Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1546. Wien, Freitag den 18. December 1868 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1546. Wien, Freitag den 18. December 1868 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 18.12.1868
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Alle Werke, Orte, Personen, Daten ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Neue Bücher über Musik.

Ed. H. Es scheint, als ob gegenwärtig die Tonkunst in Deutschland mehr literarische als musikalische Fruchtbarkeit be sitze, indem sie fast ebenso viele Bücher über Musik als Par tituren zu Tage fördert. Glücklicherweise finden sich unter die sen allerjüngsten Productionen mehrere sehr interessante, ganz geeignet, auch einen weiteren, nicht blos fachmännischen Leser kreis anzuziehen. Den größten, verbreitetsten Antheil erobern sich wol Eduard DevrientʼsErinnerungen an Felix Men delssohn-Bartholdy“ (Leipzig, bei J. J. Weber). Es sind höchst anziehende Mittheilungen, die eine Perlenschnur von Briefen Mendelssohnʼs an Devrient kostbar durchflicht. Vor ähnlichen biographischen Nachlesen hat dies Buch noch den eigenthümlichen Vorzug, daß nicht blos Eine, sondern zwei uns werthe bedeutende Persönlichkeiten ununterbrochen in enger Ge meinschaft auftreten. Neben Mendelssohn, dem Helden des Buches, tritt uns der Erzähler selbst in liebenswürdigster Weise persönlich nahe. Eduard Devrient, der Verfasser der vortrefflichen „Geschichte der deutschen Schauspielkunst“, gegen wärtig Dramaturg des Hoftheaters in Karlsruhe, war einer der vertrautesten Freunde Mendelssohnʼs und von diesem zärt lich geliebt. Devrient hat 26 Jahre von Mendelssohnʼs 38jäh rigem Leben in Freundschaft und steter künstlerischer Wechsel wirkung mit ihm verlebt; er war es auch, den die Familie Mendelssohnʼs mit der Abfassung einer Biographie betraut wissen wollte. Devrient lehnte diese ehrende Aufforderung ab; er findet es „gut und Mendelssohnʼs Eigenthümlichkeit ange messen“, daß von ihm keine eigentliche Biographie existire. Eine paradoxe Behauptung, welche Devrient zu erklären nicht einmal versucht und die auch schwerlich Jemanden überzeugen wird. Sind doch Devrientʼs „Erinnerungen“, wie sie uns vor liegen, selbst eine Art Biographie in freier Form, Mendels sohn von der Wiege bis zum Grabe begleitend und auf jeder Wegstrecke Neues und Bedeutendes von ihm erzählend. Am meisten erfahren wir aus Mendelssohnʼs Knaben- und Jüng lingsjahren. Devrient war als Bariton bei der Berliner Oper angestellt, als er den 13jährigen Mendelssohn kennen lernte, in der „Sing-Akademie“ und einer Sing-Theegesellschaft“, wo dieser unter Erwachsenen in seinem Kinderanzuge stand: einer am Halse weit ausgeschnittenen Jacke, über welche das weite Beinkleid geknöpft war. Devrient beschreibt einen der Musikabende im Mendelssohnʼschen Hause, wo größere Com positionen von Felix probirt wurden. „Die Singenden saßen

