Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Nr. 2970. Wien, Freitag, den 29. November 1872 Hanslick, Eduard Wilfing, Alexander FWF Der Wissenschaftsfond.
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Hanslick Edition: Hanslick in Neue Freie Presse Herausgegeben von Wilfing, Alexander Projektmitarbeiterinnen Bamer, Katharina Pfiel, Anna-Maria Elsner, Daniel Austrian Centre for Digital Humanities and Cultural Heritage Wien 2025

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Maschinenlesbares Transkript der Kritiken von Eduard Hanslick.

Nr. 2970. Wien, Freitag, den 29. November 1872 Hanslick, Eduard Neue Freie Presse Morgenblatt Herausgegeben von Etienne, Michael Friedländer, Max Wien 29.11.1872
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Concerte.

Ed. H. Frau Clara Schumann und Frau Amalie Joachim, Freundinnen im Leben und Blutsverwandte in der Kunst, haben sich zu gemeinschaftlichen Concerten in Wien vereinigt. Beide Künstlerinnen sind uns liebe alte Bekannte, allerdings in verschiedenem Sinne. Als die Schumann das letztemal nach Wien kam und das vor letztemal und zu irgend einer Zeit, da war sie bereits die gefeierteste Virtuosin; die junge „Clara Wieck“ genoß eine Berühmtheit, welche später selbst durch den Namen Schumann nur eine tiefere Bedeutung und Beglaubi gung, nicht aber ein höheres Maß gewann. Amalie Joachim hingegen erscheint jetzt in Wien zum erstenmale es fertige Gesangs-Celebrität; wir sahen sie, mitten unter uns, aus sehr bescheidenen Anfängen sich entwickeln. Als Fräulein Weiß war sie vom Ausgange der Fünfziger- Jahre an eine zeitlang im Kärntnerthor-Theater beschäftigt, oder richtiger nicht beschäftigt, denn die ihr zugetheilten Rollen erhoben sich wenig über das leidige Vertrau tenfach und mochten vorhandene Anlagen eher hem men als fördern. Noch sehe ich sie vor mir, die jugend lich blühende Gestalt mit den tiefblauen Augen und der ernsten Glockenstimme, wie sie als Zigeunermädchen (in Rubinstein’s „Kinder der Haide“) das Hochzeitslied vorsingt und das Tambourin dazu schlägt. Eine kleine Leistung, aber Aug’ und Ohr erfreuend. Die Direction hat jedoch immer gezaudert, Fräulein Weiß in bedeutendere Aufgaben einzuführen. Wenn ich meine alten Theaterberichte durch blättere, so begegnet mir Fatime im „Oberon“ als die größte, ja wol einzige erhebliche Partie, welche Fräulein Weiß hier sang. In einer Kritik über „Jessonda(April 1861) finde ich die Direction aufgefordert, Fräulein Weiß die Amazili anzuvertrauen, eine sympathische Rolle, welche damals in dem gesungenen Scheidewasser Fräulein Sulzer’s zu verbrennen drohte. Mein Vorschlag fiel aber durch, man schien sich ausschließlich an der geringen drama tischen Lebendigkeit der jungen Sängerin zu stoßen und ihre Vorzüge zu übersehen. Daß diese Vorzüge werthvoll und

bildungsfähig waren, zeigte sich gar bald, als Fräulein Weiß — müde, die beiden Kinder der Norma und abwech selnd die beiden Verdi’schen Leonoren zu überwachen — nach Hannover ging, wo ihr in größeren dramatischen Aufgaben rasch die Flügel wuchsen. Sämmtliche tongebende und an gebende Guelfen schwärmten für sie, und „Er, der Herrlichste von Allen“, machte sie zu seiner Frau. Diese glückliche Ehe mit Joseph Joachim hat vollends gezeitigt, was an dem musikalischen Talente der jungen Frau noch unentwickelt ge blieben war. Einen besseren Lehrmeister als Joachim und ein schöneres Vorbild für den Gesang als sein Violinspiel konnte keine Sängerin sich wünschen. Und wirklich hat seit her Amaliens Vortrag Vieles angenommen von dem edlen, getragenen Ausdrucke, der stylvollen Haltung und formschönen Abrundung, welche Joachim’s Spiel charakterisiren. Diese Eigenschaften, zusammenstimmend mit dem dunklen, pastösen Klang ihrer Stimme und der freundlichen Gelassenheit ihres Temperaments, mußten Frau Joachim vorzüglich für das Oratorium, dann für das deutsche Lied eignen. Auf diesem Gebiet hat Amalie Joachim in ganz Deutschland einen be deutenden Ruf erlangt und bei den größten Musikfesten nicht viel weniger Kränze geerntet, als ihr Herr und Meister mit seiner Geige. Daß der Glanz seines Namens ihre Carrière wesentlich befördert und geschmückt habe, braucht darum nicht geleugnet zu werden, ist auch weit erfreulicher, als wenn um gekehrt der Mann von den Sonnenstrahlen seiner Frau sich bestreichen läßt.

