Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1260. Wien, Dienstag den 3. März 1868 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1260. Wien, Dienstag den 3. März 1868 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 03.03.1868
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Concert, Oper und Singspiel.

Ed. H. Die „Philharmonische Gesellschaftführte uns in ihrem letzten diesjährigen Concerte zwei Gäste guten Namens vor: die Pianistin Fräulein Mehlig aus Stuttgart und die hannover’sche Kammersängerin Fräulein Ubrich. Fräulein Anna Mehlig spielte Chopin’s F-moll- Concert (op. 21) mit so günstigem Erfolg, daß sie dreimal stürmisch gerufen wurde. In der That besitzt die junge Dame eine äußerst elegante, fein und sicher ausgebildete Technik, die namentlich in behenden Passagen, Trillern und Verzierungen an Sauberkeit nichts zu wünschen läßt. Ihr Anschlag ist zart und singend, wenn er auch selten den ganzen, vollen Ton aus dem Instrumente zieht oder durch stürmische Kraft imponirt. Wer das Chopin’sche Concert genauer kennt, wird Fräulein Mehlig’s Leistung nur um so höher schätzen, denn die Com position bürdet dem Spieler eine Masse von Schwierigkeiten auf, welche der Hörer mitunter kaum bemerkt, geschweige denn auszeichnet. Nicht so rühmenswerth wie die brillante technische Durchführung schien uns die geistige Auffassung und Inter pretation des Stückes. Ein Concert, sei’s auch ein Chopinsches, will anders gespielt sein, als ein Notturno. Schon die Größe der Form und der Kunstmittel verlangt einen größe ren, objectiveren Styl des Vortrages. Anstatt den losen Zu sammenhang dieses lyrischen Monologes straffer zusammenzu ziehen, lockerte ihn Fräulein Mehlig durch alles erdenkliche sentimentale und geputzte Detail. Es ging durch den ganzen Vortrag ein Dehnen und Schmachten, welches die spärlichen und der Nachhilfe bedürftigen kräftigen Stellen der Composi tion noch abschwächte. Das erste Allegro (vom Orchester in richtigem Tempo introducirt) nahm Fräulein Mehlig sofort zögernd und zerflossen auf; desgleichen ließ sie die energischen Anhaltspunkte, welche das Finale durch mazurka-artige Rhythmen bietet, völlig unbenützt. Fräulein Mehlig darf sich rühmen, daß sehr wenig Frauen ihr das Chopin’sche Concert nachspie

len werden, aber ein Mann würde es anders spielen. Die Composition selbst, anregend durch zahlreiche feine Details, zündete an keiner Stelle. Interessant ist sie uns schon durch die Persönlichkeit des Autors, die freilich im ungleichen Kampfe mit großen, symphonischen Formen ihre beste Eigen thümlichkeit einbüßt. Chopin ist eine Aeolsharfe, welche, von einem Lüftchen berührt, die wunderbarsten Klänge aushaucht, aber niemals hat ein beständiger Wind sie angeweht. Diese zauberisch verklingenden Accorde, sie fügen sich zu keinem stolzen Bau; aus all den duftigen Nocturnen und Mazurkas erwächst keine Symphonie, keine Sonate. Das E-dur-Concert und die B-moll-Sonate, an Gehalt und formeller Geschlossen heit entschieden über dem F-moll-Concerte stehend, verrathen dennoch schon deutlich die Schwäche des im Kleinen so mächtigen, im Großen aber hilflosen Troubadours. Interessant ist uns das F-moll-Concert ferner, indem es ganz vorzugsweise den starken Einfluß Chopin’s auf Schumann verräth. Wie Chopin selbst, sein Ahnherr Field und seine Nachkommen Henselt, Stephen Heller und Kirch ner, so schien auch Schumann anfangs sein originelles Ta lent in kleinen Formen ausgeben zu wollen. Aber er blieb nicht wie Jene in dem engen Zauberkreise gebannt; ein kräf tiger Durchbruch, und Schumann war mit seinen Symphonien, seinen Quartetten aus der Reihe der großen Talente in jene der großen Meister aufgestiegen. Auf alle Fälle müssen wir Fräulein Mehlig für die Wahl des äußerst selten gehörten Chopin’schen Concertes dankbar sein. Wir hätten auch die bei den oft wiederholten Beethoven’schen Werke („Eroica“ und Fest-Ouvertüre“) nicht ungern durch minder bekannte Ton dichtungen ersetzt gesehen. Nachdem in den Gesellschafts-Concer ten und den Hellmesberger’schen Quartetten Novitäten von Jahr zu Jahr seltener auftauchen, wäre es umsomehr an den „Philharmonikern“, diesem Mangel abzuhelfen. Dürfen wir heute als Fürsprecher für unseren oft ausgesprochenen und oft als „unclassisch“ verketzerten Wunsch einen der strengsten Hü ter der musikalischen Classicität vorführen? Es ist der treff liche Moriz Hauptmann in Leipzig, der kurz vor seinem