um den großen Esstisch und nahe dem Flügel, an dem auf einem hohen Kissen Felix saß und unbefangen, ernsthaft und eifrig, als ob er ein Knabenspiel mit seinen Kameraden vor hätte, uns dirigirte und meisterte. Daß so viele erwachsene Personen um seiner Composition willen sich bemühten, schien ihn so wenig eitel zu machen, als daß er nun schon die dritte kleine Oper geschrieben hatte. Schon am ersten Abend fiel uns auf, daß das Persönliche und Eitle bei dem Knaben sehr schwach, dagegen das Verlangen: zu erfahren, zu lernen, zu prüfen, um der Sache willen weiterzukommen, entschieden vor herrschend war.“ Wir werden mitten in das schöne Familien leben eingeführt, in welchem Felix unter der Obhut einer überaus verständigen, tüchtigen und haushälterischen Mutter die sorgfältigste Erziehung erhielt. Die besten künstlerischen und wissenschaftlichen Lehrkräfte Berlins arbeiteten für die Bildung des Knaben; der junge Dr. Heyse (Vater des Dichters Paul Heyse) war Hauslehrer der vier Kinder, welche alle mit unge wöhnlichen Verstandesgaben ausgestattet waren. Der bedeu tende Charakter und Einfluß von Felixʼ Vater tritt durch Devrientʼs Darstellung in volles Licht. Zu seinen Lebzeiten wußte die Welt von Abraham Mendelssohn nicht viel mehr, als seinen scherzhaften Ausspruch: „In meiner Jugend hieß ich nur der Sohn des berühmten Mendelssohn (des Philo sophen), jetzt in älteren Tagen nur der Vater des berühm ten Mendelssohn; wer bin ich denn eigentlich?“ Diese eigen thümliche Stellung Abraham Mendelssohnʼs mag vielfach die sehr irrige Meinung erzeugt haben, der Mann sei wirklich nur eine Null zwischen zwei großen Zahlen.

Devrient schildert uns die überraschenden musikalischen Leistungen des kleinen Felix und läßt uns im Berliner Hof theater der ersten Aufführung von Mendelssohnʼs komischer Oper „Die Hochzeit des Cammacho“ im April 1827 bei wohnen. Der Erfolg dieses Versuchs war ein scheinbarer, die Familie konnte sich dessen freuen, der gegen sich selbst strenge Felix blieb verstimmt und unbefriedigt. Trotzdem nahm Mendelssohnʼs Schöpferkraft unmittelbar nach diesen widrigen Erlebnissen einen entscheidenden genialen Aufschwung: die Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“. Mit Recht bemerkt Devrient: Der Mendelssohn, wie die Welt ihn besitzt und liebt, datirt von dieser Composition. Charakteristisch und amusant ist die Geschichte, wie die beiden jungen Freunde, Mendelssohn und Devrient, jene denkwürdige Aufführung der „Matthäus- Passion“ von Sebastian Bach (1829) zu Stande bringen, welche dieses hohe Werk nach hundertjährigem Schlaf zu neuem Leben rief. Devrient gebührt die Ehre der ersten Anregung dieser Idee, welche selbst Mendelssohn anfangs für unausführbar an

sah und mit beißender Ironie aufnahm. Aber Devrient ließ nicht nach; er sah ein, daß eine öffentliche Aufführung der Passionsmusik nur möglich sei, wenn Mendelssohn das Werk dirigire und zuvor mit ihm alle Personen dafür gewänne, die für das Vorhaben einflußreich und gefährlich waren. Der alte Zelter stand, als Director der Sing-Akademie, an der Spitze dieser Mächte. Wie die beiden Freunde klopfenden Herzens bei ihm eintreten, anfangs Grobheiten einstecken müssen, endlich aber durch unablässiges Zureden den knorrigen Alten dennoch erweichen, ist überaus hübsch geschildert.