So trat uns denn Frau Joachim-Weiß nach zehn jähriger Abwesenheit als wohlbekannte und zugleich ganz neue Erscheinung entgegen. Aus dem hübschen Mädchen ist eine stattlich-schöne Frau, aus der talentvollen Anfän gerin eine echte Künstlerin geworden, deren wohlgeschulte, weich- und volltönende Mezzosopran-Stimme nur in den höheren Chorden eine leichte Spur vom Zahne der Zeit verräth. Frau Joachim, im ersten Concerte lebhaft applau dirt, hat doch im zweiten ungleich mehr gefallen: ganz ent sprechend der Natur ihres Talentes, das den Hörer nicht blendet, nicht im Sturme nimmt, aber bei näherer Bekannt schaft immer mehr anzieht und dauernd festhält. Wir hör ten Frau Joachim eine Händel’sche Arie, Lieder von Schu bert und Brahms, endlich die ersten fünf Nummern aus

Schumann’s „Frauenliebe und Leben“ sehr schön vortra gen; denkt man sich auch die letzteren vielleicht leidenschaft licher bewegt, so kann doch eine ruhigere, abgeklärte Auf fassung wie die Frau Joachim’s nicht anfechten, so lange sie nur eben eine subjectiv wahre und empfundene bleibt. Den vollständigsten Eindruck machte die Künstlerin mit jenen kleineren Liedern, in welchen die prägnante Charakteristik hinter einer gewissen Allgemeinheit der Empfindung zurück tritt, wie Mendelssohn’s „Gruß“ und Brahms’ „Wiegen lied“. Frau Joachim mußte beide wiederholen. Ausdrück lichen Dank verdient Herr J. Epstein für seine Clavier begleitung; ein vollkommenes Lieder-Accompagnement gehört nicht zu den alltäglichen Leistungen und hat mehr Werth als manche Virtuosen-Production.

Und Frau Schumann? Was könnten wir über diese ungetrübt begeisterte, unermüdlich thätige Meisterin sagen, das nicht oft und längst ausgesprochen wäre? Nichts hat in langem Zeitverlauf ihre Pietät für die großen Meister, nichts ihre strenge Selbstkritik abzuschwächen vermocht, immer bringt sie uns nur Gutes und bringt es vollendet gut. Man kennt die feine Zierlichkeit und Grazie, mit welcher sie Mendels sohn und Chopin ausführt, den gehaltvollen Ernst ihres Bach- und Beethoven-Spiels, die Durchdringung von techni scher Virtuosität und poetischer Sinnigkeit in Allem, was sie von ihrem Gatten vorträgt. Diesmal waren es vorzüglich die Schumann’schen „Davidsbündler“, die Balladen von Brahms, die von Letzterem bearbeitete Gluck’sche „Gavotteund die Bach’sche Orgelfuge in E-moll, womit uns Clara Schumann zumeist und vollständig entzückte. In starken, pathetischen Stücken, wie der erste Satz der A-moll-Sonate von Schubert, hätten wir allerdings ein kräftigeres Aus einanderhalten und Beleuchten der Contraste gewünscht. Ueber gewisse Grenzen seiner Individualität, seines Geschlechts, seiner physischen Kraft kann eben auch der Beste nicht hinaus. Wir werden uns wohl hüten, Frau Schumann darob zu tadeln; sie trägt eine Krone aus Lorbeer und Dornen ge flochten, vor der wir uns beugen. Ihre nahezu vierzigjährige unbestrittene und unbefleckte Herrschaft in der Kunst, der theure große Name ihres Mannes, ihre künstlerische und sittliche Kraft nach so vielen schweren Prüfungen — das Alles verleiht dieser seltenen Frau in unseren Augen eine

Art priesterlicher Würde. Und wenn uns Einzelnes in ihrem Spiel nicht ganz befriedigen will, dann streichen wir beschämt doch wieder aus, was pedantische Scrupulosität uns in die Feder dictirte, und gehen hin und küssen der Frau Oberin die Hand.