Tode Nachstehendes über die Gewandhaus-Concerte schrieb: Eroica, Meeresstille und glückliche Fahrt, Es-dur-Concert von Beethoven — Alles vortreffliche Sachen, gut ausgeführt — aber gar zu eingewöhnt, man weiß jede Note, jedes Nöt chen, jeden Effect voraus. Ich möchte manchmal zuerst etwas Anderes, etwas noch nicht Gekanntes, sei es Vergangenheit oder Gegenwart, nicht um dem Gekannten und Geliebten den Rücken zu wenden, nur um es in einer Umgebung zu sehen. Auch nicht immer höchste Spitzen, ohne Thäler und Hügel. Auch für’s Publicum wär’s gut, daß es nicht immer nur Bekanntes hier hörte; die Leute verstecken sich in einer dumpfen Bewunderung ohne alles Urtheil, etwas Anderes wird ihnen unbequem, weil sie nicht wissen, was sie dazu sagen sollen. Wir brauchen nicht jeden Winter alle Neune von Beethoven zu hören, es ist in Wahrheit zu viel des Guten. Wo nur Bestes gegeben wird, gibt’s kein Bestes mehr; es darf nicht alle Tage Sonntag sein.“ — Das letzte „Philharmonische Con cert“ wurde übrigens so lebhaft ausgezeichnet, wie seine sieben Vorgänger, und hat die warmen, festgegründeten Sympathien des Publicums für Herrn Dessoff und sein treffliches Or chester neuerdings in zweifelloses Licht gestellt. — Minder glücklich als ihre Collegin am Clavier war das zweite Mäd chen aus der Fremde, Fräulein Ubrich, mit dem nicht un romantischen Vornamen Asminde. Fräulein Ubrich hat eine weiche, namentlich in der Mittellage klangvolle Stimme, die sich aber monoton, phlegmatisch, auch um einiges Distoniren unbekümmert, fortbewegt. Von Coloratur — nach ihrem Rol lenfache zu schließen, Fräulein Ubrich’s Hauptstärke — bekamen wir blos einen hübschen, gleichen Triller zu hören. Als Lieder sängerin verrieth Fräulein Ubrich einen auffallenden Mangel an Wärme und poetischer Individualisirung. Welch bequeme Wohlbeleibtheit des Vortrages, die sich mitten im Liede auf irgend eine Note niedersetzt, um da beliebig auszuruhen! In allen Vorträgen Fräulein Ubrich’s herrschte Kälte, ja schlim mer als dies: Schläftigkeit. Und Schubert, Mendelssohn, Schumann — das sind doch, sollte man glauben, musikalische Wecker von ziemlicher Kraft. Eine Arie des gekrönten Schä

fers Aminta aus Mozart’s Festoper: „Il re pastoreeignete sich jedenfalls viel besser für die friedliche Politik der hannover’schen Sängerin. Der neunzehnjährige Mozart compo nirte dieses Festspiel bekanntlich für ein Hoffest in Salzburg (1775), also zu einer Zeit und unter Verhältnissen, welche das Geleistete relativ bedeutend erscheinen lassen. An und für sich kann uns aber diese Mischung von physiognomieloser Idea lität und veraltetem Schmuckwerk unmöglich erwärmen, weder in der Partitur noch in dem Vortrage Fräulein Ubrich’s. Von A. W. Schlegel haben wir längst den Begriff der „gefrorenen Musik“, nun kennen wir aus eigener Wahrneh mung auch den gesungenen Schnee.

