Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1322. Wien, Dienstag den 5. Mai 1868 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1322. Wien, Dienstag den 5. Mai 1868 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 05.05.1868
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Hofoperntheater. („Die Stumme von Portici“. „Tell“. „Robert der Teufel“. „Gräfin Egmont“.)

Ed. H. Das Gastspiel der Herren Sontheim und Müller hat nacheinander „Die Stumme von Portici“, „Tellund „Robert“ vorgeführt und die unverwüstete Kraft dieser durch vier Decennien unzähligemale wiederholten Opern neuer dings in helles Licht gerückt. Das Jahrzehnt 18281838 war für die Pariser Oper eine Periode von glänzender Frucht barkeit, es brachte „Die Stumme von Portici“, „Tell“, Zampa“, „Robert“, „Die Ballnacht“, „Die Jüdin“, „Guido und Ginevra“, „Die Hugenotten“, „Graf Ory“, „Zweikampf“, Die Braut“, „Fra Diavolo“, den „schwarzen Domino“, Postillon von Lonjumeau“ u. s. w. — Opern, die alle noch leben und wirken. Am merkwürdigsten ist jedoch die unmittel bare Aufeinanderfolge jener drei großen Opern, welche eine Revolution in der modernen Oper hervorbrachten: Auber’s Stumme von Portici“ (1828), Rossini’sTell“ (1829) und Meyerbeer’sRobert“ (1831). Ein Franzose, ein Italiener, ein Deutscher sind die Componisten; die Werke selbst, auf französischen Text, für französische Sänger und Hörer componirt, in französischem Geiste gedacht und ausge führt, sind dem Wesen nach französische Opern, und die Büsten der drei Tondichter schmücken mit vollem Rechte das Foyer des Pariser Opernhauses. Die französische Nation war aus sich selbst heraus niemals sehr productiv in der Musik; man weiß, was ihre Oper von Lully bis auf Verdi den Italienern, von Gluck bis auf Meyerbeer den Deutschen ver dankt. Besitzt aber das musikalische Erdreich Frankreichs auch nur geringe Fruchtbarkeit, so ist doch Paris ein wunderbares Treibhaus, dessen Wärme fremde Keime zu rascher, blühender Lebenskraft entfaltet. Mit solchen Blumen schmückte Paris jederzeit gerne seine heimischen Tempel. Aber darauf können die Franzosen sich doch etwas zugute thun, daß die erste jener drei, meist gleichzeitig citirten, epochemachenden Opern das Werk eines Franzosen ist. Gewiß lag damals in der Luft eine selt sam revolutionäre Gewitterschwüle, welche das fast gleichzeitige Auftauchen so ungewöhnlicher, wahlverwandter Productionen mit er klärt; in der Deutung und Zurückdeutung der politischen Einflüsse ist man aber seither zu weit gegangen. Als „die Stumme“ ent stand, welche zwei Jahre später in Frankreich und Belgien eine Art Revolutions-Festoper und demokratisches Théâtre paré wurde,

da waren die politischen Gedanken der Herren Scribe und Auber sicherlich friedlichster Art. „Die Stumme“ entstand als rein künstlerische Production und wirkt heute noch als solche mit echten Mitteln. Die jüngste, vortreffliche Aufführung der Stummen“ im Hofoperntheater fand uns in wahrhaft jugend licher Empfänglichkeit für die Schönheit dieser Musik und ließ uns neuerdings die großen und kleinen Meisterzüge lebhaft empfinden. Auber’sStumme“ hat, trotz ihres entschieden französischen Charakters, doch viel mehr südliches Temperament, mehr Gluth und Lebensfülle, als andere französische Opern. In den Fischerliedern spiegelt sich das heitere Blau des neapolitanischen Him mels, und die Feuergarben des Vulcans sprühen aus den Rhythmen der Tarantella. Dieses instinctive Treffen der fremden Localfarbe erinnert unwillkürlich an die prachtvollen Landschaftsbilder in Schiller’sWilhelm Tell“, dessen Schöpfer ebensowenig jemals die Schweiz betreten hatte, wie Auber den Boden Ita liens. Mit Ausnahme weniger, etwas dürr und conventionell klingender Stellen (sie treffen die Rolle Alonzo’s und einige Ensembles) fließt die ganze Musik so frisch, lebendig und un gezwungen daher, daß wir Kinder einer musikalisch grübelnden und raffinirten Zeit uns daran wahrhaft erquicken. Das Geist reiche darin erscheint nicht gezwungen, das Glänzende nicht überladen. Ohne Tasten und Suchen steht Auber überall gleich mitten in der Handlung und leitet mit sicherer Meister hand ohne Sprung und Umweg von einer Scene in die andere. Man sehe die Einführung des Schlummerliedes, den darauf folgenden Eintritt der Fischer, den rührenden Schluß des zwei ten Actes, der nach vollem Chor in eine kleine mimische Scene ausklingt! Nur ein ungewöhnliches echtes Talent und die Hand eines Meisters konnten dergleichen schaffen. Ebenso die köstliche Balletmusik im ersten und dritten Act, welche zum erstenmal in der Großen Oper alles conventionelle Balletpathos abthut und das ganze Feld dem nationalen Charaktertanz einräumt. Die schwache Seite von Auber’s Talent, oft geradezu dessen Grenze, liegt in dem stetigen (nicht blos momentanen) Ausdruck eines tiefen, den ganzen Menschen erfüllenden Gefühles — sie bleibt glücklicherweise hier fast gänzlich außerhalb der Aufgabe. Die einzige leidenschaftliche Liebe in der Oper ist stumm. Welch rührende Beredtsamkeit Auber dieser Stummen durch die Sprache des Orchesters leiht, ist für uns jedesmal der Gegenstand neuer Bewunderung. Die Rolle Fenella’s besteht musikalisch aus einer Anzahl kleiner Bildchen von so scharfen, dabei leichten Umrissen und von so lebendiger Farbe, daß die neueste Schule, der man so gern die Erfindung der instrumen

