Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr 1903. Wien, Mittwoch, den 15. December 1869 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2024

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr 1903. Wien, Mittwoch, den 15. December 1869 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 15.12.1869
font-style:italic; font-weight:bold; Deutsch Transkribus OCR und Lektorat. Transformierung der Daten des Transkribus TEI-Export mit "editions.xsl". Formatierung. Alle Werke, Orte, Daten und Personen ediert. Letztkorrektur für Zwischenrelease.
Musik. (Concerte. — „Figaroʼs Hochzeit.“ — „Der Prophet.“ — Ein Wort an Herrn Chrysander.)

Ed. H. Es ist wol ein seltsames Vorkommniß, wenn man nach mehr als 20jährigem Aufenthalt in Wien eine Beethovenʼsche Composition zum erstenmale zu hören bekommt, eine sehr interessante obendrein: die Serenade op. 8 für Vio line, Viola und Cello. Sie gehört zu jener anspruchslosen Gattung, welche, erblüht aus dem gemüthvollen Grunde eines früheren Kunst- und Gesellschaftslebens, von Haydn und Mozart so fleißig cultivirt wurde. Die Serenade, 1797 erschienen, datirt wol in ihrer ersten Conception noch weiter zurück. Denn von Beethovenʼs eigenem Seelenleben, das seine späteren Compositionen so überzeugend durchströmt, er zählt uns diese gefällig spielende Musik so gut wie nichts. Mehrere von den sechs Sätzen sind von geringem Gehalt und veralteter Ausdrucksweise, das erste Allegro „alla marcia“ geradezu haarbeutelig. Allerliebst ist dafür die Polonaise, ein ehemals überaus beliebtes und für die verschiedensten Instru mente arrangirtes Stück. Ferner das Adagio in D-moll, welches man sogar durch Unterlegung von Liedertexten sing bar gemacht hat. Von besonderem Interesse ist, wie der directe Zusammenhang, ja das Herauswachsen Beethovenʼs aus Haydn sich in dieser Serenade manifestirt und die stufen weise, organische Entwicklung dieser später so eigenartig sich gestaltenden, gigantischen Individualität nachweist. Sodann fällt die vollkommene Formbeherrschung und technische Mei sterschaft auf, über welche der junge Beethoven bereits in seinen ersten Compositionen verfügte. Sein Opus 1 ist schon das Werk eines Mannes, von Jugendwerken im gewöhnlichen Sinne kann man bei Beethoven gar nicht sprechen. Beetho

ven schrieb noch eine zweite Serenade ähnlichen Styls (op. 25 für Flöte, Violine und Bratsche); zum vollgiltigen Meister stück hat er die Form der Serenaden oder Cassationen in seinem köstlichen Septett gestaltet. Soll ein theilweise ver altetes, dem Namen seines Autors wenig entsprechendes Stück, wie Beethovenʼs D-dur-Serenade, heutzutage noch besonderen Erfolg haben, so muß es so unvergleichlich gespielt werden, wie von Jean Beckerʼs „Florentiner Verein“. Hier paßt wahrhaftig das Goethe-Citat: „Der Vortrag macht des Redners Glück.“

Ein schrofferer Gegensatz zu dem sonnenklaren, behagli chen Trio von Beethoven läßt sich kaum denken, als das darauf gespielte F-moll-Quartett von Rob. Volkmann. Wir haben allen Respect und auch einiges Vergnügen an den geistreichen Einfällen und Combinationen des Scherzo und Adagio, allein das Ganze ist denn doch zu steril und unerquicklich. Der erste Satz zumal, eine Uebertragung von Schopenhauerʼs Pessimismus ins Musikalische, befremdet durch seine gesuchte Unklarheit und wilden Wolfsschlucht-Scenen für vier Geigen. „Sie müssen sich ganzes Orchester dazu denken!“ meinte ein Musikfreund von der äußersten Linken. Das hat wahrscheinlich auch der geschätzte Componist sich dazu gedacht, aber nicht dazu geschrieben. Wir plaidiren jedoch für die vollkommene Freiheit, nur dasjenige zu denken, was man uns wirklich zu hören gibt. Das E-moll-Quartett von Mendelssohn beschloß den Abend. Geistreicher und tiefer als das Beethovenʼsche Ständchen, klarer und melodiöser als Volkmannʼs Quartett (auch eine Nachtmusik in anderem Sinne), erschien uns Mendelssohnʼs Tondichtung wie die rechte goldene Mittelstraße zwischen beiden.