Es gab noch andere, ganz andere Clavier-Concerte in dieser Woche, z. B. das von Fräulein Ida Bloch mit großem Programm und großem Orchester. Fräulein Bloch nennt sich auf dem Anschlagszettel „Schülerin von Liszt“. Daß sie eine Schülerin ist, konnte man in der Hälfte des ersten Stückes nicht mehr bezweifeln, so unfertig und unrein, kurz so schülerhaft war Alles gespielt. Mit dem Namen Liszt scheinen sich neuester Zeit manche Debütanten zu schmücken, die dem liebenswürdigen Abbé vielleicht ein paar mal vorgespielt und ein freundliches Kopfnicken dafür ein cassirt haben. Von Liszt hat Fräulein Bloch nur einige Aeußerlichkeiten gelernt, die obendrein ein zartes Fräulein nicht zum besten kleiden: das nachlässige Herumwerfen der Hände, das geierartige Herabschießen der gestreckten Finger auf eine wimmernde Taste, den Wechsel von Blasirtheit und Ueberreiz und Anderes, was ein genialer Virtuose sich erlau ben darf, aber nicht jede seiner „Schülerinnen“. Fräulein Bloch, ein junges Mädchen mit sehr kleiner Hand, hatte sich gleich die schwierigsten Aufgaben gewählt. Wie man in Wien nach Clara Schumann die C-moll-Variationen von Beethoven, nach Sophie Menter das Es-dur-Concert von Liszt öffentlich spielen kann, wenn man eine so unfertige Technik und so ungeläuterten Geschmack besitzt, wie Fräulein Bloch, das ist schwer zu begreifen. Gewiß gehört schon einige Anlage und viel Fleiß dazu, um auch nur das her vorzubringen, was Fräulein Bloch geleistet hat; wenn es ihr aber um mehr als äußere Schein-Erfolge zu thun ist, wird sie wol noch einige Jahre ernsten und über bloße Fingerübung hinausgehenden Studiums zusetzen müssen. Eine Sängerin aus London, Fräulein Ohm, brachte in der stark abgenützten Arie der Rosine: „Una voce“, eine um fangreiche Stimme, pikanten Vortrag und eine ziemliche (wenngleich für diese Aufgabe nicht ausreichend brillante) Kehlenfertigkeit zur Geltung.

Herr Concertmeister Hellmesberger hat unter Mit wirkung der Herrn Bachrich, Röver und Hellmes

berger junior seine erste Quartett-Soirée unter reichlichem Beifalle abgehalten. In dem ersten (Mozart’schen) Quartett, noch mehr in dem Brahms’schen (G-moll) wollte uns Hellmesberger’s Spiel, namentlich was die Schönheit des Tones betrifft, nicht auf seiner ehemaligen Höhe erscheinen. Wir möchten uns das aus der unmittelbaren, schmerzlichen Nachwirkung des Familienverlustes erklären, welcher Herrn Hellmesberger kürzlich betroffen hat. Im Verlaufe des Abends schien er an Sicherheit zu gewinnen und spielte Beethoven’s Es-dur-Quartett (Op. 127) — von jeher eine seiner Glanzleistungen — zur allgemeinen Befriedigung. Er wähnen wir noch der beifällig aufgenommenen Concerte, welche die Pianistinnen Leopoldine Pfuhl und Minna Winkler, dann die mit beneidenswerthen Stimm-Mitteln ausgestattete Sängerin Marie Fillunger gegeben haben, und eilen wir zu dem Schlußstücke unseres Berichtes, dem Monstre-Concerte des Wiener Musikerbun des“ im großen Musikvereinssaale.