talen Taubstummensprache zuschreiben möchte, daran nur lernen kann.

Die Einführung einer stummen Hauptperson in die Oper war ein großes Wagstück. Es glückte vollständig, aber es glückte nur dies Einemal. Die dramatische Wirkung der Rolle und ihre meisterhafte Darstellung durch die Tänzerin Noblet erregte in Paris bald das Verlangen nach einem Seitenstücke dazu für die gefeierte Taglioni. Auber kam diesem Wunsche nach und schrieb mit Scribe1830Der Gott und die Baja dere“, eine Oper, deren stumme Hauptrolle von der Ta glioni dargestellt wurde. Die Bajadere, welche nicht wie Fenella blos als Schauspielerin, sondern auch als virtuose Tänzerin in die Handlung eintritt, sollte damit ihre stumme Vorgängerin überbieten, blieb aber weit dahinter zurück. Während Fenella sich dem musikalischen Organismus be scheiden ein- und unterordnet, beherrscht die „Bajadere“ von Anfang bis zu Ende das Ganze und ruinirte damit dieses Ganze. Außer der stummen Hauptpartie war es die hervor ragende Verwendung der Chöre und ihr lebendiges Eingreifen in die Handlung, was seinerzeit in der „Stummen“ über raschend neu erschien. Eine vorgeschrittene, moderne Regie ging hier mit dem Dichter und Componisten Hand in Hand; man liest, daß die Zuschauer anfangs fast erschrocken waren über die Naturwahrheit in der Kleidung, Haltung und dem Durcheinander dieser neapolitanischen Fischer und Lazaroni. Die moderne, realistische Auffassung in Text und Musik muß wol auch als der Kern jener frappanten, epochemachenden Neuheit der „Stummen“ bezeichnet werden, deren Publicum bis dahin an den akademischen Opernstyl und die großentheils antiken Stoffe Cherubini’s, Sacchini’s und Spon tini’s gewöhnt war. Mancher Spontini’sche Zug hat übrigens auf die Musik zur „Stummen von Portici“ einge wirkt, am merklichsten in dem Freiheitsduett zwischen Masaniello und Pietro.

Ein Jahr, nachdem Auber seine Carrière in der ernsten Oper so glänzend eröffnet hatte, schloß Rossini die seine mit dem „Tell“. Schon als die Arbeit eines früher so leichtsin nigen, wenngleich stets genialen Schnellschreibers, der nun zu guterletzt alle seine Kräfte für ein ernstes, höheres Ziel con centrirte und steigerte, ist „Tell“ eine denkwürdige That. Sie bleibt es auch, abgesehen von jener Reflexion. Die beiden ersten Acte gehören zu dem Schönsten, was die Opern-Literatur überhaupt besitzt. Von Seite der Dichtung war Rossini weit schwächer unterstützt, als Auber in der „Stummen“,

