Concerte.
Ed. H. Frau Clara Schumann und Frau Amalie
Joachim, Freundinnen im Leben und Blutsverwandte in
der Kunst, haben sich zu gemeinschaftlichen Concerten in
Wien vereinigt. Beide Künstlerinnen sind uns liebe alte
Bekannte, allerdings in verschiedenem Sinne. Als die
Schumann das letztemal nach Wien kam und das vor
letztemal und zu irgend einer Zeit, da war sie bereits die
gefeierteste Virtuosin; die junge „Clara Wieck“ genoß
eine Berühmtheit, welche später selbst durch den Namen
Schumann nur eine tiefere Bedeutung und Beglaubi
gung, nicht aber ein höheres Maß gewann. Amalie
Joachim hingegen erscheint jetzt in Wien zum erstenmale
es fertige Gesangs-Celebrität; wir sahen sie, mitten unter
uns, aus sehr bescheidenen Anfängen sich entwickeln. Als
Fräulein Weiß war sie vom Ausgange der Fünfziger-
Jahre an eine zeitlang im Kärntnerthor-Theater beschäftigt,
oder richtiger nicht beschäftigt, denn die ihr zugetheilten
Rollen erhoben sich wenig über das leidige Vertrau
tenfach und mochten vorhandene Anlagen eher hem
men als fördern. Noch sehe ich sie vor mir, die jugend
lich blühende Gestalt mit den tiefblauen Augen und der
ernsten Glockenstimme, wie sie als Zigeunermädchen (in
Rubinstein’s „Kinder der Haide“) das Hochzeitslied vorsingt
und das Tambourin dazu schlägt. Eine kleine Leistung,
aber Aug’ und Ohr erfreuend. Die Direction hat jedoch
immer gezaudert, Fräulein Weiß in bedeutendere Aufgaben
einzuführen. Wenn ich meine alten Theaterberichte durch
blättere, so begegnet mir Fatime im „Oberon“ als
die größte, ja wol einzige erhebliche Partie, welche
Fräulein Weiß hier sang. In einer Kritik über „Jessonda“
(April 1861) finde ich die Direction aufgefordert, Fräulein
Weiß die Amazili anzuvertrauen, eine sympathische Rolle,
welche damals in dem gesungenen Scheidewasser Fräulein
Sulzer’s zu verbrennen drohte. Mein Vorschlag fiel aber
durch, man schien sich ausschließlich an der geringen drama
tischen Lebendigkeit der jungen Sängerin zu stoßen und ihre
Vorzüge zu übersehen. Daß diese Vorzüge werthvoll und
bildungsfähig waren, zeigte sich gar bald, als Fräulein
Weiß — müde, die beiden Kinder der Norma und abwech
selnd die beiden Verdi’schen Leonoren zu überwachen — nach
Hannover ging, wo ihr in größeren dramatischen Aufgaben
rasch die Flügel wuchsen. Sämmtliche tongebende und an
gebende Guelfen schwärmten für sie, und „Er, der Herrlichste
von Allen“, machte sie zu seiner Frau. Diese glückliche Ehe
mit Joseph Joachim hat vollends gezeitigt, was an dem
musikalischen Talente der jungen Frau noch unentwickelt ge
blieben war. Einen besseren Lehrmeister als Joachim und
ein schöneres Vorbild für den Gesang als sein Violinspiel
konnte keine Sängerin sich wünschen. Und wirklich hat seit
her Amaliens Vortrag Vieles angenommen von dem edlen,
getragenen Ausdrucke, der stylvollen Haltung und formschönen
Abrundung, welche Joachim’s Spiel charakterisiren. Diese
Eigenschaften, zusammenstimmend mit dem dunklen, pastösen
Klang ihrer Stimme und der freundlichen Gelassenheit ihres
Temperaments, mußten Frau Joachim vorzüglich für das
Oratorium, dann für das deutsche Lied eignen. Auf diesem
Gebiet hat Amalie Joachim in ganz Deutschland einen be
deutenden Ruf erlangt und bei den größten Musikfesten nicht
viel weniger Kränze geerntet, als ihr Herr und Meister mit
seiner Geige. Daß der Glanz seines Namens ihre Carrière
wesentlich befördert und geschmückt habe, braucht darum nicht
geleugnet zu werden, ist auch weit erfreulicher, als wenn um
gekehrt der Mann von den Sonnenstrahlen seiner Frau sich
bestreichen läßt.
