Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 1875. Wien, Mittwoch, den 17. November 1869 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 1875. Wien, Mittwoch, den 17. November 1869 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 17.11.1869
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Musik. („Zilda“, von Flotow. — Concerte von Laura Kahrer und Fräulein Friedlowsky. — Quartett-Production von J. Grün. — Erstes Philharmonisches Concert.)

Ed. H. Der Anschlagzettel des Theaters an der Wien verkündigte Samstag eine neue zweiactige Oper von Flotow: Zilda“ — immerhin ein Ereigniß, das die Aufmerksamkeit des Publicums erregt und bei welchem die Kritik nicht fehlen darf. Nicht als ob wir mit besonderen Erwartungen hinge gangen wären, haben wir doch seit nahezu zwei Decennien das auffallende Sinken und Verarmen von Flotow’s Talent beobachtet. Mit wohlbegründeten Mißtrauen blickt man jeder seiner neuen Productionen entgegen. Kaum gibt es einen zweiten Opern-Componisten in Deutschland, der erfolgreicher begonnen, müheloser gesiegt hätte. Mit zwei komischen Opern, welche ein gefälliges, melodiöses Talent, aber keineswegs ein bedeutendes oder originelles verriethen („Stradella“ und Martha“), schien Flotow die allgemeine Gunst im Sturme zu nehmen. „Stradella“ figurirt noch immer, wenngleich viel seltener, auf den deutschen Bühnen, den kleineren insbeson dere, denen so leicht besetzbare Opern unschätzbar sind. Durch Stradella“ gewann Flotow die Aufmerksamkeit und Sym pathie seiner deutschen Landsleute, durch „Martha“ einen Weltruf. „Martha“ ist einem Ballet nachgebildet, das unter dem Titel „Lady Henriette“ in Paris gegeben wurde und dessen Musik gemeinschaftlich von Flotow, Burgmüller und Deldevez componirt war. Mit der Verbreitung und Popu larität der „Martha“ kann sich kaum eine zweite deutsche Oper messen; selbst der „Freischütz“ ist, seinem rein deutschen Wesen entsprechend, niemals in solchem Grade auf fremdem Boden heimisch geworden. Noch vor wenigen Jahren mußte mich auf einer längeren Reise das Mißgeschick treffen,

überall, zunächst in Deutschland, die „Martha“ auf dem Theaterzettel zu finden — eine schwere Prüfung für Jemanden, der berufsmäßig diese so schnell unleidlich werdende Oper fünfzig- bis sechzigmal angehört hat und den Chor der Mägde oder die Jagdcouplets der Nancy wie einen persönlichen Tod feind haßt. In Paris gibt man „Marthafranzösisch im Théâtre Lyrique, italienisch aux Italiens, in Londonenglisch zur Winterszeit, italienisch im Frühling und Som mer. In Italien, Spanien, Rußland, Nordamerika — so weit das Geschlecht gefühlvoller Tenoristen, koketter Co loratur-Sängerinnen und schnippischer Altistinnen reicht — überall „Martha“! Solcher Erfolg einer deutschen Oper ist jedenfalls eine imponirende Thatsache. Daß er mehr einigen glücklichen Einfällen und der überaus praktischen Einrichtung dieser Oper zu danken ist, als einem bedeutenden Talent, be wies der sofort eintretende musikalische Bankerott Flotow’s. Was immer von ihm nachfolgte, fiel entweder durch („Albin“, Die Matrosen“, „Die Großfürstin“) oder fristete (wie „Indra“) ein kurzes Dasein. Flotow, ohnehin ein musikalischer Halb franzose, kehrte deßhalb dem undankbaren Vaterlande den Rücken und entschloß sich (wie bereits in seiner Jugendzeit), lieber gleich ganz französische Opern für Paris zu schreiben. Dieser neuesten Periode entstammen „Zilda“, „La veuve Grapin“ und ähnliche Kleinigkeiten, welche in Deutschland gar keinen Anspruch machen könnten, auf großen Opernbühnen gegeben zu werden. Sie sind nur möglich in einem Theater, wo man an die Musik eines Singspieles geringe Anforderun gen stellt, wo ein unterhaltendes Libretto eine mittelmäßige Partitur retten kann (nebenbei gesagt, der vollständig fran zösische Standpunkt), wo schließlich gewandte Komiker höher im Werthe stehen, als kunstgerechte Sänger. „Zilda“, die an der Wien recht freundliche Aufnahme fand, wäre im Hof operntheater durchgefallen, weil die Musik nicht gut genug für eine große Opernbühne ist, und wiederum das Lustspiel-Per

