Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 2273. Wien, Dienstag, den 14. Mai 1872 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 2273. Wien, Dienstag, den 14. Mai 1872 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 14.05.1872
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Das Wagner-Concert im großen Musikvereinssaale. Wien, 13. Mai.

Ed. H. Gestern Mittags hat das große „Wagner- Concert“ unter Richard Wagner’s persönlicher Leitung vor einem sehr zahlreichen und beispiellos enthusiasmirten Publicum stattgefunden. Die Production selbst brachte fast durchaus Bekanntes, allein der Zweck derselben lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf ein nach allen Richtungen hin Neues: auf die Bayreuther Unternehmung. Bekanntlich wird Richard Wagner in wenigen Tagen in Bayreuth den Grundstein zu einem neuen, colossalen Theater legen, das durchaus nach seinen Angaben und eigens für sein neuestes Musikdrama construirt wird. Er hat für diese Feierlichkeit seinen Geburts tag, den 22. Mai, gewählt. Ein Jahr später soll auf dieser neuen Bühne sein aus vier Theilen bestehendes Bühnenfest spiel: „Der Ring des Nibelungen“ aufgeführt werden: am ersten Abend „Das Rheingold“, am zweiten „Die Walkyre“, am dritten „Siegfried“, am vierten endlich „Siegfried’s Tod, oder: Die Götterdämmerung“. Die erstaunliche Arbeitskraft und Arbeitslust des rastlosen Meisters erregt unsere be wundernde Achtung. Wie er, von den verschiedensten Unter nehmungen unterbrochen, immer wieder auf die vor zwanzig Jahren begonnenen „Nibelungen“ zurückkommt, dazwischen Flugschriften, Bücher, Opern schreibt, heute in Bayreuth den Bau anordnet, morgen in Berlin oder Wien ein Concert dafür dirigirt: das Alles gewährt ein Bild von seltener Energie und Thätigkeit. Weniger sympathisch berührt uns der geräuschvolle Pomp und der colossale Apparat, welcher für diese „Nibelungen“-Aufführung in Bewegung gesetzt wird. Ein musikalisches Kunstwerk, für das der Bau eines eigenen Theaters mit den abenteuerlichsten Zurüstungen nothwendig ist, hat offenbar seinen Schwerpunkt nicht mehr in der Musik. Wo aller Nachdruck auf unerhörte Aeußerlichkeiten gelegt wird, da kann man sich einiger Besorgniß für die Kraft und Ge sundheit des künstlerischen Kernes kaum entschlagen. Unwill kürlich fällt uns der Brief ein, welchen Goethe im Jahre 1808 an Heinrich v. Kleist aus Anlaß der „Penthesilea“ schrieb

und worin es heißt: „Auch erlauben Sie mir zu sagen, daß es mich immer betrübt und bekümmert, wenn ich Män ner von Geist und Talent sehe, die auf ein Theater warten, welches da kommen soll. Ein Jude, der auf den Messias, ein Christ, der aufs neue Jerusalem, und ein Portugiese, der auf den Dom Sebastian wartet, machen mir kein größeres Mißbehagen. Vor jedem Brettergerüste möchte ich dem wahr haften theatralischen Genie sagen: „Hic Rhodus, hic salta!“ Auf jedem Jahrmarkte getrau’ ich mir, auf Bohlen über Fäs ser geschichtet, mit Calderon’s Stücken der gebildeten und un gebildeten Masse das höchste Vergnügen zu machen.“ Opern mit schöner Musik wirken auch in den kleinsten Provinzthea tern, ja, je köstlicher die Musik, desto enger kann die Bühne, desto einfacher die Scenerie sein. Unsere gegenwärtigen Opern bühnen haben ohne Frage an Größe des Umfangs, an Pracht und Mannichfaltigkeit der Decorationen, an Künstlichkeit und Kühn heit der Maschinerie eine Vollkommenheit erreicht, welche dem vortrefflichsten Componisten genügen dürfte. Diese Bühnen verdanken speciell den Wagner’schen Opern namhafte Bereiche rung und Vervollkommnung der Bühnentechnik; umgekehrt sollte man meinen, daß ihnen auch Wagner sehr viel ver dankt. Ganz im Gegentheile widmet er ihnen eine solche Verachtung, daß er öffentlich erklärt, mit seinen „Meister singern“ „diese Theater zum letztenmale berührt zu haben“. Es dünkt Wagner ein Gräuel, in Theatern zu wirken, wo mitunter auch Opern von anderen Meistern, sogar von Meyer beer, gegeben werden; er baut ein neues, ein Wagner-Thea ter, um fortan seine Gaben nur in ganz unberührten Gefä ßen zu serviren. Zugleich gedenkt er mit seiner Bayreuther Production jenes goldene Zeitalter Griechenlands zu erneuern, wo das Theater nicht eine tägliche Unterhaltung bildete, son dern ein selten wiederkehrendes großes Volksfest, eine höchste, religiös-künstlerische Erhebung der Nation. Ob das classische Griechenthum, von welchem unsere Zeit durch eine unausfüll bare Kluft getrennt ist, sich durch das Bayreuther Theater erneuern wird, mag die Zukunft lehren; Ein Unterschied wird jetzt schon Manchem aufgefallen sein. Die griechischen Bühnen spiele waren im strengsten Sinne Volksfeste, deren Besuch Jeder mann unentgeltlich freistand; um hingegen die „Nibelungen“ in Bayreuth zu sehen, muß man einen „Patronatsschein“ um dreihun