deren Libretto einen großen Fortschritt bezeichnete. Es ist für eine Oper noch immer vortheilhafter, eine stumme Heldin, als gar keinen hervorragenden Frauen-Charakter zu haben, wie dies bei „Wilhelm Tell“ der Fall. In der „Stummen“ läßt die Spannung des Textbuchs wie der Musik allerdings im vierten Acte nach, im „Tell“ stockt der Fortgang schon im dritten, um im vierten gänzlich zu versiegen. Kann eine Heldenpartie sich mächtiger einführen, als Rossini’s „Tellim ersten Acte, und kann sie unbedeutender ausgehen? Wenige Opern haben auch in der Praxis so starke Kürzungen und Ab änderungen erfahren, wie diese. In Paris gab man jahrelang nur die zwei ersten Acte, und zahlreiche Bühnen gibt es noch, welche den ganzen vierten Act streichen und Geßler schon am Schlusse des dritten mit der Blitzesschnelle einer Improvi sation erschießen lassen. Jouy’s Textbuch ist ein verfehltes Gebäude, aber mancher breite Sonnenstrahl aus Schiller’s Drama hat sich doch darein gefangen. Dieser Strahl deutscher Kraft und deutschen Gemüthes spiegelt sich auch in den zwei schönsten und großartigsten Partien der Musik: in den Chören der Introduction und der Rütli-Scene. Es klingt etwas wie ein Gruß von Mozart und Haydn heraus. Die Kunst, mit welcher hier idyllische Elemente in großartigen Dimensionen ausgebreitet und allmälig auf gewaltigem Fittig zu dramatischen Gipfeln emporgetragen werden, ist bewunderungswürdig und für alle Zeiten ihrer Wirkung gewiß.

Unverwüstlich frisch wie „Tell“ und „Die Stumme“, er hält sich trotz maßloser Theater-Abnützung auch „Robert der Teufel“. Dennoch möchten wir an ihm, dem jüngsten Gliede jener epochemachenden Trias, noch am ehesten Anzeichen von Ueberlebtheit wahrnehmen. Nicht sowol ob einzelner trivialer Melodien, als ob der Unwahrheit und Verschrobenheit des Ganzen. Während im „Tell“ und der „Stummen“ mann hafte Charaktere in echt menschlichen Zuständen und Empfin dungen sich bewegen und unsere Theilnahme fesseln, ist die Handlung des „Robert“ ein wahres Fratzenspiel. Durch reiche Mannichfalt und Abwechslung, durch die Einmischung des Sagenhaften und Wunderbaren, durch einen geschickten Bau endlich erweist sich das Buch zu „Robert der Teufel“ außer ordentlich günstig für den Componisten. Es ist uns unmög lich, über diese Vorzüge die prätentiöse Albernheit des drama tischen Inhaltes zu vergessen. Dieser fußt auf lauter falschen Contrasten. Der ärgste darunter ist Bertram, welcher als Teufel seinen Sohn zu verführen und zu verderben trachtet, zugleich aber als zärtlicher Vater denselben über Alles liebt. Diese Figur hat es vollkommen verdient, als Cabinetsstück ver

zerrter Romantik in der „Aesthetik des Häßlichen“ zu para diren. Der Darsteller wird durch diesen falschen Contrast un willkürlich zu dem Fehler verleitet, uns statt des Teufels einen sogenannten guten Menschen und statt eines guten Menschen einen dummen Teufel zu geben. Meyerbeer’s Oper theilt nicht das Mißgeschick des „Tell“ und der „Stummen“, im letzten Acte zu erlahmen; Dichter und Componist haben für den Schluß wahre Capital-Effecte verspart. Die Handlung wird nicht stockend, aber schlimmer als dies: sie wird lächerlich. Die Situation in dem Schlußterzett ist trotz der effectvollen Musik von ärgerlicher Komik. Robert, welcher weder gut noch böse, weder Mann noch Weib ist, sondern ein leeres Garnichts, schwankt nicht blos geistig, wie Vasco de Gama, zwischen sei ner schwarzen und seiner weißen Geliebten, er läßt sich von ihnen handgreiflich bald nach rechts, bald nach links zerren. Er hat bis zum letzten Momente nicht die leiseste Idee, ob Bertram, ob Alice in diesem Seelenraufhandel den Kürzeren ziehen und ihn loslassen werden. Die bedeutsame Idee des Kampfes zwischen Gutem und Bösem, zwischen Sittlichkeit und Sinn lichkeit im menschlichen Gemüthe ist trivialer kaum dar gestellt worden. Die naive Vorstellung der Sage kann man nicht ungestraft mit den raffinirtesten Opernmitteln auf der Bühne versinnlichen. Das populäre, packende Element, das in dem Libretto steckt, wollen wir damit nicht leugnen oder unterschätzen. Es ist unter Anderem durch die literarische Curiosität bestätigt, daß auf die ersten Pariser Berichte hin drei deutsche Theaterdichter (Holtei, Raupach und die Birch-Pfeiffer) sich sofort desselben Stoffes bemächtigten. In der Musik des „Robert“ steckt kaum weniger Genie, als im Tell“ und der „Stummen“. Aber Meyerbeer war, im Gegensatz zu Rossini und Auber, zeitlebens ein ängstliches Genie, und das unterscheidet seine Musik nachtheilig von der der beiden Anderen. Während im „Tell“ und der „Stummen“ Alles mühelos und natürlich hinfließt, hört man aus „Robert“ das Berechnende, Experimentirende heraus, das, ändernd und nachkünstelnd, immer den natürlichen ersten Einfall überbieten möchte. „Tell“ und die „Stumme“ entstanden aus Einem Guß, sie waren von Haus aus so gedacht, wie sie aufgeführt wurden. „Robert der Teufel“ hingegen war ursprünglich für die komische Oper ge schrieben (offenbar unter dem Einflusse des „Freischütz“), mit gesprochenem Dialog und nachdrücklicher Verwerthung der komi schen und populären Elemente. Raimbeaut agirte im vierten und fünften Acte, aus denen er nun herausgeworfen ist, als wesentlicher Vermittler des dramatischen Zusammenhanges; das gespenstische Nonnenballet war ursprünglich ein Schäferfest mit