Noch einmal in dieser Woche trat uns die ehrwürdige Gestalt der alten sechssätzigen Serenade entgegen, diesmal in modern vertiefter Auffassung und reichem Gewande: Brahmsʼ D-dur-Serenade für Orchester. Diese bereits vor

einigen Jahren aufgeführte und damals ausführlich bespro chene Composition wurde Sonntags im „Philharmonischen Concert“ mit musterhafter Feinheit vorgetragen. Das Publi cum begrüßte beifällig den Componisten (welcher selbst diri girte) und applaudirte auf das lebhafteste den Menuet. Diese Nummer war uns stets die liebste, ein kleines Cabi netsstück, in welchem süße Melodie, klare Anordnung und geistvolles, nirgends überwucherndes Detail sich zu dem rei zendsten Stimmungsbild einer Garten-Serenade verbinden. Diesem Satze zunächst, welcher so rund, so vollständig aus spricht, was er will, steht uns das Adagio. Ein bischen lang spricht der Componist darin, aber nichts Alltägliches oder Unbedeutendes. Einen so langen Athem der Erfindung im Adagio hat von den lebenden Componisten kaum ein zweiter. Durch diese Eigenschaft erinnert das Stück an Beethoven, was freilich auch im Verlaufe der Serenade mitunter durch allzu directe Anklänge geschieht. Die übrigen vier Sätze ent halten gleichfalls viel des Schönen und Eigenthümlichen, doch kommen sie nicht zur reinen, vollen Wirkung; es steckt etwas von der Hamlet-Natur darin, die vor dem letzten entscheidenden Schritte grübelnd zurückweicht.

Der Violin-Virtuose Herr Besekirsky gab ein Con cert, das ihm reichlichen Beifall eintrug, insbesondere nach dem brillant ausgeführten „Teufelstriller“ von Tartini. Kraft und Fülle können wir seinem Spiel nicht nachrühmen, und was noch schlimmer ist, auch nicht Reinheit der Intonation. Herr Besekirsky verfügt über eine nicht gewöhnliche Geläufig keit; dem Hörer nützt aber auch das geläufigst Vorgetragene wenig, wenn es nicht zugleich rein vorgetragen ist. Wir wissen recht gut, daß an Concertbesuchern zunächst die Hände ge schätzt werden, zahlende und klatschende — aber so ganz igno riren darf man die Ohren doch auch nicht. Das dreisätzige Concerto“ von Herrn Besekirskyʼs Composition verräth eine ge schickte Hand, bei geringer Erfindungskraft. Während die beiden

ersten Sätze in Mendelssohnʼschem Fahrwasser treiben, geht das Finale mit seinem brillanten Salonthema und seinen mehr kühnen als geschmackvollen Akrobatensprüngen zu fran zösischen Mustern über.

Herr Ignaz Brüll spielte in Besekirskyʼs Concert die Symphonischen Etuden“, eine der genialsten Clavier-Com positionen Schumannʼs und eine der allerschwierigsten dazu. Der Vortrag zeugte von großer, nur allzu subjectiver Hin gebung; das Meiste klang unklar und verworren, obendrein nachhaltend durch unausgesetzten Pedalgebrauch. Mit sehr viel Klarheit und sehr wenig Pedal hörten wir dagegen Schu mannʼsche Clavierstücke am folgenden Abend spielen, von nie mand Geringerem als Clara Schumann selbst. Das erste Concert der in Wien so aufrichtig und unwandelbar ver ehrten Künstlerin versammelte eine zahlreiche dankbare Hörer schaft. Neues oder selten Vernommenes hat uns Frau Schu mann diesmal nicht vorgeführt, aber wer hörte in so treff licher Ausführung nicht immer wieder mit Freude Schumannʼs F-dur-Trio und „Waldscenen“, Beethovenʼs 32 Variationen, Chopinʼs Andante und Mendelssohnʼs E-moll-Scherzo? Zwei Hamburger Sängerinnen, Fräulein Thoma und Meta Börs beginnen in unseren Concertsälen etwas allzu häufig zu werden; unbedeutende, reizlose Stimmen, ganz unverständliche Aussprache und ein übermäßig gefühlvoller Vortrag charakterisiren den Gesang der beiden Blondinen.