dert Thaler lösen. Es können also nur sehr wohlhabende Musik freunde sich auf ordentlichem Wege diesen aristokratischen Theater genuß verschaffen. Durch den Beitritt zu einem „Wagner-Verein“ erwirbt man nur die Möglichkeit, einen solchen Patronats schein in der Lotterie zu gewinnen. Da aber Wagner doch gern auch andere als reiche Leute in Bayreuth versammeln möchte — das ihm sonst leicht das Ansehen einer judäischen Colonie bekäme — so ist man auf das Rettungsmittel der „Wagner-Vereine“ und „Wagner-Concerte“ verfallen. Der Reinertrag dieser letz teren ist dazu bestimmt, „Patronatsscheine für unbemittelte Musiker und Kunstjünger anzukaufen“. Es hat etwas er götzlich Charakteristisches, das Anhören des Wagner’schen „Bühnenfestspiels“ so zur förmlichen Humanitätssache erhoben zu sehen, zu einem Wohlthätigkeitszweck, für den man Concerte veranstaltet, wie bisher für Blinden-Institute oder für arme Kranke. Die Unternehmer gehen von der Ansicht aus, daß die Wallfahrt nach Bayreuth unentbehrlich sei zu dem Seelen heil junger Tonkünstler, und daß man darum in ganz Deutsch land sammeln müsse für jeden solchen armen Teufel, nachdem ja, wie’s im „Tannhäuser“ heißt, „auch für ihn der Erlöser starb“. Trotzdem wird es unmöglich sein, alle Musiker, welche nicht dreihundert Thaler überflüssig haben, zu betheilen; man wird die „Würdigsten“ heraussuchen müssen und ohne Zweifel die Bittsteller zu diesem Behufe auf ihren musikalischen Glauben hin ansehen. So dürften denn nur die Infallibilisten unter ihnen Aussicht haben, gratis die Gnadenmittel von Bayreuth zu empfangen. Mit Einem Worte: das angebliche deutsche Nationalfest gehört den Reichen und jenen armen Wagner- Enthusiasten, für welche die Reichen zahlen. Das stimmt nicht zu den erneuerten „Olympischen Spielen“ und ebensowenig zu den demokratischen Velleitäten, mit welchen Richard Wagner noch zur Stunde so gerne spielt. Diesen Zweck, den volks beglückenden, hätte er in einem der bestehenden großen Theater viel besser erreicht, wo auch der wenig Bemittelte für einige Groschen willkommen ist.

