Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 1889. Wien, Mittwoch, den 1. December 1869 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 1889. Wien, Mittwoch, den 1. December 1869 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 01.12.1869
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Alle Werke, Orte, Daten und Personen ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Hofoperntheater. (GluckʼsArmida“.)

Ed. H. Kein größeres Fest für den Kritiker, als wenn er, nach starkem Verbrauch bedingten Lobes und kühler Aner kennung, wieder einmal eine Leistung trifft, welche, unmittel bar ergreifend, aufrichtige Bewunderung einflößt. Eine solche Kunstleistung ist die Armida der Frau Dustmann. Seit lange haben wir das große Talent dieser Frau nicht so siegreich sich entfalten gesehen, wie in Gluckʼs „Armida“. Jede Darstellerin dieser Rolle begegnet nach zwei Richtungen großen und eigenthümlichen Schwierigkeiten. Fürs erste gehört Ar mida zu den schwersten dramatischen Aufgaben, sie durchmißt ein weites Feld heftiger und widerstreitender Gefühle: vom flammenden Haß bis zur hingebendsten, zuerst beglückten, schließlich verrathenen Liebe. Nur ein leidenschaftlich vibri rendes Naturell vermag jeden dieser einzelnen Affecte mit überzeugender Gewalt darzustellen, nur eine geistvolle psycho logische Motivirung deren Sprünge und Uebergänge zu erklären. In dieser aufreibenden dramatischen Auf gabe wird die Sängerin nur dürftig unterstützt durch den musikalischen Reiz ihrer Partie. Darin liegt die zweite Schwierigkeit der Rolle. Wenn wir den kurzen Monolog am Schlusse des dritten Actes ausnehmen (dessen ergreifendste Töne übrigens auch nicht dem Gesange, sondern der Beglei tung angehören), so finden wir keine Nummer, in welcher Armida durch die unmittelbar musikalische Schönheit des Gedankens, durch die süße Unwiderstehlichkeit der Melodie den Hörer gefangen nehmen könnte, wie in Mozartʼs und Beetho venʼs Opern. Das verwöhnte Ohr und die gesteigerte Empfin dung des modernen Hörers vermißt in den Gesängen Armidaʼs den wünschenswerthen Grad von Wärme und Bewegung; da muß die Darstellerin geradezu aus ihrem eigenen Kapitale von Leidenschaft die Composition unterstützen, sie durchglühen und beleben. Man betrachte die E-moll-Arie, in welcher Armida, nachdem ihr der Dolch entfallen, ihre plötzlich erwachende Liebe

für Rinaldo gesteht, oder die G-dur-Arie analogen Inhalts zu Anfang des dritten Actes: wie schwer ist es, in diese lang sam, wie in weitem Faltenwurfe hinschreitenden Tempi den heftigen Pulsschlag der Leidenschaft zu bringen! Frau Dustmann ist das gelungen. Sie hat die Rolle nicht nur von einem Ende bis zum anderen meisterhaft dargestellt, sondern neue Schönhei ten derselben enthüllt und die Höhenpunkte der Handlung zu einer Wirkung erhoben, die man früher höchstens als Mög lichkeit dahinter ahnte. Schon ihre äußere Erscheinung machte den Eindruck des Edlen und Bedeutenden und gewann von allem Anfange die Sympathie des Zuschauers für diesen so seltsam gemischten Charakter. In den stummen Scenen sprach ihr Auge, und selbst in den gewaltsamsten blieb jede Bewe gung wahr und schön. Die Kritik muß sich oft ungerecht schelten lassen, wenn sie Naturgaben, wie Gesichtsbildung und Temperament, zu Gunsten eines Darstellers gegen andere dankbar hervorhebt. Aber nicht die Kritik, sondern die Natur ist ungerecht, und aus ihren Ungerechtigkeiten windet sich die Kunst ihren blühendsten Kranz. Das halbe Leben der Büh nenwirkung wurzelt in diesen Ungerechtigkeiten, die andere Hälfte in dem, was sich erlernen läßt. Frau Dustmann ließ auch im Haß und Stolz die großgeartete, liebesbedürftige und liebeglühende Seele Armidens durchleuchten, sie vermied es, aus Armida eine bloße Megäre zu machen und so die Worte des Eingangschors Lügen zu strafen: „Armide est encore plus aimable, quʼelle nʼest redoutable.“ Wie ahnungs voll, alles Kommende schon blitzartig beleuchtend, klingt ihr Ausruf: „Warʼs nicht Rinaldo?“ im ersten Acte; wie lebens voll pulsiren Spiel und Vortrag in der großen Scene mit dem schlafenden Rinaldo! Die Scene mit den Furien spielt Frau Dustmann mit viel mäßigerer Action, als ihre Vor gängerin, dennoch mit unvergleichlich größerer Wirkung. Lange Zeit bleibt sie vor den Dämonen stolz und ruhig stehen, sind es doch dienende Geister, die sie selbst gerufen. Erst als „der Haß“ wirklich Hand an sie legt, sinkt sie erschüttert in die Knie; langsam, nur mit dem Oberkörper, erhebt sie sich aus dieser Stellung nach dem Verschwinden der Furien und singt die Schlußtacte mit einer zwischen Schauder und vorahnender