So trat uns denn Frau Joachim-Weiß nach zehn
jähriger Abwesenheit als wohlbekannte und zugleich ganz
neue Erscheinung entgegen. Aus dem hübschen Mädchen
ist eine stattlich-schöne Frau, aus der talentvollen Anfän
gerin eine echte Künstlerin geworden, deren wohlgeschulte,
weich- und volltönende Mezzosopran-Stimme nur in den
höheren Chorden eine leichte Spur vom Zahne der Zeit
verräth. Frau Joachim, im ersten Concerte lebhaft applau
dirt, hat doch im zweiten ungleich mehr gefallen: ganz ent
sprechend der Natur ihres Talentes, das den Hörer nicht
blendet, nicht im Sturme nimmt, aber bei näherer Bekannt
schaft immer mehr anzieht und dauernd festhält. Wir hör
ten Frau Joachim eine Händel’sche Arie, Lieder von Schu
bert und Brahms, endlich die ersten fünf Nummern aus
Schumann’s „Frauenliebe und Leben“ sehr schön vortra
gen; denkt man sich auch die letzteren vielleicht leidenschaft
licher bewegt, so kann doch eine ruhigere, abgeklärte Auf
fassung wie die Frau Joachim’s nicht anfechten, so lange
sie nur eben eine subjectiv wahre und empfundene bleibt.
Den vollständigsten Eindruck machte die Künstlerin mit jenen
kleineren Liedern, in welchen die prägnante Charakteristik
hinter einer gewissen Allgemeinheit der Empfindung zurück
tritt, wie Mendelssohn’s „Gruß“ und Brahms’ „Wiegen
lied“. Frau Joachim mußte beide wiederholen. Ausdrück
lichen Dank verdient Herr J. Epstein für seine Clavier
begleitung; ein vollkommenes Lieder-Accompagnement gehört
nicht zu den alltäglichen Leistungen und hat mehr Werth
als manche Virtuosen-Production.
Und Frau Schumann? Was könnten wir über diese
ungetrübt begeisterte, unermüdlich thätige Meisterin sagen,
das nicht oft und längst ausgesprochen wäre? Nichts hat in
langem Zeitverlauf ihre Pietät für die großen Meister, nichts
ihre strenge Selbstkritik abzuschwächen vermocht, immer bringt
sie uns nur Gutes und bringt es vollendet gut. Man kennt
die feine Zierlichkeit und Grazie, mit welcher sie Mendels
sohn und Chopin ausführt, den gehaltvollen Ernst ihres
Bach- und Beethoven-Spiels, die Durchdringung von techni
scher Virtuosität und poetischer Sinnigkeit in Allem, was sie
von ihrem Gatten vorträgt. Diesmal waren es vorzüglich
die Schumann’schen „Davidsbündler“, die Balladen von
Brahms, die von Letzterem bearbeitete Gluck’sche „Gavotte“
und die Bach’sche Orgelfuge in E-moll, womit uns Clara
Schumann zumeist und vollständig entzückte. In starken,
pathetischen Stücken, wie der erste Satz der A-moll-Sonate
von Schubert, hätten wir allerdings ein kräftigeres Aus
einanderhalten und Beleuchten der Contraste gewünscht.
Ueber gewisse Grenzen seiner Individualität, seines Geschlechts,
seiner physischen Kraft kann eben auch der Beste nicht hinaus.
Wir werden uns wohl hüten, Frau Schumann darob zu
tadeln; sie trägt eine Krone aus Lorbeer und Dornen ge
flochten, vor der wir uns beugen. Ihre nahezu vierzigjährige
unbestrittene und unbefleckte Herrschaft in der Kunst, der
theure große Name ihres Mannes, ihre künstlerische und
sittliche Kraft nach so vielen schweren Prüfungen — das
Alles verleiht dieser seltenen Frau in unseren Augen eine
Art priesterlicher Würde. Und wenn uns Einzelnes in ihrem
Spiel nicht ganz befriedigen will, dann streichen wir beschämt
doch wieder aus, was pedantische Scrupulosität uns in die
Feder dictirte, und gehen hin und küssen der Frau Oberin
die Hand.
Es gab noch andere, ganz andere Clavier-Concerte in
dieser Woche, z. B. das von Fräulein Ida Bloch mit
großem Programm und großem Orchester. Fräulein Bloch
nennt sich auf dem Anschlagszettel „Schülerin von Liszt“.