Indeß fühlte Mendelssohn nach seinen ersten dramatischen Versuchen ein lebhaftes Verlangen, jetzt mit gereiftem Wissen und Können wieder eine Oper zu componiren. Devrient fachte dies Verlangen unablässig an und schrieb für den Freund das Operngedicht „Hanns Heiling“, dasselbe, welches später in Marschner einen trefflichen Componisten fand. Mendels sohn aber konnte sich mit dem Buche nicht befreunden. An diesen und zahllosen anderen Operntexten, die ihm im Laufe der Jahre zu Handen kamen, fand er stets so Vieles auszu setzen, daß er leider starb, ohne seinen Lieblingswunsch erfüllt zu haben. Wiederholt bespricht er neue Opernstoffe mit Devrient, er setzt sich deßhalb in Verbindung mit Immer mann, Gutzkow, Holtei (auch mit Bauernfeld und Prechtler, wie wir ergänzen können), keiner dieser Dichter bringt ihm die gewünschte Erlösung. Holtei that damals die treffende Aeußerung: „Mendelssohn wird niemals einen Operntext finden, der ihm genügt; er ist viel zu gescheit dazu.“ Und dies Wort hat sich bewährt. Nachdem Mendels sohn mit Devrient außer dem „Heiling“ noch die Sagen vom Blaubart, vom Drosselbart, die Geschichte des Kohlhas, des Andreas Hofer, den Bauernkrieg und andere Opernstoffe wiederholt besprochen hatte, blieb er endlich bei der „Loreleystehen. Devrient nahm auf den Geibelʼschen Text, der schon im Entwurfe vielfache Aenderungen nothwendig machte, wie es scheint, bedeutenden Einfluß. Dennoch, als Mendels sohn im Februar 1847 das fertige Libretto von Geibel em pfing, reichte er es Devrient mit resignirter Miene: „Da ist es,“ sagte er, „sieh es an und nenne mich nicht wieder eigen sinnig und grillig, wenn ich dir sage: so kann ich es nicht componiren.“ Hauptsächlich aus Rücksicht für Jenny Lind, welcher die Titelpartie bestimmt war, entschließt er sich trotz dem zu der Composition, er geht an die Arbeit und — sinkt mit einem Bruchstücke derselben ins Grab. Diese „Hamlets- Tragik in seinem Opernschicksal“ zieht sich, wie durch Mendels sohnʼs ganzes Leben, so auch ununterbrochen durch Devrientʼs Erinnerungen“. Wir haben nur einen kleinen Theil aus dem

reichen Stoffe dieses Buches hier berührt, da wir die Wiß begierde des Lesers keineswegs stillen, sondern zur Lectüre des ganzen Buches anreizen wollen. Die zahlreichen eingewebten Briefe Mendelssohnʼs an Devrient enthalten nicht blos höchst anziehende Mittheilungen über sein musikalisches Leben und Wirken (insbesondere aus der Düsseldorfer und der späteren Berliner Periode), sie zeigen uns Mendelssohn auch in seinen intimsten Beziehungen im schönsten Lichte reiner und voller Menschlichkeit.

Ein Buch schwereren Kalibers ist „Händel und Shake speare“ von G. Gervinus. (Leipzig, bei Engelmann, 1869.) Wir zweifeln, ob dieser seltsame Ausflug auf musika lisches Gebiet den Ruhm des gelehrten Literatur-Historikers erhöhen werde. Schon der Titel des Buches bereitet uns eine Täuschung, denn „Händel und Shakspeare“ bildet keines wegs den Inhalt des Ganzen, sondern (mit Seite 324 begin nend) nur des letzten Drittels dieses starken Bandes. Die beiden anderen Drittel bringen zwei selbstständige Abhandlun gen über die historische Entwicklung und die ästhetischen Grund lagen der Tonkunst — Studien, die mit dem Thema „Händel und Shakspeare“ schlechterdings nichts zu schaffen haben. Wenn der Verfasser diese theoretische Einleitung (?) „ein massiges Piedestal“ nennt, „dessen Aufrichtung nothwendig erschien, um Händel auf die Höhe zu erheben, auf der er gesehen werde muss“, so suchen wir unsererseits umsonst diese „Nothwendig keit“ zu begreifen. Was hat Händel zu thun mit der Musik der alten Griechen und den polyphonischen Versuchen des Mit telalters, mit den ersten Regungen der menschlichen Vernunft und Sprache oder der umständlichen Untersuchung, ob die Men schen den Gesang von den Vögeln gelernt haben? Der Ver fasser will eben ad vocem „Händel“ Alles auf einmal abla gern, was er über Musik gedacht und gelesen hat, und be schließt, um dem „Wirrsal der Meinungen“, ein Ende zu ma chen, die Geschichte und Aesthetik der Musik hier „vom Ei und Keim anzuheben“. Zwei Geständnisse, die der Verfasser in der Widmung selbst macht, wird man als vollkommen wahr erkennen: daß sich erstens unter seinen Ansichten kaum etwas Neues findet, und zweitens, daß er, ein Laie, von der Technik und Wissenschaft der Musik so gut wie nichts versteht. Letz teres zu untersuchen ist hier nicht der Ort, auch haben Bag geʼsDeutsche Musikzeitung und andere Fachblätter die Halt losigkeit von Gervinusʼ musikalischer Aesthetik und Geschichts anschauung schon vor längerer Zeit dargethan. Der Dilettan tismus des Verfassers verräth sich zunächst in der schroffen Uebertreibung seiner Aussprüche. Gervinus begnügt sich nicht, den ihm mißfälligen Satz, daß der Tondichter kein Vorbild für seine Kunst in der äußeren Natur finde, zu bekämpfen, sondern geht

