Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1298. Wien, Freitag den 10. April 1868 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1298. Wien, Freitag den 10. April 1868 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 10.04.1868
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Alle Werke, Daten, Orte, Personen ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Concerte.

Ed. H. „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick“ — wem klingen sie nicht jetzt im Ohr, die Worte Faustʼs, aus welchen die ganze Freudigkeit der Osterstimmung quillt, wie Sonnenwärme und junges Grün? An sie darf nicht denken, wer Schubertʼs Oster-Cantate“ („Lazarus“) hören geht. „Charfreitags-Cantate“ wäre die treffendere Bezeichnung für ein geistliches Drama, dessen erster Theil am Sterbebette, dessen zweiter auf dem Begräbnißplatze spielt. Den dritten Theil des Niemayerʼ schen Gedichtes, welcher mit der Erweckung des Lazarus tir umphirend abschließt, hat Schubert, den bisherigen Nachfor schungen zufolge, nicht componirt. Ein schwerer Verlust, denn Schubertʼs Musik, dem Leben befreundeter als dem Tode, hätte, ähnlich dem christlichen Mythus, welcher in der Aufer stehung des todten Lazarus die Auferstehung Aller am jüng sten Tage vorbildete, in der Wiederbelebung dieses Einzelnen das Leben selbst und seine Herrlichkeit gefeiert. Das „Lazarus“- Fragment, im Jahre 1863 durch das Verdienst Herbeckʼs zum erstenmale zu Gehör gebracht, erlebte nun seine zweite Aufführung am Chardienstag in dem „Außerordentlichen Con certe der Gesellschaft der Musikfreunde“. Diese reicher ausge stattete und feiner ausgearbeitete Wiederholung ließ uns die hohen Schönheiten der Tondichtung noch viel tiefer empfinden. Lazarus“ besitzt die ganze Innigkeit der Empfindung, den melodischen Reichthum und die dramatische Lebendigkeit, deren Vereinigung den Genius Schubertʼs charakterisirt. Wie rührend und schönheitsverklärt schwebt die erste Arie der Maria empor, wie überirdisch klingt die Erzählung Jeminaʼs von ihrer Auferweckung, wie leidenschaftlich-dra matisch die Arie des verzweifelnden Simon! Gesänge wie diese gehören zu dem Schönsten, was Schubert geschaffen hat, und zu dem Ergreifendsten, was die Musik überhaupt besitzt. Es gehört die ganze innere Freudigkeit und Klarheit Schu bertʼscher Musik dazu, um dem Verwesungsgeruch, der diese Dichtung durchzieht, fast alles Beklemmende zu nehmen. „Fast“, denn gänzlich vermochte selbst Schubertʼs Genius die un

heilvolle Einförmigkeit des Textes nicht zu besiegen. Der Ton dichter hätte zu seiner melodiösen Blüthenfülle auch noch Beethovenʼs einschneidende Kraft und Bachʼs contrapunk tische Meisterschaft besitzen müssen, um der thränenseligen Mo notonie dieses Gegenstandes völlig Herr zu werden. Das ununterbrochene Festhalten derselben Stimmung, musikalisch potenzirt durch das stete Vorherrschen der langsamen Tempi im 4/4 Tact, die langen ariosen Recitative, das Fehlen der Baß- und Altstimme im ersten Theil u. dgl. wirkt am Ende unleugbar erschlaffend. Am empfindlichsten vermißt man das Gegengewicht polyphon gearbeiteter, ja auch nur reich figurirter Sätze und kräftiger Chöre. Der Chor ist nur am Schlusse jeder Abtheilung, beidemal als langsamer Klagegesang, verwen det. Diese Eigenheiten geben dem Ganzen einen fast lieder spielartigen Charakter, der von dem strengeren Begriff des Oratorien-Styls (auch abgesehen von dem gänzlichen Abgang des epischen Elementes) seitab steht. Zwischen ergreifend schönen Nummern dehnen sich im „Lazarus“ bedeutende Strecken, die nicht freizusprechen sind von rhythmischer und harmonischer Monotonie, von weichlicher, hie und da auch an ältere Opern-Componisten erinnernder Empfindsamkeit. An jenen Wunderblüthen des musikalischen Todtenkranzes wird sich der Hörer jederzeit erquicken; er wird staunen, bis zu welchem Grade Schubert es vermocht habe, Leben in dies Sterben zu bringen. Aber der Total-Eindruck des ganzen Werkes wird niemals ein ungemischter, wahrhaft befreiender sein, so lange nicht eine kundige und vorurtheilsfreie Hand daran zu kürzen sich entschließt.

