Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1606. Wien, Mittwoch den 17. Februar 1869 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1606. Wien, Mittwoch den 17. Februar 1869 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max 17.02.1869
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Alle Werke, Personen, Daten und Orte ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. (Gastspiel des Herrn Niemann.)

Ed. H. Die Rollen, in welchen seit unserem letzten Be richte Herr Albert Niemann sein Gastspiel fortgesetzt hat, waren Lohengin, Faust und Achilles in Gluckʼs „Auli scher Iphigenie“. Das Haus war jedesmal zum Erdrücken voll, selbst bei Opern, welche in der gewöhnlichen Besetzung keine Zugkraft mehr übten. Ein Beweis, daß das Publicum, so kühl es sich gegen Niemann benimmt und so eifrig es hierin von einem großen Theile der Journalistik bestärkt wird, sich doch von Niemann wie durch einen geheimen Zauber an gezogen fühlt. Diesen Zauber habe ich jüngst zu erklären ver sucht, ohne deßhalb einen einzigen Mangel des Sängers zu verschweigen oder zu beschönigen. Das Schlußurtheil des Hö rers über Niemann wird stets das Resultat eines individuel len Abwägungsprocesses sein: ob seine Fehler, ob seine Vor züge mit entscheidender Schwere überwiegen und man besser thue, die ersteren mitzunehmen oder auf die letzteren rundweg zu verzichten. Da ich mein Urtheil diesfalls in der Minorität glaube, gebe ich ihm nur den ganz individuellen Ausdruck: daß eine mangelhafte Höhe, unsichere Intonation, übertriebene Ton stärke mein Ohr ebenso unangenehm berühren wie jedes an dere, daß jedoch diese Mängel (größtentheils am Organe selbst haftend und kaum mehr zu beseitigen) mit den Genuß keines wegs vernichten, den Niemannʼs bedeutende Persönlichkeit, eminent dramatische Gestaltungskraft und hoher künstlerischer Ernst in jeder Rolle darbieten. Keine seiner Rollen ist Stück werk, jede ist ein ausgeprägtes organisches Ganzes. Ebenso gewissenhaft als geistvoll in der Auffassung eines Charakteres, hält Niemann sich in der Durchführung streng innerhalb des Kunstwerkes, strebt nie nach persönlichen Glanzeffecten, unter ordnet sich dem Ensemble und tritt zurück, wo der Charakter zurück zutreten hat. Die Rolle ist für Niemann nicht zu Ende, wo der Applaus dafür ein Ende hat. Er identificirt sich vollständig mit der sich darzustellenden Person und bleibt ihrem innersten Wesen treu bis in den kleinsten Zug. Nothwendigkeit und Gewöhung haben in Deutschland dazu geführt, an den dra

matischen Geist der Opernsänger (zumal der mit einer Art Minorennitäts-Privilegium ausgestatteten Tenoristen) einen sehr bescheidenen Maßstab anzulegen. Anständige Ausfüllung herkömmlicher Schablonen wird in der Regel schon als „gutes“ oder „tüchtiges“ Spiel gelobt. Und doch ist dieser dramatische Geist mit seinen zahllosen untrennbaren Fäden, wie Bildung, Studium, schauspielerisches Talent, declamatorische Beredsam keit die Eine Lebenshälfte, oder richtiger noch: das halbe Leben einer wahrhaft künstlerischen Opernleistung. Die Vorzüge Niemannʼs haben somit schon den einen großen Vorzug der Seltenheit. Ihm fehlt Vieles, was andere Tenoristen be sitzen, dafür hat er Vieles, was gar kein anderer besitzt. Ein edler und bedeutender Charakterkopf, in welchem unglücklicher weise ein Auge kleiner ist als das andere, ist es wol werth, im Profil betrachtet zu werden.