Indessen lächelt Fortuna unausgesetzt dem Componisten des „Nibelungenringes“, und selbst wenn einmal der Himmel sich plötzlich verfinstert und ein unartiges Gewitter mitten in seine Musik hineinpoltert, wie das im gestrigen Concert der Fall war, weiß Wagner als gestickter Augur es günstig zu

deuten und in anmuthiger Schlußrede den Zuhörern als auf munternde Zustimmung des „Zeus“ auszulegen. Ja, Wagner hat Glück in allen Dingen. Zuerst wüthet er gegen alle Monarchen: ein großmüthiger König kommt ihm mit schwär merischer Liebe entgegen und bereitet ihm eine sorgenfreie, ja glänzende Existenz. Dann schreibt er ein Pasquill gegen die Juden: das „Judentum“ in und außerhalb der Musik huldigt ihm nur um so eifriger durch Journalkritiken und Ankauf von Bayreuther Promessen. Er beweist in einer Bro schüre „Ueber das Dirigiren“, daß alle unsere Hofcapell meister und Musikdirectoren reine Handwerker sind, denen er „nicht ein einziges Tempo“ seiner Opern anvertrauen könne: und siehe da, unsere Hofcapellmeister und Dirigenten gründen Wagner-Vereine und werden Truppen für die Schlacht von Bay reuth. Opernsänger und Directoren, deren Leistungen Wagner in seinen Schriften auf das grausamste hingerichtet, sie folgen, wo er nur hinkommt, seinen Spuren und sind von seinem Gruß beglückt. Er brandmarkt unsere Conservatorien (in dem „Bericht“ an König Ludwig) als die verwahrlosesten, zweckwidrigsten Institute: die Schüler des Wiener Conserva toriums bilden Spalier vor Richard Wagner und sammeln in der Schule für eine „Ehrengabe“ an den Meister. Nehmen wir noch den mauernerschütternden Jubel, die zahllosen Lorbeer kränze und all die sonstigen Huldigungen hinzu, welche Wagner in dem gestrigen Concert empfing — Huldigungen, wie sie Mozart und Beethoven, Goethe und Schiller zusammenge nommen niemals erlebt haben — so wird man zugestehen, daß zum wirklichen Dalai-Lama-Cultus nur noch ein Schritt fehlt, und daß keineswegs absoluter Mangel an Nachfrage schuld sein dürfte, wenn dieser Schritt ungeschehen bleibt.

Kehren wir zu dem Concert zurück. Es bestand aus zwei Abtheilungen, von denen die erste uns Beetho ven’s „Eroica“ brachte, während die zweite blos Wagner’sche Compositionen enthielt. Die ursprünglich als Eröffnungsstück angesetzte „Iphigenia“-Ouvertüre von Gluck wurde in An betracht der ohnehin sehr langen Dauer des Concertes weg gelassen. Nachdem Beethoven’s heroische Symphonie eines der abgespieltesten Stücke des Wiener Concert-Repertoires ist, dürfte Wagner dieselbe nicht so sehr um ihrer selbst willen

gewählt haben, als um zu zeigen, wie sie dirigirt werden soll, gleichsam als demonstrative Illustration zu seiner Schrift Ueber das Dirigiren“. In dieser Abhandlung, die sehr an regende Winke und geistvolle Bemerkungen enthält, spricht Wagner wiederholt von Beethoven’s „Eroica“, hauptsächlich um an ihr seinen Lieblingssatz zu beweisen, daß unsere Capell meister keinen Begriff vom Tempo haben und der „eigentliche Beethoven, wie wir ihn durch öffentliche Aufführungen bisher erst kennen gelernt haben, bei uns noch eine reine Chimäresei. Dionys Weber in Prag habe die „Eroica“ geradezu für ein Unding erklärt; „wer aber eine solche Aufführung an gehört hatte (wie die vom Prager Conservatorium unter D. Weber), gab Dionys allerdings Recht“. „Nirgends spielte man sie aber anders,“ fährt Wagner fort, „und wenn diese Symphonieheute, trotzdem man sie auch jetzt noch nicht anders spielt, überall mit Acclamation aufgenom men wird, so kommt dieses, wenn wir nicht über diese ganze Erscheinung nur spotten wollen, im guten Sinne vor Allem daher, daß seit mehreren Decennien diese Musik immer mehr abseits der Concert-Aufführungen, namentlich am Clavier studirt wird.“ Wagner ist als glänzender Dirigent anerkannt; er hat geistvolle Intentionen und weiß sie bei seiner großen Autorität über die Spieler herauszubringen. Auch seine energische, fein und eigenthümlich nuancirte Reproduction der Eroica“ bereitete uns im Großen und Ganzen einen wahren Genuß. Demungeachtet wäre es sehr traurig, wenn wir erst seit gestern und lediglich durch Wagner’s Güte dieses Werk, welches Beethoven bekanntlich in Wien componirt und selbst dirigirt hat, kennen gelernt und verstanden hätten. Es wäre unverzeihlicher Undank, wenn wir nicht erklärten, daß wir von demselben Orchester unter Herbeck’s und Dessoff’s Leitung ganz vortreffliche Aufführungen der „Eroica“ gehört haben, Aufführungen, die uns heute, nachWagner’s Production, noch vortrefflich erscheinen würden. Der eine Dirigent nimmt ein Tempo ein wenig rascher, der andere etwas langsamer; der eine färbt die Gegensätze zwischen Forte und Pianissimo mehr, der andere minder grell. Solche Unterschiede wird es immer geben, so lange nicht Maschinen, sondern lebendige Menschen dirigiren, in deren physischer und geistiger Individualität diese

