Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1373. Wien, Freitag den 26. Juni 1868 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1373. Wien, Freitag den 26. Juni 1868 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 26.06.1868
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". >Formatierung. Alle Werke, Orte, Personen, Daten ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Richard Wagner’s „Meistersinger von Nürnberg“. (III. Schluß.) München, 23. Juni.

Ed. H. Wagner ist in den „Meistersingern“ seinem musikalischen Principe, wie es schon im „Lohengrin“ vorherrscht und in strengster Consequenz „Tristan und Isolde“ durchdringt, vollkommen treu geblieben. Es macht immer einen respectablen Eindruck, wenn ein Künstler mit Ernst und unbeugsamer Ueber zeugung an den Grundsätzen festhält, die er einmal für die richtigen, allein wahren ansieht. Diese von keiner Anfechtung beirrte Consequenz gibt auch den „Meistersingern“ den überall imponirenden Charakterzug der Sicherheit und Festigkeit. Wag ner weiß vollkommen, was er will; die bewußte Absicht spricht aus jeder Note dieser Partitur, kein Zufall findet Raum darin, aber auch nicht jene schöne Zufälligkeit, welche den Schöpfungen der künstlerischen Phantasie wie jenen der Natur den letzten Reiz gibt. Die Consequenz, mit welcher Wagner bei seinem eigenthümlichen Principe verharrt, müssen wir achten; zu dem Principe selbst haben uns auch die „Meistersinger“ nicht be kehrt. Es ist das bewußte Auflösen aller festen Form in ein gestaltloses, sinnlich berauschendes Klingen, das Ersetzen selbst ständiger, gegliederter Melodien durch ein unförmlich vages Melodisiren. Man kann dafür Wagner’s schiefes Wort „unend liche Melodie“ getrost als technischen Ausdruck gebrauchen, da bereits Jedermann weiß, was er sich darunter vorzustellen hat. Die „unendliche Melodie“ ist die herrschende, d. h. die musikalisch unterwühlende Macht in den „Meisteringern“ wie im „Tri stan“. Ein kleines Motiv beginnt, es wird, ehe es zur eigent lichen Melodie, zum Thema sich gestaltet, gleichsam umgebogen, geknickt, durch fortwährendes Moduliren und unharmonisches Rücken höher oder tiefer gestellt, durch Rosalien fortgesetzt, dann angestückelt und wieder verkürzt, bald von diesem, bald von jenem Instrument wiederholt oder nachgebildet. Mit ängst licher Vermeidung jeder abschließenden Cadenz fließt diese knochen- und muskellose Gestaltung, sich immer wieder aus sich

selbst erneuernd, ins Unabsehbare fort. Ueberschaut man ganze große Partien dieser Art mit Einem Blick, so gewahrt man immer dieselbe Einförmigkeit des Total-Eindruckes, bei fort währender nervöser Unruhe und Störung des Details. Nur an den wenigen Stellen, wo ein lyrischer Ruhepunkt, eine Art Liedform schon im Texte geboten ist (die Gesänge Wal ther’s, das Schusterlied), concentrirt sich der Gesang wenigstens eine Weile hindurch zur selbstständigen, wirklichen Melodie; hingegen ist im ganzen Fortgang des Dramatischen, in den Monologen, Dialogen, Gesammtscenen der Faden der Melodie nicht in die Singstimmen, sondern ins Orchester verlegt, wo er als „unendlicher“ sich wie in einer Spinnfabrik gleichförmig abhaspelt. Diese melodienspinnende Orchester-Begleitung bildet eigentlich das zusammenhängende und selbstständige Tonbild in den „Meistersingern“, die Singstimme accommodirt sich dieser Begleitung, indem sie halb declamirend, halb singend ihre Phrasen einwebt. Man sieht, daß diese Methode des Componi rens der bisher von allen Meistern geübten entgegengesetzt ist. Die Melodie der Singstimme war jederzeit in der Conception des Tondichters das Erste und Bestimmende, welchem die Be gleitung (sei sie von noch so freier oder complicirter Bewe gung) untergeordnet wurde. Man konnte in der Regel zu der gegebenen Singstimme die Begleitung oder doch eine Be gleitung annähernd errathen und besaß hingegen in der Beglei tung für sich ein unselbstständiges Etwas. In den „Meister singern“ ist die Singstimme für sich allein nicht etwas blos Unvollständiges, sondern gar nichts; die Begleitung ist Alles, ist eine selbstständige symphonische Schöpfung, eine Orchester- Phantasie mit begleitender Singstimme ad libitum. Gibt man einem geschickten, mit Wagner’scher Musik vertrauten Musiker von den „Meistersingern“ nichts als das Textbuch und die Orchester-Begleitung, so wird er passende Singstimmen in die leeren Notensysteme eintragen können, etwa wie der Bildhauer die fehlende Hand einer aufgefundenen Statue ergänzt. Nie mandem würde es jedoch gelingen, zu der Partie des Hanns Sachs oder der Eva die verloren gegangene Orchester-Beglei tung nachzuschaffen, so wenig wie die ganze Statue zu einer abgetrennten Hand. Das natürliche Verhältniß ist auf den Kopf gestellt: das Orchester unten ist der Sänger, der Träger des