Erwähnen wir noch der Abendunterhaltung des tüchtig geschulten Geigers Herrn Wilhelm Junck und des zweiten, beifällig aufgenommenen Concertes der Pianistin Fräulein Jeannette Stern, welche von einem hoffnungsvollen jungen Violinspieler, Mosco dʼIsraeli, unterstützt wurde, so dürfte der Concert-Einlauf der letzten Woche erledigt sein.

Inzwischen haben das alte wie das neue Opernhaus durch eine interessante Vorstellung zahlreiche Hörer angelockt. Im alten Theater erlebte Mozartʼs „Hochzeit des Figaro

eine vorstreffliche Aufführung, auf die Herr Hofcapellmeister Herbeck viel Sorgfalt verwendet hatte. Fürs erste reinigte er den Vortrag von allen nicht in der Partitur stehenden Ca denzen, Trillern und Verzierungen, deren größter Theil sich durch langjährige Tradition geradezu festgenistet hatte, wie z. B. in der Pagen-Romanze, dem Dictir-Duett und Anderem. Damit hat Herbeck nicht blos „Figaroʼs Hochzeit“ einen wahren Dienst erwiesen, sondern einen hoffentlich folgen reichen Vorgang für ähnliche Fälle geschaffen. Wie oft schon fragten wir vergebens, ob es denn durchaus nicht in der Macht des Capellmeisters liege, den Sängern willkürliche Verzierungen oder Verunzierungen zu untersagen? Die Frage ist durch Herbeck vorläufig gelöst, und er hat nicht blos Recht geübt für Mozart, sondern auch Recht behalten beim Publi cum, welches seine Lieblingsstücke in ihrer Originalgestalt jetzt ebenso lebhaft applaudirt, wie früher in ihrem ungebührlichen Aufputz. Ferner wußte Herr Herbeck auch durch positive Be reicherungen der Oper neues Interesse zu verleihen. Drei seit Menschengedenken gestrichene Musikstücke wurden nämlich wieder aufgenommen: die Arie Bartoloʼs: „La vendetta“, das kleine Duett Nr. 14 in G-dur zwischen Susanne und Cherubin, endlich Basilioʼs Buffo-Arie von der Eselshaut. Das Orchester accompagnirte mit rühmenswerther Feinheit und Discretion; von den Tempi schienen uns einige, wie aus absichtlicher Opposition gegen das Gewohnte, allzu lang sam genommen. Die Leistungen von Fräulein Ehnn (Page), Frau Dustmann (Susanne), Herrn Beck (Almaviva) und Herrn Mayerhofer (Figaro) sind längst nach Gebühr an erkannt. Die Gräfin wurde von einer die Bühne zum ersten mal betretenden jungen Sängerin, Fräulein Anna Bosse, dargestellt. Anfangs höchst beklommen, regungslos wie unter einem Damoklesschwert, fand Fräulein Bosse erst allmälig die nöthige Fassung und führte die Rolle mit steigendem Erfolg zu Ende. Ihre Stimme, ein schöner, weicher Mezzo-Sopran

von seltener Fülle und Egalität, gewann bald die Sympathien des Publicums; der schlichte, nirgends auf kokette Pointen abzielende Vortrag erfreute uns nicht minder. Die Aussprache ist deutlich im Gesang, correct in der Prosa; ein so langes, wohlverbundenes Portamento endlich gehört fast schon zu den Seltenheiten. Hin und wieder glaubten wir an Fräulein Bosse einige Neigung zum Phlegma und ein nicht hinreichend scharfes rhythmisches Gefühl zu bemerken — die Zukunft muß lehren, ob wir uns getäuscht haben. Jedenfalls war die Leistung für ein erstes Debut überraschend gelungen, und Fräulein Bosse kann unter aufmerksamer Anleitung eine Zierde unserer Bühne werden.