gleich so weit, zu sagen, der Musik sei dies Vorbild noch viel mehr gegeben, als anderen Künsten. Händelʼs Arien, dem allgemeinen Urtheile entgegen, auf gleiche Höhe mit dessen Chören zu setzen, das ist dem Verfasser noch nicht genug, er erwartet von „jedem Kenner“, daß dieser eher auf Händelʼs Chöre, als auf die Sologesänge verzichte! Ebensowenig genügt es ihm, die Berechtigung der Vocalmusik neben der Instrumental-Composition zu verfechten, er verfolgt letztere mit einer wahrhaft persönlichen Gehässig keit bei jedem Anlasse. Die Freude an Instrumental-Musik ist ihm eine sinnliche Feinschmeckerei, ein Schwelgen in Räth seln und Träumen, ein physiologischer Nervenreiz. Sie sind ihm alle fatal und verdächtig, „die Kenner und Halbkenner, welche eine Begeisterung zu empfinden meinen oder vorgeben für das, was ihr Herz nur gerade so oberflächlich wie ihren Geist berührt.“ Die Concertbesucher also, welche einer Beetho venʼschen Symphonie entzückt horchen, sind Thoren oder Heuch ler, wenn sie aber gleich darauf eine Händelʼsche Coloratur- Arie da capo verlangen, sind sie weise und aufrichtig! Echt dilettantisch ist vollends die maßlose Abgötterei, die Gervinus mit seinem musikalischen Schutz- und Hausheiligen, mit Hän del, treibt. Er scheint diesen Componisten genau zu kennen, aber auch nur diesen. Bei aller Verehrung für den großen Tonmeister finden wir eine Ueberschätzung schon darin, ihn mit Shakspeare auf Eine Linie zu stellen. Eine Verwandt schaft des künstlerischen Charakters mag man behaupten, aber welche Verschiedenheit des Talents! Wo findet sich bei dem kraftvollen, aber zur Einseitigkeit und Selbstwiederholung nei genden Händel die geniale Mannichfalt, der Gestaltenreichthum, die geistreiche Tiefe des englischen Dichters! Mit Shakspeare ist in der Musik nur Mozart in seinem „Don Juan“ und Figaro“ zu vergleichen, und falls es erlaubt wäre, hier das Gebiet des Dramatischen zu verlassen, Beethoven in seinen Quartetten und Symphonien. Shakspeareʼs Dramen wirken heute noch mit voller Jugendkraft auf Alt und Jung, sie er schüttern jedes Herz, erheben jeden Geist, während Händelʼs Opern blos als werthvolle Raritäten aus einer längst vergan genen und nie wiederkehrenden Geschmacks-Epoche den Musik historiker interessiren. Nur im Oratorium steht Händel auf classischer Höhe und bleibt in lebendiger Wirksamkeit; für dies sein eigenstes Gebiet findet sich aber in Shakspeare kaum eine ungezwungene Parallele. In seinem einseitigen Cultus übersieht Gervinus sogar, wie seine eigenen Theorien durch Händelʼs Compositionen umgeworfen werden. Unter Ger vinusʼ ästhetischen Glaubensartikeln steht obenan: die Fähig keit der Musik, bestimmte Gefühle und Situationen auszu