Von Niemannʼs neuesten Rollen war Faust, wie vor aussichtlich, die mindest glückliche. Jugendlicher Schmelz der Stimme, gepaart mit leichter, klangvoller Höhe, sind für den dritten Act, den schönsten der Oper, von entscheidender Wich tigkeit. Niemann, obendrein indisponirt und einigemal unrein in der Intonation, erzielte als Faust einen sehr geringen Er folg. Und dennoch hat die Leistung durch einheitliche Auffas sung und Durchführung durchwegs imponirt, häufig überrascht, gleichgiltig gelassen niemals. Gleich die Scenen in Faustʼs Studirzimmer, von Gounod flach und theatralisch componirt, bekamen unter Niemannʼs Händen eine neue, bedeutsame Physiognomie. Die meisten Darsteller Faustʼs machen im ersten Acte den Eindruck, als hätten sie sich für einen Mas kenball in das Costüm eines alten Gelehrten geworfen, das sie namenlos genirt und das mit Eclat abzuwerfen sie kaum erwarten können. Niemann hingegen ist Eins mit dem Kleide und mit der ganzen Traumwelt des skeptischen Dulders und Grüblers, der einzige Tenorist, bei dem es möglich wird, an die Gestalt des Goetheʼschen Faust zu denken. Und wie er den Verjüngungstrank hinabgestürzt — da istʼs nur seine Miene, Stimme und Bewegung, welche diese Verjüngung ausdrücken, der schwarze Talar bleibt unverwandelt. Niemann ist unseres Wissens der erste Faust-Darsteller, der auf den kindischen Ballet-Effect verzichtet, mit Einem Zauberschlage in schmuckem Atlaswamms und weißen Tricots da

zustehen. Mit vollem Rechte — denn wo steht denn geschrieben, daß der Trank Einem nicht blos „dreißig Jahre“, sondern auch die alten Hosen vom Leibe schafft? Es gereicht einem Künstler zur Ehre, wenn er auf einen Umklei dungs-Effect, den er mit seiner richtigen Einsicht nicht zu rei men vermag, verzichtet. Erst im zweiten Acte erscheint Nie mann in reicherem, ritterlichem Costüme — aber nicht mehr im dritten und vierten. Der Faust, welcher Gretchen verlassen und nun grambeschwert, unstät die Welt durchschweift, prägt sich auch in seiner Erscheinung aus. In schwarzer Tracht, den dunklen Mantel umgeschlagen, den breitkrämpigen Hut tief im Gesicht, tritt er unter die blendenden Zauberinnen auf dem Brocken, dessen heidnischen Dianasaal die Tenoristen in schmucker Balltoilette zu besteigen pflegen. Das sind lauter Einzelheiten! höre ich ausrufen. Ohne Zweifel. Aber aus vie len solchen Einzelheiten besteht eine Rolle und Einzelheiten bil den unser Leben. Ob sie, streng und lebendig ineinanderge fügt, aus einer künstlerischen Grundanschauung fließen, oder ob sie willkürlich jeden Augenblick vom Charakter abspringen, das begründet den Unterschied zwischen der dramatischen Kunst leistung und einer Gesangs-Production im Costüme. Das Terzett im vierten Acte ließ Niemann beinahe fallen, dafür fand er in der Kerkerscene ergreifende Accente. Für einen Augenblick wenigstens schaute man in die ganze Tiefe des Ab grundes, den Goethe mit dem Wort: „Der Menschheit ganzer Jammer faßt mich an“ vor uns aufreißt.

Manche Verwandtschaft mit dem Faust hatte der LohengrinNiemannʼs. Hier wie dort stand der Sänger unter dem doppelten Drucke einer anhaltend hohen Stimmlage der Partie und der unaustilgbaren Erinnerung an Ander, der beide Rollen für Wien geschaffen. Die Brautnacht Lohen grinʼs, eine Scene, in welcher Anderʼs Zärtlichkeit ihre fein sten Silberfäden spann und man durch jeden Ton hindurch sein erregtes Nervenleben vibriren sah — sie fand in Nie mannʼs massiver Stimme nicht das entsprechende Organ und klang überdies etwas nüchtern, wie von Reflexion durchkältet. Imponirend waren die eigentlich heroischen Momente der Par tie, ein Meisterstück an Rhetorik die Erzählung vom heiligen Gral, endlich von ergreifender Wahrheit der Empfindung der letzte Abschied von Elsa. Die größte Anerkennung verdiente