leitenden Gedankens; die Sänger auf der Bühne sind aus füllende Instrumente.

Um bei dieser Methode, welche keineswegs eine schärfer charakterisirende, specialisirende, sondern im Gegentheile eine nivellirende, verallgemeinernde ist, doch ein Mittel für die Charakteristik der Personen zu gewinnen und dem Ohr einen Rettungsanker in dem Ocean der melodischen Unendlichkeit zu schaffen, verwendet Wagner die sogenannten Gedächtniß- oder Leitmotive, d. h. Themen, welche im Orchester jedesmal an klingen, sobald eine bestimmte Person auftritt oder ein be stimmtes Ereigniß erwähnt wird. Die Zunft der Meistersin ger hat ihr eigenes marschartiges Motiv, der Lehrjunge David seine zappelnde Sechszehntel-Figur, desgleichen Walther und Sachs jeder sein Thema, gleichsam musikalische Uniformen, an welchen man die Leute im Gedränge oder in der Dämme rung erkennt. Nun begründen bei Wagner diese Gedächtniß motive nicht blos Personen-, sondern auch Sachenrechte. So bald irgendwer in der Oper vom Johannesfest oder dem Preis singen spricht, ertönt das Motiv Pogner’s aus dem ersten Act, das Motiv Walther’s begleitet nicht blos dessen Per son, sondern jede Anspielung auf ihn, auf Eva’s Liebe, auf die echte Poesie im Gegensatze zur zünftigen u. s. f. Nach dem das, worauf diese Motive anspielen, so ziemlich den gan zen Stoff der „Meistersinger“ ausmacht, überdies die Motive selbst die glücklichsten melodiösen Ansätze in der ganzen Oper sind, so bekommt man sie den ganzen Abend hindurch zu hören, einzeln oder zusammen, bald in dieser, bald in jener Orche sterstimme, heller oder dunkler gefärbt. Anfangs freut sich der Hörer an diesen Melodiechen, deren Verfolgen und Erkennen überdies den Verstand beschäftigt: je unablässiger sie uns aber hin und her schaukeln, desto unbehaglicher wird uns zu Muthe, fast wie in einer wirklichen Schaukel. Aus vier bis fünf sol chen Leitmotiven setzt sich fast die ganze Musik dieser Oper musivisch zusammen. Nichtig und sparsam angewendet, sind derlei Erinnerungsmotive von trefflicher Wirkung; in dieser Weise hat Weber mit dem Samiel-Motiv im „Freischütz“ ein unvergängliches Beispiel gegeben. Aber man soll aus einem glücklichen Aperçu kein ästhetisches Princip aufbauen. Scheint es doch, als seien diese allzeit getreuen Leitmotive, welche Wag

ner aus mancher Verlegenheit glänzend retteten, ihm in den Meistersingern“ fast gegen seinen Willen über den Kopf ge wachsen. Unwillkürlich dachten wir an jenen Touristen, der sich aus der Schweiz zwei Bernhardiner-Hunde mitbrachte; sie attachirten sich so treu und wachsam ihrem Herrn, daß dieser nicht mehr baden gehen durfte, ohne daß die Rettungs hunde ihm nachstürzten und ihn wider Willen herauszogen.