sonal einer solchen nicht gut genug für eine so mittelmäßige Oper. Für das komische Singspiel besitzt das Wiedener Thea ter in Fräulein Geistinger und Herrn Swoboda zwei glänzende Talente, zwei Specialitäten, wie sie im Hofopern theater für ähnliche Aufgaben nicht existiren. Geistinger und Swoboda wurden durch ihre trefflichen Leistungen auch die Retter der Novität. Fräulein Geistinger möchten wir höchstens empfehlen, daß sie einzelne für ihre Gesangsbravour allzu schwere Virtuosenstückchen, wie die ins hohe C und H reichenden Staccato-Passagen u. dergl., aus der ohnehin über ladenen Partie der Zilda streichen möchte. Für eine Schau spielerin singt Fräulein Geistinger bekanntlich überraschend gut, sie sollte aber stets nur dasjenige singen, was sie makellos und ohne Risico vorzutragen vermag.

Das Libretto, eine Arbeit der gewandten französischen Firma St. Georges und Chivot und dem Stoffe nach Tausend und Einer Nacht“ entnommen, ist bis auf die zu gedehnte Exposition sehr geschickt gemacht. Die Handlung erzählt sich mit wenigen Worten. Zilda, die junge Gattin eines finanziell arg bedrängten Kaufmannes, reist nach Bagdad, um eine Schuld von 1000 Zechinen von dem Quacksalber Babuk einzucassiren. Dieser, anfangs zur Zahlung bereit, wird in dem Moment, als Zilda den Schleier zurückschlägt, von ihrer Schönheit so sehr gereizt, daß er die Summe nur gegen Gewährung eines zärtlichen Stelldichein ausfolgen will. Zilda sucht ihr Recht bei dem Kadi, dessen Gerechtigkeit gleichfalls nur so lange anhält, als ihm Zilda verschleiert gegenübersteht. Dasselbe Mißgeschick, derselbe unerwünschte Sieg der Schön heit wiederholt sich bei der letzten Instanz, dem Großvezier. Zum Glück hat der Khalif Harun-al-Raschid, als Derwisch verkleidet, diese Vorgänge beobachtet und räth nun Zilda, den drei grauen Jünglingen das erbetene Rendezvous zum Schein zu gewähren. Dies geschieht im zweiten Act, in Zilda’s Ge mach, wo nach einander der Doctor, der Kadi und der Groß

vezier hocherfreut eintreten. Die Schreckensnachricht von dem Eindringen des gefürchteten Corsarenhäuptlings Fermuk Khan veranlaßt sie jedoch bald, sich so gut wie möglich zu verstecken. Der Corsar erscheint wirklich, um mit Zilda zu soupiren; er ist nur eine neue Verkleidung des Khalifen, welcher zum Bei stande der jungen Frau herbeieilt. Nachdem er die drei furcht samen Verehrer derselben weidlich geängstigt, dictirt er jedem von ihnen eine Geldbuße von 3000 Zechinen — ein morali sches Ausgleichsverfahren, mittelst dessen Zilda ihren Gatten vor dem kaufmännischen Bankerott rettet.

Die für einen Bassisten geschriebene Rolle des Khalifen erscheint im Theater an der Wien nicht zum Nachtheil des Ganzen als bloße Sprechpartie; auch das Wegfallen der Ro manze des Großveziers in Es-dur ist kein Verlust. Weit eher könnte man sich über den Einlagesatz in Zilda’s erster Arie beklagen, welcher auf sehr witzlose Art die Huldigung eines sentimentalen Anbeters und eines zungengeläufigen Schwätzers schildert. Der Musik Flotow’s können wir nicht mehr nach rühmen, als daß sie nicht geradezu widerwärtig ist und sich der Grenzüberschreitungen in tragisches und heroisches Gebiet enthält. Die Erfindung ist durchwegs matt und alltäglich, banal in ihren sentimentalen, humorlos in ihren komischen Partien. Keine einzige Melodie, die man nicht längst gehört zu haben glaubt. Die formelle Gewandtheit des Componisten, namentlich in der Instrumentirung, kann für den Mangel an Geist und Originalität der Erfindung doch nur nothdürftig entschädigen. Offenbach’s Talent erscheint wie ein frischer sprudelnder Quell neben dieser sickernden, abgestandenen Wasser furche. Wie gesagt, verhalf die treffliche Darstellung im Verein mit einer farbenprächtigen Ausstattung der „Zilda“ zu einem Erfolg, der ihr zwar kein ruhmvolles Alter, aber doch einige Wiederholungen sichert.