Das Becker’sche oder „Florentiner“ Quartett hat indessen seine Soiréen unter stets zunehmendem Andrange und Enthu siasmus fortgesetzt. Wir konnten leider der letzten Production nicht beiwohnen, in welcher Beethoven’sCis-moll-Quartett (op. 131), Schumann’sClavier-Quintett (mit Fräulein Mehlig) und Schubert’s Quartett in G-dur (op. 161) zur Aufführung kamen. Das letztere, hier selten gegebene Werk hatten wir zum Glück Tags zuvor in dem Hause Professor Billroth’s von den Florentinern vortragen gehört. Niemals haben wir die phantastische Großartigkeit und Fülle dieser Tondichtung auch nur annäherungsweise so lebhaft empfunden, wie in dieser Aufführung. In den prachtvollen Tremolo-Effec ten aller vier Instrumente im ersten Satze wuchs das Quar tett zu der Gewalt eines Orchesters, in dem tosenden Finale stürzte es zur Tiefe wie ein Bergstrom. Leider soll bei der Aufführung selbst die große Hitze ein Nachlassen der Saiten und dadurch eine Störung der Tonreinheit hervorgebracht haben. Für die wenigen noch bevorstehenden Quartett-Productionen dürfte es wol dem Wunsche der Hörer entsprechen, wenn die Künstler (wir müssen mit ihnen geizen) keine Claviernummern einschöben, es wäre denn, sie fänden dafür ganz ebenbürtige Virtuosen auf dem Piano.

Im Hofoperntheater verabschiedete sich der Tenorist Herr Hacker in seiner zweiten und letzten Gastrolle als George Brown. Wir können an diesem Gastspiele (wie an

jenem der Tänzerin Schuller) nur dessen Kürze loben; bei längerer Dauer wäre das Publicum und die arme Kritik ohne Zweifel schwermüthig geworden. Nachdem aber auch dem Teno risten und der Tänzerin kein besonderes Vergnügen daraus er blühte, so wollen wir diese Angelegenheit und die Luft im Hof operntheater als „bereinigt“ ansehen. Ungleich mehr Anlaß hatte die Direction, die preußische Hofopernsängerin Frau Blume zu einem kurzen Gastspiel zu laden. Diese Sängerin besitzt in Berlin die ersten dramatischen Rollen und die Sympathien des Publicums; man kann ihr Lob in den Aufsätzen der nam haftesten Berliner Kritiker lesen. In der That verdankt Frau Blume der Natur schöne Vorzüge: ein gefälliges Aeußere, eine volle und starke Stimme, die nur bei größeren Anstren gungen (wie die Kerkerscene des Fidelio) sich in der Höhe nicht ganz willig zeigt. Frau Blume trägt mit Empfingung vor, spielt gut und spricht mit wohlthuender Deutlichkeit ein wirkliches Deutsch. Das Publicum erkannte beifällig die Vorzüge und das auf richtige, künstlerische Bestreben der Sängerin, ohne sich für eine ihrer Rollen zu begeistern. Selbst wenn Frau Blume ihr Bestes gab, sie erreichte ihr Ziel immer nur beinahe. Die Haupt schuld trägt ihre mangelhafte Gesangstechnik, welcher schon die vollkommene Verbindung von 5 bis 6 Tönen schwerfällt und selbst eine mäßige Coloratur die größten Hindernisse berei tet. Wenn wir sagen, daß für Aufgaben wie Donna Anna und Fidelio ihr Athem zu kurz ist, so wolle man das im buchstäblichen Sinne nehmen. Frau Blume schöpft fast nach jedem Tacte Athem und zerreißt dadurch Tonglieder und Ton ketten, die nothwendig zusammengehören. Um im Verlaufe großer Rollen für solche Gesangsmängel zu entschädigen, müßte die geistige und poetische Begabung der Sängerin nicht blos eine eben ausreichende, sondern eine geniale und eigenthümliche sein. Dies trifft aber bei Frau Blume nicht zu, deren blon des, weiches, freundliches Naturell im Gegentheile einiger An strengung bedarf, um das Heroische und Tragische zu errei chen. Pamina in der „Zauberflöte“, an sich keine dankbare Rolle, war diejenige, mit welcher unser Berliner Gast den einstimmigsten Beifall errang. Frau Blume läßt eine ach