Das gegen 250 Mitwirkende zählende Orchester war aus den verschiedensten Musikcapellen Wiens zusammenge stellt und entwickelte natürlich eine unbändige Schallkraft. Bereits bei früheren ähnlichen Anlässen habe ich die Ueber zeugung ausgesprochen, daß das Aufthürmen des Quantita tiven, blos Massenhaften einer Besetzung nur sehr geringen künstlerischen Werth hat. Der Musiker wird einen nicht allzu großen Raum, ein nicht allzu starkes, dafür aber be seelteres, beweglicheres Orchester stets vorziehen. Es hat die Steigerung der Tonstärke ihre akustische und ästhetische Grenze, d. h. die Wirkung wächst mit der Quantität der ausführenden Kräfte nur bis zu einem gewissen Punkte, der ungefähr dem chemischen Begriffe der „Sättigung“ ent spricht: über diesen hinaus bleibt die akustische Wirkung stehen und geht die ästhetische sogar zurück. Ein Orchester mit sechzehn Hörnern etc. muß roh und unmusikalisch klingen, die Violinen werden immer vom Blech gedeckt sein, auf feinere Nuancen wird man verzichten und alle schnellen Tempi der Deutlichkeit wegen langsamer nehmen müssen. Die relativ beste Wirkung machte Beethoven’s „Egmont“- Ouvertüre, weil sie von Haus aus maßvoll und künstlerisch instrumentirt ist. Das G-moll-Concert von Mendelssohn ließ man natürlich nicht von dem ganzen Monstre-Orchester be

gleiten, aber doch von einem noch viel zu starken Contin gent; nicht blos deckte es das Clavier — auch wo dieses perio disch mit dem Orchester abwechselt, wurde der Contrast zwi schen dem Clavierton und der Orchestermasse ein carikirt unverhältnißmäßiger. Frau Clara Schumann spielte das Concert wunderschön; freilich hätte man die Tutti müssen von drei Rubinsteinen unisono spielen lassen. Eine nicht glückliche Wahl war die Scene aus M. Bruch’s Frithjofssage“, deren Baritonsolo Herr Dr. Krauß übrigens sehr beifällig sang. An Applaus fehlte es auch den Herren Hellmesberger und Grün nicht nach ihrem Vortrage des ersten Satzes von Mozart’s oft gehörtem Concerte für Violine und Viola. Die beiden Haupt- und Kraftstücke des Programmes waren der von Berlioz orchestrirte „Rakoczy-Marsch“ (das einzige Fragment, das sich aus seiner „Damnation de Faust“ erhalten hat) und Richard Wagner’sKaisermarsch“. Das erstgenannte Stück ist das ungleich schönere und effectvollere. Den „Rakoczy- Marsch“ durchströmt eine gesunde Melodie und ein frischer, kecker Rhythmus; was Berlioz zu diesem auf ungarischem Boden gefundenen Schatz hinzugethan, die Instrumentirung nämlich, ist nicht blos rauschend, sondern voll zauberischer Klangeffecte und geistreicher Farbenmischungen, welche das Publicum hinreißen und den Musiker lebhaft interessiren. In Richard Wagner’sKaisermarsch“ herrscht dagegen die dürrste melodische Erfindung, trocken, unschön, gesucht und mit allerlei fast wörtlichen Reminiscenzen aus „Tann häuser“ und den „Meistersingern“ aufgeputzt. Der Rhythmus ist einförmig, die Instrumentirung reizlos, von ungeschlach ter Massigkeit. Wenn ein hiesiger Musikhändler auf seinem Anzeigen den „durchschlagenden Effect“ dieses „Kaiser marsches“ rühmt, so hat er das rechte Wort getroffen. Ja wol, „durchschlagend“, den Hörer durch und durch schlagend! Wir flüchteten beim Beginne des Stückes aus der Mitte des Saales in die allerletzte Sitzreihe, um nicht, wie eine Dame unserer Bekanntschaft, das Mantelfut ter aufreißen und mit der daraus gewonnenen Baumwolle uns die Ohren verstopfen zu müssen. Aber auch in dieser Saalecke war der Lärm der Blech-Instrumente, der Becken, Tambours und großen Trommeln so betäubend, daß ein Nachbar vorschlug, lieber auf die Gasse herab, etwa bis zum

Künstlerhaus zu gehen — ein Antrag, der jedoch der schlech ten Witterung zum Opfer fiel. Da es sehr viele Leute gibt, die auch den vollständigsten Bankerott musikalischer Erfin dungskraft bejubeln, wenn nur die Firma „R. Wagnerdarüber prangt, so erzielte — wie vorauszusehen — auch dieser „Kaisermarsch“ einen Monstre-Applaus. Das Concert wurde abwechselnd von den Herren Kremser und Heißler dirigirt, welche dieser schwierigen und anstrengenden Aufgabe sich vollständig gewachsen zeigten. Leider haben sie mehr Applaus als Geld eingenommen.