Nymphen und Amoretten. Die Unzulänglichkeit der Gesangs kräfte an der Opéra Comique bestimmte Meyerbeer, den „Ro bert“ für die Große Oper umzuarbeiten. Diese zwiespältige Herkunft macht sich in vielen Partien als Styllosigkeit bemerk bar, wenn sie gleich durch die knappen Liedformen der Frische und Popularität des Ganzen zu statten kam. An blendenden Effecten übertrifft das Werk die beiden früher genannten Opern, aber im kleinen Finger des „Tell“ oder der „Stum men“ steckt mehr künstlerische Wahrheit, mehr idealer Gehalt, als im ganzen „Robert“.

Ueber die jüngsten Aufführungen haben wir im Wesent lichen berichtet. Wir können nur wiederholen, daß Herr Sont heim als Masaniello einen wohlverdienten Triumph gefeiert und eine markige, lebensvolle Gestalt geschaffen hat, wie sie unter den heutigen Tenoristen immer seltener vorkommt. Das Gastspiel Sontheim’s war ein glänzendes Intermezzo auf dem Hofoperntheater, und das Publicum ist der Direction für die unerwartete Verlängerung dieses Gastspieles ebensosehr ver pflichtet, wie für den Abschluß eines neuen, längeren Besuches Sontheim’s in der nächsten Saison. Ein besonderes Lob ver dient Fräulein Bosé als Fenella. In Städten, wo Schau spiel und Oper in demselben Theater vereinigt sind, wird die Fenella meistens und mit Grund einer Schauspielerin zuge theilt. Eine Tänzerin wird sich niemals von der stehenden Zeichensprache und der heftigen Mimik ganz losmachen können, welche dem Ballet so eigenthümlich und in der Oper, in fremder Umgebung, so unangemessen ist. Um so erfreulicher war es, zu beobachten, wie Fräulein Bosé diese Ballet-Technik auf ein Minimum zu reduciren und ohne Sprache einen Charakter zu gestalten wußte. Sie entwickelte in Mimik und Geberde eine so treffende Wahrheit des Ausdruckes, daß sie das Wort in keinem Satze (wenn man die kleinen melodra matischen Abschnitte so nennen darf) vermissen ließ. Wir haben Fräulein Bosé außerdem als Gräfin Egmont in dem gleichnamigen Ballet von Rota gesehen. Ihre Technik er schien uns virtuos, namentlich in der ausdauernden Kraft der Fußspitzen und dem flugartigen Umkreisen der Bühne. Sie dürfte in manchen Aufgaben der Bravour die Couqui über treffen, deren ungemeine natürliche Anmuth sie hingegen nicht in gleichem Maße besitzt. Diese angeborne Grazie der Bewe gung ist ja in der Regel ein beneidenswerthes Wiegengeschenk der romanischen Völker. Man wird es unserem früheren Ge dankengang zugute halten, wenn uns die Sächsin Bosé neben der Italienerin Couqui ungefähr vorkommt wie Meyerbeer neben Rossini.