Unterschiede in der Auffassung nothwendig wurzeln. Bei ernst haften Dirigenten von gediegener Bildung und unbestrittenem Talente (wir sprechen nur von solchen) werden diese Unter schiede meist nur geringe sein; es wird Keiner ein Adagio schnell und ein Allegro langsam nehmen oder ein Forte zum Piano machen. Ueber derlei Abweichungen innerhalb enger, künstlerisch zweifelloser Grenzen läßt sich streiten; entscheiden in diesem Streite könnte nur Einer: der Componist selbst. So lange nicht Beethoven persönlich erklärt, daß Wagner’s Auffassung der „Eroica“ die einzig richtige und dasjenige daran, was wagnerisch aussieht, eigentlich das echt Beethoven’sche sei, so lange können wir selbst dem Helden des Tages das Recht nicht zugestehen, jeden anderen Dirigenten der „Eroica“ einen Esel zu heißen.

Das Neue in Wagner’s Reproduction der „Eroica“ be steht, kurz ausgedrückt, in einer häufigen „Modification des Tempos“ desselben Satzes. Mit diesem Schlagworte und dem zweiten: „richtige Erfassung des Melos“, welche eben den Schlüssel für das richtige Tempo liefern soll, bezeichnet Wagner selbst die von ihm geforderte und versuchte Reform in der Aufführung Beethoven’scher Symphonien. Es gibt Sätze, wo in der That die Wagner so verhaßte „dynamische Monotonie“ ohne Nachtheil belebt und unterbrochen werden kann. Ein solcher ist das Finale der „Eroica“, dessen Satz bildung wesentlich auf erweiterter Variationen-Form beruht, somit für jede Variation des Themas eine charakteristische „Tempo-Modification“ ohne Zweifel zuläßt. Eine Variationen- Reihe in gleichem Tempo abgespielt, erstarrt leicht zu geist losem Formalismus; Wagner’s wechselndes Zeitmaß erzielt daher gerade in diesem Satze reizende Wirkungen. An anderen Stellen scheint uns Wagner mit seinen „Modificationen“ zu weit zu gehen; so zum Beispiele, wenn er nach sehr raschem Anfange des ersten Satzes gleich das zweite Motiv (dolce, fünfundvierzigster Tact) auffallend langsamer nimmt, wodurch der Hörer in der kaum festgestellten Grundstimmung beirrt und der „heroische“ Charakter der Symphonie ins Sentimen tale abgelenkt wird. Das Scherzo nimmt Wagner ungewöhn lich schnell, geradezu presto — ein Wagstück, das selbst einem Virtuosen-Orchester gefährlich werden kann. Wunderschön klang

der Trauermarsch, namentlich das allmälige Absterben des Hauptthemas. Die ganze Aufführung war, wie gesagt, von höchstem Interesse, voll anregender feiner Züge und geist reicher Effecte; demungeachtet bezweifelt kaum Jemand, daß diese „Modificationen“ mehr Wagner’scher als Beethoven’scher Abstammung sind.

Einer eigenthümlichen und geistvollen Persönlichkeit wird manche kühne Abweichung vom Gesetze mit so überzeugendem Scheine glücken, daß nur philiströse Engherzigkeit daran Aergerniß nehmen mag. Allein nichts Gefährlicheres gibt es, als ein geistreiches Aperçu zu generalisiren und rein indivi duelles Empfinden zur alleingiltigen Regel erweitern zu wollen. Würden Wagner’s Grundsätze „vom Dirigiren“ allgemein adoptirt, so wäre mit dem Principe des Tempo wechsels einer unerträglichen Willkür Thor und Thür geöffnet, wir bekämen bald nicht mehr Symphonien von Beethoven, sondern frei nach Beethoven zu hören, die in jeder Stadt, unter jedem Dirigenten ein anderes Gesicht hätten.