Die Partitur der „Meistersinger“ ist dem jetzt regieren den König von Baiern gewidmet, welchen Wagner zum Rege nerator des deutschen Theaters bestimmt, nachdem sein Groß vater Ludwig I. die bildenden Künste, sein Vater Maximilian die Wissenschaft und Poesie beschützt und gefördert habe. „Indem wir, zur Ergänzung und wahren Fruchtbarmachung der einzigen und großherzigen Bemühungen, welche für deutsche Kunst und Wissenschaft von München ausgingen, jetzt für die Krönung des Begonnenen durch die Erhebung des deutschen Theaters zu der ihm von unseren großen Geistern angewiesenen Bedeutung das befeuernde Beispiel des erhabenen Erben jener beiden großen Wohltäter des deutschen Geistes anrufen, pflanzen wir eine Fahne auf, deren Schatten das Gemeine ehrfurchtsvoll fern zu bleiben hat!“ („Deutsche Kunst und Politik“ von R. Wagner, p. 46) Der Ge sangsstyl in den „Meistersingern“ ähnelt oft frappant dieser Prosa. König Ludwig konnte für die Widmung der „Meistersingernicht glänzender danken, als durch die Freigebigkeit, mit wel cher er das Werk in München vorbereiten und aufführen ließ. Was diese Aufführung an Geld, Zeit und Arbeit nothwendig machte. Alles war von vornherein ohne Einschränkung bewil ligt. Chor und Orchester wurden verstärkt, für drei Haupt partien die Sänger Betz aus Berlin, Nachbaur aus Darmstadt, Hölzel aus Wien verschrieben, an Decorationen und Costümen das Prachtvollste angeschafft, was man sehen kann. Es versteht sich, daß die hervorragenden Sänger schon viele Wochen vorher von jeder anderen halbwegs anstrengenden Leistung ferngehalten waren. Wie gesagt, die Münchener Aufführung der „Meistersinger“ war in der That eine außer ordentliche Leistung. Wir meinen vor Allem die Besiegung der musikalischen Schwierigkeiten. Die Hauptrollen sind zwar physisch nicht so aufreibend als in „Tristan und Isolde“, allein das Gedächtniß der Sänger setzen sie auf eine harte Probe. Die umfangreichste Partie dürfte die des Hanns