Seligkeit zitternden Empfindung, deren Wahrheit sich tief in die Seele bohrt. Der Gipfelpunkt ihrer Leistung ist der Schluß des fünften Actes, wo Armida den Fluchtversuch Rinaldoʼs entdeckt und ihn zurückzuhalten sucht. Die erschütterndsten, durch Thränen sich durchkämpfenden Accente verrathener, getäuschter Liebe schlagen hier an unser Ohr, an unser Herz. Mit Einem Wort: die ganze, von Frau Dustmann so schnell übernommene Rolle gestaltete sich zum Meisterstück. Man vergaß vollständig, wie mitunter eine deutlichere Aussprache und imposantere Stimmfülle zu wün schen blieben, konnte man doch das Eine keinen Augenblick vergessen, daß hier eine echte und große Künstlernatur in einem idealen Kunstwerke begeistert aufging. Diesem Eindruck entsprach vollkommen die Haltung des Publicums, welches Frau Dustmann in enthusiastischer Weise feierte. Von den übrigen Mitwirkenden wurden zunächst Herr Walter und Herr v. Bignio ausgezeichnet.

In meinem ersten Berichte über „Armida“ habe ich den Namen des Capellmeisters Esser zu nennen vergessen, welcher die Parti tur für unsere Bühne vortrefflich eingerichtet, zweckmäßig ge kürzt und in der Instrumentirung, wo es nothwendig war, verstärkt hat. Die geringste Abänderung einer Gluckʼschen Partitur wird zwar von der Partei der Kunstzeloten ebenso verpönt, wie jegliche Modernisirung der Orchestration von Händel und Bach. Ich halte das Eine wie das Andere für wohlgethan, sobald nur eine weise und maßvolle Künstler hand es ist, welche den auffrischenden Pinsel über die allzu verblaßten Stellen des Gemäldes führt. Sie scheint uns red licher für das Interesse des Kunstwerkes thätig, als jene Puri sten, welche dessen lebendige Wirkung gerne der philologischen Buchstabentreue opfern. Sie möchten ein für uns unzureichend instrumentirtes Tonwerk lieber in der Originalgestalt durch fallen sehen, als durch bescheidene Nachhilfe zu neuer lebendiger Wirksamkeit erweckt. Berlioz, bekanntlich ein arger Blech verschwender für seine Person, machte es Spontini zum schweren Vorwurfe, einigen Scenen der „Armida“ Posaunen beigefügt zu haben, und schreckte den eitlen Mann mit der Drohung, die Nachwelt werde einst ebenso mit seinen (Spon

