Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse No. 1786. Wien, Dienstag den 29. Juni 1869 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

No. 1786. Wien, Dienstag den 29. Juni 1869 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.06.1869
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Alle Werke, Orte, Personen und Daten ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Vom neuen Opernhause. („Die Stumme von Portici.“ — „Sardanapal.“ — „Wilhelm Tell.“

Ed. H. Von allen Novitäten, welche Wien im Fache der Oper seit langer Zeit erlebte, ist die bedeutendste und glän zendste das neue Opernhaus selbst. Auch das Alte erscheint neu darin. Die Neuheit künstlerischer Eindrücke ist allerdings für den Beurtheiler nicht ohne Gefahr. Wie jedes große, compli cirte Werk dichtender, malender oder musikalischer Kunst wieder holte Betrachtung fordert und jedesmal neue Eigenthümlichkeiten, sei es auf der Licht- oder Schattenseite, enthüllt, so will auch unser Opernhaus — nicht blos als architektonische Schöpfung, sondern als lebendiger theatralischer Organismus — studirt sein. Selbst die Macht der Gewöhnung muß als beruhigendes Element hinzutreten, Sänger und Zuhörer, wie die Kritiker haben den ersten, befremdenden Eindruck noch zu ver winden. Müssen wir uns doch oft an die Sprechweise fremder Schauspieler erst gewöhnen, ehe wir sie ganz würdigen und liebgewinnen, wie viel mehr an das Organ eines neuen Thea tergebäudes. Nach dem ersten Eindrucke und rein musikalisch gesprochen, scheint mir das Organ unserer neuen Oper stark, aber nicht distinct, nicht fein abgestuft, es läßt wenig indivi duelle Durchgeistigung zu, ist packend in wuchtigem, energischem Vortrage, verschwommen im zarten und zierlichen. Ein pracht volles Haus, aber kein tadelloses musikalisches Instrument. Die beiden Vorstellungen („Stumme von Portici“ und „Sar danapal“), welche mich unschuldig Verspäteten zum erstenmale in die Wunder des neuen Theaters einführten, ließen dessen Bedeutung für dramatischen und musikalischen Effect wenig stens in den Hauptzügen erkennen. Der Ruhm und die Gefahr des neuen Opernhauses liegen in seiner Größe. Mit unwider stehlicher Macht gibt es all dasjenige wieder, was zu seiner vollen Wirkung eine colossale Bühne, einen weiten Zuschauer raum und alle Hilfsmittel vorgeschrittener Beleuchtungs- und

Decorationskunst beansprucht. Dem Auge bietet es den vollen decorativen Zauber der Scene, dem Ohre die eigentlich dema gogischen Wirkungen der Musik. Um jenes unersetzliche intime Verhältniß des Hörers zur Musik und den darstellenden Cha rakteren, welches kleinere Räume so wohlthätig befördern, ist es hingegen in dem neuen Opernpalast geschehen. In der Stummen von Portici“ erschienen mir (von der neunten oder zehnten Reihe des Parquets) die darstellenden Personen so klein, in so ungewohntem Mißverhältnisse zu der enormen Höhe der Bühne, daß ich anfangs eine Kindervorstellung zu sehen glaubte. An diesen Personen, die, scheinbar meilenfern von mir, sich in weitem Raume verloren, konnte kein rechter Antheil aufkommen. Die Individualität der eigentlichen Träger der Handlung verschwindet, nur das Gewühl und Gewimmel des Volkes, die Action der Massen wirkt mit voller, bisher ungeahnter Gewalt. Die Mimik der stummen Fenella war gewiß meisterhaft, ich vermuthe das von Fräulein Salvioni; im alten Kärntnerthor-Theater sah und wußte ich es. Ein schwa cher Trost nur, daß mir neben Fenella das gefürchtete Mienen spiel ihres Verführers, des jungen Herrn Wachtel, gleicher weise entging.

Wie mit der feineren Motivirung der Mimik und Action im neuen Hause, geht es auch mit dem zarteren Geäder des musikalischen Vortrages. Alle Sänger schienen sich anzustrengen; wo aber die Nuancen übertrieben werden müssen, da gibt es keine Nuancen mehr. Von den Singstimmen sind es nur die hohen und hellen, also vornehmlich die Soprane, denen das Opernhaus günstig ist. Tiefere Stimmen von weichem, rundem Klang, wie Bignioʼs schöner Bariton, oder etwas gedeckte, umflorte Tenorstimmen, wie Adamsʼ, kommen nicht zu rech ter Geltung. Dasselbe versichert man von Walterʼs Tenor, ja sogar von der ehernen Stimme Beckʼs. Organe von mehr scharfem, schneidigem Tone, selbst mit etwas näselndem oder schnarrendem Beiklang können mit der Akustik des neuen Hau ses am meisten zufrieden sein. Die Fräulein Tellheim und Siegstädt, sogar Herr Campe dringen erstaunlich