Sachs sein. Der Baritonist Herr Betz sang sie vortreff lich, mit wohlthuender Männlichkeit und Würde, sonorer Stimme und deutlichster Aussprache. Letztere Eigenschaft (für diese Oper so unumgänglich nothwendig, daß ihr Mangel ganze Scenen unverständlich und effectlos macht) ist überhaupt fast allen Mitwirkenden, besonders den Herren Bausewein (Pogner), Schlosser (David) und Frau Dietz (Magda lena) nachzurühmen. Herr Betz verdient für seinen Hanns Sachs um so größeres Lob, als die darauf verwendete unsäg liche Mühe sich nicht lohnt und die Partie durchaus undank bar ist. Sachs hat zahlreiche Monologe und Dialoge, mit welchen er die Zuhörer unaussprechlich langweilt, aber in sei ner umfangreichen Rolle nicht Eine Scene, in welcher er als Sänger glänzen und das Publicum enthusiasmiren könnte. Nicht so stark und schwierig, aber ebenso undankbar ist die Rolle Eva’s; sie beginnt eigentlich erst, wo die Oper dem Ende zugeht, nämlich in dem früher erwähnten Quintett des dritten Actes. Fräulein Mallinger, eine ungemein begabte Künst lerin von schöner, wenn auch nicht sehr starker Stimme und von anmuthiger Persönlichkeit, machte das Möglichste aus die ser unbedeutenden Rolle, welche eher noch der Schauspielerin als der Sängerin ein einigermaßen günstiges Feld darbietet. Die lohnendste Aufgabe in der Oper fällt dem Ritter Wal ther zu. Herr Nachbaur, dessen angenehme Tenorstimme und warmer Vortrag dem Wiener Publicum bekannt sind, leistete als Sänger Ueberraschendes; als Schauspieler stand er, steif und geziert, hinter den Uebrigen zurück. Mit wahrer Freude sahen wir Herrn Hölzel wieder, welcher die schwierige Partie des Beckmesser vortrefflich durchführte und durch seine drastische Komik mehr als einmal wirksam nachhalf, wo dem Dichter und Componisten der Humor vollständig ausgegangen war. Wir müssen aus Anlaß dieser eminenten Leistung Hölzel’s den oft und vielseitig ausgesprochenen Wunsch wieder holen, es möchte unser Hofoperntheater diesen altbewährten Lieb ling des Wiener Publicums endlich wieder für sich gewinnen. Chor und Orchester des Münchener Theaters sind aus der Tonschlacht der Meistersinger“ siegreich hervorgegangen, man muß es schon hoch anschlagen, wenn diese unerhört schwierigen Ensembles nicht geradezu auseinanderfallen. Das Hauptverdienst dabei, wie überhaupt an der präcisen Aufführung der Oper, hat

Herr v. Bülow, der das Orchester dirigirte. Es gehört low’s ganze Energie und Beweglichkeit, sein fabelhaftes Ge dächtniß und seine enthusiastische Hingebung an Wagner dazu, um ein solches Resultat zu erzielen. R. Wagner selbst, der die Proben auf der Bühne leitete und das Arrangement bis ins kleinste Detail überwachte, hat, ein geborner Opern- Regisseur, seine wahrhaft geniale Begabung für die Mise-en- scène neuerdings glänzend bewährt und verwerthet. Die ruhig und verständig leitende Hand, welche unsichtbar die Zügel des Münchener Phaёton-Gespannes lenkt, dürfen wir nicht ver gessen, es ist die Hand des Freiherrn v. Perfall, des lie benswürdigen, feingebildeten Künstlers und Intendanten. Er hofft die „Meistersinger“ noch etwa viermal mit der gegenwär tigen Besetzung geben und dann die mitwirkenden Gäste theils durch einheimische, theils durch neu zu engagirende Künstler ersetzen zu können.

Die Münchener Aufführung der „Meistersinger“ wird jedem Musikfreunde ein denkwürdiges Kunsterlebniß bleiben, wenn auch keines von jenen, deren echter Schönheitssegen uns beglückend und läuternd weiter durchs Leben begleitet. Wir erblicken in dieser Oper kein Werk von tiefer Ursprünglichkeit, von bleibender Wahrheit und Schönheit, sondern ein interes santes Experiment, das durch die zähe Energie seiner Durch führung und die unleugbare Neuheit, nicht sowol des Erfun denen als der Methode des Erfindens, frappirt. Nicht die Schöpfung eines echten Musik-Genies haben wir kennen gelernt, sondern die Arbeit eines geistreichen Grüblers, welcher — ein schillerndes Amalgam von Halb-Poet und Halb-Musiker — sich aus der Specialität seines in der Hauptsache lückenhaften, in Nebendingen blendenden Talentes ein neues System geschaffen hat, ein System, das in seinen Grundsätzen irrig, in seiner consequenten Durchführung unschön und unmusikalisch ist. Wir zählen die „Meistersinger“ mit Einem Worte zu den interes santen musikalischen Ausnahms- oder Krankheits-Erscheinungen. Als Regel gedacht würden sie das Ende der Kunst bedeuten, während sie als Specialitäten uns immerhin bedeutender und nachhaltiger anregen, als ein Dutzend Alltags-Opern jener zahlreichen gefunden Componisten, denen man um die Hälfte zu viel Ehre erweist, wenn man sie Halbtalente nennt.