tiniʼs) Partituren umgehen. Das kann man sich gefallen lassen, denn glücklich der Componist, dessen Opern noch in hundert Jahren zu ihrem vollständigen Effecte nichts weiter bedürfen, als einige Posaunen-Accorde! Auch Esser hat die Begleitung des Furienchors im dritten Acte verstärkt, und wer die Scene so gehört, der vermag sich sie kaum mehr zu denken ohne die dröhnende Majestät dieser Po saunenklänge. Da sind aber die „Kenner“ gleich zur Hand mit ihrer stereotypen Moral, daß Gluck die Posaunen gewiß selbst hingeschrieben hätte, würden sie ihm für die Scene passend erschienen sein; es liege also eine tiefe und weise Absicht des Meisters gerade darin u. s. w. Die Geschichte erklärt uns aber die „weise Absicht“ mit einer sehr prosaischen Thatsache: zur Zeit von Gluckʼs französischem Aufenthalte be saß nämlich das Pariser Opern-Orchester noch keine Posau nen. Deßhalb setzte Gluck in seinen für Paris geschriebenen Opern „Armida“ und „Iphigenie in Aulis“ keine Note für die Posaunen, welche doch in seinen Wiener Opern „Orfeound „Alceste“ eine wichtige Rolle spielen. Die Posaunen sind erst spät aus den Kirchen, ihrem ursprünglichen Asyl, in die Theater übersiedelt, am spätesten in Frankreich und Italien. Ohne die gleiche historische Bewandtniß bedarf es doch wol ebensowenig einer Entschuldigung, daß Esser der Helden-Arie Rinaldoʼs im zweiten Acte durch Trompeten ein etwas muthi geres Colorit gab; hat man doch in Paris schon zu Gluckʼs Lebzeiten und ohne ihn zu fragen den Aufruf: „Notre général vous appelle!“ mit Trompetenklän gen illustrirt, während Gluck die Stelle allzu bescheiden nur für Streich-Instrumente und Pauken gesetzt hatte.

Noch eine kleine historische Bemerkung sei uns hier ge stattet, als ein Beispiel, wie die theoretische Idealisirung eines Meisters oft in Widerspruch geräth mit den geschichtlichen Thatsachen. Während uns nämlich gelehrt wird, Gluck habe die hohe dramatische Wahrheit seiner Musik nur dadurch er reicht, daß er jede Note genau der bestimmten Situation an paßte, ja seine Melodie aus dem Tonfall der Verse selbst zog, wissen wir, daß Gluck in die „Armida“ nicht weniger als fünf Musikstücke aus seinen älteren italienischen Opern

herübernahm. Die Ouvertüre zu „Armida“ ist identisch mit jener zu „Telemacco“; aus derselben Oper stammt die Musik zu dem Beschwörungs-Duett Hydraotʼs und Armidaʼs, ferner die Arie des Hasses mit Chor („Amour sors pour jamais“), während der spätere Allegrosatz des „Hasses“ in D-dur der Oper „Paris und Helena“ entnommen ist. Nachdem jene älteren Opern Gluckʼs verschollen sind, ficht uns das wenig an; den Franzosen waren sie zur Zeit der ersten Armida“-Aufführung gänzlich unbekannt, und so konnte Gluck den Vortheil benützen, vergessene Com positionen, deren Bühnen-Effect bereits erprobt war, in einem größeren Werke wieder zu Ehren zu bringen. Die That sache schmälert weder das Genie Gluckʼs, noch den Werth der Armida“. Mit Ausnahme der Ouvertüre, die für den „Ar mida“-Stoff etwas zu kleinlich und unbedeutend ist, passen die erwähnten Musikstücke vortrefflich zu den Scenen in „Ar mida“, auf welche Gluck sie übertrug. Sie erfüllen die Si tuation mit bewunderungswürdiger Kraft und Wahrheit, so daß Niemand, dem ihre fremde Herkunft unbekannt ist, die selbe aus dem Eindrucke des Ganzen vermuthen würde. Und das istʼs allein, worauf es ankommt. Gluck war in Wirk lichkeit durchaus nicht der idealistische Schwärmer, den die Musik-Historiker gerne aus ihm machen; er war ein sehr praktischer Componist, der sein Publicum kannte, auf den Zeit- und Nationalgeschmack achtete und selbst starke Recla men nicht verschmähte. Er hat es nicht nöthig, daß man um seinen Lorbeerkranz, auch noch einen Heiligenschein aus breite.