Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1573. Wien, Freitag den 15. Januar 1869 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1573. Wien, Freitag den 15. Januar 1869 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 15.01.1869
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Oper und Singspiel. (Niemann. „Joseph und seine Brüder“. „Périchole“, von Offenbach.)

Ed. H. Ein Heldentenor, der heutzutage auf fremden Bühnen als Joseph in Méhul’s gleichnamiger Oper gastiert, ist gewiß eine seltene Erscheinung. Jeder reisende Künstler pflegt für seine Gastspiele eminent dankbare Aufgaben zu wäh len, und dankbar findet der Virtuose vor Allem das Schwierige und Anstrengende. Wenn ein moderner Tenorist, ganz im Gegensatze hiezu, als „Joseph von Egypten“ seinen Ruhm zu vergrößern weiß, so darf man eine ungewöhnliche Persönlich keit hinter ihm vermuthen. Als solche hat sich Herr Nie mann in der Titelrolle der Méhul’schen Oper vollständig bewährt. Wie unermeßlich weit liegt diese einfache biblische Gestalt, mit der Herzensgüte als einzigem Pathos, von dem Tumult widerstreitender Affecte, den Niemann als Tann häuser und Prophet uns so leidenschaftlich malt! Was mochte den gefeierten Sänger gerade an dieser Aufgabe locken, für welche doch bescheidenere Kräfte ausreichen? Die Lust wahrscheinlich, die gerade den tüchtigsten Virtuosen mitunter anwandelt, einmal auch zu zeigen, daß die Schwierigkeiten zwar seiner bedürfen, er aber nicht der Schwierigkeiten. Wir erinnern uns lebhaft, wie Dreyschock hier zu allgemeiner Verwunderung ein Concert mit Beethoven’s kindleichtem Trio Op. 1 eröffnete, das er zu ungewöhnlicher Wirkung zu heben sich nicht wenig zugute that. Jeder anständige Dilettant be wältigt dies Stück und keiner wird es vergreifen. Aehnliches, nur in viel höherem Grade, gilt von Méhul’s Joseph. Dieser einfache, in allen seinen Motiven klare, in allen seinen Aeußerungen sympathische Charakter kommt selbst dem ge wöhnlich begabten Darsteller so weit entgegen, daß eine Ge fahr des Verfehlens nirgends eintreten kann. Dessen äußeren Umriß befriedigend zu zeichnen, gelingt auch dem Anfänger, aber den ganzen, in diesem Umrisse möglichen Reichthum lebens

voller Schatten und Lichter zu errathen, geschweige denn her vorzubringen, vermag nur der Meister. Eine leichte Aufgabe für den gewöhnlichen Theatersänger, wird sie zur bedeutenden für den vorzugsweise dramatischen Künstler; sie wächst je nach den Anforderungen, welche der Darsteller an seine eigene Kunst stellt. Niemann hat an die Rolle des Joseph nicht weniger Liebe und Arbeit verwendet, als an die effectvolleren des Tannhäuser und Propheten. Was diese beiden Leistun gen an Glanz voraus haben, wird im Joseph durch die innere Wahrheit und Aufrichtigkeit der Musik aufgewogen. Die Wärme und der Schmelz von Walter’s wohlgeschulter Te norstimme verleiht dem lyrischen Erzählen Joseph’s ohne Frage einen größeren musikalischen Reiz, aber Niemann’s Dar stellung zeigte, was individualisirendes dramatisches Talent und declamatorische Kunst noch weiter aus dieser Rolle machen können. Es versteht sich, daß schon beim ersten Auftreten Niemann’s königliche Erscheinung uns das Bild von Joseph bedeutender, heldenhafter als gewöhnlich vor Augen führt und daß sie sofort den Anflug allzu weichlicher Milde verscheucht, der sonst diesem egyptischen Titus anhaftet. Joseph eröffnet die Oper mit einer Arie, in welcher die Sehnsucht nach der verlornen Heimat sich zur schmerzlichen Erbitterung gegen die unmenschliche That seiner Brüder steigert. Niemann’s Vor trag wußte dieses Musikstück, das in seinem formalen, akademischen Gepräge direct an Gluck erinnert, durchwegs dramatisch zu beleben. Die darauffolgende berühmte Romanze: „Ich war ein Jüngling noch an Jahren“, bekommt, wenn sie lediglich von Seite des musikalischen Wohllautes angefaßt wird, leicht etwas Zopfi ges, Leierndes. Dieser Gefahr entgeht Niemann vollständig durch die meisterhafte Behandlung des einzelnen Wortes und den charakteristisch verschiedenen Vortrag der drei musikalisch ganz gleichlautenden Strophen. Nun treten die Brüder auf, Joseph nicht erkennend, doch von ihm sogleich erkannt. Hier beginnt für den Darsteller eine schwierige und bedeutende dra matische Aufgabe, die bis zur letzten Scene der Oper fort dauert: Joseph, durch dieses Wiedersehen in heftigste, an