drücken, und diese Fähigkeit findet er bei Händel zur höchsten Vollendung gebracht. Gervinus glaubt nachzuweisen, wie Hän delʼs Melodien überall auf das treffendste und feinste die bestimmte Situation und Empfindung wiedergeben; er spricht von dem „unlösbaren Verband“, in welchem Händelʼs Musik jederzeit mit der Dichtung stehe und welcher die specifisch dramatische Kraft dieser Musik „auch in ihren stereotypsten Formen“ begründe. Der Verfasser übersieht in seinem Eifer gänzlich, welch unpassendes Beispiel gerade Händel für solchen „unlösbaren Verband“ zwischen Wort und Melodie abgibt. Gerade Händel verfuhr, den naiveren Anschauungen seiner Zeit gemäß, sehr liberal in diesem Punkte. Weit entfernt, seine Musik überall aus Wort und Situation emporwachsen zu lassen, hat Händel ungenirt Melodien aus seinen italienischen Opern auf geistliche Stoffe übertragen und sogar in den „Messias“ eine Reihe von Melodien aus seinen für die Kurprinzessin Charlotte com ponirten, sehr weltlichen Liebesduetten genau übertragen. Kaum findet man bei einem anderen großen Componisten so zahlreiche und frappante Beispiele von der Verwendung ein und derselben Melodie für ganz verschiedene Empfindungen, Situationen und Charaktere. Wir entschuldigen es mit Gervinus vollständig, daß der Meister seine schöne Trauerhymne auf den Tod der Königin Caroline später noch in zwei Oratorien („Saul“ und Israel“) anderen Texten angepaßt hat, aber dann muß man nicht in Einem Athem (wie Gervinus thut) es eine „Blasphe mirung und Profanirung“ der Musik nennen, daß man in Deutschland dieselbe Musik als „Empfindungen am Grabe Jesu“ zu singen pflegt. Natürlich bewundert Gervinus in jeder noch so überladenen Bravourpassage, welche Händel für die Virtuosität einer Primadonna oder eines Castraten schrieb, den Ausdruck tiefster dramatischer Charakteristik; der altmo dische Rouladenzierrath des damaligen Opernstyls wird ihm bei Händel stets „zu der Sache selber, zur ungekünstelten und ganz unmittelbaren Wahrheit der Natur“! Ebenso versteht es sich von Gervinus von selbst, daß er Tonmalerei sichtbarer Dinge bei Händel (welcher in keinem anderen Punkte „so eng mit Shakspeare verglichen werden kann“) blindlings be wundert und Alles, was in früherer oder späterer Zeit an musikalischer Malerei geschaffen worden ist, als „ungeheuerliche Rohheit“ brandmarkt. Der Hieb zielt natürlich auch auf HaydnʼsJahreszeiten“ und Beethovenʼs Pastoral-Sym phonie. Aber was sind für GervinusHaydn und Mozart, Gluck und Beethoven ! In Händel sieht er das Wesen dieser vier Tondichter „gebunden und vereinigt“, sowie in Shakspeare die Gegensätze zwischen Schiller und Goethe!

Nach unserem Dafürhalten ist von allen großen Tondich tern Händel vielleicht am meisten das Kind seiner Zeit. Will man für die Verbreitung und Erkenntniß seiner Musik redlich wirken, dann muß man, statt mit banaler Bewunderung, mit dem Nachweis beginnen, was an diesen Schöpfungen das un vergänglich Wahre und Große ist, was hingegen der Zeit und ihren veralteten Formen angehört. Man führt unsere Zeit nicht zu Händel zurück, indem man weihrauchbetäubt das Rauchfaß gleichmäßig vor jeder seiner Noten schwingt und damit gele gentlich Sebastian Bach, Mozart oder Beethoven Eins versetzt. Wir fürchten im Gegentheile, daß die Leser, denen so Vieles gegen ihre Ueberzeugung aufgezwungen wird, das breite, red selige Buch mit der Empfindung aus der Hand legen werden, Händel für eine zeitlang eher entfremdet als gewonnen zu sein.