auch hier die bestimmte, einheitliche Durchführung des ganzen Charakters. Sie ist nicht leicht, denn in dem Wesen Lohen grinʼs liegt eine Amphibolie, ein Doppelleben, das nothwen dig mit inneren Widersprüchen verbunden ist. Diese Wider sprüche zwischen der überirdischen Natur Lohengrinʼs und seinen rein menschlichen Trieben und Empfindungen wird nur ein Künstler annähernd lösen, welcher von vornherein sich für eine Grundauffassung entscheidet und ihr in allen zweifelhaften Momenten das letzte Wort einräumt. Niemann hielt mit Recht die seraphische Natur Lohengrinʼs als Grund lage des Charakters fest und entfaltete sie in ebenso consequen ten als maßvollen edlen Formen. Am schönsten bewährte er diese Auffassung in dem Finale des zweiten Actes, wo von allen Seiten Anklagen und Verdächtigungen die freche Stirne gegen Lohengrin erheben. Mit ruhiger, nur von tiefer Weh muth gemilderter Hoheit steht Niemann inmitten dieser hetzen den und aufgehetzten Parteien, weder die Einen begütigend, noch den Anderen drohend, den Blick still gen Himmel gerich tet: Sie wissen nicht, was sie thun! Diese heldenhafte, dabei stets milde Glorie wich keinen Augenblick von der Gestalt, sie tilgte jede Erinnerung an kleinliche Empfindsamkeit, Rachsucht, Ueberhebung. Daß sie mit beitrug, die Liebesscenen im dritten Acte abzuschwächen, kann man zugestehen, doch trugen hier in erster Linie die ungenügenden Mittel Schuld, nicht die berech tigte Auffassung, welche ja beim Abschiede von Elsa dem Sän ger den vollsten Herzenston gestattete.

Zuletzt hörten wir Herrn Niemann in Gluckʼs „Iphi genie in Aulis“. Er sang den Achilles, an sich die undank barste Partie, welche ein moderner Tenorist für sein Gastspiel wählen kann. Wer Applaus und nur Applaus sucht, hält sich den Achilles vom Leibe. Es spricht für Niemann, daß er volle künstlerische Befriedigung darin findet, eine classische drama tische Aufgabe um ihrer selbst und des Ganzen willen zu stu diren und mit aller ihm zu Gebote stehenden Charakteristik durchzuführen. Ich glaube, daß Niemann in dieser Rolle kei nen Rivalen hat. In dem ausdrucksvollen, energischen Vor trag der Recitative, namentlich im zweiten Acte, wird ihn kaum ein zweiter Sänger erreichen, geschweige denn übertref fen, und die D-dur-Arie im dritten Acte explodirte mit einer Macht, welche, im Publicum unmittelbar zündend, in wieder

