicht von Wenzel Müller, sondern von Ferdinand Kauer ist. Historische Gründlichkeit mit populärer Darstellung (soweit diese in der Musik überhaupt möglich) zu vereinigen,

ist die Aufgabe, die Arrey v. Dommer in seinem „Hand buch der Musikgeschichte“ (Leipzig1868) sich gestellt hat. Von allen uns bekannten Bearbeitungen ist die Dommerʼsche die sem Ziele am nächsten gekommen. Der Verfasser genießt als gewissenhafter und kenntnißreicher Schriftsteller eines begrün deten Rufes; sein Buch trägt überall den Stempel tüchtiger Forschung und reifen, unbefangenen Urtheils. Er läßt sich nur auf Dinge ein, die wirklich untersucht sind, und unterscheidet strenge, ob das, was er eben vorträgt, gewiß, ob es nur wahrscheinlich, oder ob es blos möglich ist. Dommerʼs Darstellung ist schlicht und sachgemäß, vielleicht mitunter etwas trocken, aber frei von Phrasen und Parteitendenz. Die ältere Geschichte ist in 16 Capiteln mit möglichster Ausführlichkeit behandelt, die neuere, von Bach und Händel bis zu Beethovenʼs Tod, in drei Capiteln und gedrängter. Auf Einzelheiten einzugehen ist hier nicht der Ort, auch konnten wir das eben erst erschienene Buch bisher nur flüchtig durchgehen. Da fiel uns aber gleich anfangs die vorurtheilsfreie, alle philologischen Träumereien abweisende Beurtheilung des griechischen Musik wesens angenehm auf, desgleichen die klare Darstellung der ersten contrapunktischen Versuche (wobei mit Recht Oskar Paulʼs neue Auslegung des Hucbaldʼschen Organons verwor fen wird), die Charakteristik Palestrinaʼs, die volle Würdi gung des genialen Alessandro Scarlatti etc. Die späteren italienischen Opern-Componisten hätten wir gern ausführlicher und schärfer charakterisirt gesehen. Mit den Opern-Partituren der älteren Italiener und Franzosen scheint der Verfasser sich selbst weniger beschäftigt zu haben, er wie derholt fast nur die Urteile Anderer. Dadurch kommt z. B. Per golese entschieden zu kurz, dessen „Serva Padrona“ geradezu die Mutter der gesammten späteren Opera buffa ist. Bei Stradella vermuthet der Verfasser richtig, dass die ihm zugeschriebene Kirchen-Arie Se i miei sospiri „einer etwas späteren Zeit angehören dürfte“. In der That liegt hier eine absichtliche Fälschung vor, deren Fabri cationsort Paris ist und die hoffentlich bald ihre vollständige Beleuch tung finden wird. Der zweiten, wiederholt aufgelegten „Kirchen-Arie Stradellaʼs“ (dem Wiener Publicum durch Concertvorträge Auberʼs und Dr. Schmidʼs bekannt) erwähnt Dommer nicht. Sie ist ebenso wenig von Stradella und beruht auf einer Mystification, die ich jüngst zufällig entdeckte. Ich fand nämlich diese angebliche Kirchen-Arie in Gluckʼs wenig bekannter Oper „Paris und Helena“ in der selben Tonart (G-moll), mit demselben Texte: „O del mio dolce ardor“, Note für Note wieder. Paris singt sie zu Anfang des ersten Actes. Den musikalischen

Werth und Segen des protestantischen Chorals scheint uns Dommer, gleich den meisten protestantischen Schriftstellern, zu hoch zu schätzen. Hingegen bemerkten wir mit Vergnügen, wie Dommer, der Freund und Mitarbeiter des Händel-Biographen Chrysander, keineswegs Händel auf Kosten Bachʼs erhebt, sondern über beide Meister mit gleicher Liebe und Unbefangen heit urtheilt. Sei denn das Buch nochmals aufs wärmste empfohlen. Ueber Einzelheiten der Darstellung und des Ur theils wird man streiten können, über die Tüchtigkeit des Ganzen gewiß nicht.

Gestatte uns der Leser zum Schlusse noch einen kurzen Abstecher von den Büchern über Musik zur Musik selbst. Zwei neue Ausgaben classischer Tonwerke sind es, die in neuester Zeit sich großen Erfolg errangen und verdienen. Wer nach einer correcten, vollständigen und sehr billigen Ausgabe der Clavier-, Violin- oder Orgel-Compositionen Seb. Bachʼs fahndet, wird deren neue Publication durch C. F. Peters in Leipzig mit Freuden begrüßen. Die Freunde vierhändigen Cla vierspiels hingegen können die Clavier- und Violin-Concerte von Mozart und Beethoven kaum besser arrangirt und eleganter ausgestattet finden, als in der neuen Ausgabe von Leuckart in Breslau. Unser Fingerzeig dürfte a tempo kommen, denn eben jetzt, wo Joachim und Rubinstein mit Concerten von Mozart und Beethoven, mit Bachʼschen Suiten und Sonaten hier ihre größten Triumphe feierten, wird der Sinn vieler Concertbesucher sich nach dem Besitz dieser Tondichtungen und ihr Schritt nach den Musikhandlun gen wenden. Groß ist die Macht des Beispiels — wenn es von Virtuosen kommt.