Wer sich von den einseitigen Tendenzen dieses Buches und seinem gereizten, bösen Tone wohlthätig erholen will, dem empfehlen wir die „Musikalischen Charakterbilder“ von Otto Gumprecht (Leipzig, bei A. Gumprecht). Unter unseren deutschen Collegen in der Musikkritik hat seit langer Zeit Gumprecht ganz vorzugsweise unsere Sympathien gewon nen. Wir fanden in jeder seiner Kritiken gründliche Musik kenntniß, vereint mit einer vielseitigen Bildung, treffendes Urtheil in sorgsam gefeilter, eleganter Form. Was uns in Gumprechtʼs Urtheilen noch speciell wohlthut, ist ein eigen thümlicher Zug von Wohlwollen und Milde, mit einiger Neigung zu stiller Beschaulichkeit. Seine „Musikalischen Cha rakterbilder“ (ursprünglich in verschiedenen Zeitungen erschie nen) enthalten biographisch-kritische Aufsätze über fünf epoche machende Componisten der Neuzeit: Franz Schubert, Mendelssohn, Weber, Rossini, Auber und Meyer beer. Kein gebildeter Freund der Musik wird Gumprechtʼs Buch ohne Vergnügen und Belehrung durchlesen. Leider müssen wir uns versagen, diese wie noch mehrere andere in teressante Novitäten so ausführlich zu besprechen, wie sie es verdienten. So hat J. v. Wasielewsky, der verdienstvolle Biograph Schumannʼs, ein sehr lehrreiches Buch unter dem Titel: „Die Violine und ihre Meister“ (bei Breitkopf und Härtel) veröffentlicht. Der Gedanke, die Biographie eines einzelnen Instrumentes, des wichtigsten Organes der Kammer- und Orchestermusik, zu schreiben, be darf nicht erst der Rechtfertigung, ebensowenig die Befähigung Wasielewskyʼs, welcher die Autorität des gründlich gebildeten Musikkenners mit jener des vorzüglichen Violinspielers verbindet.

Das Buch beginnt mit einer kurzen Einleitung über die „Kunst des Violinbaues“, behandelt hierauf die Violinspieler des 17. und 18. Jahrhunderts nach den drei Hauptnationen

(Italiener, Deutsche, Franzosen) und schließt mit den Geigern des 19. Jahrhunderts. Der Stoff ist sehr reichhaltig; nur daß er sich so gleichmäßig in einer langen Reihe von Biographien abspinnt (deren unwichtigere wir lieber als Randnoten gesehen hätten), macht die Lectüre etwas monoton. In Bezug auf Wiener Geiger bemerken wir dem geehrten Verfasser, dass Schuppanzigh im Jahre 1776 geboren ist, daß H. W. Ernst nicht Mayfederʼs, sondern Böhmʼs Schüler gewesen, daß E. Rappoldi nicht Mitglied der Hofcapelle ist, noch war, daß endlich nicht von JosephHellmesberger Compositionen erschienen sind, sondern von seinem jüngeren Bruder Georg, dessen Name jedenfalls Erwähnung verdient hätte. Auch sind uns einige chrono logische Unordnungen aufgefallen, z. B. daß Clement und andere im vorigen Jahrhundert geborene Künstler etc. erst an die Reihe kom men nachdem Joachim, Laub, Auer und andere Virtuosen allerneuerster Zeit besprochen sind. Clement (geb. 1780) gehört als Schuppanzighʼs Zeitgenosse und College offenbar in dasselbe Capitel mit Schuppanzigh.Wasielewskyʼs Arbeit ist für Musik-Historiker wie für Violinspieler vom größten Interesse.

Aus dem Fache der Musikgeschichte heben wir noch zwei kleinere, von Mozart handelnde Monographien hervor: „Mo zartʼs Requiem“ von Albert Hahn — ein auf sorgsamer Prüfung des Original-Manuscriptes fußender Beitrag zum besseren Verständniß des Werkes bei Aufführungen — und WurzbachʼsMozartbuch“ (Wien bei J. Klemm). Mit dem ihm eigenen bewunderungswürdigen Sammelfleiße hat C. v. Wurzbach in diesem Bändchen Alles zusammengestellt, was je von und über Mozart geschrieben worden ist, dazu eine Biographie Mozartʼs, Nachrichten über seine Frau und Söhne, ein Verzeichniß aller Mozart-Porträts, Büsten und Medaillen, ein Capitel über Mozartfeste und Mozart-Stiftungen, kurz was nur immer mit dem großen Meister im Zusammenhange steht. Ein durch Kürze und Vollständigkeit sich empfehlendes Seitenstück zu Wurzbachʼs ähnlicher Monographie über Joseph Haydn, Außer Mozart ist soeben auch ein zweiter, weniger bekannter, aber seinerzeit hochgefeierter Salzburger Tonmeister mit einer kleinen Monographie bedacht worden: Paul Hof haimer (geb. 1459, † 1537), der von Maximilian I. zum Ritter geschlagene berühmte Organist und Componist Horazʼscher Oden. Der tüchtige Chorregent Ignaz Achleitner in Salz burg hat einige dieser vierstimmig gesetzten Oden aufgefunden und sammt einer kurzen Biographie Hofhaimerʼs heraus gegeben — ein schätzbarer Beitrag zur Musikgeschichte des fünfzehnten Jahrhundertes.

