Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1450. Wien, Sonntag den 13. September 1868 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1450. Wien, Sonntag den 13. September 1868 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 13.09.1868
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Vom Hofoperntheater.

Ed. H. Ein musikalischer Berichterstatter sollte es sich in diesem Augenblicke dreimal wohl überlegen, ehe er die halbver gessene Feuilletonfeder wieder zur Hand nimmt. Denn nach welcher Richtung diesseits und jenseits der Ringstraße er auch ausblicke, nirgends winkt ihm ein musikalisches Ereigniß von Bedeutung und Interesse. Die Musik ruht in diesen Monaten ausschließlich auf der Thätigkeit des Hofoperntheaters; ruht im bequemsten Sinne des Wortes. „In der Oper geschieht nichts,“ so lautet unfehlbar der Refrain aller Gespräche, welche über dies Institut laut werden. Man kann den Eindruck nicht länger abwehren, daß hier ein Umschlag der öffentlichen Meinung stattgefunden habe. Dieser Umschlag ist kein günstiger. Er vollzog sich allmälig, von der Höhe eines allzu sanguinischen Vertrauens herabschwenkend bis zur förmlichen Unzufriedenheit. Glücklicherweise hat sich letztere noch nicht festgesiedelt, sie klopft erst an und scheint bereit, beim Anblick der ersten erfreulichen Thaten (nicht Versprechungen) zu fliehen. Aber auch auf dieses Klopfen muß man beizeiten Acht haben.

Herr v. Dingelstedt betrat das verwaiste Opern theater zu glücklicher Stunde. Sein Vorgänger hatte ihm den Erfolg ungemein leicht gemacht; die allgemeine wohlverdiente Unbeliebtheit desselben bereitete dem Nachfolger den liebe vollsten Willkomm. In diese günstigen Verhältnisse konnte andererseits kaum eine Persönlichkeit vortheilhafter eintreten, als Dingelstedt. Es war ein lebhaftes, aber kein blindes Vertrauen, das ihm entgegenkam. Er brachte einen glänzenden Namen mit und vorwiegend gerade solche Eigenschaften, welche an unseren früheren Opern-Directoren am schmerzlichsten ver mißt wurden. Ein Kärntnerthor-Director, der ein reines Deutsch sprach und sogar schrieb, das allein wirkte schon phä nomenal. Nicht genug. Unter allen Opern-Directoren weit und breit ist Dingelstedt der berühmteste Schriftsteller, der feinste, liebenswürdigste Gesellschafter, zum Ueberfluß noch der stattlichste Mann. Boshafte Leute argwöhnen, daß wir Kritiker