haltende Gemütsbewegung versetzt, muß sich gleichwol beherr schen und verstellen; sein Seelenkampf soll dem Zuschauer stets sichtbar, den Brüdern stets verborgen bleiben. Die Verstellung wird noch hundertmal schwerer und schmerzlicher für Joseph im Gespräche mit seinem alten Vater und dem geliebten Ben jamin. „Reprenons mon empire sur ce coeur agité“ — diese Worte, mit welchen Joseph nach Fassung ringt, bezeich nen für den ganzen Verlauf der Handlung die schwierige dra matische Aufgabe Joseph’s. Niemann löste sie mit überzeugen der Wahrheit und durchwegs in den würdigsten, einfachsten Formen. Im dritten Acte tritt Joseph weniger hervor; seine Rolle verrinnt mit der ganzen Oper im Sande langer ge sprochener Scenen. Man kann es daher nur billigen, daß Niemann den von Weigl hinzucomponirten Schluß benützte, welcher zwar musikalisch selbst kein bedeutendes Wort spricht, aber doch wenigstens Joseph noch einmal zu Worte kommen läßt und die Oper zu einem etwas breiteren Ausklingen. Zweierlei macht noch überdies die Rolle des Joseph zu einer für Niemann passenden: sie bewegt sich nicht in anstrengend hoher Stimmlage und bedarf für ihre zahlreichen und langen Prosa-Scenen eines guten Redners. In Herrn Niemann’s sono rem Sprechorgane und seiner correcten, natürlichen, ausdrucks vollen Rede lernten wir zwei neue Vorzüge des Sängers ken nen. Was in unserem letzten Berichte über die Mängel seiner Gesangskunst bemerkt war, können wir nicht widerrufen, brau chen es aber wol nicht jedesmal zu wiederholen. Auch als Joseph hat Herr Niemann durch das gleichmäßig breite Aus strömen des Tones, durch forcirte Behandlung der höheren Stimmlage und zu hoch schwebende Intonation das Ohr in manchem Momente unfreundlich berührt. Diese Flecken sind nicht wegzuleugnen, ebensowenig wie ein gewisser Mangel an Wärme und Zartheit, sei es der Empfindung selbst, oder doch des Vermögens, diese an die Oberfläche zu bringen. Aber Niemann ist trotz alledem eine Specialität als dramatischer Künstler, die gegenwärtig ohne Rivalen dasteht und deren Schöpfungen Geist und Phantasie in ungewöhnlichem Maße

anregen; eine Erscheinung voll Glanz und kraftvoller Gedie genheit, welche in jeder ihrer Verwandlungen sich der Erinne rung des Zuschauers unvergeßlich einprägt. — Von den übrigen Sängern der Méhul’schen Oper zeichneten sich Herr Schmid als würdiger und gemüthvoller Repräsentant des Jacob, und Fräulein Gindele durch ihre natürliche, liebenswürdige Dar stellung des Benjamin vortheilhaft aus. Von dem übrigen Theile der Vorstellung ist es besser, zu schweigen. Da Jo seph seinen Brüdern verziehen hat, so wollen wir nicht schlech ter sein als er und dasselbe thun.

Wir schulden noch einige Worte der neuen zweiactigen Operette von Offenbach: „Périchole“, welche kürzlich im Theater an der Wien mit Beifall gegeben wurde und seither allabendlich bei gesteckt vollem Hause wiederholt wird. Die Titelheldin ist eine arme junge Straßensängerin, die mit ihrem Geliebten, dem Guitarrespieler Piquillo, auf den Promenaden von Lima sich producirt. Das Pärchen nagt eben gründlich am Hungertuche, als der lüsterne Vicekönig von PeruPérichole gewahr wird und, von ihrer Schönheit entzückt, sie als Favo ritin an seinen Hof bringen will. Zum Scheine willigt sie ein, um vorläufig ihren Hunger zu stillen. Sie läßt sich zuvor von bezechten Notaren mit dem noch betrunkeneren Piquillo ver mälen, geht zu Hofe, weiß sich aber wieder aus der Schlinge zu retten und zieht schließlich als Straßensängerin, wie sie ge kommen, mit ihrem beglückten Piquillo in die Weite. Die Handlung ist durchaus possenhaft und strotzt von Unmöglich keiten, worunter jedoch einige recht drollige. So bringt gleich die Exposition einige ganz wirksame Situationen und Figuren. Eine solche ist der bornirte Vicekönig, der sich verkleidet unter das Volk mischt, „um Wahrheit zu erfahren“, aber consequent mit eingelernten Schmeicheleien bedient wird. Zu diesem prah lerischen Tyrannen und luxuriösen Hofstaate bildet das arme, fröhliche Musikantenpaar einen glücklichen Contrast. Mit diesen Figuren weiß aber der Librettist nicht viel Gescheites anzu fangen; er vernützt sie in einer unwahrscheinlichen und abge schmackten Intrigue, welche überdies für einen ganzen Theater abend nicht ausreicht. Der zweite Act muß sich mitunter durch