gut durch; am effectvollsten vielleicht Herr Müller. Man kann nicht sagen, daß das Gebäude den Ton schwach oder klein wiedergibt, allein es nimmt ihm die Wärme, das musikalische Herzblut. Das neue Opernhaus schallt gut, aber es klingt nicht gut. Dem Ton hinkt ein kleines Echo nach, das, in so großen Räumen kaum ganz zu vermeiden, doch den feineren Musiksinn stört. Dieses Nachhallen bemerkt man am deut lichsten in zwei Extremen: im Recitativ, wo die etwas verspätet zurückgeworfene, von dem directen Schall sich ablö sende Schallwelle von anderen Tönen nicht oder nur unzu länglich absorbirt wird, dann bei rauschenden, schnellen En sembles, wo die vielen zurückgeworfenen Schallwellen sich zu unklarem Geräusche kreuzen. Die langsameren Tempi, die im Vergleich zum Kärntnerthor-Theater (namentlich in der „Stum men“) jetzt bemerkbar sind, bestätigen, daß die Capell meister diesen Uebestand in der That empfinden und ihn möglichst zu mildern bedacht sind. Die Singstimmen klingen immerhin besser als das Orchester, dessen tiefe Lage ein Nach theil ist, der gleichfalls a priori mit der Construction jedes Opernhauses zusammenhängt. Im Orchester selbst klingen wie der die Blas-Instrumente besser als die Geigen und das Blech weitaus besser als das Holz. Als bei der ersten Ballet musik der „Stummen“, im Bolero, die Klappentrompete mit ihrem C-dur-Motiv einsetzte, war dies der erste vollkommen schöne, farbige Ton aus dem Orchester. Wo im neuen Hause das ganze Orchester zusammenwirkt, da schimmern die Klänge des Blechs nicht sanft hindurch, wie das natürliche Incarnat der Haut, sondern quellen hervor wie blutunterlaufene Strie men. Im ersten Finale von „Tell“ verzehrt die Posaune wie ein gefräßiges Feuer erbarmungslos Stimmen und Instru mente, Alles mit einander. Welche akustische Mißstände speciell in der Construction unseres neuen Opernhauses liegen, außer jenen, die es mit allen großen Theatern gemein hat (über mäßige Höhe und Tiefe des Bühnenraumes, weite, den Ton verschlingende Prosceniumslogen, tiefe Position des Orchesters, Luftstrom der Heizung etc.) vermag ich nicht zu beurtheilen.

Vielleicht vermögen es Akustiker von Fach ebensowenig, denn die Akustik in ihrer praktischen Anwendung steckt noch voll Mysterien, und am allermeisten die Akustik der Gebäude. Daß ein Gebäude gut oder schlecht akustisch sei, weiß man (abge sehen von den ersten fundamentalen Bedingungen) meistens erst, wenn es ganz fertig und dem Patienten nicht mehr zu helfen ist. Man hat mehr als einmal Gebäude von anerkannt trefflicher Akustik zu ähnlichem Zwecke sklavisch copirt, und siehe da! die akustische Eigenschaft stellte sich aus unbekannten Grün den trotzdem nicht ein. Hier hat die Wissenschaft Hand in Hand mit scharfsinnig beobachtender Empirie noch ein weites, fruchtbares Feld vor sich.

Die starke Seite des neuen Opernhauses kommt nirgends so überwältigend zum Ausdrucke, wie in dem Ballet „Sarda napal“. Die Novität ist in diesen Blättern bereits von mei nem geehrten Collegen A. M. eingehend beurtheilt worden; ich wüßte nur bestätigend beizufügen, daß man ein prachtvolleres Schauspiel kaum in irgend einem Theater Europas finden wird. „Sardanapal“ im neuen Opernhause überragt an blen dender Ausstattung, an malerischer Wirkung, an Exactheit der Tänze und Massen-Evolutionen Alles, was ich an Balleten in der Pariser Großen Oper, im Coventgarden-Theater zu London und dem im Balletfach ihnen zunächst stehenden Ber liner Opernhaus zu sehen Gelegenheit hatte. Dieser Schärpen tanz bei vielfärbig einfallenden Lichte, dieses stürmische Ama zonen-Ballet, diese malerische Schlußgruppe auf Sardanapalʼs Scheiterhaufen — sie bilden fast ein Non plus ultra choreo graphischer Augenweide. Und hätte dies Bild selbst wirklich vor ähnlichen nichts voraus, als daß sein imposanter Rah men (das Opernhaus) so neu und blendend ist, so wäre schon dies Eine für die Wirkung einer Ausstattungs-Production ent scheidend.