Zwei neue theoretische Schriften (bei Breitkopf und Härtel erschienen) verdienen die Beachtung der Fachmusiker. Zuerst Moriz Hauptmannʼs posthumes Werk: „Die Lehre von

der Harmonik“. Der berühmte Musikgelehrte hatte sich dabei zum Ziele gesetzt, dieselbe Lehre, welche in seinem größeren Werke: „Die Natur der Harmonik und der Metrik“, entwickelt ist, zunächst den harmonischen Theil, in zusammengefaßterer und mehr praktischer Weise vorzutragen. Der Tod erreichte ihn vor Vollendung dieser Arbeit, welche nunmehr von seinem ehemaligen Schüler, dem kenntnißreichen Musikschriftsteller und Redacteur der „Tonhalle“, Dr. Oskar Paul, vervollständigt und herausgegeben wurde. Gleichfalls auf Grundlage eines früher erschienenen epochemachenden Werkes, nämlich Helm holtzʼLehre von den Ton-Empfindungen, hat Otto Tiersch ein „System der Harmonielehre“ verfaßt, welches nicht blos der Musikwissenschaft, sondern auch der praktischen Anwendung der Harmonielehre sich nützlich erweisen dürfte.

Inmitten dieses überraschenden Aufschießens so vieler No vitäten verfolgt unser gelehrter Landsmann Dr. A. W. Am bros mit rastlosem Eifer die Weiterführung seiner allgemei nen „Geschichte der Musik“ (Breslau bei Leuckart). Der dritte Band liegt seit Kurzem vor und enthält die Zeit der Niederländer bis zu Palestrina. Eine Fülle musikhistori schen Materials ist hier gesammelt, die Frucht einer seltenen Belesenheit und eines längeren wohlbenützten Aufenthaltes in Rom, Florenz und Bologna. Ambros führt zum erstenmale eine Reihe von Florentiner Componisten des 15. Jahrhun derts vor, die bisher unbekannt waren; er bringt wichtige und neue Beiträge zur Kenntniß der niederländischen Componisten und des zu ihrer Zeit herrschenden Musiksystems. Eine leb hafte Vorliebe für die (gewöhnlich zu Gunsten Palestrinaʼs stark herabgesetzten) Niederländer, besonders für Josquin de Près, bildet den Grundton dieser Ausführungen. Wir sehen dem nächsten Bande, welcher mit Pale strina beginnen soll, begierig entgegen, ebensosehr aber der vom Verleger in Aussicht gestellten Sammlung von Mu sikbeilagen. Mit der ihm eigenen Vorliebe für das Detail vertieft sich Ambros im dritten Bande in eine Menge ein zelner Compositionen, die uns heute gänzlich fremd und unzu gänglich sind — erst die Ergänzung des Wortes durch Musik beispiele wird dem Werke zu vollem und ganzem Nutzen ver helfen. Eine leichte, unterhaltende Lectüre, wie sie Ambros den Lesern dieser Zeitung in seinen witzigen „Blättern aus Italienbereitet hat, darf man in seiner „Geschichte der Musik“ nicht erwarten, sie ist nur wohlvorbereiteten, unterrichteten Musik freunden zugänglich. Als gründliche, durchaus auf eigener Forschung beruhende Arbeit hingegen behauptet Ambrosʼ Mu sikgeschichte eine ganz eigenthümliche und über ähnliche neuere Werke hoch emporragende Stellung.