Daß sie eine Schülerin ist, konnte man in der Hälfte des
ersten Stückes nicht mehr bezweifeln, so unfertig und unrein,
kurz so schülerhaft war Alles gespielt. Mit dem Namen
Liszt scheinen sich neuester Zeit manche Debütanten zu
schmücken, die dem liebenswürdigen Abbé vielleicht ein paar
mal vorgespielt und ein freundliches Kopfnicken dafür ein
cassirt haben. Von Liszt hat Fräulein Bloch nur einige
Aeußerlichkeiten gelernt, die obendrein ein zartes Fräulein
nicht zum besten kleiden: das nachlässige Herumwerfen der
Hände, das geierartige Herabschießen der gestreckten Finger
auf eine wimmernde Taste, den Wechsel von Blasirtheit und
Ueberreiz und Anderes, was ein genialer Virtuose sich erlau
ben darf, aber nicht jede seiner „Schülerinnen“. Fräulein
Bloch, ein junges Mädchen mit sehr kleiner Hand, hatte
sich gleich die schwierigsten Aufgaben gewählt. Wie man in
Wien nach Clara Schumann die C-moll-Variationen von
Beethoven, nach Sophie Menter das Es-dur-Concert von
Liszt öffentlich spielen kann, wenn man eine so unfertige
Technik und so ungeläuterten Geschmack besitzt, wie Fräulein
Bloch, das ist schwer zu begreifen. Gewiß gehört schon
einige Anlage und viel Fleiß dazu, um auch nur das her
vorzubringen, was Fräulein Bloch geleistet hat; wenn es
ihr aber um mehr als äußere Schein-Erfolge zu thun ist,
wird sie wol noch einige Jahre ernsten und über bloße
Fingerübung hinausgehenden Studiums zusetzen müssen.
Eine Sängerin aus London, Fräulein Ohm, brachte in
der stark abgenützten Arie der Rosine: „Una voce“, eine um
fangreiche Stimme, pikanten Vortrag und eine ziemliche
(wenngleich für diese Aufgabe nicht ausreichend brillante)
Kehlenfertigkeit zur Geltung.
Herr Concertmeister Hellmesberger hat unter Mit
wirkung der Herrn Bachrich, Röver und Hellmes
berger junior seine erste Quartett-Soirée unter reichlichem
Beifalle abgehalten. In dem ersten (Mozart’schen) Quartett,
noch mehr in dem Brahms’schen (G-moll) wollte uns
Hellmesberger’s Spiel, namentlich was die Schönheit des
Tones betrifft, nicht auf seiner ehemaligen Höhe erscheinen.
Wir möchten uns das aus der unmittelbaren, schmerzlichen
Nachwirkung des Familienverlustes erklären, welcher Herrn
Hellmesberger kürzlich betroffen hat. Im Verlaufe des
Abends schien er an Sicherheit zu gewinnen und spielte
Beethoven’s Es-dur-Quartett (Op. 127) — von jeher eine
seiner Glanzleistungen — zur allgemeinen Befriedigung. Er
wähnen wir noch der beifällig aufgenommenen Concerte,
welche die Pianistinnen Leopoldine Pfuhl und Minna
Winkler, dann die mit beneidenswerthen Stimm-Mitteln
ausgestattete Sängerin Marie Fillunger gegeben haben,
und eilen wir zu dem Schlußstücke unseres Berichtes, dem
„Monstre-Concerte des Wiener Musikerbun
des“ im großen Musikvereinssaale.
Das gegen 250 Mitwirkende zählende Orchester war
aus den verschiedensten Musikcapellen Wiens zusammenge
stellt und entwickelte natürlich eine unbändige Schallkraft.
Bereits bei früheren ähnlichen Anlässen habe ich die Ueber
zeugung ausgesprochen, daß das Aufthürmen des Quantita
tiven, blos Massenhaften einer Besetzung nur sehr geringen
künstlerischen Werth hat. Der Musiker wird einen nicht
allzu großen Raum, ein nicht allzu starkes, dafür aber be
seelteres, beweglicheres Orchester stets vorziehen. Es hat die
Steigerung der Tonstärke ihre akustische und ästhetische
Grenze, d. h. die Wirkung wächst mit der Quantität der
ausführenden Kräfte nur bis zu einem gewissen Punkte, der
ungefähr dem chemischen Begriffe der „Sättigung“ ent
spricht: über diesen hinaus bleibt die akustische Wirkung
stehen und geht die ästhetische sogar zurück. Ein Orchester
mit sechzehn Hörnern etc. muß roh und unmusikalisch klingen,
die Violinen werden immer vom Blech gedeckt sein, auf
feinere Nuancen wird man verzichten und alle schnellen
Tempi der Deutlichkeit wegen langsamer nehmen müssen.