tungsvolle Erinnerung hier zurück, aber keinen tieferen Ein druck. Nebenbei gesagt, entsinnen wir uns keiner hier gasti renden oder engagirten Sängerin, welcher es geglückt wäre, den Fidelio und die Donna Anna unserer Dustmann zu verdunkeln. Das Fremde hat mitunter am meisten ge nützt, indem es uns gegen den Werth des Einheimischen ge rechter macht.

In den lustigen Theatern an der Wien und an der Donau wird seit einiger Zeit das Operetten-Geschäft wieder erfolgreich betrieben. Das Carltheater brachte eine einactige Operette von Offenbach: „Urlaub nach Zapfenstreich“ („La permission de dix heures“), welche mehr durch Schuld der Darstellung als der Novität selbst nach wenigen Reprisen verschwand. Dem Stücke liegt eine recht artige Idee zu Grunde, die Musik — nicht hervorragend, aber weder lär mend noch gemein — bringt zwei bis drei recht graziöse Num mern. Vorzüglich besetzt, wie es ehedem die älteren Offen bach’schen Singspiele im Carltheater waren, müßte unseres Erachtens auch der „Urlaub nach Zapfenstreich“ viel lebhaf teren Anklang gefunden haben. Von den Mitwirkenden ge nügte nur die stimmbegabte Frau Friedrich-Materna ihrer Aufgabe, die übrigens ihrem Naturell nicht einmal recht zusagt. Die zweite Primadonna, Fräulein Canissa, entfal tete keinerlei Vorzüge, welche für ihr Falschsingen irgendwie entschädigen könnten — eine räthselhafte Acquisition. Herr Matras, so ergötzlich als Localkomiker, kann nur mit großer Gefahr in ein anderes Gebiet, namentlich das der französischen Operette, übertragen werden. Ebensowenig paßt Herr Eppich für den galanten Gardisten Pompon; der überlaute, gellende Ton seiner Stimme streift unbarmherzig den Schmelz von jedem zärtlichen oder feineren Gesangsstücke. Daß wir die Sicherheit und gute Laune Herrn Eppich’s in Rollen anderer Art zu schätzen wissen, bedarf keiner Versicherung. Das Un genügende einer solchen Aufführung wirkt desto auffallender, wenn wahrhafte Mustervorstellungen, wie „Die rasche Handund dergleichen, am selben Abende vorangehen. Die Herstellung einer guten Operetten-Gesellschaft bietet große Schwierigkeiten.