vor den Augen junger Sängerinnen gleichsam im Feuer exer ciren — diesmal hatten die schönen Augen des Directors wacker das Ihrige gethan. Alle Herzen flogen ihm zu und nicht blos weibliche. Gluck’s „Iphigenia in Aulis“, noch unter der früheren Direction besetzt und einstudirt, warf bereits ein verklärendes Frühroth auf Dingelstedt’s neue Laufbahn. Er hatte, eben erst hier angekommen, nur die letzte Hand an die Vorstellung an gelegt, aber mit so viel Eifer und Haltung, daß das gesammte Personal plötzlich unter dem Zauber der neuen Persönlichkeit stand und über das gewohnte Maß unserer Gesammtleistungen hinauswuchs. Ein Jahr ist seither ins Land gegangen, und wir fragen: was wurde geleistet? Sehr wenig. Das ganze Resultat dieses Jahres waren eine neue Oper („Romeo“) und zwei durchgefallene Ballette. Mehrere Opern wurden scenisch ein wenig aufgefrischt, was man dankbar anerkannte, aber keineswegs classische Werke aus vergangener oder halbvergangener Zeit, sondern eben nur allbekannte Repertoirestücke, die eine Weile gestockt hatten, wie „Lucrezia Borgia“, „Die Favoritin“, Der Postillon“. Die einzige thatsächliche Bereicherung bleibt Gounod’s „Romeo“. Die Aufführung war glänzend und sprach namentlich in scenischer Hinsicht laut zu Gunsten der neuen Direction. Aber seit jenem 5. Februar — welch grauen hafte Stille! Ließ sich mit den reichen Kräften unserer Oper, die noch durch zahlreiche Gäste fortwährend Succurs erhielt, seither gar nichts Neues bringen, gar nichts zu früh Ver gessenes wiederbeleben? Das Repertoire des Operntheaters ist zum Entsetzen monoton, monotoner als seit Menschengedenken. Immer wieder „Romeo“, „Faust“, „Afrikanerin“, „Rigolettound die abgeleiertste aller angeblich komischen Opern, Martha“. Wagner’s „Lohengrin“, seit längerer Zeit nicht gegeben, war für den letzten Samstag ver sprochen, verschwand aber mehrere Tage früher geheimniß voll wieder vom Repertoire. Kein erfrischender Luftzug, der diese Stagnation unterbräche. Die vielen Gastspiele können wir als Ersatz nimmermehr ansehen. Zahlreiche, rasch auf einanderfolgende Gastspiele sind überhaupt vom Uebel, sie bringen eine schädliche Unruhe in den Pulsschlag einer großen Bühne, verwirren und entwerthen das einheimische Personal.

Ueberdies waren unsere Gäste (mit Ausnahme Sontheim’s) meistens anständige Mittelmäßigkeiten, worunter auch einige nicht anständige. Eine Reihe dunkler Ehrenmänner, von Herrn Hacker und Herrn A. Walter an, die wir gehört, bis zu den Fräulein Reiß und Pauli, die wir nicht gehört, aber gelesen.

Unter dem Geflatter dieser mehr oder minder kostspie ligen Zugvögel klafften die Lücken im eigenen Hause. Fräulein Murska ist noch nicht ersetzt. Das Engagement der Colo ratur-Sängerin Pauli-Markovits zerschlug sich abermals, und zwar, wie verlautet, an der Bedingung, daß der Prinz- Gemal, Herr Pauli, für kleine Tenorpartien mit engagirt werden müsse. Herr Pauli ist allerdings ein saurer Apfel, aber ist vielleicht Herr Wachtel junior eine Ananas? Herr Wachtel war von seinem ersten Auftreten an eine Unmöglich keit für das Hofoperntheater. Trotzdem singt er weiter, unter dem Lachen des Publicums — das ist gar nicht zum Lachen. Neben Herrn Wachtel Sohn gestellt wächst Herr Prott, der vorschnell geopferte, förmlich zum Wachtel Vater. Was in revolutionirten Zeiten die politische Klugheit lehrt: keinen Mi nister zu stürzen, ehe man einen besseren in petto hat, das paßt auch auf Tenoristen. Herr Zottmayr hat uns ver lassen — möge er uns ob unserer trockenen Augen nicht zür nen! — ein Ersatzmann für ihn ist aber noch nicht vorhanden. Einen Baßbuffo haben wir noch immer nicht, einen Spiel tenor ebensowenig.

Von den engagirten Mitgliedern werden manche häufig zurückgesetzt, andere ungebührlich vorgedrängt. Zu den letzteren gehört Fräulein Siegstädt, eine fleißige und verläßliche junge Sängerin, die wir in ihrer Sphäre aufrichtig schätzen. Ein Fehlgriff scheint es uns jedoch, ihr Rollen wie Ines in der Afrikanerin“, Urban in den „Hugenotten“, Pamina und Mathilde zuzutheilen, denen sie nicht gewachsen ist. Mit einer Stimme ohne Schmelz und Wärme, bei auffallendstem Mangel an dramatischem Talent und etwas karg zugemessener Persönlichkeit, wird man auf unserer Bühne am besten bei der Friedensmission der „Freundinnen und Vertrauten“ blei ben. Um im Regiment zu avanciren wie die Benza und Ra

batinsky, muß man auch deren Talent und Mittel besitzen. Ein bureaukratisch stufenweises Hinaufrücken kann nicht Regel sein in der Kunst. Man lasse Fräulein Siegstädt auf ihrem früheren, gar nicht unwichtigen Platze; sie ist immer eine schätzbare Stimme im Ensemble, aber kein Solo-Instrument.