Das leidige Tempo rubato, diese musikalische See krankheit, welche uns die Vorträge so vieler Sänger und Virtuosen verleidet, und gegen die bisher nur unsere Orchester-Aufführungen ein ausreichendes Gegen- und Kräftigungsmittel darboten, es würde sofort auch von diesen Besitz ergreifen, und um den letzten gesunden Kern unseres öffentlichen Musiklebens wäre es geschehen. Wagner macht es mit dem Dirigiren wie mit dem Componiren: was seiner individuellen Eigenthümlichkeit zusagt und seinem ganz exceptionellen Talent gelingt, soll allgemeines Kunstgesetz, soll das einzig Wahre und Berechtigte sein. Aus seiner höchst persönlichen poetisch-malerisch-musikalischen Begabung abstra hirt er sich eine neue Theorie der Oper, die ihn zu eigen thümlichen, glänzenden Leistungen führte, zu Compositionen, welche in ihrer geistvollen Subjectivität ihren Rechtstitel tragen und wirksam sind, weil sie wagnerisch sind. Damit begnügt sich jedoch Wagner nicht, sondern verwirft jeden anderen Opernstyl als „colossalen Irrthum“, nicht merkend, daß gerade sein Opernstyl in den Händen jedes Andern zur Caricatur wird. Sobald sämmtliche Operncomponisten im

Styl von „Tristan und Isolde“ componiren, wandern wir Zuhörer unfehlbar alle ins Tollhaus, und kommt in unseren Orchestern Wagner’s „Tempo-Modification“ zu unumschränk ter Herrschaft, so werden Capellmeister, Geiger und Bläser uns bald dahin nachfolgen.

Die zweite Abtheilung des Concertes brachte das Vor spiel zu „Tristan und Isolde“, den „Feuerzauber“ aus der Walkyre“ und die neue (für die Pariser Aufführung com ponirte) Einleitung zum „Tannhäuser“. Die beiden erstge nannten Musikstücke sind aus Wagner’s früheren Concerten hier bekannt, das dritte ist wenigstens theilweise neu. Es ist nämlich anfangs identisch mit der ersten Hälfte der bekannten „Tannhäuser“-Ouvertüre: langsame Einleitung (Pilgermarsch) und Allegro, nur leitet letzteres unmittelbar in das zu großen Dimensionen erweiterte Venusberg-Bacchanale auf der Bühne, während die ältere Ouvertüre bekanntlich zu dem Pilgermarsch, in reicherer Figurirung, zurückkehrt. Das neue Vorspiel offenbart auf das interessanteste die ungemeinen Fortschritte, welche der Componist seit dem „Tannhäuser“ in der thematischen Arbeit, in der äußersten Benützung und Ausnützung der kleinsten Motive gemacht hat; das ganze große neu angefügte Stück ist vollständig aus den alten Motiven gewebt. Die bacchantische Lust ist darin zur vollständigen Tobsucht gesteigert, zu einer wahren Walpurgisnacht der Instrumentirung, wie sie an be täubendem Lärm selbst in Wagner’s Partituren kein Seitenstück findet. Im Theater charakteristisch interpretirt von einem üppigen Ballet und einer blendenden Scenerie, muß die Wir kung dieser Musik eine ungleich bessere sein, als im Concert; jedenfalls ziehen wir dieses neue, unmittelbar und sehr glücklich in die Oper einmündende „Vorspiel“ der alten Tannhäuser- Ouvertüre vor, deren effecthaschender Schluß doch nur eine ohrenpeinigende Uebertragung Thalberg’scher Clavier-„Umspie lungen“ auf das Orchester ist.

Nach Richard Wagner selbst haben die Mitglieder des Hofopern-Orchesters, dann Herr Dr. Kraus (in der Partie des Wotan) die größten Verdienste um das treffliche Gelingen des Concertes, welches sich auch eines sehr bedeutenden mate riellen Erfolges rühmen darf.