Was wir zu der schmerzerfüllten Schönheit des „La zarus“ noch hinzuwünschen mochten, das brachte am selben Abende in reichem Maße das „Kyrie“ aus BachʼsH-moll- Messe: mannhafte Energie in der Klage und jene Gewalt der Polyphonie, welche das musikalische Denken hinreichend be schäftigt, um die zersetzende Macht wehmüthigen Empfindens zu paralysiren. Am selben Tage des vorigen Jahres hatte Hof capellmeister Herbeck die „Hohe Messe“ von Bach mit Aus nahme des „Kyrie“ und „Gloria“ aufgeführt. Aeußere Hin dernisse vereitelten diesmal die Aufführung des „Gloria“, des einzigen Satzes, der uns somit zur vollständigen Bekannt schaft dieser großen Tonschöpfung noch fehlt. Aus diesem

Grunde und wegen des imposanten Gegensatzes, welchen gerade der trompetenschmetternde Triumph des „Gloria“ gegen das düstere „Kyrie“ bildet, bedauern wir den Ausfall dieses (aller dings sehr ausgedehnten) Meßtheiles im letzten Concerte. „Kyrie“ und „Gloria“ der Bachʼschen Messe gehören überdies auch noch historisch zusammen, indem diese beiden (im Jahre 1733 von Bach an Friedrich August II. von Sachsen selbst ständig überschickten) Sätze den ursprünglichen Kern des gan zen Werkes bilden, dem der Autor erst später und allmälig die anderen Theile, mit Benützung älterer Cantaten, hinzu fügte. Was Sebastian Bach, den eifrigen, strengen Prote stanten, zur Composition der ganzen katholischen Messe veran laßt haben mag, hat man sich oft gefragt. Die einfachste Er klärung dünkt uns, daß Bach von der Größe und dem Reich thume des lateinischen Meßtextes, welcher in kurzen Sätzen die ganze kirchliche Gedanken- und Empfindungswelt umfaßt und dem Componisten eine der bedeutendsten und dankbarsten Aufgaben bietet, sich mächtig angezogen und aufgefordert fühlte. Es fehlt seiner Composition die katholische Färbung, der confessionelle Accent, ja die praktische Eignung für den Gottesdienst, allein an Tiefe und Fülle der religiösen Em pfindung, an Größe des Gedankens und der Kunstvollendung steht sie mit der — unserer modernen Anschauung sympa thischeren, aber kaum großartigeren — Festmesse von Beetho ven zu oberst aller musikalischen Messen. Das „Kyrie“, wel ches wir im letzten Concerte hörten, besteht aus drei Num mern: einem im größten Style fugirten Chor, dessen Thema zu den merkwürdigsten Erfindungen und dessen Durchführung zu den großartigsten Contrapunktirungen selbst bei Bach ge hört. Es folgt das „Christe eleyson“ als Duett für zwei Sopranstimmen, blos von zwei Instrumentalstimmen (erste und zweite Violine unisono und Grundbaß) begleitet, ein Ton stück, in welchem der Bachʼsche Genius, wie so manchmal in Arien und Duetten, sich zur Bachʼschen Manier, zum Forma lismus verengt und deßhalb eine tiefere Wirkung auf den Hö rer nicht hervorbringt. Um so gewaltiger erbraust der fol gende kürzere, streng fugirte Alla-breve-Chor „Kyrie eleyson“, welcher diesen Meßtheil in erhabener Weise abschließt. Zwi schen das Bachʼsche „Kyrie“ und SchubertʼsLazarushatte Herr Herbeck mit feiner Berechnung zwei Chöre ohne