Kein so günstiger Stern leuchtete dem „Prophetenvon Meyerbeer bei seinem Einzuge ins neue Opernhaus. Eine Verbesserung der Vorstellung fanden wir nur in den von Gaul mit eminenter historischer Treue gezeichneten Costümen, in der trefflichen Gruppenanordnung des vierten und fünften Finales, endlich in dem wirksameren Eingreifen der Chöre. Die Decorationen des Herrn Grünfeld kann man nicht an ders als mittelmäßig nennen, sein Dom insbesondere ist von abschreckend prosaischer Kahlheit. Von den Hauptdarstellern erschienen uns Herr Schmid als Oberthal und Fräulein Rabatinsky als Bertha besonders lobenswerth. Die Uebri gen leisteten, was in ihren Kräften liegt, aber diese Kräfte waren der Aufgabe nicht immer gewachsen. Herrn Adamsʼ Johann von Leyden ist als eine Figur von edler Haltung und sorgfältigster, geschmackvoller Ausführung bekannt; die Ausbrüche heroischer Kraft, überhaupt alle packenden Effecte versagen ihm leider. Einige Stufen tiefer steht die Fides des Fräulein Gindele. Den exorbitanten Anforderungen der Rolle vermag diese Sängerin weder in der höchsten, noch in der tiefsten Stimmregion zu genügen, überdies fehlt ihrem verständigen, gewandten Spiel die innere Erregung und damit die überzeugende Kraft. Fräulein Gindele ist ganz vortreff

lich in kleineren Rollen von heiterer Färbung (Nancy, Lady Kockburn etc.) — aber welche Sängerin hält nicht das hoch tragische Fach für ihren eigentlichen Beruf! Fräulein Gin dele und Herr Adams wurden übrigens allein und mit Fräu lein Rabatinsky gerufen. Die ganze Oper ging unter Herrn Dessoffʼs Leitung präciser zusammen, als unter ihrem früh heren Dirigenten.

Zum Schlusse gestatte mir der geneigte Leser noch ein Wort in eigener Angelegenheit, und zwar gegen den Heraus geber der Leipziger Allgemeinen Musikzeitung, Friedrich Chry sander. Dieser Herr unterhält sich in jüngster Zeit damit, bei jedem oder auch ohne jeden Anlaß seinen Witz an mir zu üben. Ich selbst habe Herrn Chrysander nie mit einem Worte beleidigt und hege für seine gründlichen Händel-Forschun gen die größte Achtung, allerdings bei sehr mäßigem Vertrauen in sein musikalisch-ästhetisches Urtheil. In der letzten Num mer seiner Musikzeitung wüthet Herr Chrysander gegen eine Stelle meines „Armida“-Referates, worin die Bemühung Esserʼs um die zweckmäßige Kürzung und instrumentale Ver stärkung der Partitur ein Verdienst genannt wird, im Gegen satze zu jener Partei von Kunstzeloten, welche jegliche Moder nisirung einer classischen Partitur verpönen. Beispielsweise erwähnte ich Berliozʼ Tadel gegen Spontini. Nun fährt Herr Chrysander, von welchem in dem ganzen Aufsatze nicht die Rede war, entrüstet auf und versichert, daß er keineswegs zu jenen Pedanten gehöre! Nach Art kleinstädtisch eingebilde ter Leute, welche glauben, es werde überall nur an sie ge dacht und von ihnen gesprochen, setzt sich Herr Chrysander in Positur und erzählt ausführlich, wie er bei der Direc tion Händelʼscher und Bachʼscher Oratorien vorgehe, wor aus man wenigstens den bisher unbekannt gebliebe nen Ruhm Herrn Chrysanderʼs als Concert-Dirigent erfährt. Er versichert ferner, daß meine Schilderung von Kunstzeloten und Puristen weder auf ihn, noch auf irgend einen seiner Bekannten passe, ja daß es „gänzlich unmöglich