klägliche Lückenbüßer forthelfen und bringt es doch nur zu einem ganz gezwungenen Abschlusse. Die Musik gehört keines wegs zu der frischesten des so begabten, leider nur allzu frucht baren Componisten. „Périchole“ gewährt zahlreichen Reminis cenzen und flachen Quadrille-Themen einen übergroßen Tum melplatz. Inzwischen finden sich aber auch frische, graziöse Nummern, wie die bei größter Einfachheit pikante (obendrein vortrefflich declamirte) Brief-Arie Périchole’s und das Hoch zeits-Duett im ersten Acte; im zweiten die Couplets, mit wel chen der Guitarrespieler seine Frau dem Vicekönige vorstellt, und einiges Andere. Im Gegensatze zu den breiten, an spruchsvolleren Formen und schwierigeren Gesangsaufgaben der Schönen Helena“ und der „Großherzogin“ kehrt „Péricholezu dem knappen, bescheidenen Coupletstyl der früheren Offen bach’schen Operette zurück und befleißt sich einer discreten Instrumentirung. Wir können uns nicht versagen, einen Ausspruch von Chry sander in Betreff Offenbach’s (und nebenbei Richard Wag ner’s) hier mitzutheilen. In der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung, gegenwärtig von Chrysander redigirt, klagte ein Correspondent aus Paris, die Herrschaft Offenbach’scher Musik verschulde bei den Fran zosen „die Schwierigkeit, Wagner zu verstehen“. Chrysander, bekanntlich einer unserer gründlichsten Musikhistoriker und rigorosesten Gegner aller oberflächlichen Unterhaltungsmusik, bemerkt hiezu: „Was die Offenbach’schen Operetten so eingänglich macht, ist zunächst nicht ihre Schlechtigkeit und Flachheit, sondern ihre Kunstfertigkeit; sie sind in der Form (natürlich in der leichtesten vorhandenen Form, der des Couplets oder der alten Pastourelle) vortrefflich, ja musterhaft abge rundet. Am besten wissen das die Armseligen, welche sich hüben und drüben zu ihrer Nachahmung hergeben. Schüttelt man nun dort (und anderswo) einmal Offenbach’s Joch ab, so wird man dadurch nicht reifer für Wagner werden, sondern ihm nur umsomehr entwachsen. Möge Jeder in Wagner’s Kunst finden, was ihm beliebt, nur Eines sollten ehrliche Musiker sich nicht gegenseitig aufbinden wollen, nämlich daß Tiefe darin sei und daß ein entsprechend tiefes Verständniß zu ihrer Würdigung gefordert werden müsse.“ Die Aufführung der Novität im Theater an der Wien verdient alles Lob. Fräulein Geistinger ist in Gesang, Spiel und Erscheinung eine glänzende Périchole. Noch höher

stellen wir Herrn Swoboda’s Piquillo — eine Leistung voll natürlicher Laune und Liebenswürdigkeit, frisch, einheitlich und voll geistreicher, individueller Züge. So vortrefflich Fräulein Geistinger jede Rolle zu bewältigen und zu schmücken versteht, Swoboda ist neben ihr das weit ursprünglichere Talent, wenigstens im komischen Fache. Seine Empfindung ist wärmer, sein Humor natürlicher; er bringt Figuren wie dieses fröh liche, etwas bornirte Naturkind Piquillo in voller Lebensfülle und Wahrheit, während Fräulein Geistinger ähnlichen Auf gaben doch nur auf dem Wege der Reflexion beikommt und in Darstellung gemüthlicher Lustigkeit, komischer Naivetät u. dgl. die überwiegende Arbeit des Verstandes und einer „allerdings ungewöhnlichen“ Geschicklichkeit selten ganz zu verstecken ver mag. Einigen wirksamen Gesangsvorträgen der Geistinger und Swoboda’s ist es zuzuschreiben, daß der zweite Act, obgleich der unbedingt schwächere, hier mehr als der erste gefiel. Großen Effect erzielt namentlich Herr Swoboda mit den Couplets: „Les femmes il n’y a que ça!“, denen er eine Reihe local ge färbter Strophen (von der Erfindung des Herrn Weyl) beifügt.

Die beiden Kämmerer des Vicekönigs werden von den Herren Rott und Jäger sehr gut gegeben. Den Vicekönig selbst hätten wir lieber in Händen des Herrn Blasel ge sehen, dessen natürliche Komik dieser Rolle mehr zusagt, als der entsetzlich nachdrückliche, gedehnte Vortrag Herrn Friese’s. Eine neue Erscheinung war uns der Komiker Herr Schwabe: Friese’sche Schule in der letzten Verknöcherung.

Von den „drei Cousinen“, welche das Wirthshaus im ersten Acte schmücken, sind zwei hübsch und singen drei falsch. Die Ausstattung der Novität ist prachtvoll, auch ein spanischer Tanz ist eingelegt, in welchem eine jugendliche und lebhafte Tänzerin, Fräulein Emma Hirsch, mit bestem Erfolge debu tirte. Schließlich möge das Verdienst anerkannt sein, welches Herr Richard Genée durch die fließende Uebersetzung des Librettos und die tüchtige Leitung des Orchesters sich um Périchole“ erworben hat.