Orchester-Begleitung und von hellerer Färbung eingeschaltet: eine „alte Marien-Litanei der Hirten“, von anmuthiger Naivetät und schönen Klangeffecten, dann Mendelssohnʼs geistvolle, ungemein wirksame Composition des 43. Psalms („Richte mich, Gott“). Die Ausführung des ganzen Concer tes verdient die wärmste Anerkennung. Man könnte streiten, ob der „Singverein“ sich durch sein zartes Pianissimo in der Marien-Litanei oder durch den kräftigen Schwung in dem Mendelssohnʼschen Psalm mehr ausgezeichnet habe — genug, daß beide Nummern wiederholt werden mußten. Im „La zarus“ sang Herr Prihoda die Titelrolle mit edler, maß voller Empfindung, Herr Krenn mit lobenswerthem Eifer den Nathanael, dessen C-dur-Arie allerdings für eine kräftigere Stimme gedacht ist. Herr v. Bignio trug die schwierige Arie des SadducäersSimon echt künstlerisch mit durchgrei fender Wirkung vor. Das reichste Maß des Lobes gebührt diesmal Frau Marie Wilt, welche nebst ihrer eigenen Partie (Jemina) noch in letzter Stunde den bedeutenden Part der Maria“ aus Gefälligkeit übernommen hatte und beide mit gleicher Trefflichkeit durchführte. Fräulein Anna v. Asten (die jüngere Schwester unserer geschätzten Pianistin Julie v. Asten) trat als Martha im „Lazarus“ zum erstenmale vor die Oeffentlichkeit; ihr frischer, klangvoller Mezzo-Sopran und ihre musikalische Festigkeit berechtigen zu schöner Hoff nung. Das Publicum spendete allen Mitwirkenden, insbe dere dem verdienstvollen Leiter dieser trefflichen Production, Herrn Hofcapellmeister Herbeck, Zeichen lebhaften Dankes.

Wir erwähnen zweier gut besuchter und sehr beifällig aufgenommener Productionen: des zweiten „Historischen Concerts“ von Herrn Zellner und des „Heiteren Musikabends“ von Herrn Käßmayer in den Blumensälen; leider konnten wir denselben nicht selbst beiwohnen. Sodann ist die betrübende Nachricht zu melden, daß das „Florentiner Quartett“ der Herren Jean Becker, Masi, Chiostri und Hilpert nun doch endlich von den Wienern sich verabschiedet hat. Es geschah dies mit der zehn ten Quartett-Soirée (im kleinen Redoutensaal), worin Mendels sohnʼsEs-dur, SchubertʼsD-moll- und Beethovenʼs F-dur-Quartett (aus op. 18) zur Aufführung kamen. Das Publicum blieb aber nach dem dritten Stücke beharrlich klat schend und rufend auf seinen Plätzen, bis die Künstler noch die