Die Wirkung von „Sardanapal“ stellt außer Zweifel, daß der neue Prachtbau in erster Linie ein Ballethaus par excellence ist, in zweiter Linie ein Opernhaus, und zwar nur für große Opern (in der französischen Bedeutung

des Wortes), welche auf Massenwirkung und Decorations- Effecte bei entscheidendem Vortreten von Chor und Ballet be rechnet sind. Was das neue Opernhaus in diesem Fache zu leisten vermag, hat die gestrige Aufführung von RossiniʼsTell“ bewiesen. Die Oper wurde mit durchaus bekannter Besetzung gegeben, verdiente aber trotz dem, wie eine Novität besprochen zu werden. Wir hören ja alte, auswendig gekannte Opern mit Antheil immer wieder, wenn ein fremder Künstler darin gastirt, und die Kritik ver säumt in solchen Fällen niemals die Pflicht der Berichterstat tung. Der Künstler, der sein epochemachendes Gastspiel jetzt in Wien eröffnet hat, ist das neue Opernhaus. Das Haus „und die artistische Direction“, muß man beifügen, denn diese hat mit jeder ins neue Theater übersiedelnden Oper eine neue große Aufgabe zu lösen, mit neuen, dankbaren, aber schwierig zu handhabenden Mitteln. Nur Unkenntniß oder Uebelwollen vermöchte die großen Verdienste der Direction um die Sceni rung von Opern wie „Tell“ und „Die Stumme“ zu leug nen. Für die Solopartien bedarf das neue Haus allerdings noch mancher Verstärkungen, die nicht so schnell zu beschaffen sind. Aber das Zusammenwirken von Chor, Orchester und Ballet, das Costüm- und Decorationswesen verdienen größtes Lob; in der Anordnung des Scenischen bewährt Dingelstedt eine überaus geschickte und erfahrene Hand. Die Mise-en- scène des „Wilhelm Tell“ ist eine wahre Sehenswürdigkeit. Die Costüme sind von großer historischer und localer Treue, nicht nur Geßler und Rudolph der Harras, eine Menge Cho risten und Statisten frappiren als malerische Charakterfigu ren. (Nur der ballmäßige Anzug Fräulein Rabatinskyʼs im letzten Acte scheint mir nicht passend, sowie ihr modernes Costüm im vierten Acte der „Stummen“.) Herr Brioschi hat zu „Wilhelm Tell“ eine Reihe von effectvollen, treu nach der Natur aufgenommenen Landschaftsbildern geliefert, welche das Publicum mit lautem Beifalle begrüßte. Man weiß nicht, ob man der ersten Decoration mit dem Dorfe Brunnen und den Mythensteinen im Hintergrunde, oder dem Markt

platze in Altdorf oder endlich der wahrhaft poetischen Rütli- Decoration mit dem Vierwaldstädtersee in Vollmondbeleuch tung den Vorzug geben soll. Was die Ausstattung und Sce nirung betrifft, möchte ich die Regie nur vor zwei Gefahren warnen. Einmal vor der Ueberfüllung der Scene mit Perso nen, sodann vor dem Mißbrauche mit Beleuchtungs-Effecten. In allen Volkscenen der „Stummen“ und des „Tell“ ist die Bühne mit Menschen so vollgepfropft, daß sich keine Gruppen bilden können, vielmehr ein unübersichtlicher Knäuel entsteht. Auch muß man sich eine Steige rung frei lassen, wie sie nach der ersten Scene im Tell“ gar nicht mehr möglich ist, und die Wir kung der Massen nicht gar zu schnell abnützen. Von den Beleuchtungs-Effecten, die wir in den besproche nen Vorstellungen sahen, waren manche von bester Wirkung, andere aber grell und unnatürlich. Das roth einfallende Licht am Schlusse des ersten Actes von „Wilhelm Tell“ ist weder nothwendig noch der Scene günstig, und die spectakelhafte Be leuchtung der Gletscher im letzten Acte hat der schönen Deco ration weit eher geschadet als genützt. Jedenfalls sind derlei Lichteffecte, gut oder schlecht, Reizmittel stärkster Art, mit wel chen man sparen sollte. Die Leistungen der Solosänger im Tell“ sind längst bekannt und gewürdigt. Obenan stand auch diesmal die durchaus maßvolle, edle Darstellung des Tell durch Herrn v. Bignio, welcher in den Damen Ra batinsky, Gindele, Tellheim und den Herren Schmid, Mayerhofer und Draxler die lobenswürdigste Unter stützung fand. Herr Müller wirkte als Arnold mehr durch seine günstigen Stimmmittel, als durch musikalisch tadellosen oder seelenvollen Vortrag. Dieser Sänger dürfte im neuen Hause bedeutende Erfolge erzielen, umsomehr sollte er darauf bedacht sein, seine Stimme zu schonen und seinen Geschmack zu läutern. Das Publicum, welches sich im neuen Opernhause meist sehr kühl verhält, ging in der „Tell“-Vorstellung muthig aus dieser Reserve heraus und spendete reichlichen Beifall.