Im Ballet haben wir den Abgang der Meisterin Couqui und der blühenden Rosenknospe Bianca Lucas zu beklagen. Wir haben Claudine Couqui immer für eine der allerbesten Tänzerinnen gehalten, die man gegenwärtig an irgend einer Bühne finden kann, und wir halten sie noch dafür. Sie hat freilich ihre schönste Blüthenzeit hinter sich und mußte darob manch allzu hartes Wort hören. Demungeachtet hat sie bis auf den letzten Tag durch die Anmuth ihrer Bewegungen und die beseelte Freundlichkeit ihrer Gesichtszüge auf der Bühne einen ästhetischeren Eindruck hervorgebracht als die meisten ihrer jüngeren Colleginnen. Auf dem Theater entscheidet der Schein, nicht der Taufschein. Für uns lag nicht in den technischen Virtuosen-Stücken der Couqui, sondern in der angebornen Grazie, in dem stets fröhlichen, mühelosen Fluß ihres Tanzes der Hauptvorzug ihrer Kunst. In dieser seltenen Leichtigkeit der Bravour erinnerte Claudine Couqui an die Murska; diese sang wie jene tanzte, oder umgekehrt. Die Anmuth über wog entschieden das Charakteristische im Tanz der Couqui, consequent war letztere bedeutender als Tänzerin, denn als dramatische Darstellerin. Sie traf zwar den mimischen Aus druck jederzeit richtig und gewandt, doch kam er meist etwas conventionell, auch übertrieben zum Vorschein, nicht tief und einfach genug. In dieser Hinsicht erscheint Fräulein Salvioni ihrer Vorgängerin überlegen. Eine geniale, ursprüngliche Kraft, die mit hinreißender Eigenthümlich keit wirkte, vermochten wir zwar in der Salvioni nicht zu entdecken, aber einzelne hochgespannte dramatische Aufgaben, wie die Schlußscene der „Esmeralda“, löste sie mit feinem Verständnisse und großer sinnlicher Gewalt. Für etwas mehr oder weniger an virtuosen Kunststücken haben wir wenig Hochschätzung, wol auch zu wenig Verständniß. Das Wesentliche bleibt, daß Alles, was eine Tänzerin überhaupt ausführe, von Innen heraus beseelt erscheine, anmuthig, frei und mühelos. Auch darin gibt es Gradunterschiede. Man

wird von der Grazie und Leichtigkeit Fräulein Salvioni’s sehr befriedigt sein, wenn man nicht von vornherein über spannte Vorstellungen mitbringt, was vielleicht in Folge eini ger Berichte unser Fall war. Auch muß man sich unter der Salvioni keine schlanke Frühlingsblüthe vorstellen, ihre Schön heit ist die der reifen Aehre. Die plastische Regelmäßigkeit und Fülle ihres Körpers rühmt man mit Recht, die Gesichts züge sind von stark südlichem Gepräge, mehr energisch als lieblich. Wir haben Fräulein Salvioni blos in einer Rolle (als Esmeralda) gesehen, die jedenfalls für die weitere Thä tigkeit dieser beim Publicum bereits hochbeliebten Künstlerin unser Interesse erregt. Die Ausstattung des Ballets „Esme ralda“ war recht dürftig und verschlissen, weit störender jedoch be rührten uns einige musikalische Versetzstücke im Orchester. Man hatte nämlich für die Tänze des zweiten Actes ein Potpourri aus Offenbach’sGroßherzogin von Gerolsteinzusammengestoppelt, das zu der Handlung wie zu der übrigen Musik des Ballets schlechterdings nicht passen will. Victor Hugo’s poetische Esmeralda zur Musik des „Säbelliedes“ tan zend (obendrein in verzerrend schnellem Tempo) — das ist doch ein Stückchen ästhetischer Barbarei? Ballete älteren Da tums verlangen allerdings hie und da modernere Musik-Einlagen, aber sind denn unsere Ballet-Dirigenten so völlig erfindungs los geworden, daß sie den Vorstadtbühnen die abgeleiertesten Couplet-Melodien für ernste Ballete entlehnen müssen? Me lodien, die obendrein die betreffende Possenscene sofort dem Zuschauer störend ins Gedächtniß rufen? Uns dünkt, in einem Institute von dem Range des Hofoperntheaters streite derlei Gerolstein’sches Säbelregiment gegen den künstlerischen Anstand.