holtem Hervorrufen Niemannʼs widerhallte. Die Arie („Calchas, dʼun trait mortel blessé, sera ma première victime“) war für Wien neu, indem der frühere Darsteller des Achilles, Herr Walter, dessen lyrischerem Temperamente solcher Zorn ausbruch wenig zusagte, sie wegließ. Doppelt interessant wird sie durch ihre historische Berühmtheit: das kriegerische Feuer dieser Arie soll bei der ersten Pariser Aufführung (1774) die anwesenden Officiere dergestalt fortgerissen haben, daß einige darunter unter Hurrahrufen die Säbel zogen. Wer Niemann in irgend einer Rolle gesehen, kann sich leicht ausmalen, wie unvergleichlich seine Heldengestalt für den Achilles paßte! Es war eine Freude, ihn anzusehen. Wider Erwarten fand Herr Niemann auch in dieser ihm so überaus zusagenden Partie bitteren Tadel von Seite einiger Musik kritiker, die sonst in der Beurtheilung aller einheimischen Mittelmäßigkeiten die Gnade und Allbarmherzigkeit selbst sind. Darüber mit meinen Collegen zu rechten, steht mir nicht zu. Wenn aber gehässige Befangenheit ihre Verdammungsurtheile durch unrichtige Thatsachen motiviren will, dann darf man wol nicht schweigen. So entwirft der Musik-Referent der Wiener Zeitung eine haarsträubende Schilderung von der bar barischen Eigenmächtigkeit, mit welcher Herr Niemann sich den Gluckʼschen Achilles zum persönlichen Gebrauch zurecht gestümmelt. Wie er da eine Arie weggelassen, dort eine andere um einen ganzen Ton transponirt, in einer dritten sogar alle hohen Noten wie Mohnköpfe herabgesäbelt habe, und was des Gräuels mehr ist. Hierauf ist einfach zu erinnern, daß (mit und ohne Niemann) in Wien, wie an den meisten deut schen Bühnen, Gluckʼs „Iphigenie in Aulis“ nach der vorzüglichen Bearbeitung von Richard Wagner gegeben wird, auf dessen lorbeergeschmücktes Haupt somit jener Donnerkeil aus dem Kunst cabinete im Heinrichshof zurückfällt. Wagner hat sich zuerst zum Vortheile des Werkes, sowie des modernen Publicums die Freiheit genommen, einige der zahlreichen Arien zu strei chen, worunter die von der Wiener Zeitung so schmerzlich ver mißte A-moll-Arie des Achilles. Sodann hat Wagner die Rolle des Achilles auf ein für normale Tenorstimmen berech netes Niveau herabgesetzt, indem er einige Partien derselben um einen ganzen Ton tiefer setzte (fast sämmtliche Recitative und Solostellen Achillesʼ im ersten Acte), in anderen die un

bequemsten hohen Noten durch tiefere punktirte. Letzteres ge schah z. B. zum großen Gewinn für den Vortrag mit den zwei hohen A, die, rasch in Achtelnoten aufeinander folgend, dem Thema der (von Niemann gesungenen) „Zorn-Arie“ einen kleinlich fanfarenartigen Charakter geben. Die Berech tigung zu diesen von Wagner vorgenommenen Aenderun gen liegt hauptsächlich in der Thatsache, daß Gluckʼs Achilles, wie die meisten Heldentenor-Partien der älteren französischen Schule von Lully bis Cherubini nicht für nor male, sondern für künstlich hinaufgetriebene, falsettirende Te nore geschrieben waren, welche „Haute-contres“ hießen, mit unter die Höhe einer gewöhnlichen Altstimme erreichten, und deren Partien man der Bequemlichkeit halber auch im Alt schlüssel notirte. Diese Haute-contres waren auf der Bühne nur in Frankreich heimisch; Gluck, Piccini, Sacchini mußten sich widerwillig ihrer Specialität fügen. Le Gros war der erste Darsteller des Achill, derselbe Haute- contre-Tenorist Le Gros, für welchen Gluck die Rolle des Orfeo (für die schöne Altstimme des Castraten Guadagni componirt) ummodeln mußte. Dafür werden jetzt die kindisch hohen Partien der Haute-contres zu Gunsten deutscher Te norstimmen umgemodelt. Erst Cherubini in seinen alten Tagen und Spontini haben sich von dieser nunmehr ausge storbenen Kräh-Specialität emancipirt, doch sind die Männerchöre im „Wasserträger“ und „Cortez“ noch für Haute-contre (im Altschlüssel), Tenor und Baß componirt. Einen solchen Altschlüssel mag auch noch in einer alten Edition MéhulʼsJoseph von Egypten“ an der Stirne tragen, woraus der Musikkritiker der Wiener Zeitung die revolutio nirende Entdeckung zog und proclamirte: Méhulʼs „Josephsei für eine Altstimme geschrieben! Unser als lyrischer Poet geschätzter College möge sich beruhigen: der erste Dar steller des Joseph war kein Anderer als der berühmte Tenorist Elleviou, welcher seine Stimme durch emsiges Falsettiren gleichfalls in die vornehmere Haute-contre-Region hinaufgearbeitet hatte. Unsere Leser werden es mit Recht un passend finden, in einem Feuilleton Musikgeschichte zu dociren, allein wünschenswerther scheint es trotzdem noch immer, daß richtig, als daß falsch docirt werde.