Wir zweifeln nicht, daß Herr Ascher ihrer Herr wird; bis da hin dürfte es wohlgethan sein, das Singspiel (mit Ausnahme der eigentlichen Localposse) möglichst im Hintergrunde zu lassen. Ein Gegenstück zu der hübschen, durch die Aufführung benachtheiligten Offenbach’schen Operette im Carltheater lieferte das Theater an der Wien mit dem Pfeil im Auge“, einem erbärmlichen Machwerk, an welches man die besten darstellenden Kräfte nutzlos verschwendet hat. Diese musikalische Burleske, welche in Paris das Publicum eines der untersten Boulevard-Theater (Folies dramatiques) amüsirt, wurde aus dem Französischen des Hervé nicht blos übersetzt, sondern mit einer Menge witzloser Scenen und Dialoge (natürlich mit fortwährendem Mutiren ins Lerchenfelderische) bereichert. Die Hauptidee, wenn von einer solchen die Rede sein kann, reicht nicht blos für drei Acte, sie reicht nicht einmal für eine Scene aus, denn sie beruht auf einer geradezu anwidernden Albernheit. Oder kann man es anders nennen, wenn die Heldin, eine verrückte, unerledigte Baronesse, beim Armbrustschießen ins Auge getroffen wird und mit diesem Pfeil im Auge andert halb Acte spielt, singt und tanzt? Oder wenn ein alter Mar quis ihr zur Seite während des Sprechens jeden Augenblick sein falsches Gebiß verliert, dasselbe wieder befestigt und nach längerer Pause dann weiterspricht? Die Wahl dieses Stückes ist unbegreiflich und wird es noch mehr, wenn man erfährt, daß Offenbach’sRobinson“ dem „Pfeil“ zuliebe zurückgelegt worden ist. Das Tollste an dem Stücke ist vielleicht, daß es nicht eine einzige dankbare Rolle enthält. Arme Geistinger! Bedauernswerther Swoboda und Blasel. Die Musik Hervé’s verräth ein schwaches, unselbstständiges Talent, das sich meist von Reminiscenzen und Redensarten nährt. Zwei bis drei Melodien heben sich jedoch gefällig und mit einem An fluge von Esprit heraus. Wie alle Französinnen, selbst wenn sie nicht jung und hübsch sind, hat diese Musik eine gewisse Nettigkeit der Haltung und Toilette, vielleicht „kein ganzes Hemd am Leibe“ (darüber mögen andere Autoritäten entschei den), aber gewiß tadellose Handschuhe und Stiefletten. Wir halten das Talent Suppé’s für entschieden echter und reicher, als das von Hervé, aber mit wie plumper Hand fährt Suppé

in der „Frau Meisterin“ überall ins Zeug und schlägt sich einen Effect mit dem anderen todt! Nicht zwei Musikstücke nacheinander sind im selben Style gehalten: Wiener Schnader hüpfel, sentimentale Romanzen, Offenbach’sche Quadrillen- Motive, deutsche Liedertafelklänge, Coloratur-Arien, endlich ein von Domestiken in weißen Küchenschürzen gesungenes heroi sches Finale, gegen welches die Waffenweihe in den „Huge notten“ ein harmloser Ländler ist! Schade um das Talent, welches doch deutlich aus einigen Nummern spricht. Die Frau Meisterin“ enthält übrigens eine der frische sten, originellsten Leistungen der Gallmeyer. Namentlich im letzten Act, als Gräfin, entfaltet sie eine Fülle geistreich- übermüthiger Charakteristik. Wir haben den Abend nicht be dauert, den wir der „Frau Meisterin“ widmeten, aber die Meisterin Gallmeyer mußten wir bedauern, deren Talent wie eine gefangene Märchen-Prinzessin vergebens auf einen poe tischen Retter harrt, der durch eine kühne That, d. h. ein gu tes Stück, sie aus dieser aufreibenden dramatischen Verwil derung erlöst. Man hatte die Entdeckung gemacht, daß Fräu lein Gallmeyer nicht blos eine eminente Komikerin sei, son dern in einzelnen Scenen auch Töne tiefster Rührung und Herzlichkeit, ja durchbohrenden Schmerzes anzuschlagen wisse. Nun waren rasch ein halbes oder ein ganzes Dutzend Stücke zusammengeschustert, welche auf diese Vielseitigkeit des Aus druckes speculirten und Fräulein Gallmeyer unmittelbar nach einander tragisch und komisch, hochdeutsch und lerchenfelderisch, frivol und pathetisch sein ließen — Alles ohne vernünftigen Sinn und Zusammenhang. Da man dies reiche Talent nicht geistig zu verwerthen versteht, spannt man es einfach auf die Folter. Im Verlaufe einer halben Stunde hat man ihr mit telst einer solchen Folterrolle sämmtliche Kunststücke bis aufs letzte bunt durcheinander herausgepreßt. Ein wahres Wunder, wenn das Talent dabei am Leben bleibt. „Die Frau Mei sterin“ ist nicht das ärgste, aber doch eines von diesen Stücken, die blos geschrieben sind, um das Talent der Gallmeyer mit allen Hunden zu hetzen. Das edle Wild hält sich tapfer — aber diese Hunde!