Wir haben die bedauerlichen Lücken im Personalstande aufgezählt; dafür erfreuen wir uns wenigstens des neuen Er werbes von drei Künstlern, die nicht auf der Bühne agiren. Es sind dies der vortreffliche Violoncellist Popper, der gleichfalls sehr gerühmte Geiger Grün — Beide als Solo spieler für das Orchester gewonnen — endlich der geistvolle Zeichner Franz Gaul. Dieser wurde zum Costumier des Hofoperntheaters ernannt, eine Aufgabe, welche Gaul’s echte Künstlernatur nicht nur höher auffaßt, als dies seine Vor gänger thaten, sondern für welche er durch specielle Vorliebe,

umfassende historische und ethnographische Studien und ein seit Jahren gesammeltes reiches Material vor Allen be rufen ist.

Als nächste Novität (wahrscheinlich für Mitte October) ist „Mignon“ von Ambroise Thomas versprochen, unter der spärlichen Zahl erfolgreicher Novitäten gewiß eine der an ziehendsten. Möge man es nur nicht dabei bewenden und wieder eine Pause von zehn Monaten nachfolgen lassen! Wir werden, wie Hamlet sagt, mit Versprechungen gefüttert, eine Nahrung, die hungrig und mißtrauisch zugleich macht. Was sollte nicht Alles „demnächst“ in Angriff kommen! Loreley“ von Max Bruch, „Astorga“ von Abert, „Hamletvon A. Thomas, „Die Meistersinger“ von Richard Wagner, „Der Glückstag“ von Auber, „Das Landhausvon Käßmayer etc. Dazwischen taucht die älteste Seeschlange, Herrn Sulzer’sJohanna von Neapel“, mit erheiternder Consequenz alljährlich wieder auf.

Ob gerade „Johanna“, das dringendste Bedürfniß sei, wagen wir nicht zu entscheiden, aber irgend eine Novität sollte rasch nach „Mignon“ vorbereitet werden, um das Vertrauen in die Energie der Direction wieder zu heben. Die so verklärt klimpernden Kassenausweise in der Wiener Zeitung genügen nicht; es wäre doch gar zu traurig, sollte eine Großstadt wie Wien ihr einziges kleines Opernhaus nicht füllen können wäh rend der Zeit des größten Fremdenzudranges und der Burg theater-Ferien obendrein. Die Zufriedenheit des einheimischen ständigen Publicums muß zurückerobert werden, mit eigenen Kräften. Wir wünschen wieder Leben und Bewegung in das Institut gebracht, wünschen eine starke, nicht blos eine weiße und schön geformte Hand planvoll die Zügel lenken zu sehen. Die vielen, sich bedenklich häufenden Störungen im täglichen Dienst wollen wir nicht auf Rechnung des abwesenden Direc tors setzen, obwol sie auf eine stark gelockerte Disciplin hin deuten. Vom Herzen gönnen wir Dingelstedt seine Muße im Seebade. Möge er uns erfrischt und gekräftigt zurückkeh ren! Dann aber komme die Reihe der Kräftigung und Er frischung an das Operntheater.