von ihnen eingeführte Haydnʼsche „Serenade“ als letzten Ab schiedsgruß boten. Wie wir mit Vergnügen hören, ist es kein Abschied für immer; das Beckerʼsche Quartett wird zu An fang der nächsten Concert-Saison wieder hier eintreffen und einen Abonnements-Cyklus von Quartett-Productionen veranstal ten. Man darf wol den Succeß des Florentiner Quartett-Vereins für den größten und überraschendsten der ganzen abgelaufenen Mu sik-Saison erklären. Die fremden Künstler kamen sehr spät hier an, das Publicum, das neben zahllosen anderen Concerten nicht weniger als acht Hellmesbergerʼsche und drei Joa chimʼsche Quartett-Productionen gehört hatte, war überwältigt und fand sich zu der ersten Soirée der „Florentiner“ sehr spärlich ein. Dennoch war der Erfolg dieses Abends ent scheidend; er verbreitete rasch das übereinstimmende, zweifellose Urtheil, Wien habe niemals ein so vollendetes Quartett gehört. Schon die zweite Production war überfüllt, und die Beckerʼ sche Gesellschaft konnte deren zehn nach einander geben, ohne daß der Antheil des Publicums nachließ. Ja man lauschte ihrem Zusammenspiel je öfter mit desto größerem Behagen, ein Zeichen, daß die Wirkung aus echter künstlerischer Gediegen heit und nicht aus blendenden Scheinkünften hervorgegangen war. Indem diese vier Künstler sich ausschließlich dem Quartett spiel widmen, seit einigen Jahren mit erstaunlichem Fleiß tag täglich zusammen spielend, hat ihr Vortrag eine technische Sicherheit und ruhige Continuität erlangt, wie sie ge wöhnlich nur älteren Künstlern eigen ist. Andererseits be sitzen sie aber als junge Leute jene Wärme und frische Sinnlichkeit, welche vor Pedanterie und Formalismus bewahrt. Wir haben Compositionen der verschiedensten Mei ster und von verschiedenster Stylgattung von ihnen gleich treff lich interpretiren hören. Das subjective Bedenken, das wir vielleicht hie und da gegen ein Zeitmaß, eine Vortragsnuance u. dgl. hatten, kann uns an der Anerkennung nicht hindern, daß wir einer gleichen Meisterschaft im Quartettspiel nie zu vor begegnet sind. Wer das Beckerʼsche Quartett mit an deren vergleichen will, wird billigerweise die schwierigeren Ver hältnisse dieser anderen Quartettspieler hervorheben, welche, durch regelmäßigen Theater-, Concert- und Kirchendienst ange strengt, unmöglich mit so fleißigen und frischen Kräften täg lich üben können; er wird dergestalt zu erklären versuchen

warum sie die Meisterschaft des Beckerʼschen Quartetts nicht erreichen. Wenn aber der Local-Patriotismus so weit geht, das letztere Factum überhaupt zu leugnen und zu be haupten, wir hätten längst, was Becker und seine Genossen leisten, ebenso gut und besser zu Hause, dann schlägt die „Ge rechtigkeit“ für das Gute in die crasseste Ungerechtigkeit gegen das Bessere und Beste über. Das Wiener Publicum hat bei aller Pietät für das Einheimische sich von solchem musika lischen Chauvinismus freigehalten, der wahrlich keinem Theil zum Nutzen gedeiht.

Der Palmsonntag brachte die Aufführung von Haydnʼs Jahreszeiten“ im Burgtheater. Ueber die Physiognomie dieser ziemlich stereotypen Productionen des Tonkünstler-Pensions vereins „Haydn“ ist wenig Neues zu melden. Die erbärmliche Akustik des Locales, welche selbst die unvergleichliche Klangwir kung von Stücken wie die „Jagd“ und das „Winzerfest“ im „Herbst“ lahmlegt, ist längst bekannt und beklagt, und nach dem die Direction des „Haydn“ nicht den leisesten Schritt thut, um ein besseres Locale zu erhalten, so kann man sich füglich auch jedes Mitleids entschlagen. Chöre und Orchester sind etwas stärker als vordem, hingegen haben die einst regel mäßig von Staudigl, Erl und der Hasselt gesungenen Solopartien bessere Zeiten gesehen. Fräulein Benza, hier wie überall voll Feuer und Eifer, brachte einzelnes sehr Ge lungenes; im Allgemeinen ist ihre theatralische, heftige Vor tragsweise für den Oratorienstyl (namentlich im Recitativ) wenig geeignet. Vor lauter einzelnen starken Accenten und Tonschwellungen gelangt ihr Vortrag nie zu jenem edlen, ru higen Fluß, den solche Musik erheischt. Fräulein Benza wurde häufig applaudirt, auch Herr Adams, welcher sich in dem ihm ziemlich fernliegenden Oratorien-Gesange recht gut zurechtfand. Herrn Dr. Krücklʼs verständige, noch nicht ganz von der Jurisprudenz losgeschälte Vortragsweise paßt vielleicht am besten für das Oratorium; wäre seine Stimme so kräftig im großen Raume, als sie im Salon sympathisch klingt, ihre Wirkung würde vollständig sein. Die Aufführung der „Jah reszeiten“, von Herrn Capellmeister Esser dirigirt, war sehr besucht; sie und das „Lazarus-Concert“ dürften für diese Saison die letzten größeren Concerte gewesen sein. Vom Eis befreit sind Strom und Bäche!