sei, zu errathen, wo in der Welt denn wol eine ganze Partei davon stecken möge“. Trotzdem zeiht er mich einige Zeilen spä ter der „Verleumdung“ und „Unbesonnenheit“ (ich adressire hiemit beides an ihn zurück), weil ich gegen die Engherzigkeit solcher Leute mich aussprach. Wenn es aber nach Herrn Chrysanderʼs Ueberzeugung in Wirklichkeit gar keine „Kunst zeloten“, also kein Object der Verleumdung gibt, worin be steht dann die Verleumdung? Wenn Herr Chrysander sich gegen die Pedanterie „philosophischer Buchstabentreue“ er klärt, wie ich, so ist er ja im Wesentlichen mit mir einver standen und hat keinen Grund, eine mit höhnischen Ausfällen auf „officielle Vertreter der Musikwissenschaft“ und „weise, maßvolle Hofcapellmeister“ gewürzte Strafpredigt von unar tigstem Ton loszulassen. Ich würde auf einen so unmotivirt gehässigen Angriff gar nicht antworten, wenn er ein erster oder vereinzelter wäre. Aber Herr Chrysander glaubt die Stellung eines musikalischen General-Profoßen für Deutsch land einzunehmen und von der Höhe seines Hamburger Landsitzes vor Allem die Wiener Musikverhältnisse und Institute „abstrafen“ zu müssen. In jenem Tone hochmüthiger Un fehlbarkeit, an welchem man Herrn Chrysander unter tausend Schriftstellern herauskennt, macht er sich nach einander über Herrn Herbeck, die verschiedenen Musik-Institute Wiens, die Musik-Kritiker des „Fremdenblatt“ und der „Neuen Freien Presseher, um schließlich unser ganzes Wiener Musikwesen mit dem geschmackvollen Citate zu entlassen: „O Hund, o Hund, du bist nicht gesund!“ Hofcapellmeister Herbeck hat sich be reits in einer geharnischten „Entgegnung“ gegen Herrn Chry sander gewehrt und demselben verleumderische Entstellungen nachgewiesen; Herr Schelle ist mit einer wohlverdienten derben Lection für Herrn Chrysander nachgefolgt. Wenn ich selbst bis heute mir Schweigen auferlegte, so geschah es aus literarischem Anstandsgefühl, weil jene ersten Angriffe gegen unser gesammtes Musikwesen einen Bestandtheil der Chry sanderʼschen Kritik über meine „Geschichte des Concertwesens

in Wien“ bildeten, ich somit zugleich in eigener Sache, für mein Buch, hätte auftreten müssen. Ich möchte aber um keinen Preis zu jener Classe von Kritikern gezählt werden, welche, streng gegen fremde Leistungen, keinen Tadel ihrer eigenen vertragen. Darum schwieg, ich über die mitunter leicht zu widerlegenden Ausstellungen eines Mannes, der von den Wiener Musikzuständen so wenig weiß, daß er noch im Jahre 1867 in einer „Statistik der Gesangvereine und Con cert-Institute Deutschlands“ (Jahrbücher für Musikwissenschaft von Chrysander, Band II, S. 370) die Wiener Gesang vereine und Concert-Institute auf netto drei Stück reducirt: die Gesellschaft der Musikfreunde, die Sing-Akademie und Zellner’s historische Concerte! Herr Chrysander weiß also nichts von der berühmten, seit 1771 hier bestehenden Ton künstler-Societät, unserem ersten stabilen Concert-Insti tute; er weiß nichts von den Philharmonischen Con certen, nichts von dem seit 25 Jahren blühenden Wie ner Männergesang-Vereine, dem Akademischen Gesangvereine u. s. w. Er hätte sonst, wenn ihm nähere Details fehlten, doch wenigstens die Namen dieser Institute in seiner „Statistik“ anführen müssen! Ich habe dies artige Pröbchen gegen meinen gestrengen Kritiker niemals geltend gemacht, weil ich Herrn Chrysanderʼs Geschmack nicht theile, überall zu hofmeistern und Krakehl zu suchen. Von seinem principiellen Hasse gegen Alles, was in Wien musika lisch geleistet und erstrebt wird, vermag wol ich am wenig sten Herrn Chrysander zu heilen. Ob es ihm aber nicht vielleicht möglich wäre, zur Abwechslung auch einmal vor eigener Thür zu kehren, das darf man einen Mann von so beneidenswerthem Selbstbewußtsein nicht fragen. Sollten die Chrysander-Anfälle chronisch werden, unter denen ich gleich Her beck jetzt leide, so bleibt mir nichts übrig, als die Zuflucht zu dem Herbeckʼschen Recepte: sich um Herrn Chrysander nicht weiter zu kümmern.