Die relativ beste Wirkung machte Beethoven’s „Egmont“-
Ouvertüre, weil sie von Haus aus maßvoll und künstlerisch
instrumentirt ist. Das G-moll-Concert von Mendelssohn
ließ man natürlich nicht von dem ganzen Monstre-Orchester be
gleiten, aber doch von einem noch viel zu starken Contin
gent; nicht blos deckte es das Clavier — auch wo dieses perio
disch mit dem Orchester abwechselt, wurde der Contrast zwi
schen dem Clavierton und der Orchestermasse ein carikirt
unverhältnißmäßiger. Frau Clara Schumann spielte
das Concert wunderschön; freilich hätte man die Tutti
müssen von drei Rubinsteinen unisono spielen lassen.
Eine nicht glückliche Wahl war die Scene aus M. Bruch’s
„Frithjofssage“, deren Baritonsolo Herr Dr. Krauß
übrigens sehr beifällig sang. An Applaus fehlte es auch den
Herren Hellmesberger und Grün nicht nach ihrem
Vortrage des ersten Satzes von Mozart’s oft gehörtem
Concerte für Violine und Viola. Die beiden Haupt- und
Kraftstücke des Programmes waren der von Berlioz
orchestrirte „Rakoczy-Marsch“ (das einzige Fragment, das
sich aus seiner „Damnation de Faust“ erhalten hat) und
Richard Wagner’s „Kaisermarsch“. Das erstgenannte Stück
ist das ungleich schönere und effectvollere. Den „Rakoczy-
Marsch“ durchströmt eine gesunde Melodie und ein frischer,
kecker Rhythmus; was Berlioz zu diesem auf ungarischem
Boden gefundenen Schatz hinzugethan, die Instrumentirung
nämlich, ist nicht blos rauschend, sondern voll zauberischer
Klangeffecte und geistreicher Farbenmischungen, welche das
Publicum hinreißen und den Musiker lebhaft interessiren.
In Richard Wagner’s „Kaisermarsch“ herrscht dagegen
die dürrste melodische Erfindung, trocken, unschön, gesucht
und mit allerlei fast wörtlichen Reminiscenzen aus „Tann
häuser“ und den „Meistersingern“ aufgeputzt. Der Rhythmus
ist einförmig, die Instrumentirung reizlos, von ungeschlach
ter Massigkeit. Wenn ein hiesiger Musikhändler auf seinem
Anzeigen den „durchschlagenden Effect“ dieses „Kaiser
marsches“ rühmt, so hat er das rechte Wort getroffen.
Ja wol, „durchschlagend“, den Hörer durch und durch
schlagend! Wir flüchteten beim Beginne des Stückes
aus der Mitte des Saales in die allerletzte Sitzreihe, um
nicht, wie eine Dame unserer Bekanntschaft, das Mantelfut
ter aufreißen und mit der daraus gewonnenen Baumwolle
uns die Ohren verstopfen zu müssen. Aber auch in dieser
Saalecke war der Lärm der Blech-Instrumente, der Becken,
Tambours und großen Trommeln so betäubend, daß ein
Nachbar vorschlug, lieber auf die Gasse herab, etwa bis zum
Künstlerhaus zu gehen — ein Antrag, der jedoch der schlech
ten Witterung zum Opfer fiel. Da es sehr viele Leute gibt,
die auch den vollständigsten Bankerott musikalischer Erfin
dungskraft bejubeln, wenn nur die Firma „R. Wagner“
darüber prangt, so erzielte — wie vorauszusehen — auch
dieser „Kaisermarsch“ einen Monstre-Applaus. Das Concert
wurde abwechselnd von den Herren Kremser und Heißler
dirigirt, welche dieser schwierigen und anstrengenden Aufgabe
sich vollständig gewachsen zeigten. Leider haben sie mehr
Applaus als Geld eingenommen.