Die Aufführung der Flotow’schen Novität verhinderte uns, das gleichzeitig stattfindende Concert der vierzehnjährigen

Laura Kahrer zu besuchen, welche als Clavierspielerin wie als Componistin ein echtes, vielversprechendes Talent bewiesen und den ihr gewordenen Lobsprüchen Liszt’s Ehre gemacht haben soll. Desgleichen können wir den günstigen Erfolg der Gesanglehrerin Fräulein Emma Friedlowsky nur aus zwei ter Hand berichten. In ihrem bei Streicher gegebenen Con certe hat diese musikalisch feste und verständnißvolle Sängerin das gute Andenken wieder aufgefrischt, welches vor Jahren ihre Elisabeth in der ersten Wiener Aufführung des „Tann häuser“ allgemein zurückgelassen hatte.

Die erste Quartett-Soirée der Herren Grün, Hof mann, Hilbert und Röver dürfte wol übereinstimmend nur bedingtes Lob erfahren. Recht tüchtig und brav spielten diese Herren das Meiste, vollendet oder meisterhaft gar nichts. Es fehlte dem ganzen Quartett vor Allem die Klangschönheit, der reine, süße Wohllaut. Nicht nur fehlte der Primarius Herr Grün allzu häufig in den höheren Lagen gegen die Rein heit der Intonation, man hörte überhaupt an dem Abende zu viel Darm und Roßhaar. Der Cellist Herr Röver läßt ge rade im Quartett, das auf der Baßstimme wie auf einem festen Grunde ruhen soll, die wünschenswerthe Kraft und Fülle des Tones vermissen. Die beiden minder entscheidenden inneren Stimmen (Hilbert und Hofmann) dünkten uns ver hältnißmäßig die besten. Im Vortrage kam das Grün’sche Quartett über eine gewisse trockene, orchestermäßige Tüchtigkeit selten hinaus. Besäße Wien keine anderen Quartett-Productionen, so würden die Grün’schen gewiß sehr dankbar aufgenommen und auch zahlreicher besucht sein, umsomehr, als Herr Concert meister Grün sich persönlich als feiner, vielseitig gebildeter Mann hier rasch beliebt gemacht hat. Unser Publicum ist jedoch mit Quartettspiel quantitativ und qualitativ so wohl versorgt, es hat im Laufe der letzten Jahre so Ausgezeichnetes in diesem Fache gehört, daß es nur mehr durch Ausgezeichnetes ganz zufrieden ist. Ein Bedürfnis empfand man daher

kaum nach einer neuen Quartett-Gesellschaft, welche die Lei stungen des Becker’schen oder Hellmesberger’schen Vereins in den wenigsten Punkten erreicht und in keinem einzigen übertrifft.

Einen großen und reinen Kunstgenuß verdanken wir dem Ersten Philharmonischen Concerte, dessen Diri gent, Herr Dessoff, mit lebhaftem, lang anhaltendem Applause begrüßt wurde. Das zahlreiche, alle Räume des Kärntnerthor-Theaters füllende Auditorium und der nach jeder Nummer laut ausbrechende Beifall dürften zweifelnde Gemü ther darüber beruhigt haben, ob die Beliebtheit oder gar die Existenz der Philharmonie-Concerte durch andere, neue Concert- Unternehmungen wirklich gefährdet sei. Zur Aufführung kamen Cherubini’sAnakreon“-Ouvertüre, Haydn’sB-dur- Symphonie (mit dem Beinamen: „La Reine de France“) und Schumann’s vierte Symphonie in D-moll, drei Meisterwerke sehr verschiedenen Styls, welche durchaus in richtigster Auffassung, mit feinster Schattirung und vollstän digem Effect vorgetragen wurden. Außerdem spielte unser viel gereister und geschätzter Landsmann Herr Ludwig Straus Beethoven’s Violin-Concert, zwar nicht mit großem Ton oder hinreißendem Schwunge, aber mit sehr zierlicher, namentlich im Triller virtuoser Technik. Er wurde lebhaft applaudirt und wiederholt gerufen. Die von ihm eingelegte (Joachim’sche?) Cadenz ist doch gar zu sehr Staat im Staate. Die classischen Componisten, welche dem Virtuosen diese carta bianca ein räumten, haben wol kaum geahnt, welch excessive Benützung sie in späteren Zeiten erfahren würde. Moderne Tondichter scheinen immer mehr davon abzukommen. Das (bereits von Joachim und Brahms beherzigte) Beispiel Schumann’s, welcher durch die ausgeschriebene Cadenz in seinem Clavier- Concert allen fremden Hinzudichtungen einen Riegel vorschob, dürfte hoffentlich den Ausgangspunkt für die allgemeine Cas sirung jenes veralteten und bedenklichen Freibriefes bilden.